Cover

Elke Werry

16 : 9

Fürs Fernsehen in die Ferne

Reportagen vom Filmemachen

Inhalt

Prolog: Dokumentarische Landschaften

Durch das Tor zum gelben Drachen Chinas

Nahaufnahmen aus Nordkorea

Nah bei Buddha in Anuradhapura, Sri Lanka

Zu Gast bei Nomaden in der Mongolei

Orchon-Tal, im Herzen der Mongolei

Lektionen in Turkmenistan

Schnee von vorgestern in Grönland

Bushmeat mit Palaversoße in Ghana

Bei den Konso in Äthiopien

Unbekanntes Libyen

Der Duft Sansibars

Die Filme dieses Buches

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Mühlbeyer Filmbuchverlag
Inh. Harald Mühlbeyer
Frankenstraße 21a
67227 Frankenthal
www.muehlbeyer-verlag.de

Lektorat, Layout: Harald Mühlbeyer

Umschlagbild: © Elke Werry

Umschlaggestaltung: Steven Löttgers, Löttgers-Design Birkenheide / Harald Mühlbeyer

Bildrechte: Alle Abbildungen © Elke Werry

ISBN:

978-3-945378-46-5 (Epub)

978-3-945378-47-2 (Mopipocket)

978-3-945378-48-9 (PDF)

978-3-945378-45-8 (Print)

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog: Dokumentarische Landschaften

»Wohin fährst du?«

»Nach China.«

»Was machst du denn da?«

»Bilder pflücken.«

Marco Polo reiste 1266 nach Peking, ich leider erst 1987. Ich war mit einem Team und einer Filmkamera unterwegs, ließ mich als Langnase begaffen und aß mich durch fremde kulinarische Spezialitäten. Ich benutzte türlose Toiletten und beobachtete ein Land auf dem Weg in die Moderne. China galt damals noch als ziemlich exotisches Reiseziel, über das es kaum Bilder gab.

Diese filmische Reise ins Reich der Mitte war eines der ersten Projekte, die mich in die weite Welt führten. Meine Dokumentarfilme, die folgten, brachten mich zu vielen unbekannten Zielen und zu Leuten, denen ich wahrscheinlich nie begegnet wäre. Ich habe Reisbauern auf den Philippinen porträtiert, Hirten im Pamirgebirge von Tadschikistan, Fischer am Mekong, Flusskapitäne in Laos oder Bananenbauern in Ecuador. Bei manchen Filmen bin ich Religionen näher gekommen, habe Muslime in Tunis, Samarkand oder Tansania aufgenommen, Mystiker in Zentralasien oder Besessene in Nepal. Ich durfte Archäologen oder Klimaexperten bei ihrer Arbeit beobachten, feierte tagelang mit marokkanischen Marabus oder fastete mit Koranschülern während des Ramadan. All diese Leute ließen mich an ihrem Alltag teilhaben und in ihrer Lebensgeschichte herumstöbern. Manchmal erzählten sie die unglaublichsten Geschichten, die in den Filmen gar keinen Platz gefunden haben. Von jedem Einzelnen habe ich eine Menge gelernt und bin dafür sehr dankbar.

Oft bin ich gefragt worden, wie es bei mir angefangen hat mit der Filmerei. Diese Frage ist einfach zu beantworten: Ich bin neugierig und naseweis. Außerdem finde ich es spannend, mich in fremde Lebenswelten hinein zu denken. Schon als Kind liebte ich Geschichten aus ferner Fremde und interessierte mich für alles Abenteuerliche und Unbekannte. Als kleines Mädchen schaute ich heimlich bei anderen Leuten in die Badezimmerschränkchen. Ich wollte wissen, womit sie ihre Haut eincremen, ihre Fingernägel schneiden, wie ihre Parfums riechen und welche Pillen sie nehmen. Fremde Orte, Religionen, Gebräuche kennen lernen, unbekannte Gerüche und Töne spüren, ungewohnte Speisen probieren, das kam später. Mich begannen Menschen zu interessieren, die ein anderes Leben führten als ich, ich wollte sie beobachten, sie kennen lernen, ihnen nahe sein und über sie berichten.

Über diese Neugier und die Lust, Fremdes zu entdecken und andere dafür zu begeistern, erzählt dieses Buch. Es ist ein Erinnerungsbuch. Meine Filmgeschichten und Reportagen beschreiben eine Auswahl aus Orten und Plätzen, an denen ich gedreht habe. Die meisten liegen jenseits der üblichen Reiserouten und viele haben sich inzwischen stark verändert, zum Beispiel die chinesische Insel Hainan, die ich noch vor dem Touristenboom erlebt habe. Andere Geschichten handeln von historisch oder archäologisch bedeutenden Orten, die kaum jemand kennt, darunter von der Unesco nominierte Weltkulturerbestätten wie Merw in Turkmenistan oder das Orchon-Tal in der Mongolei. Vor allem aber geht es um Begegnungen. Mit Menschen, die in den Dokumentarfilmen eine Rolle gespielt haben, oder anderen, die bei den Filmprojekten im Team dabei waren. Wichtig sind mir auch Momentaufnahmen am Rande, zum Beispiel am Abend mit dem Team übermüdet am Kneipentisch zu sitzen, den Drehtag nochmal zu besprechen und zu merken, dass das gemeinsame Erinnern genau so viel Spaß macht wie das Drehen selbst.

Das Abenteuer des Filmemachens beginnt damit, dass man sehen lernt. Mein Blickwinkel auf die Welt war 16:9, und deshalb heißt auch dieses Buch so. 16:9 bezeichnet bei Filmbildern das Seitenverhältnis von Bildbreite zu Höhe. Es ist ein weltweit gültiges Breitbildformat, das ein intensiveres Sehen am Fernsehbildschirm verspricht. Und das vor allem unseren natürlichen Sehgewohnheiten des Auges ähnelt.

