cover
KJ Weiss

Opfer-Leid





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

zum Inhalt

Er hat sein Kind nicht schützen können!

 

Als Michael erfährt, dass seine Tochter jahrelang missbraucht wurde, bricht seine Welt zusammen. Er sinnt auf Rache.

 

Doch dann geschieht ein Mord - der ursprüngliche Täter wird zum Opfer. Und plötzlich steht Michael im Fokus der Ermittlungen.

1

 

 

Es war kalt, er schätzte mindestens fünf, sechs Grad unter null. Trotz der dicken Stiefel und der Weste unter der dicken Daunenjacke fror er erbärmlich. Schutzsuchend drängte er sich in die Ecke des Hauseinganges und tastete nach den Scheinen in seiner Hosentasche. Viel Geld besaß er nicht mehr, aber für diese Unterkunft reichte es allemal. Dann konnte er auch endlich das Handy aufladen.

Er schob den Ärmel der Jacke hoch, um die Uhrzeit abzulesen. Fast acht. Hoffentlich war das Zimmer noch frei. Er zog den Schal bis knapp unter die Nase und machte sich auf den Weg.

Im Wohnzimmer brannte Licht, er drückte auf die Klingel und wartete, bis der Summer ertönte. Die Lampe im Hausflur war wieder mal kaputt, die Straßenbeleuchtung erhellte notdürftig die Stufen, sodass er sich hinauftasten konnte.

Sie stand in der geöffneten Tür und musterte ihn wortlos.

Schweigend streifte er die Handschuhe ab und zog einen zerknitterten Zehner aus der Hosentasche.

Sie schnappte danach und wich zurück, damit er hinter ihr eintreten konnte. Erst als sie die Tür geschlossen hatte, sagte sie: „Jamal ist nicht da. Du weißt Bescheid. Morgen früh um acht musst du wieder gehen.“

Er nickte und streifte den Rucksack von seiner Schulter. Die Wärme begann bereits seine Muskeln zu entspannen und er fühlte, wie müde er war.

„Willst du auch was essen?“

Er zögerte und schüttelte den Kopf. Bei seinem letzten Aufenthalt hatte sie fünf Euro für zwei Scheiben hartes Brot, etwas Käse und eine Tasse Tee verlangt. Da bekam er selbst bei McDonalds mehr für sein Geld.

Sie wies mit einer Kopfbewegung zum Ende des Flurs. „Du weißt ja, wo es ist. Wenn du ins Bad musst, geh gleich. Ich bekomme Besuch.“

Er senkte den Blick, während er sich an ihr vorbeiwand, damit sie seine Gedanken nicht lesen konnte. Zehn Euro für zwölf Stunden Wärme und Sicherheit und ein einigermaßen behagliches Bett, das durfte er nicht aufs Spiel setzen.

Er schälte sich aus Jacke und Weste und stellte die Stiefel unter das Bett, bevor er das Bad aufsuchte. Sein Blick fiel auf die sich in der Duschtasse stapelnde Schmutzwäsche, die fleckigen Fliesen und die Schmutzränder an Spülstein und Toilette. Er verzog abschätzig die Lippen. Sugar war eine Schlampe. Die saß den ganzen Tag nur auf ihrem Hintern und ließ sich aushalten.

Mit spitzen Fingern klappte er die Brille hoch und erleichterte sich im Stehen. Dann ließ er minutenlang heißes Wasser über seine Hände laufen, bis das Prickeln aufhörte. Anschließend füllte er den mitgebrachten Becher bis zum Rand.

Der letzte Beutel Tee, stellte er zurück in seinem Zimmer trübsinnig fest. Es wurde wirklich Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.

Er schob diesen unerfreulichen Gedanken zur Seite und griff zu Ladekabel und Handy. „Hallo, Mama. Wie geht es euch? Hast du das Geld bekommen?“ Er warf sich auf das Bett und streckte sich wohlig.

Das Telefongespräch war kurz. Er schob wichtige Verpflichtungen vor und versprach, sich bald wieder zu melden. Das Wichtigste war, dass zu Hause alles gut lief, er selbst hatte nichts zu erzählen. Lieber einsilbig bleiben, dann verstrickte er sich nicht in Lügen.

Er drehte sich auf den Rücken, nippte an seinem Tee und grinste. Er war schon immer ein miserabler Lügner gewesen. Mama hatte ihn jedes Mal sofort durchschaut und es hatte Prügel gesetzt. Oh ja, sie hatte eine harte Hand. Das war auch nötig bei sieben Kindern. Und jetzt zählte sie auf ihn. Er war der Älteste, er musste sie unterstützen.

Während sein Körper sich immer mehr entspannte, ließ er seine Gedanken zurückwandern. Es war die Idee seines Onkels gewesen, dass er in Deutschland sein Glück versuchen sollte. Der hatte ihm seitenweise Berichte im Internet gezeigt: Jeder war dort glücklich und zufrieden. Keiner musste Hunger leiden. Der Staat sorgte für seine Bewohner, gab ihnen Geld und eine Wohnung, sogar ein Auto. Allein die finanzielle Unterstützung reichte aus, die Familie in der Heimat zu versorgen.

Er seufzte. Wie anders stellte sich die Wirklichkeit dar! Lange würde er den Betrug nicht mehr aufrechterhalten können. Die Beträge, die er seit dem letzten großen Coup schickte, waren deutlich geschrumpft. Bisher hatte er sich mit dem kalten Winter herausgeredet, der es ihm unmöglich machte, Arbeit zu finden. Aber seine Mutter war nicht dumm. Bald würde sie seine Lügen durchschauen.

Nein! Er wandte sich erfreulicheren Gedanken zu. Vielleicht gelang es ihm, so wie Jamal, eine Freundin zu finden, die ihn aufnahm und ihn heiratete. Dann konnten sie ihn nicht mehr abschieben. Er würde eine Ausbildung machen und einen gutbezahlten Job finden, sodass er sich weiter um seine Familie kümmern, sie vielleicht sogar nachkommen lassen konnte.

2

   

 

Angelika

Der Film, den wir gemeinsam ansehen wollten, hatte schon begonnen, als Michael endlich eintraf. Gerade lief die erste Werbepause.

„Soll ich dir erzählen, was bisher passiert ist?“, fragte ich ihn.

Er ließ sich auf die Couch fallen und streckte sich stöhnend. „Das Auto ist nicht angesprungen“, sagte er statt einer Antwort. „Wahrscheinlich irgendwas mit den Zündkerzen. Stefan hat mich abgeholt und später nach Hause gefahren. Ich muss mich morgen früh im Hellen darum kümmern.“

Das hieß für mich, entweder laufen oder den Bus nehmen. Ich seufzte leise. Und das bei der draußen herrschenden Kälte! „Kann man nicht ändern“, erwiderte ich laut. Nein, ich hatte mich viel zu sehr daran gewöhnt, das Auto zur ständigen Verfügung zu haben. Es würde mir guttun, einmal darauf zu verzichten. Bald war dieser Luxus sowieso vorbei.

