image

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

1.

Vom Frühlingserwachen war hier, nördlich des 50. Breitengrades, weiß Gott nichts zu spüren. Bitter kalt war es geworden, seit sie Neufundland, das auch nicht gerade das Paradies auf Erden war, verlassen hatten. Das Sonnenlicht wärmte nicht mehr, es war von stumpfem, fahlem Glanz.

Erfreulicherweise hatte aber der Sturmwind nachgelassen, und die nur noch mäßig bewegte See schien unter dem eisenfarbenen Himmel von einem silbrigen Geäder überzogen zu sein.

„Wenigstens ein Lichtblick“, sagte Smoky, der Decksälteste, der sich eine dicke Wolljacke übergezogen hatte und neben Al Conroy, Will Thorne und Blakky auf der Back der „Isabella VIII.“ stand und voraus blickte. „Aber wohin führt uns dieser Törn eigentlich?“

„Direkt nach Thule“, erwiderte Al. „In eine Stadt aus Eisblöcken, deren komischen Bewohnern im Lauf der Zeit wegen der Mordskälte ein Fell gewachsen ist …“

„Ach, hör doch auf.“

„Dorthin, wo man das Gold mit dem Eispickel freilegen muß.“

„Blödsinn“, brummte Smoky. „Glaub doch nicht, daß du mich mit deinen Sprüchen beeindrucken kannst. Hendrik Laas hat selbst gesagt, daß es da oben kein Gold gibt.“

„Ja, Hendrik Laas“, sagte Will Thorne. „Wenn der jetzt mit dabeiwäre – er könnte uns genau sagen, wann die ersten Eisberge erscheinen und die Wale und die weißen Bären.“

„Er ist nun aber mal nicht mit von der Partie“, erklärte Blacky. „Er segelt mit seiner ‚Sparrow‘ vor Dänemarks Küsten und fischt Heringe oder weiß der Teufel was. Na, ich gönne es ihm. Und wir kommen auch ohne den guten Hendrik aus, Will, glaub’s mir.“

„Klar kommen wir ohne ihn aus“, sagte der Segelmacher der „Isabella“, aber so richtig überzeugt war er davon nicht, vor allen Dingen deshalb nicht, weil er an das verdammte Packeis dachte, mit dem sie vor einiger Zeit schon einmal böse zu tun gehabt hatten.

Die „Isabella VIII.“ segelte mit raumem Wind nordwestlichen Kurs, und nicht einmal ihr Kapitän wußte so ganz genau, wohin die Reise nun eigentlich ging, denn das Kartenmaterial, über das er verfügte, war höchst unzulänglich. Deshalb hatte Hasard den Kurs eher „nach Gefühl“ festgelegt und verließ sich mehr oder weniger auf seinen seemännischen Instinkt.

Gewiß, schon ein Mann wie Kolumbus hatte sich vor nunmehr fast hundert Jahren mit Karten des Florentiners Toscanelli versorgt, und es hatte damals schon den Globus des Martin Behaim gegeben. Nicht ohne Karten war also die Neue Welt entdeckt worden, und seither waren die Zeichnungen viel präziser geworden, besonders, was die Darstellung des neuen, nun nicht mehr rein hypothetischen Kontinents betraf. Contarini und Mercator hatten wunderschöne Weltkarten hergestellt, und seit fünf Jahren gab es auch einen richtigen gedruckten Seeatlas, den „Mariner’s Mirror“ von Lucius Wagenhaer. Aber alle „Mappae mundi“, „Portolani“ und „Roteiros“ krankten immer noch an der großen Längenungenauigkeit – und an der höchst vagen Wiedergabe des Nordpolargebietes samt der mutmaßlichen Nordwestpassage.

Philip Hasard Killigrew hatte soeben an die Innenseite der Rückwand des Ruderhauses eine selbstgefertigte Skizze geheftet, auf der der ungefähre Kurs für Pete Ballie, den Rudergänger, eingezeichnet war. Die Skizze zeigte Bacalaos, die Neufundlandbank, das nördlich davon liegende Seegebiet und einen Küstenstrich, der von Hendrik Laas, dem Dänen, als „Labrador“ bezeichnet worden war.

An diesem Land Labrador wollte sich der Seewolf zunächst orientieren – so, wie Laas es ihm geraten hatte. Später würde er sich weiter nach Norden hinauftasten und überall nach jenen Marken suchen, die der Däne ihm beschrieben hatte, damit die Seewölfe auf dieser Reise wenigstens über eine gewisse Ortung verfügten.