Bei den meisten Projekten, die in diesem Buch beschrieben sind, war ich als Autorin oder Produzentin unterwegs, bei anderen als Kamerafrau. So gut wie alle waren Komplettproduktionen, meist für Fernsehanstalten. Konkret bedeutet das, dass der ganze Produktionsprozess von der Idee bis zur Abgabe begleitet wird, das heißt, die Filme werden nach den Dreharbeiten »sendefertig« an die Fernsehanstalten geliefert, fertig geschnitten und betextet, mit komponierter Musik und Profisprechern vertont und gemischt. All das konnte nur durch ein Team zustande kommen. Das waren in meinem Fall glücklicherweise nicht nur Kameraleute, Tonspezialisten, Cutter und Musiker, die ihren Job beherrschen, sondern Kollegen, mit denen ich mich auch privat gut verstanden habe und bis heute befreundet bin. Es waren Leute, die sogar unter Stress gute Laune verbreiteten und manchen schwierigen Dreh durch kreative Einfälle gerettet haben.

Ich habe jetzt dreißig beglückende und bereichernde Filmreisejahre hinter mir und hoffentlich noch ein paar vor mir. Ich begann in einer Zeit fürs Fernsehen zu arbeiten, da gab es noch keinerlei private Kanäle. Damals war das Fernsehen noch ein Leitmedium, Zuschauerquoten interessierten niemanden. Der Hunger nach Bildern aus der Welt war groß, und meine Geschichten spiegeln eine Epoche, in der es filmisch noch einiges zu Entdecken gab. Deshalb ist dies auch ein nostalgischer Text, der von etwas berichtet, das es so nicht mehr gibt.

Das Buch erzählt neben dem Making of-Aspekt auch und vor allem vom Reisen. Das Angenehmste bei Drehreisen ist für mich, dass ich einen echten Grund habe, unterwegs zu sein. Und noch etwas kommt dazu: Ich muss das, was ich sehe, bewerten, filtern, aussortieren, um es dann umzusetzen für ein Publikum. Die Wirklichkeit scharf stellen und rahmen. Deshalb genügt es natürlich nicht, einen Ort »interessant«, »schön«, »krass« oder »langweilig« zu finden. Es hilft auch nicht, Episoden oder Assoziationsschnipsel aneinander zu stricken wie Socken. Man braucht eine Geschichte, einen roten Faden und gute Helden. Bilder und Töne, die vor Ort ungedreht bleiben, darf man bedauern. Aber man muss sich spätestens nach den Dreharbeiten von ihnen verabschieden. Das ist schmerzhaft. Tut man das nicht, verwässert dies das Projekt oder man wird nie fertig damit. Meine Arbeit erscheint vielen als »Traumberuf«, bunt, prall, exotisch. Aber streckenweise ist dieser kreative Prozess auch einfach nur langweilig, besteht aus einer Ansammlung von Flugkilometern, aus fremden Wörtern und Gesten, aus Beobachten, Geduld und Warten. Vor allem aus Warten. Auf Programmkonferenzen, in denen ein Themenvorschlag oder eine Projektfinanzierung entschieden werden soll, auf Drehgenehmigungen, besseres Wetter oder richtiges Licht. Auf die Ereignisse und Leute, mit denen ich filmen will, oder auf die nächsten Abschlagszahlungen, um weiter zu drehen oder zu schneiden.

Die wenigsten Zuschauer ahnen, wie anstrengend es sein kann, einen Film fertig zu machen. Von einer Drehreise kann man ausgebrannt oder sogar krank wieder zurückkommen. Zum Glück ist mir das noch nicht passiert, denn beim Filmemachen geht die Arbeit an diesem Punkt weiter – oder, je nach dem, gerade erst richtig los. Manchmal verliert man auch sein Thema aus den Augen und muss ertragen, dass sich Geschichten nicht so »herbeizaubern« oder zurechtbiegen lassen, wie man es sich gewünscht hat. Denn im Gegensatz zu fiktionalen Projekten ist die Regiearbeit bei Dokumentarfilmen nur bis zu einem bestimmten Punkt planbar. Dann sollte man den Mut aufbringen, die Geschichten einfach »laufen zu lassen«.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Es gibt kein Standardrezept für einen guten Dokumentarfilm. Es existiert auch kein Patent für ein direktes Eintauchen in die Dramaturgie. Das Aroma spannender Geschichten braucht viele Zutaten, und die Qualität eines Filmes macht aus, was davon bleibt, wenn er zu Ende ist. Ob er gelingt, hängt zum großen Teil von den Personen ab, die darin porträtiert werden.

Erstaunlicherweise ist das reale Erscheinungsbild der Protagonisten keine Garantie für einen akzeptablen Film. Viele Leute denken ziemlich lange darüber nach, was sie gut aussehen lässt. Aber manch smarter Porträtpartner macht vor der Kamera eine schlechte Figur. Andere können keinen Satz zu Ende bringen oder wirken steif wie ein Brett, da lässt sich mit der besten Regiearbeit nichts ausrichten.

Unbeschreiblich ist das euphorische Gefühl, das sich beim Filmemachen einstellt, wenn Szenen auf Anhieb funktionieren. Wenn man spürt, dass man das »richtige Gegenüber« und die richtigen Protagonisten für sein Projekt gefunden hat. Wenn die Gefilmten die Kamera vergessen und mit ihrem ganzen Körper zu reden beginnen. Manchmal sind das auch Leute, die schwarze Fingernägel oder den Geruch nach Erde und Lebendigkeit mitbringen. Oder witzig und spontan reagieren, wie ein vietnamesischer Reisbauer, der noch nie vor einer Kamera gestanden hat und auf die lapidare Frage, wie seine Reisernte dieses Mal ausgefallen sei, antwortet: »Mir geht es besser als denen, denen es schlechter geht«.