Der Film lief weiter und unser Gespräch versiegte. Direkt anschließend stand Michael auf und erklärte, er müsse ins Bett. Die Arbeit am Auto bei den im Moment herrschenden Minustemperaturen hätte ihn völlig geschlaucht.

Gut, konnte ich mich den Aufzeichnungen widmen, die ich heute beim Aufräumen gefunden hatte. Für mich war es immer ein Highlight, wenn mein Mann einen Nachmittag bei einem Freund verbrachte und ich somit freie Bahn hatte, den Haushalt zu erledigen. Sonst siegte ständig das Gefühl, Rücksicht auf ihn nehmen zu müssen, das Bad nicht zu lange stillzulegen, nicht in dem Raum, in dem er sich aufhielt, zu putzen. Deshalb hatte ich die Stunden genutzt, wieder einmal gründlich auszumisten.

Die Blätter waren unter meinen Blusen hervorgeflattert, als ich diese aus dem Schrank nahm. Ich hatte tatsächlich vergessen, dass ich sie dort versteckt hielt, damit Michael sie nicht entdeckte. Bevor ich sie zerriss, wollte ich noch einmal nachlesen, was ich damals zu Papier gebracht hatte.

Das Ganze war auf eine Bitte von Heidrun zurückzuführen. „Gib mir einen groben Überblick über eure Familie. Das wird mir helfen, eure Situation besser nachzuvollziehen.“

Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich damals, ebenfalls nachdem Michael schlafen gegangen war, vor dem ersten leeren Blatt gesessen und überlegt hatte, was ich schreiben sollte.

Ich bin dreiundfünfzig, mein Mann fünfundfünfzig, wir haben zwei Kinder, Mädchen, Liliane und Josephine. Josephine ist die Ältere, sie ist siebenundzwanzig, Liliane ist zweiundzwanzig.

Ja, was noch?, hatte ich überlegt und die Aufgabe auf den nächsten Tag verschoben.

„Schreib alles auf“, sagte Heidrun auf meine Nachfrage. „Wie dein Mann und du euch kennengelernt habt, wie es dann mit einem Kind und schließlich mit zweien weiterging. Wie du die Freundschaft mit Hermann beurteilst. Alles, was mir hilft, euch als Familie kennenzulernen.“

Also hatte ich am Abend versucht, das Wichtigste zusammenzufassen.

Ich traf Michael auf der Party einer Freundin, die im selben Unternehmen wie er arbeitete. Wir verstanden uns auf Anhieb, deshalb sagte ich zu, als er mich um eine Verabredung bat. Mit Michael war die Sonne in mein Leben zurückgekehrt, das erklärt es am besten. Er nahm alles viel leichter, dachte sich ständig Unternehmungen aus, hatte viele Bekannte, zog mich vom Rand mitten in die Gesellschaft. Das Leben machte plötzlich viel mehr Spaß.

Mein Gott, wie schwülstig! Hätte ich es nicht anders ausdrücken können? Ja, es stimmte. Mein Mann war extrovertiert und immer in Bewegung. Die Wochenenden waren ein einziger Rausch, angefüllt mit Besichtigungen oder den Besuchen irgendwelcher Events und natürlich den obligatorischen Partys am Abend. Er kannte Gott und die Welt und war bei seinen Bekannten äußerst beliebt. Wenn Michael erschien, herrschte immer gute Stimmung. Er wurde mit jedem gleich gut Freund, fand stets schnell Gesprächsstoff, aus denen sich oft anregende Diskussionen entwickelten.

Ich dagegen war das, was man früher als Mauerblümchen bezeichnete: schüchtern und brav und mit meinen aschblonden Haaren, die ich zu einem unvorteilhaften Bob geschnitten trug, den blassblauen Augen und den kleinen Speckröllchen an Bauch und Oberschenkeln beileibe keine Augenweide. Ich verstand lange nicht, was er an mir fand, er, der mit seiner charmanten Art und seinem guten Aussehen gleich zweifach gesegnet war.

Nach einem halben Jahr zogen wir zusammen, ein Jahr später heirateten wir. Da war ich vierundzwanzig und er sechsundzwanzig. Zwei Jahre danach wurde Josephine, genannt Josie, geboren. Ich gab meine Stelle auf und blieb zu Hause. Leider klappte es mit der nächsten Schwangerschaft nicht so schnell, wie wir es vorgehabt hatten. Daher suchte ich mir, als Josie in den Kindergarten kam, einen Halbtagsjob. Den behielt ich bis zur Geburt von Liliane, genannt Lilli, bei. Damals zeigte sich bereits die extreme Musikalität der Großen. Sie erhielt Klavier- und etwas später dann Geigenunterricht, erst nur jeweils einmal in der Woche, dann zweimal.

3

 

 

Er stellte den leeren Becher unter das Bett und schloss die Augen, verlor sich in seinen Träumen einer besseren Zukunft, sodass er die Türklingel nur am Rand seines Bewusstseins wahrnahm. Langsam dämmerte er hinüber in den Schlaf, als die murmelnden Stimmen im Nebenraum plötzlich lauter wurden. Er drückte seinen Kopf tiefer in das Kissen und versuchte den Streit auszublenden.

Die kurz darauf folgende Stille ließ ihn erneut aufmerken. War da nicht ein Keuchen gewesen, ein unterdrücktes Stöhnen? Er setzte sich im Bett auf und lauschte. Jetzt erklangen Schritte in Richtung seines Zimmers, leise und schleichend, als wolle derjenige nicht, dass er ihn hörte. Mit einem geschmeidigen Satz sprang er auf, dachte im letzten Moment noch daran, seine Kleidung vom Stuhl zu reißen, und schob sich mit dem Kleiderhaufen unter das Bett bis dicht an die Wand.

Die Tür öffnete sich so leise, dass er es gerade eben erahnen konnte. Er vergrub den Kopf in der Jacke und hielt die Luft an. Fuß- und Kopfteil des Bettes bestanden aus massivem Holz, wer sich nicht direkt davor auf die Erde legte, würde ihn nicht sehen. Aber die Wärme des Bettzeugs konnte ihn verraten. Hoffentlich gab sich der Eindringling mit einem kurzen Blick zufrieden!

Der Mann – es konnte nur er sein, Sugar hatte einen anderen Schritt – trat ins Zimmer und verharrte. Zwei, drei Sekunden stand er so da, bevor er den Raum wieder verließ. Die Geräusche verrieten ihm, dass dieser die anderen Räume kontrollierte und schließlich die Wohnung verließ.

Seine Muskeln schmerzten bereits von der verkrümmten Haltung, die ihm das niedrige Bett aufzwang, und die zentimeterhohe Staubschicht, die einen fauligen Geruch verströmte, reizte seine Atemwege. Wesentlich vorsichtiger als bei seinem Abtauchen krabbelte er unter dem tiefhängenden Lattenrost hervor. Die Hose, der Pullover und die Jacke waren über und über mit dicken Flusen bedeckt, das konnte er sogar in dem schwachen Lichtschein der Straßenlaterne, die den vorderen Bereich des Zimmers in ein schummriges Licht tauchte, erkennen. Was für ein Glück, dass er darauf verzichtet hatte, die Lampe anzuknipsen, schoss es ihm durch den Kopf. Sonst hätte sich der Eindringling niemals täuschen lassen.

