Über das Buch

Deutschland als Vorbild? Susan Neiman vergleicht den deutschen und den amerikanischen Umgang mit dem Erbe der eigenen Geschichte.

Wie können Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen? Lässt sich — politisch gesehen — etwas von den Deutschen lernen? Als Susan Neiman, eine junge jüdische Amerikanerin, in den achtziger Jahren ausgerechnet nach Berlin zog, war das für viele in ihrem Umfeld nicht nachvollziehbar. Doch sie blieb in Berlin und erlebte hier, wie die Deutschen sich ernsthaft mit den eigenen Verbrechen auseinandersetzten: im Westen wie im Osten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Als dann mit Donald Trump ein Mann Präsident der USA wurde, der dem Rassismus neuen Aufschwung verschaffte, beschloss sie, dorthin zurückzukehren, wo sie aufgewachsen war: in die amerikanischen Südstaaten, wo das Erbe der Sklaverei noch immer die Gegenwart bestimmt. Susan Neiman verknüpft persönliche Porträts mit philosophischer Reflexion und fragt: Wie sollten Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen?

Susan Neiman

Von den Deutschen Lernen

Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können

Aus dem Englischen von Christiana Goldmann

Hanser Berlin

Was geschah, geschah: der Satz ist ebenso wahr, wie er moral- und geistfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist.

Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne

Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced.

James Baldwin, As much truth as one can bear

History will not go away, except through our perfect acknowledgment of it.

Stanley Cavell, Must we mean what we say?

Prolog

Mein Leben begann als das eines weißen Mädchens in den von Rassentrennung gezeichneten Südstaaten. Enden wird es vermutlich als das einer jüdischen Frau in Berlin. Vielleicht denken Sie nun, ich schlüge hier einen Bogen, der den Raum zwischen Täter und Opfer durchmisst — aber es ist noch etwas komplizierter. Die Frage, ob Juden als Weiße durchgingen, war in den Südstaaten meiner Kindheit noch nicht ganz entschieden. Pfarrer Wheeler Parker, ein Cousin von Emmett Till, sagte einmal zu mir: »Es gibt ein altes Sprichwort: Als Katholik in den Südstaaten wäre ich beunruhigt. Als Jude würde ich meine Koffer packen. Als Schwarzer hätte ich mich längst aus dem Staub gemacht.«1

Ich war acht Jahre alt, da erklärte mir meine beste Freundin, sie könne nicht mehr mit mir spielen. Es gab vieles, was uns verband: Wir bauten lieber Baumhäuser, als mit Barbiepuppen zu spielen, waren vernarrt in Bücher, und unsere Spiele im Wald drehten sich oft darum, eine Tür nach Narnia zu finden. Dennoch kündigte sie mir die Freundschaft, nachdem sie gehört hatte, die Juden hätten Jesus getötet. Auf die Synagoge, in die meine Familie ging, war ein Brandanschlag verübt worden, die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde verhielten sich danach unauffällig. Anders meine Mutter, und darauf bin ich stolz. Kurz vor meiner Geburt im Jahr 1955 waren meine Eltern von Chicago nach Atlanta gezogen. Das Engagement meiner Mutter in der Kampagne zur Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Schulen war prominent genug, um ihr ein Foto in der Zeitschrift Look und eine Reihe nächtlicher Anrufe des Ku-Klux-Klan einzubringen.

Wir konnten nicht den Tätern zugerechnet werden, aber wir betrachteten uns auch nicht als Opfer. Juden waren Sklaven im Lande Ägypten gewesen, und daher waren wir zur liberalen Solidarität mit anderen unterdrückten Völkern verpflichtet — so wollte es der wichtigste Grundsatz der hausgemachten Theologie meiner Mutter. Viele Jahre später muss er ausschlaggebend gewesen sein für meine Entscheidung, Philosophie zu studieren und dann in ihr meinen Weg zu Immanuel Kant, jenem trockenen preußischen Philosophen, zu finden, der die Metaphysik der universellen Gerechtigkeit verfasst hat. Es war Kant, der darauf bestanden hat, dass alle vernünftigen Wesen dem gleichen moralischen Gesetz unterstehen. Nicht einmal Gott ist ausgenommen.

Niemand in meiner Familie war ein Opfer der Konzentrationslager oder, soweit ich weiß, der Pogrome. Nachdem meine Großeltern zu Beginn des 20. Jahrhunderts Chicago glücklich erreicht hatten, sprachen sie nie wieder über jenes Osteuropa, das sie verlassen hatten. Im Gegenteil: Der einzige Großvater, den ich kennengelernt habe, war mit Leib und Seele Amerikaner. Obwohl er als Erster in seiner Familie nicht in Odessa geboren worden war, hatte er einen leichten jiddischen Akzent, bewunderte aber Teddy Roosevelt, besuchte jeden Nationalpark und diente in beiden Weltkriegen. Seine Verehrung für Lincoln war so groß, dass er seinen Enkeln bei einem Besuch in Atlanta sämtliche Strophen von »Marching through Georgia« beibrachte, die wir dann fröhlich in einem offenen Kabriolett schmetterten, ohne daran zu denken, wie dies wohl auf die Bewohner Atlantas wirken musste. Sie werden wenig geneigt gewesen sein, einen Marsch zu feiern, bei dem ihre Häuser niedergebrannt worden waren.2 Heute fällt es leicht, darüber zu lächeln, kein Wunder, dass ich mich dort nie zuhause gefühlt habe. Damals bestärkte es mich nur in dem Gefühl, dass wir für Recht und Gerechtigkeit kämpften. Wie jedes amerikanische Kind lernte ich etwas über den Holocaust, aber er war zu weit weg, als dass er mein eigenes Leben berührt oder gar überschattet hätte.