Zahlreiche kluge Bücher sind über den dokumentarischen Umgang mit Filmfigur und Stoff geschrieben worden, aber letztlich geht es immer um ein realistisches Setting. Und darum, für seinen Film glaubwürdige Personen zu finden, die auch der Betrachter des fertigen Filmes überzeugend findet und über die er mehr erfahren will. Einen Dokumentarfilm zu machen, bedeutet schließlich jedes Mal so eine Art Rückeroberung des Mediums aus dem realen Lebensraum. Dieses Abenteuer birgt hohen Suchtcharakter. Wir sind dabei nicht nur Chronisten, sondern eine Art Bilderjunkies, moderne Jäger und Sammler, die mit Kameras und Mikrofonen auf Beutefang ziehen. Auch der Versuch, die Leute dazu zu bringen, das, was sie uns bei der Recherche vorher schon persönlich anvertraut haben, noch einmal vor der Kamera zu sagen, kostet Zeit und Ressourcen. Viele Gigabyte Material, nach dem Motto »es wird dann schon das Richtige dabei sein«, machen aber nicht nur dem Cutter unnötigen Stress, sondern führen bisweilen auch zu frustrierenden Ergebnissen. »Überdreht« heißt das dann, ein Fehler, der häufig gemacht wird, aus Angst, sich bereits während der Dreharbeiten entscheiden zu müssen. Zum Glück habe ich diesen Job noch mit richtigem Filmmaterial gelernt. Ein Rohstoff, mit dem man sparsam umgehen muss, weil er so teuer ist. Sündhaft teuer, vor allem 35mm-Film. Hohe Drehverhältnisse, also ein hoher Verbrauch an Filmrollen, bläute man mir schon von Anfang an aus. Es ist gut, gelernt zu haben, wann eine Aufnahme »im Kasten« ist, trotz Videobändern, Speicherchip-Karten und Digitaltechnik.

Die Ergebnisse vieler Filmaufnahmen habe ich beim 35- oder 16mm-Filmemachen oft erst Wochen nach der Rückreise gesehen, nämlich dann, wenn das Bildmaterial entwickelt aus dem Kopierwerk zurückkam. Schwer vorstellbar, wie aufregend damals das erste Muster-Gucken war.

Heute ist nicht nur das Filmmaterial, auch das Fernsehmedium fast schon Geschichte. Fast. Die manisch visuelle Beredsamkeit unserer Zeit verlagert sich in rasendem Tempo auf andere Medien. Bewegtbildproduktion ist für Menschen unter 30 inzwischen eine alltägliche Kulturtechnik, die jeder beherrschen kann. Dass dabei Qualitätskriterien auf der Strecke bleiben können, schadet nicht, wenn »user« auf allen möglichen Plattformen ihre Filmchen präsentieren, Dilettantismus wird zum Look erklärt. Bewegtbilder werden heute anders konsumiert, und es hilft auch nicht weiter, darüber zu jammern, dass sich der Dokumentarfilm verändert hat, nicht nur auf der Seite der Technik, die leichter, wendiger und digitaler geworden ist, sondern vor allem bei den Inhalten. Deshalb kann man sich lange darüber streiten, was heute eigentlich noch ein Dokumentarfilm ist. Es gibt keine klaren Dogmen mehr. Und weniger cineastische Schönheit. Es geht auch nicht mehr um Wahrheit, 24mal in der Sekunde. Das Genre erzählt wie eh und je aus dem Leben, aber es hat neben klassischen Formen jede Menge Hybridformen entwickelt, die sich »dokumentarisch« nennen, es aber kaum mehr sind. Sie heißen Doku-Dramen, Doku-Fiction, Doku-Soaps, oder Scripted Reality, eine Gattung, die vorgibt, ein »Drehbuch zur Wirklichkeit« zu schreiben. Heraus kommt dabei mehr Unterhaltung als Botschaft. Dazu gehört auch der verschärfte Einsatz von technischen Raffinessen, die längst nicht mehr nur Spielfilmteams beherrschen. Viele dieser Filme sind gut gemacht, aber gelogen. Auf der Suche nach dem größeren Publikum hat sich die Bandbreite und die Machart der nicht-fiktionalen Filme enorm verändert. Die kleine Welt dieser Medien und speziell der Bereich, in dem ich bin, ist größer geworden. Es gibt einige, die das bitter bedauern.

Wir klassischen Dokumentaristen neigen ja leider dazu, die Welt erklären zu wollen. Wir produzieren eher Krisenkino als Traumfabrik. Wie man sich dabei anstellt, dass das Publikum nicht gähnen muss, wie man mit der »Wirklichkeit« und seinen Protagonisten umgeht, ist ein nicht ganz unwichtiges Thema, das jeder, der solche Filme macht, für sich beantworten muss. Manche reden sich um Kopf und Kragen, bei dem Versuch, zu rechtfertigen, was heute erlaubt ist und filmisch »funktioniert«. Das fängt damit an, ob man seine Protagonisten wie Schauspieler behandelt, wie oft man Einstellungen wiederholen lässt, wenn einem das Bild nicht gefällt, wie man fehlende Szenen faked. Oder in der Postproduktion ein wenig nachhilft, wenn der Himmel zu grau aussieht. Manche brauchen eben immer Morgenrot, auch wenn es keines gibt.