Was war das überhaupt für eine Aktion gewesen? Handelte es sich bei dem Mann um einen eifersüchtigen Liebhaber? Zuzutrauen wäre es Sugar ohne weiteres, dass sie Jamal betrog. Aber ausgerechnet, wenn er im Nebenzimmer schlief? Sehr seltsam!

Nachdem er sich notdürftig gesäubert hatte, verhielt er unschlüssig. Sugar würde ihm den Kopf abreißen, wenn er sie ohne Grund störte. Der Fernseher, der, wie er wusste, von morgens bis abends eingeschaltet blieb, lief noch. Wahrscheinlich lag sie auf der Couch und sah wie üblich irgendeine dieser albernen Sendungen, die sie so liebte.

Nein, dafür war der Ton zu leise gestellt. Eher betäubte sie sich nach diesem gerade erlebten Streit mit Alkohol, dem sie sowieso schon viel zu oft zusprach. Besser er hielt sich bedeckt und blieb in seinem Zimmer.

Doch das seltsame Stöhnen, das er vernommen hatte, ließ ihm keine Ruhe. Egal wie Sugar reagierte, er musste sich einfach davon überzeugen, dass es ihr gutging.

Er schlich durch die Diele in Richtung Wohnzimmer und blieb in der Türfüllung stehen. Sie saß auf der Couch, der Oberkörper war zur Seite gesunken und wurde nur noch durch die stützenden Kissen gehalten, der Kopf war auf die Brust gesackt, sodass die wirre Haarflut ihr Gesicht verdeckte.

Befriedigt wandte er sich ab. Sie war schlicht und ergreifend betrunken, so weggetreten, dass sie nichts in ihrem Umfeld mitbekam. Er sollte diesen Umstand ausnutzen und sich etwas zu essen aus der Küche besorgen. Nach der überstandenen Aufregung knurrte sein Magen und verlangte dringend nach einer kleinen Mahlzeit. Er würde sich mit Toast begnügen, dazu etwas Marmelade. Das fiel bestimmt nicht auf.

Er aß mit Heißhunger vier Scheiben und trank dazu ein Glas Milch aus der noch fast vollen Packung. Geschirr und Besteck wusch er so leise wie möglich im Waschbecken und legte es zurück in die Schublade. Ein letzter prüfender Blick auf den Tisch; die zurückgelassenen Krümel mischten sich mit den älteren, es würde auffallen, wenn er ihn abputzte. Besser er ließ alles, wie es war.

Erst vor seiner Zimmertür angekommen bekam er das zu fassen, was ihn unterbewusst seit seinem kurzen Blick auf sie gestört hatte. Er fluchte unterdrückt auf und hastete zurück ins Wohnzimmer. Dieses Mal blieb er nicht an der Tür stehen, sondern trat dicht vor sie und streckte die Hand nach ihr aus.

Schon bevor er ihren Kopf berührte, wusste er, dass sie tot war und wappnete sich innerlich vor dem, was er zu sehen bekam. Er schob die Haare zur Seite und versuchte ihr Kinn anzuheben.

Ihre Augen wirkten seltsam verdreht, ihre Zunge schien im Mundwinkel festzuhängen. Um den Hals war das Gewebe blutunterlaufen und geschwollen und mit Kratzern übersät, als hätte sie verzweifelt gegen die Hände, die sie würgten, angekämpft.

Mit einem Stöhnen wich er zurück, die Leiche kippte zur Seite und er erbrach sich über den Tisch. Panisch rannte er zurück in sein Zimmer, zog sich hastig die Stiefel an, griff nach Jacke, Weste, Schal und Rucksack. Im letzten Moment fiel ihm sein Handy ein, das noch am Ladekabel hing. Dann jagte er aus dem Haus und hielt nicht eher inne, bis zwischen ihm und der Toten etliche hundert Meter Abstand lagen.

4

 

 

Angelika

Ja, dachte ich. Es war damals eine schwere Zeit. Ständig auf Achse zu sein, dazu mit einem Baby, beziehungsweise Kleinkind, hatte seinen Tribut gefordert. Josies Privatlehrer, die sie laut dem Experten, den wir aufsuchten, nachdem ihr Talent nicht mehr zu übersehen war, dringend für ihre Entwicklung benötigten, kosteten nicht nur viel Geld. Ihre Räume befanden sich zudem so weit von unserer Wohnung entfernt, dass ich die eineinhalb Stunden, die der Unterricht dauerte, mit Lilli in der Nähe verbringen musste, eine nicht immer einfache Aufgabe.

Ich sah wieder hinunter auf meine Aufzeichnungen.

Josies Grundschulzeit habe ich in keiner guten Erinnerung. Sie wollte oder konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren, hatte ständig ihre Musik im Kopf, wurde aufsässig und übellaunig. Deshalb entschlossen wir uns schließlich, sie auf ein Internat für musisch Begabte zu schicken, was auch ihr Wunsch war. Schon kurze Zeit später zeigte sich, dass wir die richtige Entscheidung getroffen hatten. Sie blühte regelrecht auf und wurde wieder zu einem fröhlichen Kind, das endlich auch lernte, sich in anderen Bereichen anzustrengen. Nur das Heimweh machte ihr sehr zu schaffen, weswegen wir uns bemühten, sie so oft wie möglich an den Wochenenden nach Hause zu holen.

„Und Lilli?“, hatte mich Heidrun am Tag, nachdem ich ihr die Blätter aushändigte, am Telefon gefragt.

„Wie, du bist die Aufzeichnungen schon durchgegangen?“ Wir waren übereingekommen, meinem Mann diese Beschreibungen vorzuenthalten, ebenso unsere Gespräche darüber. Er hatte genug mit der momentanen Situation zu kämpfen.

„Mir ist aufgefallen, dass du in den schwierigen Jahren mit Josie deine andere Tochter außen vorlässt. Wie ging es ihr damit?“

„Sie kannte es ja nicht anders. Ich denke, sie war ganz zufrieden, dabei zu sein. Klar, sie ist in dieser Zeit bestimmt zu kurz gekommen. Aber was hätte ich denn tun sollen?“

Damit wir Josies Stunden bezahlen konnten, musste ich wieder mitarbeiten. Ich bekam die Stelle bei meiner jetzigen Chefin, brachte Lilli, damals zwei Jahre alt, morgens um acht in die Kita und holte sie mittags um zwei wieder ab. An den Wochenenden bemühten wir uns, etwas gemeinsam mit den Kindern zu unternehmen, nur musste der Haushalt natürlich auch noch erledigt werden. Mehr als die Nachmittage blieben nicht für gemeinsame Freizeitveranstaltungen.