Hasard trat am Backbordschanzkleid des Quarterdecks neben Edwin Carberry und folgte dessen Blick, der auf die endlos wirkende Wasserfläche gerichtet war.

„Ed“, sagte der Seewolf. „Es wird bald Zeit, daß du dir von Will Thorne aus dem Eisbärfell, das Hendrik Laas dir geschenkt hat, ein Paar Hosen schneidern läßt.“

Carberry wandte den Kopf.

„Sir“, versetzte er dumpf. „Das tue ich erst, wenn mir vor Kälte der Achtersteven abfällt.“

„Soll das etwa heißen, daß du dich genieren würdest, so schöne weiße Fellhosen zu tragen wie der Däne?“

„Ich – ach wo, natürlich nicht. Aber ein Seewolf fängt doch nicht gleich beim ersten Frosthauch zu schnattern an wie, äh – ein alter Ganter, will ich meinen. Da muß es schon dicker kommen.“

„Ed …“

„Sir?“

„Ich schätze, es kommt noch ziemlich dick für uns. Zumindest, was die Temperaturen betrifft. Ich an deiner Stelle würde da schon Vorsorge treffen.“

Der Profos kratzte sich am Kinn – was mal wieder in etwa so klang, als bewege sich ein Heer Kombüsenschaben über chinesisches Reispapier. „Wenn es wirklich so kalt wird, wie du sagst, dann stelle ich das Eisbärfell selbstverständlich Siri-Tong und den beiden Lausejungs zur Verfügung. Ist das ein Vorschlag?“

Hasard lächelte. „Das ist sehr ritterlich von dir, Ed.“

„Hölle!“ entfuhr es da dem Profos. „Nein, ich bin in Merry Old England nicht zum Ritter geschlagen worden wie du – und die feinen Manieren sind weiß der Henker nichts für mich! Ich opfere doch nur mein kostbares Fell für die Rote Korsarin und die Bengel, damit sie nicht vor Kälte klappern und damit ihnen nichts abfriert. So war das gemeint …“

„Profos“, sagte Old O’Flynn hinter ihrem Rücken. „Paß nur auf, daß du deine Haut nicht noch zu Markte tragen mußt – oder daß dir sämtliche Felle wegschwimmen.“

Carberry blickte den Alten so freundlich an wie ein hungriger Hai.

„Donegal“, brummte er. „Du hast auch schon weniger faule Witze gerissen, ehrlich.“

„Mag schon sein“, sagte O’Flynn. „Aber was diesen Törn hier betrifft, so prophezeie ich euch …“

„Donegal!“ rief Big Old Shane, der an der Querbalustrade des Achterdecks lehnte und schräg von oben auf sie herabsah. „Wir wollen’s gar nicht wissen. Deine dämlichen Spökenkiekereien interessieren uns nicht, kapiert?“

„… so prophezeie ich euch, daß wir nicht nur vor Kälte zittern werden“, fuhr der Alte unbeirrt fort. „Einen Vorgeschmack von dem, was uns erwartet, haben wir ja durch das verfluchte Schiff der Toten gekriegt. Aber das war noch gar nichts. Je weiter wir nach Norden segeln, desto größer ist die Gefahr, richtigen Gespenstern und Dämonen zu begegnen. Da oben, hab ich mir sagen lassen, gibt’s einen riesengroßen Geist, ganz aus Eis geschaffen, der mit seinem Gifthauch ganze Schiffscrews töten kann. Er bricht sich die Zapfen aus seinem Frostbart und spießt dich damit auf, Profos, ich schwör’s dir.“

Carberrys Mund hatte sich vor Staunen geöffnet, und für eine Weile war er wohl richtig gefesselt gewesen, aber jetzt verzog er verärgert das Gesicht und brummelte: „Donnegal, wage dich bloß nicht in die Reichweite meiner Fäuste. Ich bin heute früh nicht zu Witzen aufgelegt, schon gar nicht zu so faulen, wie du sie erzählst.“

„Ihr werdet noch an meine Worte denken“, sagte O’Flynn. „Ihr alle werdet euch noch mächtig umsehen und dann eingestehen: O ja, Hölle und Teufel, Donegal hat mal wieder recht gehabt! Jawohl, genau das werdet ihr stammeln, wenn die Dämonen der Finsternis ihre Klauen nach euch ausstrecken.“ Mit diesen Worten humpelte er davon und hielt Ausschau nach jemandem, bei dem er mehr Erfolg mit seinen haarsträubenden Gruselgeschichten hatte. Er stieg den Backbordniedergang zur Kuhl hinunter und fluchte leise vor sich hin.