Die Gegenwart, das waren Momente wie der schwüle Sommertag in Georgia, an dem meine Mutter eine afroamerikanische Freundin eingeladen hatte, mit ihren Kindern vom anderen Ende der Stadt zu uns zu kommen, um in unserem Garten zu spielen. Fünf Jahre nach der Entscheidung Brown v. Board of Education drohten die alteingesessenen Bewohner Atlantas damit, eher das Schulsystem lahmzulegen, als die Rassentrennung aufzuheben, eine Drohung, die einige Landkreise wahrgemacht hatten.3 Gestützt auf ihre Erfahrungen aus der Werbebranche, bemühte sich meine Mutter mit ihren Freunden aus der frisch gegründeten Organisation HOPE — Help Our Public Education —, die Gewalt abzuwenden, die sich anderenorts an der Entscheidung des Supreme Court entzündet hatte. In der Zwischenzeit wollte sie ihre Kinder auf die Aufhebung der Rassentrennung vorbereiten, indem sie diesen Besuch arrangierte. Die Schwarzen, die wir kannten, waren allesamt Hausangestellte in der einen oder anderen Familie, sie aber wollte, dass wir mit Schwarzen von Gleich zu Gleich verkehrten.

Unser Garten war groß und grenzte an einen Wald, in dem man sich verstecken, nach Pfeilspitzen suchen oder Capture the Flag spielen konnte. Für all das war es jedoch viel zu heiß, und daran vermochte auch noch so viel Limonade nichts zu ändern.

»Kommt, lasst uns ins Schwimmbad gehen«, schlug ich vor.

»Das geht nicht«, meinte meine Mutter schroff.

»Warum denn nicht«, maulte ich. »Wir gehen immer ins Schwimmbad, wenn es so heiß ist.«

»Es geht einfach nicht«, erwiderte meine Mutter. Falls sie und ihre Freundin Blicke tauschten, war ich zu jung, um es zu bemerken.

»Und was ist mit dem See?« Der Park am Red Top Mountain war meist matschig, nicht so schön wie das Schwimmbad, aber es wurde von Minute zu Minute schwüler.

»Wir können auch nicht zum See gehen«, erklärte meine Mutter.

»Warum nicht?«, fragte ich und stachelte meinen kleinen Bruder an, in meine Bettelei einzustimmen.

Am Ende mussten wir uns damit begnügen, unter dem Rasensprenger zu spielen. Gutwillig fügte ich mich nicht. Wie hätte ich ahnen können, dass ein gemeinsames Schwimmen von schwarzen und weißen Kindern per Gesetz verboten war, und das nicht bloß in den großen Schwimmbecken aus Beton, um die sich die weißen Südstaatler an solchen Tagen drängten, sondern auch in den Seen, mit denen Gott in seiner Gnade das Land übersät hatte. In meinen Augen war das Verbot meiner Mutter einfach nur unsinnig. Vielleicht war die Vorstellung unsinnig, sie könne, und sei es nur für einen Nachmittag, in einem so unsinnigen, brutalen System, wie es die Südstaaten der Rassentrennung waren, normale Beziehungen aufbauen. Dass sie es versucht hat, macht mich immer noch froh. Als ich dann genug wusste, um mich für die Verlegenheit entschuldigen zu wollen, in die mein Aufstand sie damals gebracht haben musste, fiel es ihr schwer, sich überhaupt an den Tag zu erinnern.

Die Landschaft des Südens mit ihren Pflanzen berührt mich immer noch so tief, als hätte ich hier meine Wurzeln. Hartriegel, Geißblatt, Azaleen, selbst der Magnolienbaum im Garten meiner Kindheit. Die Frische des Grüns: Chlorophyll hört sich nach Medizin an, dabei ist dieses Grün die Farbe des Lebens selbst. Was uns daran ergreift, ist die Verheißung einer Welt, die mit jedem neuen Blatt, jedem neuen Leben von vorne beginnt, unbefleckt von schmutzigen Händen und Sandkastenstreitigkeiten. Meine Mutter wollte immer dem Frühling hinterherreisen, vom tiefen Süden aus allmählich nach Norden, um diesen Augenblick der Farbexplosion wieder und wieder zu erleben. Es ist nie dazu gekommen. Jeder knospende Baum erinnert mich an ihre Sehnsucht.