Wer Dokumentarfilme macht, filmt zwangsläufig eine wie auch immer geartete Wirklichkeit ab. Dass der Filmemacher gleichzeitig seine eigene subjektive Haltung und Einstellung zum Thema ausdrückt, ist eine Banalität, mit der jeder konfrontiert ist. Das betrifft nicht nur die Dramaturgie oder die Kadrage der Bilder. Das fängt schon bei den Fragen an. Jeder kann seine Fragen so stellen, dass er garantiert die erwarteten Antworten bekommt. Es ist möglich, O-Töne von Gesprächspartnern während der Dreharbeiten oder im Schnitt so zu bearbeiten, bis sie werden, wie der Autor sie hören möchte. Man kann Handlungen inszenieren, die in Wirklichkeit nie statt finden. Fake, Fake, Fake ist kein Tabu mehr. Der Bearbeitung der Realität sind kaum Grenzen gesetzt, denn seit Langem ist der Dokumentarfilm nicht mehr an den strengen Wirklichkeitsbezug gebunden. Er hat sich im letzten Jahrzehnt mehr und mehr vom realistischen Anspruch entfernt, ist erfinderischer und subjektiver geworden. Auch deshalb, weil schon fast alles durch den medialen Fleischwolf gedreht wurde und sich das Sehverhalten der Zuschauer permanent verändert.

Bei all meinen Filmen ist es mir wichtig, eine Balance zwischen Nähe und Distanz zum Thema zu halten. Ich will nicht zu viel im Hotel sein, lieber bei den Menschen vor Ort. Ihnen nahe zu sein, heißt für mich, dass auch ich mein Essen mit den Händen esse, wenn sie das tun. Ich habe mit zugekniffenen Geschmacksnerven auch Schafsaugen gegessen, wenn sie mir als Ehrengast gereicht wurden. Oder frittierte Heuschrecken. Ich glaube nicht, dass dies allein einen besseren Film bewirkt, aber ich will mich zumindest auf die Ebene meiner Porträtpartner einstellen. Ich versuche, die Menschen, um die es geht, ganz dicht vor mir zu haben. Ich halte eine solche Nähe auch für eine vertrauensbildende Maßnahme, die einen passenden Rahmen für eine gemeinsame Arbeit schafft.

Wenn ein Filmprojekt los geht, habe ich vorher meist schon eine grobe Vorstellung von den Details und Problemen, die da auf mich zukommen werden. Manchmal schleicht sich der Gedanke ein, man würde das alles schon kennen, alles wäre Routine. Aber so ist es nie. Es ist jedes Mal wieder neu und anders, ein schöner Überraschungseffekt bei der Arbeit. Manche Filmemacher fürchten sich davor, dass ihr Film einen anderen Verlauf nehmen könnte als geplant. Sie bebildern einen daheim am Schreibtisch vorgefassten Drehbuchtext. Erzeugen »Souffleurtexte«, was recht einfach ist, werten ihre Sujets auf und bauen sich ihren Film mit gesuchten »Belegbildern« und Motiven generalstabsmäßig zurecht. Andere Autoren wollen selbst eine Hauptrolle spielen. Das ist nicht mein Stil. Ich habe keinen einzigen Film gemacht, in dem ich im Bild gewesen wäre. In meinen Filmen kommen die Leute zu Wort. Ich lasse mich durch sie zu Umwegen oder Abwegen verleiten, begleite Protagonisten manchmal sogar dorthin, wo ich selbst eigentlich gar nicht hingehen will. Vielleicht klingt das altmodisch, aber ich hoffe, dass sich meine Zuschauer nach dem Film noch die eine oder andere Frage stellen. Und ich glaube immer noch daran, dass gut gemachte Dokumentarfilme dazu beitragen können, für einen anderen Blick auf die Welt zu sensibilisieren.

Warum ich dieses Buch geschrieben habe, hat auch noch einen anderen Grund. Die meisten, die meine Filme gesehen haben, fragen mich danach immer: Was war denn da noch? Wo habt ihr gewohnt, wer hat geholfen, übersetzt, getröstet, gekocht? Was ist schief gelaufen? Es sind diese vielen »Making-of Geschichten« drumherum, Erlebnisse, die oft genau so spannend sind wie die Filmprojekte. Manchmal sogar spannender. Meine »16:9«-Geschichten lassen ein Stück weit hinter die Kulissen einer Dokumentarfilmproduktion schauen. Sie erzählen von der Anspannung, wenn die Koffer gepackt werden, von Sprachproblemen und Missverständnissen, defekten Kameras und glücklichen Festen. Von Aufbruch und Abenteuern in einer Zeit, in der noch nicht alles bereist, beschrieben, fotografiert und gefilmt war.

Durch das Tor zum gelben Drachen Chinas

Nein, wir haben nichts verpasst. Noch immer ist das Nachmittagslicht über dem Himmelstempel in der chinesischen Hauptstadt blau. So tiefblau, wie es einige Jahre später nicht mehr sein wird. Stativ und Kamera stehen, wir haben noch Blende 8 bei zwei Graufiltern. Das Mittagessen der großen Delegation dauerte wie immer ziemlich lange, aber es klappt noch alles mit den Filmaufnahmen. Wir stehen im Oktober 1987 drehbereit vor einem wunderschönen und gut restaurierten Tempel, der früher den Kaisern der Ming- und Qing-Dynastie als Opferstätte nach guten Ernten diente. Meditierend und fastend verbrachten sie hier die Nacht der Wintersonnenwende, umgeben von ihrem ganzen Hofstaat. Vor dem Tempelaltar sollen sie sich sogar niedergeworfen haben. Aber seit China eine Republik ist und der Glaube keine Rolle mehr spielt, verlor auch der Himmelstempel seine religiöse Funktion. Seitdem ist er nur noch überwältigend schön und ein Wahrzeichen Pekings. 38 Meter hoch ragt er aus einer dreistufigen Marmorterrasse auf, und für die Filmaufnahmen kadrieren wir den Himmelstempel so, dass er diagonal ins Bild passt. Monumentaler geht nicht mehr. Gebühren für die Dreharbeiten werden für uns zum Glück noch keine fällig, aber das soll sich ändern. 1998 wird der Himmelstempel zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt, wie kurz zuvor die Verbotene Stadt, die größte Palastanlage der Welt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erfährt das baugeschichtliche Erbe Chinas internationale Wertschätzung, und wer dieses filmen will, wird dafür kräftig zur Kasse gebeten.