Carberry wandte sich wieder an den Seewolf. „Was meinst du, ob wir wohl auch diese weißen Biester zu sehen kriegen – die Eisbären?“

„Zweifelst du immer noch daran, daß es sie gibt?“

„Nein, das nicht. Aber ich bin schon neugierig darauf, mal wirklich so ein Ungetüm aus nächster Nähe zu betrachten.“

„Warte, bis wir den Polarkreis erreicht haben, Ed.“

„Ja. Hoffen wir, daß wir es auch schaffen und keinen Ärger mit dem Packeis kriegen.“

„Um diese Jahreszeit wohl nicht.“

„Hat Hendrik Laas dir das gesagt?“

„Er hat mir gesagt, das Frühjahr und der Sommer seien die günstigsten Zeiten, um bis nach Thule hinaufzusegeln, weil dann die Packeisgrenze am weitesten zurückweicht.“

„So ist das“, murmelte Carberry. „Und wie hat Hendrik doch noch gleich den Eisbären genannt?“

„Nanoq.“

„Nanoq, richtig. Ein seltsames Wort. Wie sollen wir uns überhaupt mit den Eskimos verständigen, falls wir jemals mit welchen zusammentreffen?“

Der Seewolf hob den Kopf, weil Bill, der Ausguck im Großmars, in diesem Augenblick einen Ruf ausgestoßen hatte.

„Wir haben uns in China verständigt, Ed“, entgegnete er noch. „Wir werden das auch in Grönland tun und darüber hinaus notfalls die Hände und die Füße zu Hilfe nehmen, um mit den Leuten zu sprechen, denen wir begegnen.“

„Klar“, bemerkte der junge O’Flynn, der jetzt neben Shane an die Querbalustrade des Achterdecks getreten war. „Und bei dem Genie, das unser Profos in solchen Dingen hat, wird gerade er sehr schnell die fremde Sprache erlernen.“

Big Old Shane grinste und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Carberry hatte Dans Worte nicht verstanden und war inzwischen ebenfalls zu sehr auf Bill, den Moses, konzentriert, um noch mitzukriegen, wie Shane und Dan sich anstießen, sonst hätte Dan O’Flynn nämlich jetzt einen Schwall übelster. Flüche in der üblichen Profos-Lautstärke über sich ergehen lassen müssen.

„Sir!“ schrie Bill von seinem Posten hoch oben im Großmars. „Da schwimmt was Backbord voraus in der See!“

Hasard legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund. „Was ist es denn, Bill?“

„Augenblick, Sir, ich versuche gerade, Genaueres herauszukriegen …“

„Hölle und Blitz!“ brüllte Carberry. „Bill, du verlauster Affenarsch, habe ich dir nicht tausendmal gesagt, du sollst dich gefälligst klar und deutlich ausdrücken?“

„Sir!“ rief Bill. „Es ist eine Flasche, eine treibende Flasche, so wahr ich hier oben stehe!“

„Treiben lassen“, sagte Carberry. „Was sollen wir denn wohl mit so einer idiotischen Buddel anfangen, was, wie?“

Ben Brighton stieg vom Achterdeck aufs Quarterdeck und erwiderte: „Ed, das hängt doch wohl ganz von ihrem Inhalt ab.“

Carberry musterte ihn in einem Anflug von Spott. „Halt die Luft an, Ben. Welcher Blödmann würde denn wohl eine volle Buddel in den Teich schmeißen, he? Doch wohl nur einer, der total übergeschnappt ist, was, wie? Außerdem würde die ja wohl nicht schwimmen, oder?“

Bills klare Stimme ertönte wieder über ihren Köpfen: „Sir, soweit ich durch den Kieker erkennen kann, scheint was drinzustecken in der Flasche!“

„Na also“, sagte der Seewolf, ohne sich um Carberrys verdutzte Miene zu kümmern. „Pete, Ruder zwei Strich Backbord. Ed, laß anbrassen und höher an den Wind gehen, wir nehmen Kurs auf die Flasche und sehen sie uns genauer an.“

Es war ein bißchen Unruhe an Oberdeck entstanden, und Siri-Tong und die Zwillinge, die sich gleich nach dem Wecken in einem Raum des Achterkastells zusammengesetzt hatten, verließen nun die Hütte, um nachzuschauen, was vorgefallen war. Die Korsarin hatte Philip junior und Hasard junior – den „Rübenschweinchen“, wie der Profos sie meistens nannte – ein wenig Unterricht gegeben, zum Schluß aber mangels Konzentration ihrer „Schüler“ auf die Schilderung des Umgangs mit gefährlichen Giftschlangen ausweichen müssen, um ihre Aufmerksamkeit von neuem zu fesseln.