Neben den Pflanzen haben sich in meiner Erinnerung die Orte festgesetzt, die ich zu meinen gemacht habe: der Geruch des warmen Regens, wenn er auf die Marmorstufen der Stadtbibliothek niederging, die ich jede Woche besuchte, die von Kudzu umrankten Ruinen im Wald, die einst ein von Shermans Truppen niedergebranntes Herrenhaus gewesen sein müssen. Wir lebten in einem der hübscheren Randviertel im Nordwesten von Atlanta, doch alles machte deutlich: Wir gehörten nicht dazu. Mein bloß schwacher Südstaatenakzent war verdächtig. Eines Tages bekamen wir als Hausaufgabe auf, unsere Eltern zu fragen, welche Hobbys sie pflegten, welchen Organisationen sie angehörten. Bis heute erinnere ich mich an den Gesichtsausdruck meiner Lehrerin, als sie las, dass meine Mutter ein Mitglied der ACLU ist.4 »Ist das nicht eine subversive Organisation?« (»Mama, was heißt ›subversiv‹«, musste ich fragen, als ich nach Hause kam.)

Die Freunde meiner Mutter, das waren die wenigen Liberalen, in der Regel weiß und Angehörige der Episkopalkirche oder Unitarier, die ihre politischen Ansichten teilten. Nach dem traurigen Ende meiner ersten Freundschaft bemühte ich mich nicht besonders, neue Freunde zu gewinnen. Außerdem gab es kein anderes Mädchen in der Nachbarschaft, das beim Reden über ihre Lieblingsbücher die Zeit vergaß oder lieber im Wald als mit Barbies spielte. Ehrlich gesagt war ich pummelig, kurzsichtig und eine Niete in Sport, lauter Dinge, die mir auch in Brooklyn das Gefühl hätten geben können, einsam zu sein. Ich war aber nie in Brooklyn gewesen und träumte meine ganze Kindheit hindurch davon, die Südstaaten zu verlassen, um entweder nach Europa zu gehen, das ich nur aus den Madeline-Büchern von Ludwig Bemelmans kannte, oder nach Greenwich Village, das ich mir als ein grünes, diskutierfreudiges Städtchen vorstellte.

Mit zwölf zog ich das große Los. Ich trat der ersten integrierten Jugendgruppe der Stadt bei, dem Actors and Writers Workshop. Er fand nachmittags nach der Schule statt und bot einer Handvoll liberaler Jungbohemiens einen Ort, an dem sie sich zuhause fühlten. Wir lernten, dass zum Theaterspielen und Schreiben mehr als nur guter Wille nötig war. Ohne harte Arbeit ging es nicht. Wir alle teilten dieselben Überzeugungen, was die brennendsten politischen Probleme in Atlanta anging. Wir trafen uns nicht dreimal die Woche, bloß um uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, aber es fühlte sich doch gut an, Werte miteinander zu teilen, die — zu der Zeit und an dem Ort — nur von einer Minderheit hochgehalten wurden. Wir verschrieben uns der Kunst, und der Leiter, wir nannten ihn Rob, nahm seine Arbeit so ernst, als wäre er am Broadway und führte nicht Regie bei einem Häuflein einsamer, verlorener Kinder, das in den Jahren, in denen die Stadt uns etwas Geld gab, auf der Ladefläche eines Lastwagens in diesem oder jenem Ghetto auftrat. Unsere Eltern fanden schnell heraus, dass sie nur damit drohen mussten, wir dürften nicht mehr zur Theatergruppe gehen, und schon erledigten wir alles, was wir tun sollten, auch unsere Hausaufgaben. Selbst an den wenigen Samstagen, an denen wir nicht probten oder Kurse hatten, gingen wir gerne in die Juniper Street, und sei es nur, um die Böden zu schrubben oder den Säugling zu wickeln. Keiner von uns ahnte, dass aus ihm Julia Roberts werden würde, und es wäre auch egal gewesen.

Die Theatergruppe war ein Vorposten, ein Fremdkörper in Atlanta. Am Tag nach der Ermordung Martin Luther Kings gingen wir zum Hause der Kings, um unser hilfloses Beileid auszusprechen, denn die drei ältesten Kinder der Familie gehörten zu unserer Gruppe. Nicht viele im weißen Süden betrauerten den Tod Dr. Kings. »Nicht dass die Leute in Alabama so laut gejubelt hätten wie bei der Erschießung Kennedys«, sagt die Historikerin Diane McWhorter, die ihren Finger dichter am Puls des Südens hat als ich. »Aber wir dachten damals doch, jetzt würde wieder Ruhe einkehren und der Süden könne, ungestört von King, zur Normalität zurückfinden.«

*

Wenn ich mich auch im Süden nie ganz zuhause gefühlt habe, so machten mich Jahrzehnte später meine fünf Jahre in Tel Aviv nicht zu einer Israelin. Vielleicht fühle ich mich deshalb so wohl im heutigen Berlin, das für viele, die sich nirgendwo sonst zuhause fühlen, zu einem Zufluchtsort geworden ist. Bei meiner ersten Ankunft am Bahnhof Zoo allerdings fühlte ich mich angesichts der Horde von Punks, die mit ihren Schäferhunden zu Füßen jeden anschnorrten, der die Treppe herunterkam, alles andere als wohl. In meiner Vorstellung beschworen die Schäferhunde Geister herauf, die laut Halt! oder Juden raus! brüllten. Ein paar Monate am Freiburger Goethe-Institut hatten zwar meinen Wortschatz erweitert, aber kaum meine Ängste beschwichtigt.