Und zumindest den Samstagvormittag hielt Michael sich frei, um mit Freunden zusammen seinen Hobbys zu frönen, genauso wie er zwei- bis dreimal wöchentlich abends nicht zu Hause war. Er brauchte die Abwechslung, er war ein Mann, der sich mitteilen wollte, dem die langweiligen Fernsehabende nicht reichten, der im Gegensatz zu mir die Kraft fand, sich in hitzige Diskussionen zu stürzen und spitzfindige Wortgefechte zu führen.

Nachdem Josie ins Internat gekommen war, verbesserte sich unser Leben. Ich hatte mehr Zeit für Lilli, an den Wochenenden ohne Josie unternahmen wir viel gemeinsam, die anderen verbrachten wir hauptsächlich zu Hause. Aber sie liefen wesentlich harmonischer ab als früher. Die beiden Schwestern spielten viel zusammen, es gab kaum Streit, weder zwischen den beiden noch zwischen Josie und mir.

Nach der Schule erhielt unsere Älteste das Angebot, in einem renommierten Orchester zu arbeiten. Mittlerweile bekommt sie regelmäßig Einladungen zu Soloauftritten. Lilli, die zuerst begeistert zur Schule gegangen war, wurde nach und nach immer fauler und desinteressierter und schaffte mit Ach und Krach ihr Abitur. Sie suchte sich einen Praktikumsplatz und hielt auch das Jahr durch, erklärte jedoch anschließend, lieber etwas anderes machen zu wollen. Was, wisse sie bisher nicht.

Danach folgten weitere Schilderungen über unser Sorgenkind, das bis kurz vor diesem alles verändernden Telefongespräch ihr Leben vor sich hindümpeln ließ, ohne sich zu irgendetwas aufraffen zu können, und unsere, also Michaels und meine, damalige Situation, die ich überblätterte. Mich interessierte, was ich über Hermann angemerkt hatte.

Hermann Fischer und Michael haben sich bei der Bundeswehr kennengelernt. Das war lange, bevor wir zusammenkamen. Der eine trat bedingungslos für den anderen ein, mein Mann konnte sich jederzeit darauf verlassen, dass sein Freund ihn unterstützte, genauso wie umgekehrt Hermann sich auf ihn. Es waren nicht nur die gemeinsamen Hobbys und Unternehmungen. Obwohl von ihrer Art her sehr unterschiedlich, hielten sie wie Pech und Schwefel zusammen. Ich würde sagen, eine solch gute, von beiden Seiten gleichstarke Freundschaft ist selten.

Perfekt ausgedrückt, lobte ich mich. Genauso hatte ich es empfunden.

Nach einem Blick auf die Uhr beschloss ich, den Rest später zu lesen. Außerdem waren die folgenden Sätze nichts, was sich als Gute-Nacht-Geschichte eignete. Ich legte die Blätter zurück unter die Blusen und machte mich ebenfalls bettfertig.

5

 

 

Er war die halbe Nacht durch die Straßen gelaufen. Schließlich war er auf eine abbruchreife Fabrik gestoßen, deren löchriger Zaun deutlich anzeigte, dass bereits andere vor ihm hier Zuflucht gesucht hatten. Während er einmal um das Gebäude herumschlich, entdeckte er zwei eingeschlagene Fenster, durch die er sich mühelos hätte hindurchquetschen können. Nur die herausragenden Glassplitter ließen ihn zögern. Kurz darauf sah er die aufgebrochene Seitentür, die sein Eindringen wesentlich problemloser gewährleistete. Er schob sie auf und schlüpfte hinein.

Steinchen und loser Dreck knirschten bei jedem Schritt, während er sich vorsichtig durch die Dunkelheit vortastete. Er beschloss, sich direkt an der Wand, deren raue Oberfläche er erfühlte, niederzulassen. Es war sinnlos, in dieser Schwärze weiter in das Innere vordringen zu wollen. Und die Kälte würde ihm überall gleich zusetzen.

Er nahm den Rucksack vom Rücken und stellte ihn zwischen seinen Beinen ab. Im letzten halben Jahr hatte er einiges gelernt, das Wichtigste war, seine Habe nie aus den Augen zu lassen. Die Menschen, die sich wie er am Rande der Gesellschaft befanden, nahmen keine Rücksicht auf fremde Leidensgenossen, der teure Schlafsack, der ihm vor knapp einer Woche gestohlen worden war, würde sein letzter Verlust sein, hatte er sich geschworen.

Er tastete nach dem Messer in seiner Jacke und legte es so unter den Rucksack, dass er es mit einem schnellen Griff erreichen konnte. Dann horchte er ein letztes Mal in die Dunkelheit. Den fehlenden Geräuschen nach schien er allein zu sein, zumindest aber befand sich niemand in unmittelbarer Nähe. Zufrieden schloss er die Augen und wartete darauf, dass der Schlaf ihn übermannte. Vergebens, seine Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Immer wieder durchlebte er den Augenblick, als er Sugars Kopf anhob und in die Augen einer Toten blickte.

Nicht dass sie ihm etwas bedeutet hätte. In Wahrheit hatte er trotz des günstigen Preises diesen Unterschlupf nur gewählt, wenn es ihm unumgänglich erschien. Sugar war keine angenehme Person gewesen, kalt und berechnend und irgendwie auch total abgedreht. Er hatte von Anfang an nicht verstehen können, dass Jamal sich auf sie einließ. Sie hatte irgendetwas an sich, das ihn zurückschrecken ließ.

Jamal nahm ihn kurz nach seinem Einzug bei ihr mit in die Wohnung. „Ich habe das große Los gezogen“, schwärmte er auf dem Weg dorthin. „Sie ist total verliebt in mich und will mich so schnell wie möglich heiraten, damit ich hierbleiben kann.“

Er hatte sich für den Freund gefreut und ihm deshalb nach diesem ersten Besuch verschwiegen, dass er ein ungutes Gefühl in der Magengegend verspürte. Sugar sah nicht schlecht aus. Ihre langen, hellblond gefärbten Haare mit dem fransigen Pony und die großen blauen Augen vermittelten den Eindruck, sie sei ein zartes Persönchen, das auf einen Beschützer angewiesen war, um sich in der rauen Welt zurechtzufinden. Sie lebte von der Fürsorge und den Alimenten, die der Vater ihres Kindes ihr zahlen musste, hatte eine drei-Zimmer-Wohnung und genügend Geld, dass sie sich mehr als nur das Nötigste leisten konnte.

Sie hatte ihn freundlich begrüßt und sehr verliebt mit Jamal getan, aber er hatte sofort gespürt, dass ihre Gefühle nicht echt waren. Auch dem Kleinen, der fast immer unbeaufsichtigt in seinem Zimmer spielte, brachte sie keine echte Liebe entgegen. Er brauchte nur an seine eigene Mutter zu denken, wie sie mit ihrer Schar umgegangen war, um den Unterschied zu merken. Dieser genervte Gesichtsausdruck und das offensichtliche Desinteresse an dem Jungen hatten ihm schnell gezeigt, dass sie Fröhlichkeit und Freundlichkeit nur vortäuschte. Bei ihr musste man vorsichtig sein, warnte ihn sein Instinkt.