Wir sind im Herzen Chinas. Stehen vor der Verbotenen Stadt, dem ehemaligen Kaiserpalastkomplex. Drehen die obligatorischen Peking-Aufnahmen am Platz des Himmlischen Friedens, auf dem damals noch keine Uhrenverkäufer stehen, die für 10 Dollar schlechte Rolex-Kopien anpreisen. Und auch keine Polizisten und Soldaten. Aber es liegt bereits ein frischer Wind nach Veränderung in der Luft. Zwei Jahre nach unserer Drehreise werden auf diesem Platz des Himmlischen Friedens Barrikaden und Panzer stehen, Schüsse fallen und Blut fließen. Vielleicht hätte man es damals schon ahnen können, dass die zaghaften Versuche nach mehr Demokratie blutig niedergeschlagen werden und als Tian'anmen-Massaker in die Weltgeschichte eingehen. Wie ein Wächter der alten Zeiten hängt am Eingang zur Verbotenen Stadt ein überlebensgroßes Porträt des großen Steuermanns Mao Zedong. Die meisten Besucher lassen sich hier fotografieren, bevor sie das weitläufige Gelände der Verbotenen Stadt mit unzähligen Gebäuden und Pavillons betreten. 9999,5 Räume sollen die kaiserlichen Söhne des Himmels bewohnt haben, ein halber Raum weniger als den Göttern des Himmels zustand.

Wir fangen Blicke ein von durchschnittlichen chinesischen Bürgern, die sich ebenso staunend und ehrfurchtsvoll wie wir durch den »Palast der irdischen Ruhe«, die »Halle der Harmonie«, die »Halle der Vollendung« oder die Gemächer der Konkubinen bewegen. Seit 1924 sind die Tore zu der Verbotenen Stadt des ehemaligen Kaiserpalastes für die normale Bevölkerung geöffnet. Aber nicht nur die Bauern aus der Provinz klopfen an fein geschnitzte Marmorbalustraden, an große Bronzelöwen, edelsteinverzierte Opfergefäße und löwenähnliche Türknäufe des großen chinesischen Kaiserreiches, als müssten sie sich versichern, dass dies keine Fata Morgana ist. Alle tun das. Auch wir. Und jeder geht nach Hause mit einem eigenen Film im Kopf von den alten Zeiten, der zweitausendjährigen Herrschaft der Kaiser in China.

Am Nachmittag quält sich unser Bus durch Tausende von Fahrrädern in die Innenstadt von Peking, wir filmen das neue China im Aufbruch. Baustellen und Betonburgen, jetzt fängt es an. Überall sehen wir Plakate, die zeigen, wie es einmal aussehen soll: schöner, moderner, größer. Das Land versucht, den kommunistischen Mief zu vertreiben und wirbelt alles durcheinander. Deng Xiaoping, der Führer der kommunistischen Partei Chinas, hat dem Land Reformen verordnet. China ist auf dem Weg zu der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der Welt. Es modernisiert sich in den 80er Jahren grundlegend, vom Westen fast unbemerkt und leicht belächelt. Noch. Bei der Umgestaltung nimmt Peking die Vorreiterrolle ein, ist eine Art Leitstern in die Moderne. In schnellem Tempo werden Gebäude abgerissen und neue errichtet, die Hauptstadt braucht akzeptable und zeitgemäße Wohnungen für die rund 6,5 Millionen Bewohner. Neue Fabrikgebäude, Büros, Hotels für Touristen und Geschäftsleute werden hochgezogen. Dafür werden ganze Stadtviertel mit niedrigen Wohnhäusern ohne private Wasserversorgung plattgewalzt, auf historische Bausubstanz wird keine Rücksicht genommen. In den 1940er Jahren besaß Peking noch fast 8.000 Tempel und religiöse Denkmäler im Stadtbereich, in den 1980er Jahren sind es nur noch 150.

Unsere offiziellen Begleiter lassen uns ihren Stolz spüren, dass ihr Land den Anschluss an die modernen Zeiten gefunden hat. Alles Neue finden sie gut. Alles, was groß ist und das menschliche Maß sprengt, das gefällt ihnen. Unser Hauptbegleiter, abgestellt von der staatlichen Reiseorganisation CITS, kommt aus dem Zeigen gar nicht mehr heraus und wundert sich, dass wir nicht jedes Hochhaus aufnehmen wollen. Er ist ein lustiger Bursche, der die Angewohnheit hat, uns zu bespaßen und alles mit Sprüchen zu kommentieren. Sein Repertoire reicht von umfangreichen Konfuzius-Zitaten bis hin zu allgemeinen Lebensweisheiten wie: »Ist eine Sache einmal passiert, dann rede nicht darüber, denn es ist schwer, verschüttetes Wasser wieder zu sammeln«. Diesen Spruch gebraucht er vorzugsweise, wenn sich unser Busfahrer wieder mal verfährt. Gerne gibt er uns auch kleine Rätsel auf, die etwa so lauten: »Wie nennt man einen chinesischen Polizisten?« – »Langfingfang«. »Hahaha«. Es ist schwer, ihn zum Schweigen zu bringen, wenn Ton-Atmos aufgenommen werden sollen. Die Betreuung einer Filmcrew ist neu für ihn, normalerweise reist er ausschließlich mit Touristengruppen durchs Land. Aber nach einigen Tagen des gegenseitigen Beschnupperns kehren freundschaftliche Routinen im Team ein. Nach und nach wird es selbstverständlich, dass der Fahrer, wenn er gerade nichts zu tun hat, seine weißen Fahrerhandschuhe aus Baumwolle auszieht und unser Stativ trägt.