Das Berlin des Jahres 1982 lag so fernab der ausgetretenen Pfade, dass es nicht schwerfiel, mehr als eine Stiftung davon zu überzeugen, mir das Jahr zu finanzieren, in dem ich, wie ich erklärt hatte, deutsche Philosophie studieren wollte. Die ganze Wahrheit war das freilich nicht. Berlin hatte eine Aura, die bis nach Harvard ausstrahlte, wo ich acht Jahre studiert hatte. Wenn man mich fragte, und das kam häufig vor, »Wie kann eine nette amerikanische Jüdin einen Fuß nach Deutschland setzen, und das auch noch für ein ganzen Jahr?«, stellte ich die Gegenfrage: Ob es vierzig Jahre nach dem Krieg nicht genauso rassistisch sei, die ganze deutsche Nation zu verdammen, wie die Verdammung aller Juden durch die Deutschen. Meine Antwort legte nahe, ich hätte die Nazivergangenheit hinreichend aufgearbeitet, um sie vergessen zu können und mich stattdessen auf Kant und Goethe zu konzentrieren. Heute weiß ich es besser: Ich war nicht nach Berlin gekommen, weil ich über die Nazis hinweg war, sondern, weil ich mehr über sie erfahren wollte. Ich schrieb damals über das Wesen der Vernunft, und sie hatten ein welthistorisches Fragezeichen dahinter gesetzt.

Ich war bald wie berauscht von dem erregenden Eindruck der Unbekümmertheit, dem Gefühl, in einer Zwischenwelt gestrandet zu sein. Berlin, das war weder Ost noch West, sondern ein staatlich subventionierter Experimentierplatz zwischen beiden. Berlin war übersät mit Erinnerungen an den Krieg, die niemand beseitigt hatte. Wir lebten in fantastischen Altbauwohnungen, mit rissigen Gipsengeln an den Decken und Einschusslöchern in den Fassaden. Wir schleppten Kohleeimer vom Keller in die Wohnung, um die hohen Kachelöfen zu heizen, die uns wärmten. Und natürlich war da die Mauer, im Westen oft Gegenstand des Galgenhumors. Wie sonst hätte man auf etwas reagieren sollen, das Jahrzehnte nach seinem Bau so wirkte, als sei es naturwüchsig? Jeden Augenblick von Ruinen der einen oder anderen Art umgeben zu sein — die Kultkneipe Die Ruine hatte ihre bröckligen Wände zu einem punkigen Fetisch erhoben — machte es einem in nüchternem Zustand verdammt schwer, nicht an die Geschichte zu denken.

Und das war das Erregendste überhaupt. Eines der ersten Wörter, die ich in meinen deutschen Wortschatz aufnahm, war Vergangenheitsaufarbeitung, und es befreite mich langsam von den Bildern der schmallippigen Männer in Uniform, die »Jawohl!« bellten. Deutschlands verbrecherische Vergangenheit aufzuarbeiten war keine akademische Übung, dafür war es viel zu persönlich. Es bedeutete, seine Eltern und Lehrer zur Rede zu stellen und ihre Autorität als verkommen zu bezeichnen. Die 60er Jahre waren in Deutschland stürmischer als in Prag oder Paris — von Berkeley ganz zu schweigen —, denn sie richteten sich nicht nur gegen Verbrechen, die jemand im weitentfernten Vietnam begangen hatte. Diese Verbrechen waren vor der eigenen Haustür geschehen, begangen von den Menschen, die einem die frühesten Lektionen des Lebens erteilt hatten.

Im Herbst 1982 waren die Jugendlichen der 60er Jahre Erwachsene in den Mittdreißigern, die besonders leidenschaftlich die Vergangenheit aufarbeiteten, weil der 50. Jahrestag der Wahl Hitlers bevorstand. Die Bücher und Reden schienen ebenso wenig ein Ende nehmen zu wollen wie Ausstellungen mit Titeln wie: Die Architektur zerstörter Synagogen, Homosexuelle und Faschismus, Frauen im Dritten Reich, Widerstand in Neukölln. Die Kunstakademie bot Kurse für Leute an, die einen Film über das Dritte Reich drehen wollten. Musikstücke, die von den Nazis verboten worden waren, und solche, die sie gefördert hatten, wurden aufgeführt, jeweils begleitet von Vorträgen. Die einzelnen Stadtteile konkurrierten miteinander in der Aufarbeitung ihrer eigenen düsteren Geschichte. Das und sehr viel mehr spielte sich in Berlin ab, wo das Stück Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen nach seiner Premiere, 1977, 35 Jahre lang auf dem Spielplan stand. Meine neuen Freunde warnten mich davor, Berlins Einzigartigkeit zu übersehen: Die Stadt sei immer schon eher links gewesen, das übrige Deutschland dagegen weit weniger geneigt, seine Leichen aus dem Keller zu holen. Ich lebte aber nicht in Westdeutschland, ich lebte in der früheren Reichshauptstadt, in der die östliche und die westliche Hälfte um die beste Form der Vergangenheitsaufarbeitung wetteiferten. Während ich das alles aufsog, begannen sich die halbverborgenen Ängste in mir aufzulösen, und Sympathie und Bewunderung traten an ihre Stelle. 