Trotzdem tat er Jamal gegenüber begeistert und gratulierte ihm zu seiner Eroberung. Wie hätte er mit seinen gerade mal zweiundzwanzig Jahren dem Älteren gegenüber seine Ahnung erklären sollen? Außerdem war Sugar, wie sie sich nannte, seine letzte Hoffnung. Die kurzfristige Duldung konnte sich schnell in eine endgültige Abschiebung wandeln.

Nun, Jamal hatte schon bald gemerkt, dass er nach ihrer Pfeife tanzen musste, um sie bei Laune zu halten. Es dauerte nicht lange und sie warf ihn zum ersten Mal raus. Zwei Wochen später stand er erneut auf der Straße. Das wiederholte sich regelmäßig, bis der Freund endlich begriffen hatte, dass sie nicht daran dachte, ihn das Zepter übernehmen zu lassen – und schon gar nicht, ihn zu heiraten. Seitdem nutzte dieser den Aufenthalt bei ihr, um sich nach einer besseren Möglichkeit umzusehen. Noch war er nicht bereit, Deutschland freiwillig zu verlassen. Wie er träumte er von einem Neuanfang in einem Land, in dem man sich alles leisten konnte, was man wollte.

6

 

 

Angelika

Wir saßen noch am Mittagstisch, als es Sturm klingelte.

„Das ist bestimmt der Paketbote“, nuschelte ich mit vollem Mund.

Michael, der im Gegensatz zu mir bereits aufgegessen hatte, erhob sich folgsam und ging zur Tür. Wie immer dachte er gar nicht daran, die Gegensprechanlage zu nutzen, und drückte sofort auf.

Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder meinem Gemüse zu. Eines Tages wird er an den Falschen geraten, dachte ich noch, nicht wissend, wie schnell diese Vermutung zutreffen würde. Ich hatte gerade erst eine weitere Gabel genommen, als das Geschrei losbrach.

„Mörder!“, hörte ich Hermann schreien.

Ein wuchtiger Aufprall riss mich vom Stuhl hoch und in die Diele. Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen, Hermanns Hand lag um die Kehle meines Mannes, der, geradezu an die Wand genagelt, verzweifelt versuchte sich zu wehren.

„He!“, schrie ich, so laut ich konnte.

Doch entweder hörte mich Hermann nicht oder es war ihm egal, dass ich aufgetaucht war. „Dreckiger Mörder“, knurrte er. „Das wirst du büßen!“ Er hob die freie Rechte und hieb sie Michael ins Gesicht, der mittlerweile um sich trat und mit seinen Händen Hermanns Linke umklammerte, um sie von seinem Hals wegzureißen.

Ich stürzte mich von hinten auf den Angreifer, was mir nur einen schmerzhaften Ellenbogenstoß in die Rippen einbrachte, der mich zurückschleuderte und mir die Luft nahm. Der ehemalige Freund meines Mannes musste verrückt geworden sein, anders ließ sich dieser Überfall nicht erklären. „Ich rufe die Polizei, wenn du nicht sofort aufhörst!“, drohte ich mit überschnappender Stimme und lief, als er immer noch nicht reagierte, zurück ins Wohnzimmer, um meine Worte in die Tat umzusetzen.

Doch in dem Moment kam von meinem Mann ein mattes Ächzen, das mich umdrehen ließ. Sein Gesicht begann bereits blaurot anzulaufen, seine Abwehrbewegungen schienen mir matter geworden zu sein. Ich hatte keine Zeit, auf die Polizei zu warten, ich musste handeln.

Ich rannte in die Küche, mein Blick irrte umher und fiel auf die Pfanne auf dem Herd, eine große, schwere Gussausführung, die ich von meiner Mutter geerbt hatte. Ich umklammerte mit beiden Händen den Griff und hob sie hoch. Das noch nicht angetrocknete Fett lief über meine Finger und tropfte auf den Boden, was ich in meiner Aufregung gar nicht bemerkte.

Hermann nagelte meinen Mann immer noch an der Wand fest und drosch auf den völlig Hilflosen ein. Ich fackelte nicht länger, sondern holte mit der Pfanne aus und knallte sie ihm in den Rücken.

Ich hatte erreicht, was ich wollte. Er ließ Michael los, der langsam zu Boden rutschte und wandte sich mir zu. „Lass uns in Ruhe!“, warnte ich und hob die Pfanne erneut. Eben hatte ich mich nicht getraut, auf seinen Kopf zu zielen, aus Angst, ihn womöglich tödlich zu treffen. Jetzt bereute ich diese Entscheidung. Der Ausdruck in seinen Augen zeigte deutlich, dass er diese Hemmungen nicht kannte.

Ich wich vorsichtig einen Schritt zurück, dann, als er mir folgte, einen zweiten und einen dritten. Meine Hände begannen zu zittern und die Pfanne wurde immer schwerer. Wie sollte ich mich gegen ihn zur Wehr setzen? Er war viel größer und stärker als ich.

Trotzdem machte ich mich bereit, zuzuschlagen. Ich musste es zumindest versuchen.

Ein Grinsen glitt über sein Gesicht. Er schien meine Angst zu spüren, ja, regelrecht zu genießen. Ich umklammerte den Pfannenstiel fester und nahm all meinen Mut zusammen. Gleich der erste Schlag musste ihn außer Gefecht setzen, zu einem zweiten würde ich nicht kommen.

Fast gleichzeitig machten wir einen Schritt aufeinander zu. Ich zielte auf seinen Unterleib und legte so viel Kraft wie möglich in meinen Angriff. Er drehte sich im letzten Moment zur Seite und wehrte mit dem Arm ab. Die Pfanne glitt mir aus der Hand und knallte gegen den Schuhschrank, bevor sie mit einem lauten Poltern zu Boden fiel.

Hermann stürzte sich auf mich, das heißt, er wollte sich auf mich stürzen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf seinen Gesichtszügen, dann verdrehte er die Augen und krachte auf die Fliesen.

Hinter ihm wurde mein Mann sichtbar, den Holzbügel, den er sich von der Garderobe gegriffen hatte, noch drohend erhoben. „Ruf die Polizei“, krächzte er, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass unser Gegner bewusstlos war.

7

 

 

Sonnenstrahlen direkt auf seinem Gesicht weckten ihn. Er blinzelte, wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Dann erinnerte er sich wieder. Gleichzeitig wurde ihm die Kälte bewusst, die seine Beine in steifgefrorenes Holz verwandelt zu haben schien, seine Zehen schmerzten, als würden sie jeden Moment abfallen.

Stöhnend erhob er sich und machte ein paar ungelenke Schritte. Die Schmerzen verteilten sich blitzschnell über den gesamten Körper, es kribbelte und piekte überall. Er stellte sich in den überraschend kräftigen Sonnenstrahl und begann sich gezielt zu bewegen, um die Durchblutung anzukurbeln. Schließlich hielt er schwitzend inne und genoss mit geschlossenen Augen die Helligkeit und Wärme. Vielleicht hatten diese elenden Minustemperaturen endlich ein Ende gefunden.