Was heute nur mit allergrößtem Sicherheitsaufwand filmbar wäre, wird uns damals bedenkenlos genehmigt. Die Landung eines Flugzeuges aus Europa auf dem Pekinger Flughafen und das Filmen der Passkontrolle bei der Einreise am Zoll. 77 Millionen Fluggäste werden dort heute pro Jahr abgefertigt. 1987 ist der Flugverkehr noch so gering, dass man einem Filmteam erlaubt, zu Fuß mit dem Equipment vom Terminal aus auf das Rollfeld zu spazieren, dort eine halbe Stunde rumzustehen, um auf einen Landeanflug der Lufthansa zu warten. Und diesen aus nächster Nähe aufzunehmen. Dennoch wird es für uns kein guter Drehtag. Das Flugzeug wirbelt bei der Landung ziemlich viel Staub auf. Dieser dringt in die Kamerakassette ein und verschrammt dabei eine halbe Filmrolle Negativmaterial. Es trifft genau die Aufnahmen an der Passkontrolle, die wir nur zweimal gedreht haben, weil alles so schön klappte. Aber es lässt sich später ausbessern, in der Postproduktion wird die Szene mit dem Wärterhäuschen und dem Abstempeln des Passes etwas vergrößern, so dass die Schramme außerhalb des Bildrandes bleibt.

Am nächsten Morgen sitzt unser Begleiter und Dolmetscher nachdenklich am Frühstückstisch. »Was ist?«, frage ich ihn. »Ich mache mir Sorgen, dass ihr unsere chinesischen Speisen nicht mögt, dass es euch zu fremd ist, aber wir haben hier kein europäischen Frühstück«, sagt er in bestem Deutsch, das er auf der Pekinger Universität gelernt hat. In der Tat ist das Frühstück durch und durch chinesisch, denn auf europäische Gäste ist man hier noch nicht eingestellt. Es gibt Hunderte von Dim Sum, gedämpfte Häppchen im Bambuskörbchen, gefüllt mit leckeren, aber undefinierbaren Köstlichkeiten, die auf einem Rollwagen von einer beschürzten Serviererin durch den Frühstücksraum gefahren werden. Dazu diverse Suppen, Reis und Nudeln. Es riecht nach Frittiertem und Fisch, nach Zimt und Haferschleim. Ich finde das alles großartig und probiere mich morgens um halb sieben durch das ganze Sortiment. Was mir viel mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass wir nur die schönen Seiten Chinas vorgeführt bekommen und auch nur diese filmen sollen. Wir fühlen uns rundum gepampert und kontrolliert. Themen wie Minderheiten, Konflikte, Armut, Landflucht oder Umweltverschmutzung dürfen in dem Film keine Rolle spielen. Jede Frage danach ist schon eine Zumutung. Das neue, schöne China will sich präsentieren, aber manchmal gelingen uns im Laufe der Reise dann doch Bilder, die nicht der offiziellen Propaganda entsprechen. Und noch nicht in den neuen, bunten Reisekatalogen zu finden sind.

Noch bevor der Berufsverkehr beginnt, fahren wir mit dem Produktionsbus zum Pekinger Hauptbahnhof. Wir wollen dort drehen und im Anschluss mit dem Zug weiter fahren nach Schanghai. Vor dem Hauptbahnhof sitzen schon etwa 300 Leute auf ihren Gepäckstücken und Kisten, auch im Inneren des Bahnhofs herrscht enormes Gedränge. Als Alleinreisender ohne Sprachkenntnisse kann man sich hier nicht zurecht finden, es gibt kein einziges Schild auf englisch, auch alle Zugfahrpläne existieren damals nur auf chinesisch.

Unser Konzept des Filmes besteht aus einer »subjektiven Kamera«, die stellvertretend für einen Chinareisenden stehen soll, der sich durch das Land bewegt. Wir wollen deshalb eine kleine Szene in der Pekinger Bahnhofshalle drehen, in der die subjektive Kamera radebrechend nach dem Weg fragt, sich zu orientieren versucht und schlussendlich das Gleis nach Schanghai findet. Aber solche Experimente liebt man hier nicht. Irritierte Beamte kreuzen das Bild und rufen nach Verantwortlichen. Das Ganze artet zu einem Menschenauflauf aus und gelingt erst nach mehreren Anläufen. Spätestens in der Bahnhofshalle merken wir, dass es hilfreich war, all die Drehorte, an denen die »subjektive Kamera« Eindrücke einfangen soll, akribisch voraus zu planen. Und diese Drehorte auch genehmigen zu lassen, denn noch sind Dokumentarfilme in China absolutes Neuland. Sich frei und spontan bewegen, filmen, wo man will, das geht gar nicht. Zum Glück haben wir Unterstützung, wenn es brenzlig wird, denn unser Projekt ist eine deutsch-chinesische Koproduktion.