Jetzt aber waren die beiden Achtjährigen für die willkommene Abwechslung ausgesprochen dankbar. Kaum auf der Kuhl angelangt, trennten sie sich von „Madam“ und stürmten zur Back, wo sich mittlerweile der Großteil der Crew versammelt hatte, um Ausschau nach der Flasche zu halten.

Siri-Tong klomm den Backbordniedergang zur Back hoch und blickte zum Seewolf, der den Kieker sinken ließ und sich zu ihr umdrehte.

„Kein feindliches Schiff“, sagte er lächelnd. „Nur eine Flasche.“

„Was soll denn Besonderes daran sein?“ erkundigte sie sich verwundert.

„Ja, das frage ich mich auch, Madam“, sagte der Profos, der sich mit ziemlich verdrossener Miene zu den anderen gesellt hatte. Es war wirklich nicht sein bester Tag, und außerdem war ihm wegen der Fahrt ins Ungewisse mulmig zumute, was er aber natürlich nicht offen zugeben mochte.

„Sir, es ist eine ziemlich große Flasche“, meldete Bill aus dem Großmars.

Dan O’Flynn war in den Vormars aufgeentert und rief nun: „Ein zusammengerolltes Stück Papier befindet sich darin, ich kann es deutlich sehen!“

„Na bitte“, sagte Carberry. „Ein Fetzen Papier. Sonst nichts.“

„Al dachte schon, es wäre eine Höllenflasche“, sagte Smoky. „Das hätte eine böse Überraschung für uns geben können.“

„Ach, Unsinn“, begehrte Al Conroy auf. „Die Höllenflaschen sind unsere Erfindung – und die Eskimos wären meiner Meinung nach die letzten, die so was herstellen würden. Vielleicht kennen sie gar kein Pulver und keine Feuerwaffen.“

„Ganz bestimmt nicht“, pflichtete Matt Davies ihm bei. „Hendrik Laas hat auch mit keiner Silbe erwähnt, daß sie Schießpulver, Lunten und Blei benutzen.“

„Aber Al schätzt die Eskimos trotzdem als zu dumm ein“, meinte Will Thorne. „Wer Häuser aus Eis baut, muß doch eigentlich ganz schön was auf dem Kasten haben.“

„Ach, hört doch auf“, sagte Al. „Ihr wollt mich ja bloß auf den Arm nehmen – wegen meiner Bemerkungen von vorhin.“

„Du merkst aber auch alles“, sagte Smoky mit breitem Grinsen.

„He!“ rief Blacky. „Und wenn es nun kein Eskimo war, der die Flasche ins Meer geworfen hat, sondern ein Weißer? Was ist dann?“

„Wie nun, wenn sie von selbst ins Wasser gefallen ist?“ fragte Siri-Tong, der die Sache allmählich zu bunt wurde.

„Von selbst – mit einem Zettel drin?“ brummte Old O’Flynn. „Das ist eine mysteriöse Angelegenheit, sage ich. Wer weiß, ob der elenden Flasche nicht ein Fluch anhaftet, wer weiß …“

„Wir sind auf weniger als eine halbe Kabellänge an ihr dran“, ließ sich der Seewolf vernehmen, der sich wieder nach vorn gewandt hatte und angestrengt durch sein Spektiv spähte. „Das Stück Papier ist vergilbt und an einigen Stellen leicht eingerissen – und es scheint beschrieben zu sein.“

„Deck!“ schrie Dan O’Flynn. „Das sieht mir ganz nach einer Nachricht aus!“

„Ein vergilbtes, geheimnisvolles Dokument“, murmelte sein Vater. „Heiliger Strohsack, wenn das bloß gutgeht. Wenn uns das bloß kein tödliches Unheil bringt.“

Er verstummte, weil Hasard sich in diesem Augenblick wieder zu ihnen umdrehte und seinen Befehl gab.

„Wir drehen bei, stoppen, fieren ein Boot ab und fischen die Flaschenpost auf!“ rief er. „Los, beeilt euch, sonst rauschen wir glatt daran vorbei!“