Plötzlich verspürte er einen geradezu reißenden Hunger. Kein Wunder, sein Abendessen hatte er ja komplett von sich gegeben und es war bestimmt schon später Vormittag, nein Mittag, verriet ihm ein Blick auf seine Armbanduhr. Eine angebrochene Packung Cracker musste sich noch im Rucksack befinden. Und die Wasserflasche hatte er bei Sugar aufgefüllt.

Scheiße! Jamal! Der wusste nichts von dem, was passiert war. Er musste ihn warnen. Kehrte er zurück, wurde er bestimmt verhaftet.

Er riss das Handy aus seiner Tasche und tippte die Nummer des Freundes ein, erreichte aber nur die Mailbox, auf der er sich hütete, eine Nachricht zu hinterlassen. Nein, er musste Jamal persönlich benachrichtigen.

Bevor er das Fabrikgelände verließ, erleichterte er sich in den Büschen hinter dem Gebäude, da, wo ihn niemand beobachten konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen, die auf der Straße lebten, verrichtete er sein Geschäft nie an dem Ort, an dem er schlief. So hatte seine Mutter ihn nicht erzogen und so wollte er auch nie enden.

Selbst in den Aufnahmeeinrichtungen war er immer wieder auf dieses Phänomen gestoßen. Nur weil es sich um Gemeinschaftsunterkünfte handelte, hieß das schließlich nicht, dass man nicht eine gewisse Sauberkeit an den Tag legen sollte. Ständig waren die Toiletten verstopft, vor den Urinalen sammelten sich eklig riechende Pfützen, sogar in den Duschen hinterließen diese Chaoten ihren Dreck. In letzter Zeit, obwohl immer weniger Flüchtlinge ankamen, war es noch schlimmer geworden. Nicht wenige pissten direkt in die Ecken der abgetrennten Unterkünfte, sodass in dem Zelt der aggressive Uringeruch mit dem nicht minder aggressiven Reiniger kämpfte und ihm auf den Magen schlug. Die Müllberge, denen die Betreiber nie Herr zu werden schienen, sorgten dafür, dass sich auf dem abgezäunten Gelände die Ratten tummelten, die angesichts des herrschenden Überflusses die Köder in den aufgestellten Fallen verschmähten. Und die Diebstähle unter den Bewohnern hatten deutlich zugenommen. Man durfte seine Habseligkeiten nicht einen Moment aus den Augen lassen.

Jamal hatte ihm geraten, sich ein Gepäckfach am Bahnhof zu mieten, was er auch tat - zumindest so lange, wie es ihm möglich war. Nach seiner Flucht traute er sich nicht mehr, diesen Ort aufzusuchen. Das eine Mal, um seine Sachen zu holen, war extrem genug gewesen. Seit diesem Attentat auf den Weihnachtsmarkt wimmelte es dort von Polizisten. Er hatte sein Glück kaum fassen können, von keinem behelligt zu werden, und sich geschworen, den Bahnhof und seinen Umkreis von nun an zu meiden.

Jetzt musste er wohl oder übel diesen Vorsatz brechen. Der Freund hielt sich mit Vorliebe dort auf und diejenigen, mit denen dieser Kontakt hatte, ebenfalls. Er war es Jamal schuldig, ihn so schnell wie möglich über den Mord zu informieren.

Auf seinem Weg verschlang er heißhungrig die letzten Cracker, doch das bohrende Hungergefühl ließ nicht nach. Außerdem sehnte er sich nach einer Tasse starken Kaffee, der das immer noch vorhandene Kältegefühl in seinem Innern hoffentlich vertrieb.

Die Aussicht darauf beschleunigte seine Schritte. Wenn er sich schon in die Höhle des Löwen begeben musste, konnte er sich ebenso gut vorher stärken. Ja, er würde, bevor er sich auf die Suche machte, einen Burger und ein Heißgetränk bei McDonalds kaufen und anschließend gleich deren Toilette benutzen. Die Anlage war immer sauber, die achteten auf vernünftige Hygiene.

8

 

 

Angelika

Michael, den nur noch die Wand aufrechthielt, rutschte nun langsam zu Boden, ließ aber seinen Blick wachsam auf Hermann ruhen, der sich weiterhin nicht regte. Ich konnte erkennen, dass er große Schmerzen hatte.

„Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“

Er schüttelte den Kopf. „Das Schlucken tut viel zu weh“, flüsterte er kaum verständlich.

Einen Arzt! Fassungslos über mein Versäumnis wählte ich erneut.

Die Sprechstundenhilfe unseres Hausarztes verwies mich an die Feuerwehr. Die versprach, sofort einen Krankenwagen und einen Notarzt zu schicken, was ich selbst in meiner momentanen Lage als ziemlich übertrieben empfand. Anderseits – konnte ich entscheiden, wie schwer Michael oder Hermann verletzt waren? Immerhin war Letzterer immer noch bewusstlos. Trotz allem hoffte ich inbrünstig, dass sich daran bis zum Eintreffen der Polizei nichts ändern würde. Mir graute vor einer Wiederholung des Erlebten.

Die Beamten tauchten schon kurz nach diesem Anruf auf. Zum Glück erschienen zwei relativ fit wirkende Männer mittleren Alters, denen ich zutraute, mit einem tobenden Hermann fertig zu werden. Sie zwangen den langsam zu sich Kommenden, auf dem Boden liegen zu bleiben, bis der Notarzt eine erste Untersuchung vorgenommen hatte.

„Was ist passiert?“, fragte der, der sich als Herr Baumann vorgestellt hatte.

Da mein Mann erst auf seinen Hals und dann auf mich wies, übernahm ich es, das Geschehene zu erzählen. Bis ich fertig war, traf der Notarzt ein, der bei Hermann den Verdacht auf eine Gehirnerschütterung und einen Knochenbruch an dem Arm, mit dem er die Pfanne abgewehrt hatte, äußerte und ihn daher mit ins Krankenhaus nehmen wollte. Meinen Mann untersuchte er wesentlich flüchtiger. „Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt und lassen Sie Ihre Verletzungen dokumentieren“, empfahl er ihm. „Der kann Sie gleich für die nächsten Tage krankschreiben. Es wird ein paar Tage dauern, bis Sie wieder vernünftig sprechen können.“

Die Polizisten wollten ebenfalls aufbrechen. „Was passiert jetzt?“, fragte ich Herrn Baumann. „Wie geht es weiter? Was, wenn er demnächst wieder vor unserer Tür auftaucht?“

„Wir werden mit ihm reden und ihm klarmachen, dass Sie Anzeige erstattet haben. Und dass er sich besser von Ihnen fernhalten soll“, erwiderte der. „Mehr können wir nicht machen. Seien Sie besser vorsichtig. Nutzen Sie die Gegensprechanlage und schauen Sie sich sorgfältig um, bevor Sie das Haus verlassen.“

Na, das waren ja schöne Aussichten! „Was hat er eigentlich damit gemeint?“, fragte ich Michael, nachdem wir wieder allein waren. „Wieso hat er dich einen Mörder genannt? Was hast du gemacht?“

„Nichts.“ Nun, da die schlimmste Aufregung vorüber war, verfiel er wieder in seine etwas wehleidige Art. Er zuckte mit den Schultern und deutete auf seinen Hals, um mir zu zeigen, dass er nicht in der Lage war, mir Rede und Antwort zu stehen.