Vielleicht hätten wir es einfacher haben können, wenn wir mit einem echten Protagonisten durch das Land gefahren wären. Aber das wollten wir nicht, da dies zu viele persönliche Assoziationen geschaffen hätte. Wir wünschten uns keinen Prominenten als Reiseführer, auch keinen Rentner, Studenten oder Schauspieler, wir wollten überhaupt keine Identifikationsfigur. Der Blickwinkel der Kamera sollte für eine Person stehen, wie sie jeder sein könnte, mit einer Perspektive, die uns einen großen Spielraum lässt. Mal staunend, manchmal nachdenklich, oft kommentierend. Das Projekt war eine Art »China-für-Anfänger-Film«, der den Zuschauer für das Land sensibilisiert. Wesentliches Thema war ein Sich-Einlassen auf das Fremde, ein vorurteilsfreies Reisen »durch das Tor zum Gelben Drachen«, wie der Filmtitel verspricht. Heute müsste ein Film ganz anders heißen, um Aufmerksamkeit zu wecken, etwa »Chinas Milliardäre und ihre Mercedes-Cabrios«. Aber damals gilt das Reich der Mitte noch als das große unbekannte Land, das Thema verlangt nach einer allgemeineren Linie. Zu unseren Bildern gibt es einen subjektiven Text, den wir im groben Gerüst vorher schon geschrieben haben. Der Kommentartext sieht auch ganz normale Dialoge zwischen der »Kameraperson« und anderen Personen vor, die sich auf der Reise treffen. In der Praxis funktioniert das gut, da alle gefilmten Personen die Kamera als ihr natürliches Gegenüber betrachten und oft spontan direkt in die Kamera antworten. Unser Problem ist der Materialverschleiß, denn wir drehen auf 16mm-Film. Dazu kommt die Unsicherheit, ob der direkte Blick in die Kameralinse nicht merkwürdig wirkt. Denn üblicherweise richten die Gefilmten im Dokumentarfilm ihren Blick zum Autor, der direkt neben der Kamera steht, niemals direkt in die Linse. Bis zum endgültigen Schnitt des Filmes wissen wir nicht, ob dieses Konzept überzeugend und glaubwürdig ist. Aber am Ende funktioniert es überraschend gut.

Die Zugfahrt nach Schanghai wird ein Genuss. Wir sitzen in der »weichen Klasse« auf flauschig gepolsterten Bezügen, trinken Grüntee aus großen Blechkannen und lassen die Landschaft vorbei fliegen. Über weite Strecken sieht man Reisfelder und kleine Dörfer. Im Zug drehen wir eine Szene, in der ein chinesischer Fahrgast unserem »subjektiven Reisenden« eine Zigarette anbietet. Dieser lehnt ab, weil er Nichtraucher ist, kann das aber nicht erklären. Daraufhin legt der chinesische Fahrgast aus Höflichkeit seine Zigarette beiseite, obwohl man überall rauchen darf. Eine Kommunikationsfalle aus Sprachnot. Die Realität im damaligen China ist eigentlich ganz anders: Überall wird noch geraucht und gespuckt.

»Kamela, Battelie, Action!« Wir müssen grinsen, denn einer der chinesischen Begleiter hat sich unsere Codewörter bei Drehbeginn zu eigen gemacht und gibt jetzt jedes Mal stolz die Kommandos, auf deutsch mit chinesischem Einschlag. Wir filmen die Highlights von Schanghai: zuerst das frühmorgendliche Tai-Chi-Ritual an der Uferpromenade, die fließend weich ineinander übergehenden Bewegungen, die die Körperenergie mehren und die Meridiane durchlässiger machen sollen. Eine Art chinesischer Volkssport, der zwar heute in jeder deutschen Volkshochschule gelehrt wird, damals aber noch als eine Art Geheimlehre galt.

Dann folgen durchkomponierte Stadtansichten, die Shoppingmeile Nanjing Lu und das Huxinting-Teehaus, ein zweistöckiger, offener Holzpavillon neben einem See, direkt vor den Toren des Yuyuan-Gartens. Dieses Teehaus ist nur über eine Zickzackbrücke erreichbar. Man erklärt uns, die Brücke sei so konstruiert worden, um böse Geister fern zu halten, die sich nur in geraden Linien bewegen könnten. Das berühmteste aller chinesischen Teehäuser wurde schon von vielen illustren Gästen besucht, sogar die englischen Queen Elisabeth sei hier gewesen, erzählt man uns stolz, aber immer noch sitzen hier auch normale ältere Herren rauchend beim Tee und Mahjong-Brettspiel.

Für uns wird dieses Teehaus zur Kulisse für eine Szene mit einer jungen chinesischen Reiseleiterin, die unser »subjektiver Reisender« hier kennen lernt, und mit der er in deren Alltag eintaucht. »Kamela, Battelie, Action!«, dann fängt sie an zu erzählen. »Ich werde immer wieder von meinen Reisegruppen nach der Arbeit zum Essen eingeladen«, sagt sie und lächelt etwas unsicher. »Aber das geht nicht, ich wohne soweit draußen und komme sonst gar nicht mehr nach Hause. Das darf ich auch gar nicht, ich darf keine Einladung annehmen.« Gerne würden wir dazu noch die eine oder andere Frage stellen, aber auch das geht nicht. Wir dürfen nichts mehr fragen. Die Filmbilder zeigen eine lange Busfahrt mit der Reiseleiterin durch die Stadt, in die Außenbezirke Schanghais, zu ihrer Wohnung. Eine Einzimmerwohnung, in der sie, ihr Ehemann und Sohn sowie auch ihre Eltern zusammen leben, weil den jungen Familien aus Wohnungsnot noch keine eigenen Wohnungen zugeteilt werden können. Ihr Luxus besteht aus einer Klimaanlage, die mehr Abwärme als Kühlung produziert, einem Kühlschrank und einer eigenen Toilette ohne Klodeckel, aus der Flusswasser rieselt. Ihr Boden ist mit Linoleum belegt. Die durchgelegenen Schaumstoffmatratzen hat sie akkurat mit löchrigen Laken bespannt, über denen eine bestickte Tagesdecke liegt. Ob ihr Kopf voller Sorgen ist, habe ich nicht herausfinden können. Vermutlich träumen beide von einem besseren Leben. Wir haben eigentlich recht wenig dort erfahren, aber zumindest zeigt dieser Ausflug in die Wohnung der Reiseleiterin einen winzigen Ausschnitt aus dem realen Leben der jungen Generation, die sich sehnlichst etwas Luxus, mehr Platz und vor allem mehr Verantwortung wünscht.