1982 war Westberlin — anders als Westdeutschland — eine besetzte Stadt, und die meisten Amerikaner gehörten zur Armee. Für viele Deutsche war ich die erste Jüdin, der sie je begegnet waren. Aufgewachsen mit Bildern von Juden, die sich auf abgemagerte Gefangene in den Konzentrationslagern oder auf orthodoxe Männer mit ihrem Gebetsschal beschränkten, kam es ihnen gar nicht in den Sinn, das Wort Jude auf mich anzuwenden. Gespräche wurden zu einem ständigen Balanceakt: Sollte ich es nun sagen oder doch besser lassen? Ich war nicht in einer besonders frommen Gemeinde aufgewachsen und zu diesem Zeitpunkt noch nie in Israel gewesen. Wenn irgendein Buch über jüdische Identität wie für mich geschrieben schien, dann war das Isaac Deutschers Der nichtjüdische Jude. Hätte mich jemand gefragt, hätte ich es nie abgestritten. Es fragte aber niemand. Stattdessen kam es zu Gesprächen wie dem, das ich mit einem sympathischen Mann auf einer Feier von linken Aktivisten und Diplomaten führte. Nachdem ein zweites Glas Wein unsere Zungen gelöst hatte, sagte er: »Ich wette, du kommst aus dem Süden der Vereinigten Staaten.« »Wie kommst du darauf?«, fragte ich ihn. »Nun, da ist dieses gewisse Etwas, die Art, wie du dich bewegst — deine Stimme, deine Hände — ich schätze, das ist wie der Unterschied zwischen Nord- und Südeuropäern.« Ich lachte. »Ich bin tatsächlich in Atlanta geboren«, erzählte ich ihm. »Aber ich bin keine typische Südstaatlerin. Was du wahrnimmst, ist, dass ich Jüdin bin.« Es war ihm sichtlich peinlich. »Ganz sicher nicht«, protestierte er. »So etwas würde ich nie bemerken! Das fiele mir im Traum nicht ein.«

Wer ein wenig mit amerikanischer Kultur vertraut ist und ein paar Minuten mit mir verbringt, nimmt meistens an, ich sei auf der Upper West Side aufgewachsen. Das liegt nicht nur an meinen schwarzen Locken oder daran, dass ich schnell rede und dabei gestikuliere. Ich kann es selbst nicht erklären, aber die Mischung scheint ihnen zu signalisieren: Aha, eine New Yorker Jüdin. Diese Leute finden die Anekdote köstlich. Deutschen entgeht das Komische daran. Sie sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Jüdischsein etwas Unangenehmes ist, vielleicht auch etwas Übelriechendes, das zu bemerken ein Zeichen schlechter Manieren ist. So wie die weißen Amerikaner, die stolz versichern, sie seien farbenblind, ignorieren sie die historischen Voraussetzungen hinter dieser Behauptung. (Wie, Sie sind farbenblind? Ist der Himmel heute blau oder grau? Sind die Blätter rot oder grün?)

1982 hätte ich nicht wissen können, dass das eine Jahr, das ich in Berlin verbringen wollte, mein ganzes weiteres Leben prägen würde, dass aus meiner vagen Faszination für diese Stadt eine tiefe, vielschichtige Liebe werden sollte. Das Leben in Berlin machte das Nachdenken über Moral zu einer ständigen Übung und verlieh ihm eine gewisse Bodenhaftung; jeder Pflasterstein, jedes Einschussloch erinnerte an moralische Fragen. Wir sind historische Geschöpfe, unfähig, über uns selbst zu reden, ohne uns in Raum und Zeit zu beschreiben. Und im Gegensatz zu anderen Tieren sind wir darauf angewiesen, erzogen zu werden — von Eltern, mit denen wir uns später auseinandersetzen müssen, um uns von ihnen zu emanzipieren.

*

Zwanzig Jahre nachdem ich ungewollt den Mann auf der Feier in Verlegenheit gebracht hatte, gehörte ich dem deutschen Komitee für die Planung der Feierlichkeiten zum Einsteinjahr 2005 an. Einhundert Jahre nach Einsteins bahnbrechenden Entdeckungen hatte die rotgrüne Regierung beschlossen, zwanzig Millionen Euro auszugeben, um ihre Unterstützung der Wissenschaft im Allgemeinen und linker kosmopolitischer (ahm!) Intellektueller im Besonderen zu demonstrieren. Als einzige Jüdin im Komitee fiel mir vor allem die Aufgabe zu, ein mashgiach zu sein, wie die orthodoxen Juden sagen — also jemand, der dafür sorgt, dass der Laden koscher ist. Es gab Ausstellungen, Ankündigungstafeln, Vorträge und vieles mehr. Was, wenn sich ein Fehler einschlich?