„Irgendetwas muss geschehen sein“, bohrte ich nach. „Warum sollte er sonst nach all der Zeit plötzlich bei uns auftauchen und dich angreifen?“

Wieder hob er die Schultern und ließ sie fallen.

„Bist du etwa bei ihm vorbeigefahren?“

Er schüttelte heftig den Kopf.

„Hat er mit dir Kontakt aufgenommen?“

„Nein“, presste er unter Mühen hervor. „Ich habe keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.“

Er konnte tatsächlich kaum sprechen! Entschlossen stieß ich mich von der Wand ab, an der ich immer noch lehnte, und hielt ihm meine Hand hin, um ihm hochzuhelfen. „Komm, wir gehen zu Dr. Ploch. Das ist im Moment wichtiger, als uns den Kopf zu zerbrechen, was in Hermann gefahren ist.“

Der Arzt stellte neben einer Kehlkopfquetschung noch multiple Prellungen fest und verordnete Bettruhe und Sprechverbot bis zu einem nächsten Kontrolltermin in drei Tagen. So lange würde ich mich gedulden müssen. Michael handelte bestimmt genau nach dessen Anweisung und würde mich auf später vertrösten, anstatt sich mir anzuvertrauen. Denn dass irgendetwas Gravierendes zwischen den beiden vorgefallen sein musste, lag auf der Hand. Niemand rastete ohne Grund dermaßen aus. Hermanns Geschrei: du Mörder!, hallte noch immer in meinen Ohren nach. Was konnte bloß passiert sein?

Auf die Antwort musste ich dann nur bis zum Abend warten. Mein Mann, der sich direkt nach unserer Rückkehr auf die Couch begeben hatte, schaltete den Fernseher an und ich machte mich daran, die Spuren des Kampfes zu beseitigen. Der Schlag mit der Pfanne hatte etliche Fettspritzer an Wand, Decke und Schuhschrank hinterlassen, die mittlerweile eingetrocknet waren. Ich schrubbte und lauschte mit einem Ohr den regionalen Nachrichten, die gerade begonnen hatten.

Richtig aufmerksam wurde ich erst, als mein Mann ein halbersticktes Stöhnen von sich gab. In der Annahme, es ginge ihm plötzlich schlechter, stürzte ich ins Wohnzimmer und hörte gerade noch den Sprecher die letzten Einzelheiten zum Mord an Michelle F. berichten, deren Leiche am frühen Morgen von einem aufmerksamen Nachbarn gefunden worden war. Das eingeblendete Foto des Hauses, in dem die Tat geschah, verdrängte die letzten Zweifel. Es handelte sich bei dem Opfer um Sugar, Hermanns Tochter.

9

 

 

Auf dem Bahnhofvorplatz hatte sich eine Gruppe Nordafrikaner versammelt, er umging die laut Diskutierenden in einem großen Bogen. Allein an ihrem großspurigen Gehabe konnte er schon erkennen, dass sie auf Ärger aus waren. Und die machten selbst vor ihren eigenen Leuten nicht halt, wenn sie einen als leichtes Opfer ins Visier genommen hatten.

Der Wachmann vor McDonalds musterte ihn kurz, ließ ihn aber ohne weiteres passieren. Es zahlte sich eben aus, sich ordentlich und sauber zu halten und durch eine entspannte Körperhaltung Ungefährlichkeit zu signalisieren. Er kicherte leise in sich hinein, als er sich in die Schlange vor dem Schalter einreihte. Was sich nicht nur in solchen Fällen, sondern gerade auch bei seiner Arbeit als Vorteil erwies, nahm ihm auf der anderen Seite den Schutz vor kriminellen Übergriffen. Ein harmloses Weichei wurde viel eher angegriffen als ein Kerl, der eine gewisse Bedrohlichkeit ausstrahlte.

Er setzte sich an einen kleinen Tisch direkt neben der Heizung und trank einen ersten großen Schluck, den er genüsslich im Mund hin und her rollen ließ. Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen und verspeiste seinen Burger mit vier großen Bissen. Für den restlichen Kaffee nahm er sich Zeit, zog sogar seine Jacke aus, um sich vernünftig aufzuwärmen. So ließ sich die Kälte später wesentlich besser ertragen. Noch zweimal versuchte er, Jamal auf dem Handy anzurufen, beide Male teilte ihm eine unpersönliche Stimme mit, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.

Er zögerte seinen Aufbruch hinaus. Sich in den Bahnhofsbereich zu begeben, bedeutete, sich der Gefahr auszusetzen, dass die Polizei auf ihn aufmerksam wurde. Die Kontrollen waren auch hier bestimmt verstärkt worden. Sollte er es vielleicht lieber in dem Wohnheim probieren, in dem der Freund untergekommen war?

Nein, dort würde er sich wenn überhaupt nur am frühen Morgen und am Abend aufhalten. Jamal liebte es, so oft wie möglich mit seinen vielen Bekannten zusammenzustehen und Neuigkeiten auszutauschen und der beliebteste Treffpunkt war nun mal der Bahnhof. Er war es ihm schuldig, ihn schnellstens über den Mord an Sugar zu informieren.

In der Tür wäre er fast mit Ali zusammengestoßen, der sich in Begleitung zweier seiner Freunde befand und sich unnötig breitmachte. „Hast du Jamal gesehen?“, fragte er ihn anstelle einer Begrüßung.

„In den letzten Tagen nicht. Aber Hamid treibt sich hier irgendwo rum. Ist er nicht öfter mit dem zusammen unterwegs?“ Ali grinste breit und gewährte einen großzügigen Blick auf seine faulenden Zähne. „Wie sieht’s aus? Mein Angebot steht noch. Du kannst dich uns anschließen, wenn du willst.“

„Hab was Eigenes am Laufen“, wehrte er ab und hob grüßend die Hand. „Ich muss los.“ Um Ali machte er normalerweise einen großen Bogen. Was der abzog, war ihm zu heftig. Klar, wer überleben wollte, musste sich auf Illegales einlassen – zumindest, wenn man sich in einer ähnlichen Lage wie er befand. Aber es gab Unterschiede, was man bereit war zu tun und was nicht. Er jedenfalls beschränkte sich auf einfache Diebstähle, bei denen niemand körperlich zu Schaden kam. Er hatte kein Verständnis für die brutalen Überfälle, auf die Ali sich spezialisiert hatte. Man könne dabei gut seinen angestauten Frust loswerden, behauptete der, und sich endlich einmal an den Deutschen rächen, die sie erst hierher geholt hatten und nun nichts mehr von ihnen wissen wollten.