Wir werden etwas früher fertig mit den Dreharbeiten und ich äußere den Wunsch, in Shanghais »Kaufhaus Nummer 1« noch ein paar Mitbringsel für zu Hause einkaufen zu wollen. Ich habe schon während der Dreharbeiten die schöne Seidenwäsche gesehen und mit dem Gedanken gespielt, mir ein paar Stücke günstig mitzunehmen. Gleich drei unserer Begleiter fühlen sich verpflichtet, mich beim Einkaufen zu beschützen. Ich versuche sie auf dem Weg in die Wäscheabteilung abzuschütteln, damit ich in Ruhe all die Schlafanzüge, Nachthemden und Seidenhemdchen befummeln kann, die zwar spottbillig, aber in meiner Größe nur rar zu finden sind. Ich verschwinde mit einem Berg in die Umkleidekabine zum Anprobieren. Plötzlich wird der Vorhang leicht zur Seite geschoben, meine Begleiter stehen kichernd davor, freuen sich, dass sie mich gefunden haben und begutachten lautstark die Ware an mir. Bei zwei Seidenshirts gehen alle Daumen hoch: kaufen!

Wenn es Nacht wird in Shanghai, bin ich jedes Mal von neuem froh, mich zurückziehen zu können. Endlich Stille und Alleinsein. Nie würde ich jetzt den Fernseher anmachen. Was im Rest der Welt passiert, ist mir egal. Ich rolle das Kopfkissen zusammen, lege mich umgekehrt ins Bett, die Füße auf das erhöhte Kissen, und merke, wie sich die angespannten Muskeln langsam erholen. Ich liege einfach nur da, im Kopf tanzen die Bilder und Töne all der fremden Eindrücke, die gefilmten und noch viel intensiver die nicht gefilmten. Der Kopf schaltet nicht ab. Der Schlaf kommt dann wie ein schwarzes Loch, das die vorhandene Materie und die Gedanken aufsaugt, verdaut, neutralisiert. In Antimaterie verwandelt, bis nichts mehr übrig bleibt vom Reich der Mitte. Für die chinesischen Begleiter unserer Reise scheint es andere Entspannungsprozeduren zu geben. Sie relaxen in der Gruppe, jeden Abend im gleichen Ritual. Nach dem Abendessen und einem Meeting zur Vorbereitung des nächsten Tages versammeln sich die Chinesen im Schlafanzug in einem ihrer Zimmer. Sie trinken Bier, spielen Karten und tauschen sich aus. Der Fahrer holt sich meist in der Nacht nochmal Essen aus der Küche, tapst im Schlafanzug durch alle Zimmer und bietet allen von den Speisen an. Keiner der chinesischen Projektbetreuer, die sich in wechselnder Zahl zu uns gesellen, schläft in einem Einzelzimmer. Das ist keineswegs ein Kostenproblem, da die meisten Hotels, in denen wir wohnen, in staatlichem Besitz sind und dort große Zimmerkontingente für Staatsmissionen freigehalten werden, die quasi nichts kosten. Niemand will alleine schlafen. Privatheit und Intimsphäre kennt man nicht. Mehrfach passiert es mir, dass der Room Service ins Hotelzimmer kommt und die Reinigung inklusive Staubsaugen vornimmt. So tut, als sei niemand im Zimmer, obwohl ich im Bett liege. Heftiger gestischer Protest führt dazu, dass das Zimmermädchen das Hotelzimmer verlässt und nie mehr wieder kommt. Nicht nur auf dem Land sind die Toiletten noch ohne Türen und alle Geschäfte müssen »coram publico« verrichtet werden, was ziemlich gewöhnungsbedürftig ist. Vor allem dann, wenn man als Langnase staunend angeschaut wird, so groß, weiß und unübersehbar wie man ist.

Ausländer, »Langnasen«, sind damals in China ein »unbekanntes Etwas«. Der ungewohnte Anblick löst noch bei den meisten eine stereotype Reaktion aus: Stehenbleiben und starren. Manchmal dauert es fünf Sekunden, manchmal fünfzig, bis der Mund wieder geschlossen wird, die heruntergeklappte Kinnlade zugeht und man sich wieder seinen eigenen Geschäften widmet. Argwöhnisch werden Kontakte zu Ausländern beobachtet, sogar Gespräche sind eigentlich verboten. Wir hören unterwegs auch von der Geschichte einer jungen Frau, die angeblich ein Liebesverhältnis mit einem Ausländer hatte, die Haare geschoren bekam und von der gesamten Gemeinde aus dem Quartier geprügelt wurde. Man sieht damals auch keine jungen chinesischen Pärchen, die sich in der Öffentlichkeit berühren oder gar küssen. Das würde Erziehungslager bedeuten. Im China der 80er Jahre gibt es noch an jeder Ecke und in jedem Wohnquartier staatstreue Blockwarte, die die Bewohner wachsam beobachten und melden, wenn jemand nicht den richtigen Weg geht.

Damit wir nicht bei jeder Filmaufnahme von einem Pulk Gaffender umringt werden, bedienen wir uns eines Tricks, der prima funktioniert. Während die Filmkamera läuft, tritt einer aus dem Team zehn Meter beiseite, packt die Polaroidkamera aus und beginnt zu fotografieren. Spätestens dann, wenn das Foto mit lautem Surren aus der Maschine herauskommt, ist die Menschengruppe zur Polaroidkamera hinübergedrängt. »Instant satisfaction«, denn dort gibt es wirklich was zu sehen. So werden unzählige »Polas« verschossen und als Andenken verschenkt, um einigermaßen ungestört filmen zu können.