Schon in einer der ersten Broschüren fiel mir einer ins Auge. Einstein hieß es da, sei ein »Mitbürger jüdischer Herkunft«. Ob dem Komitee bewusst sei, dass Einstein sich über diese merkwürdige Umschreibung lauthals lustig gemacht hat. »Er nannte sich selbst einen Juden«, erklärte ich. »Für Juden ist das Wort keine Beleidigung.« »Wirklich, Frau Neiman?«, fragte die Wissenschaftsministerin. Sie war verwirrt. »Danke, genau solche Dinge müssen wir wissen.« Vielleicht liegt es am Klang der Silben: Liegen tief in einigen Träumen Erinnerungen an einen wütenden Mob verborgen, der Ju-dah!, Ju-dah! brüllt? Hallt Judas Iskariot selbst noch bei Atheisten nach? Deutsche verwenden komplizierte Komposita wie Mitbürger mit jüdischen Wurzeln oder Mitbürger jüdischer Abstammung, um nur ja nicht die zwei naheliegendsten Silben zu verwenden. Die Gewohnheit ist so eingefleischt, dass trotz meines Einwands auch im neuen Entwurf der Broschüre derselbe Ausdruck stand. »Ich weiß«, sagte ich auf der nächsten Sitzung, »dass wir alle viel zu tun haben. Vielleicht ist deshalb vergessen worden, dass Einstein selbst, wie ich erwähnte, diese Bezeichnung ablehnte. Er hat mehr als einmal darüber gespottet.« Auch ich lernte, mich gewisser höflicher Umschreibungen zu bedienen. »Selbstverständlich«, sagte die Stellvertretung der Ministerin, »wir werden dafür sorgen, dass es geändert wird.« Es kam nie dazu; zu viele Albträume standen dem im Weg.

Zwischen der Begegnung auf dem Fest und der Komiteesitzung hatte mein Leben mehrere Wendungen genommen. Ich hatte die Entstehung der Vergangenheitsaufarbeitung in den 80er Jahren erlebt, und ich habe Berlin verlassen, weil Geschichten wie die erste mich mehr beunruhigten als die gelegentliche Rhetorik von rechts oder Überbleibsel des Nazijargons. Ich hatte einen Berliner Dichter geheiratet, und nach der Geburt unseres Sohnes begann ich mich nach einem Ort zu sehnen, an dem ein jüdisches Kind ganz normal aufwachsen konnte. Dieser Wunsch, das muss ich gestehen, verschmolz mit der in Berlin mittlerweile gängigen Meinung, die Stadt habe ihre besten Tage gesehen. In meinem ersten Buch, Slow Fire, habe ich mein Berliner Leben in den 80er Jahren beschrieben, gegen deren Ende es allgemein hieß, die Musik spiele nun woanders. Ein Jahr vor dem Fall der Mauer nahm ich das Angebot an, Philosophie an der Universität Yale zu lehren.

Auch ohne zu ahnen, was auf die Stadt, die ich hinter mir gelassen hatte, noch wartete, verbrachte ich meine zweite Nacht in Connecticut damit, weinend eine Flasche Wein zu leeren. Der Unterschied zwischen der Intensität Berlins und der tristen Mischung aus Vorstadt und Ghetto in New Haven war zum Heulen. Doch ein Vertrag war unterzeichnet, eine Wohnung aufgegeben worden, und so ging ich daran, zu genießen, was zu genießen war: Wunderbare Studenten, interessante neue Freunde. Nach der Geburt meiner Zwillingstöchter blieb mir keine Zeit für Reue und für vieles andere auch nicht. Ich bewarb mich auf eine Professur in Potsdam, doch bevor ich den Ruf erhielt, zerbrach meine Ehe. Stattdessen nahm ich meine Kinder und zog mit ihnen für ein Sabbatjahr nach Israel, in der Hoffnung, dort ein Zuhause zu finden. Wir blieben fünf Jahre, in denen ich Philosophieprofessorin an der Universität von Tel Aviv war und wir israelische Staatsbürger wurden. Die Kinder waren noch klein genug, um sich schnell zurechtzufinden, aber ich hatte noch lange an Ben Gurions Ausspruch zu knabbern, die erste Generation von Immigranten werde verloren bleiben. Meine Vorbehalte waren nicht politischer Natur: Der Friedensprozess war noch nicht gescheitert, die zweite Intifada noch nicht ausgebrochen. Als dann das Einstein Forum auf der Suche nach einer neuen Leitung an mich herantrat, war ich nicht abgeneigt, zu neuen Ufern aufzubrechen, obwohl ich zunächst ablehnte.

»Was weißt du eigentlich über das Einstein Forum?«

Je mehr ich darüber erfuhr, desto stärker war ich versucht. Das Einstein Forum ist kurz nach der Wiedervereinigung mit zwei Überlegungen im Kopf gegründet worden. Erstens wollte man im ehemaligen Ostdeutschland intellektuelle und kulturelle Institutionen aufbauen, denn die bestehenden waren durch die Absetzung all derjenigen ausgeblutet, denen eine Nähe zum gestürzten sozialistischen Regime nachgesagt wurde. Man hörte bereits Klagen, die Welle von Entlassungen diene als Entschuldigung dafür, Stellen für all die Intellektuellen aus dem Westen zu finden, die es dort nicht geschafft hatten. Eine Amerikanerin einzustellen war daher eine Möglichkeit, Ost-West-Konflikte zu vermeiden. Der zweite Grund war weniger lokal. Im Gefolge der Wiedervereinigung hatten sich beunruhigende Anzeichen für das Erstarken eines rechten Nationalismus ergeben, und jedes einzelne Vorkommnis zog die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf sich. Zeitgleich hatte Brandenburg entdeckt, dass es auf einem symbolischen Schatz saß, dem verfallenen Holzhaus, das Albert Einstein 1929 gebaut hatte. Welch besseres Signal hätte man für seinen Internationalismus und seine Fortschrittlichkeit setzen können, als hier etwas Geld in die Hand zu nehmen und zu hoffen, es könne sich daraus etwas Interessantes ergeben? »Ein Ideenschmied«, sagte mir ein damaliger Minister, noch voller Begeisterung.