Stark und dumm, eine gefährliche Mischung. Nicht dass er selbst viel besser dastand. Doch bei ihm hatte es an den Umständen gelegen, dass er die Schule nicht beenden konnte. Der frühe Tod des Vaters hatte ihn zum Hauptversorger aufsteigen lassen. Durch die schwere Arbeit war seine Absicht, den Abschluss nachzuholen, bald in Vergessenheit geraten. Er hatte sich einfach nicht aufraffen können und sich schon für ewig in dieser Tretmühle gefangen gesehen. Genau deshalb hatte er sich von seinem Onkel überreden lassen, sein Glück in Deutschland zu versuchen.

Zuerst sah es ja auch so aus, als hätte er es gut getroffen. Es gab Geld bar auf die Hand, obwohl im Lager alles zur Verfügung stand, was sie benötigten. Seine Mutter war freudig überrascht, dass er so schnell in der Lage war, ihr Geld zu schicken. „Siehst du, dein Onkel hatte recht. Du hast das Richtige getan.“

Zu diesem Zeitpunkt stimmte er ihr unumwunden zu. Die Menschen waren nett und behandelten ihn gut. Er konnte sich mit seinem bisschen Englisch ausreichend verständigen und hatte sich bereits für einen Deutschkurs angemeldet, an dem er fleißig teilzunehmen gedachte. Und Arbeit gab es genug, das war ja bekannt. Die Deutschen freuten sich über jeden, der kam, um sich hier niederzulassen, weil sie selbst nicht genug Kräfte hatten, die anfallende Arbeit zu erledigen. Sobald er Fuß gefasst hatte und genug Geld verdiente, würde er seine Mutter und seine Geschwister nachkommen lassen. Eine rosige Zukunft lag vor ihnen allen.

10

 

 

Nach eineinhalb Stunden vergeblicher Suche entdeckte er Hamid telefonierend hinter dem Bahnhof auf einem der großen Steine in der Sonne sitzend, die den Parkplatz für die Fernbusse von der Straße abtrennten. Er lamentierte lautstark und gestikulierte wild mit den Händen. Im Näherkommen konnte er hören, dass dieser eine Verabredung für den heutigen Abend traf. Er konnte sich denken, worum es sich dabei handelte.

Als er ihn erreicht hatte, klappte dieser sein Handy zu und sah grinsend zu ihm auf. „Tarik! Alles paletti?“

„Hast du Jamal gesehen?“, fragte er.

„Der ist noch unterwegs, hat irgendwas am Laufen. Er wollte erst am Wochenende zurückkommen.“ Hamid runzelte die Stirn. Bestimmt war ihm erst in diesem Moment aufgegangen, dass sein Gegenüber vielleicht nicht über dessen Treiben Bescheid wusste.

„Ich bin selbst ein paar Tage weg gewesen.“ Mehr musste er nicht erklären, sein Status als Illegaler war kein Geheimnis. „Hast du von Sugar gehört?“

„Ja, klar. Gut für Jamal, dass er nicht mal in der Stadt ist.“ Hamid sprang auf. „Komm, ich lade dich auf einen Kaffee und einen Döner ein. Dann kannst du mir erzählen, wie es dir ergangen ist.“

Es kristallisierte sich schnell heraus, dass dieser ihn überreden wollte, bei seinen Raubzügen mitzumachen, nur deshalb hatte er sich großzügig gezeigt. Und Tarik verschwieg den eigentlichen Grund, warum er zurückgekehrt war genauso wie seinen Aufenthalt in Sugars Wohnung, sondern tat, als hätte er von dem Mord kurz zuvor von einem Bekannten erfahren. Der Typ, den er mit ihr streiten gehört hatte, war seiner Meinung nach ein Deutscher gewesen, zumindest sprach er akzentfrei. Trotzdem musste niemand erfahren, dass er sich im Nebenzimmer aufgehalten hatte, als die Tat geschah. Man konnte sich auf keinen dieser sogenannten Freunde verlassen. Für ein gutes Angebot würde ihn jeder von denen verkaufen.

„Du musst uns nur Rückendeckung geben“, versicherte ihm Hamid. „Nach Polizei Ausschau halten und so.“

Also auch darauf achten, dass keiner der anderen Reisenden oder zufällig Vorbeikommenden sie beobachtete. Das hörte sich nach einer leichten Aufgabe an.

„Heute Abend kommen noch fünf Busse. Wenn alles klappt, nehmen wir uns jeden vor. Du kriegst deinen Anteil direkt anschließend bei mir.“ Hamid hob fragend die Augenbraue. „Hast du eine Unterkunft? Sonst kannst du bei mir übernachten. Und morgen stelle ich dich Ahmed vor. Der sucht einen, der sich mit ihm die Miete teilt.“

Bei diesem Angebot konnte er nicht Nein sagen. Eine feste Bleibe unter der Hand für billiges Geld – endlich war ihm das Glück wieder hold.

„Im Bahnhof selbst arbeiten wir momentan nicht“, klärte Hamid ihn auf. „Zu viele Kontrollen. Und seitdem dieser Spinner in den Weihnachtsmarkt gerast ist, sind die Leute uns gegenüber wesentlich skeptischer. Im Dunklen bei den Bussen ist es einfacher und du kommst besser weg, wenn Gefahr droht.“

Das war ihm selbst nur zu bewusst. Anfangs war er von Weihnachtsmarkt zu Weihnachtsmarkt getingelt und hatte sich in dem Gedränge ohne Schwierigkeiten bedienen können. Besonders die, die an den Glühweinständen feierten, waren leichte Opfer. Ihn wunderte es echt, dass die Menschen nicht besser aufpassten.

Ihr Pech, sein Glück. Er hatte reichlich Beute gemacht und seiner Familie eine wundervolle Überraschung beschert. Ihre Lebenskosten waren für das ganze nächste Jahr gesichert. Dann, bevor er für sich selbst einen Batzen beiseitelegen konnte, hatte es dieses Attentat gegeben und damit endete diese Einnahmequelle.

Er hatte seine Arbeit auf die Kaufhäuser der Innenstädte verlegt, die in der Vorweihnachtszeit ähnlich gute Bedingungen boten. Zwischen den Menschenmassen gestaltete sich ein schneller Griff relativ einfach. Nur musste man da immer auf der Hut vor den Detektiven sein, die anscheinend ein besonderes Auge auf ihn und seine Partner warfen. Dreimal war er äußerst knapp einer Festnahme entkommen, weshalb er seinen Aktionsradius auf die Bahnhöfe verlegte. Doch auch dort hatten sich die Verhältnisse geändert, wurde ihm gleich bei seinem ersten Versuch bewusst, als sich eine zupackende Hand auf seine Schulter legte, die sich als die eines Wachmanns entpuppte.

Daher war Hamid Angebots eigentlich kein schlechter Neuanfang. Der Kerl hatte es irgendwie geschafft, den heißbegehrten Status eines anerkannten Asylanten zu bekommen, erhielt Geld vom Staat und nannte eine kleine Wohnung sein eigen. Zudem verfügte er über gute Kontakte – im Prinzip ein echter Glücksfall, dass er ihn getroffen hatte.