Nichts davon wusste ich, als man mich aufforderte, mich auf die Stelle zu bewerben. »Werde ich einer bestimmten intellektuellen Agenda verpflichtet sein?«, fragte ich in einem von mehreren Gesprächen. »Wenn Sie mich als Jüdin einstellen, die von Israel nach Deutschland kommt, dann muss ich sagen, ich habe keine Lust den Rest meines Lebens über Vergangenheitsaufarbeitung zu sprechen.« (Damals glaubte ich, mit dem Thema durch zu sein. — Lachen Sie ruhig.)

»Sie hätten völlig freie Hand«, sagte man mir.

»Beispielsweise um über die Aufklärung zu sprechen?«

»Wir sind hier in Potsdam. Nur zu.«

Meine philosophischen Anstrengungen waren hauptsächlich der Verteidigung der viel gescholtenen Aufklärung gewidmet, jener Bewegung des 18. Jahrhunderts, der wir die Grundlagen der allgemeinen Menschenrechte verdanken. In Potsdam liegt die Sommerresidenz Friedrichs des Großen, der dort Voltaire und andere Denker der Aufklärung beherbergt hatte. Später ließ der König den Philosophen verhaften, aber zwei Jahre diskutierten sie fröhlich über die beste und die schlechteste aller Welten. Meine Jugendhelden waren de Beauvoir und Sartre, daher habe ich mich in der Ivy League nie wirklich zuhause gefühlt. Die Möglichkeit, einem breiten Publikum philosophische Fragen näherzubringen, war einzigartig, und Potsdam lag nah genug an Berlin, um in der Stadt zu leben, die immer noch wie eine nicht erloschene Liebe mein Herz berührte: Es kann doch nicht alles zwischen uns zu Ende sein!

Blieb noch die Frage, wie man drei Kinder, die sich selbst inzwischen als Israelis betrachteten, in der ehemaligen Hauptstadt des Dritten Reichs großziehen wollte. Heute liegt in Tel Aviv nichts mehr im Trend, als nach Berlin zu ziehen, aber im Jahr 2000 nannte man mich eine Verräterin, weil ich es überhaupt in Erwägung zog, Israel zu verlassen, um nach Deutschland zu gehen. Zehn Jahre zuvor hätte auch ich mich dagegen entschieden; damals schien es unmöglich zu sein, dass Ausländer, von Juden ganz zu schweigen, sich in Berlin wirklich wohl fühlen konnten. Doch als ich bei einer meiner Stippvisiten im Zusammenhang mit dem Jobangebot beobachten konnte, wie ein Afrikaner mit Dreadlocks wütend auf einen rücksichtslosen Autofahrer einredete, war die Entscheidung gefallen: Das neue Berlin war kein bloßer Hype. In den 80er Jahren wäre der Gedanke, ein Ausländer — jede Art von Ausländer — könne einem Deutschen an der Straßenecke gepfefferte Widerworte geben, unvorstellbar gewesen. Dafür hatten wir alle viel zu viel Angst. Lag es nach langen Jahren der konservativen Vorherrschaft am Wechsel zu einer sozialdemokratisch-grünen Regierung? Oder daran, dass Berlin zur Hauptstadt geworden war und damit mehr Ausländer in die Stadt zogen? Was immer die Ursachen dafür waren, man spürte es auf den Straßen: Die Veränderungen waren dramatisch, jedenfalls einschneidend genug, um anzunehmen, drei israelisch-amerikanisch-deutsche Kinder könnten hier aufwachsen, ohne zu glauben, sie müssten sich ducken.

Zwanzig Jahre später wache ich morgens noch immer mit einem Gefühl der Dankbarkeit auf, weil das Schicksal es so gut mit mir gemeint hat. Das Einstein Forum ist angesehen, und ich hatte das Glück, eine wunderschöne Wohnung in einem Viertel zu finden, das noch schmuddelig genug war, um bezahlbar zu sein. An sonnigen Sommertagen wird niemand es einem verdenken, wenn man glaubt, im multikulturellen Himmel gelandet zu sein. Allein in meinem Häuserblock gibt es ein kurdisches, ein finnisches und ein brasilianisches Café, aus denen an warmen Abenden Livemusik nach draußen schallt, und dann ist da noch eine dänische Bäckerei, ein marokkanisches Restaurant und ein griechischer Feinkostladen. Welche Richtung man auch einschlägt, nach zehn Minuten stößt man unweigerlich auf einen der neun kleinen Buchläden, wovon einer sich auf polnische Literatur spezialisiert hat und an einigen Abenden Gedichtlesungen und Konzerte veranstaltet, während das Fachgebiet eines anderen Englische Literatur ist. Dienstags und freitags kann man auf dem Wochenmarkt längs des Kanals, der früher Türkenmarkt hieß, Brot und Fisch, Obst und Käse und was man sonst noch so alles braucht, kaufen. Obwohl die Händler und ein Drittel der Käufer Türken sind, haben sich einige Funktionäre im neuen Berlin über zu viel Orientalismus Sorgen gemacht und den Namen des Marktes in etwas Harmloses umgewandelt. (Ich kann nicht beschwören, dass der Funktionär Edward Said gelesen hat, mit Sicherheit aber weiß ich, dass der Polizeichef meines Stadtbezirks den Film über Hannah Arendt gesehen hat.) Man sieht viele Frauen, die ein Kopftuch tragen, die älteren eher grimmig, die jüngeren kess und mit Stil. In diesem Teil der Stadt sind die Rempeleien, das Feilschen und das Geplänkel zwischen Muslimen und Nichtmuslimen freundlich.

Natürlich lese ich Zeitung. Und für den Fall, dass ich es mal versäumen sollte, habe ich genug Freunde, die es tun. Als 2018 die Medien groß über den Angriff auf einen Kippa tragenden israelischen Araber berichteten, schrieb mir ein alter Freund aus Los Angeles: Bist du und deine Kinder in Sicherheit? Antisemitische Vorkommnisse in Deutschland werden von der internationalen Presse eher aufgegriffen als Vorkommnisse dieser Art in anderen Ländern. Wie Deutschland auf solche Angriffe reagiert, erregt hingegen weitaus weniger Aufmerksamkeit. Schon bevor der Kippa-Angriff gefilmt wurde, hatte die Bundeskanzlerin ein neues Amt zur Bekämpfung von Antisemitismus geschaffen. Nach dem Angriff trugen 2500 Berliner, darunter der Außenminister, bei einer Kundgebung vor dem Jüdischen Gemeindezentrum demonstrativ eine Kippa. Der Bericht über die Kundgebung brachte es mehrere Tage auf die Titelseiten: BERLIN TRÄGT KIPPA lautete die Schlagzeile meiner Tageszeitung. Ein paar Tage später fasste der Bundestag den einstimmigen Beschluss, das Existenzrecht des Staates Israel mit zur deutschen Staatsraison zu erheben. Dem neuen Antisemitismusbeauftragten zufolge sind etwa gleichbleibend 20 Prozent der Bevölkerung antisemitisch, und die Zahlen stiegen aufgrund zweier Faktoren an, die ich im Schlusskapitel des Buches erörtern werde: aufgrund des Aufstiegs der rechtsextremen AfD und des Zustroms muslimischer Flüchtlinge, die mit antijüdischer Propaganda groß geworden sind. Dieser Prozentsatz an Antisemitismus liegt nicht höher als der in den Vereinigten Staaten, sobald man die großen Städte verlässt, und sicherlich liegt er unter dem Niveau des Antisemitismus in Großbritannien. Der Unterschied liegt in der Reaktion darauf. In Deutschland wurde der Antisemitismus prompt, scharf und aufrichtig verurteilt. Die Initiative dazu ging von der Regierungsspitze aus und stieß auf großen Widerhall. In den Vereinigten Staaten fand Trump nach Charlottesville entschuldigende Worte für Nazis. Die Antwort der britischen Labourpartei auf die gegen sie erhobenen Antisemitismusvorwürfe erfolgte zu ihrem eigenen Schaden nur zögerlich.

Und nach Halle?

Es bereitet mir überhaupt keine Genugtuung, daran zu erinnern, dass es seit Trumps Regierung mehr Angriffe auf Juden mit tödlichem Ausgang als irgendwo sonst auf der Welt gegeben hat. Und gleichzeitig wäre es mir unheimlich, wenn ein Deutscher diese Gedanken nach Halle zum Ausdruck brächte. Ich kann es aber tun. Der Antisemitismus ist weltweit gestiegen; kein Wunder, dass Deutschland nicht verschont bleibt. Niemand in Deutschland bestreitet, dass noch viel getan werden muss. Gute Deutsche sind stets wachsam und beobachten die Zeichen für einen wiederaufkeimenden Rassismus. Sie blicken düster auf solche Entwicklungen und erwarten, dass es noch schlimmer kommt. Was aus einer Welt werden wird, in der die Zahl der Flüchtlinge wächst, darüber lässt sich nur spekulieren; gewiss aber ist, dass Deutschlands Vergangenheit nicht mehr vollständig gegen die Welle des Nationalismus immunisiert, die sich gerade über die Welt ergießt. Keine dieser Entwicklungen ändert etwas daran, dass Deutschland das einzige Land in der Welt war, das in der Flüchtlingskrise Führungsstärke bewiesen hat. Der Historiker Jan Plamper hat nachgewiesen, dass der AfD zum Trotz der Anteil derjenigen, die sich in Deutschland aktiv bemühen, Flüchtlinge zu integrieren, von 2015 bis 2018 von 10 Prozent auf 19 Prozent gestiegen ist. Die letzte Zahl ist vom demoskopischen Institut Allensbach erhoben worden, und sie belegt, dass mehr Deutsche Flüchtlinge unterstützt als rechte Parteien gewählt haben. Die sogenannte Willkommenskultur ist die größte und breiteste soziale Bewegung in Deutschland seit dem Krieg.5 Wollten Amerikaner mit den Deutschen in puncto Großzügigkeit wetteifern, müssten sie innerhalb eines Jahres fünf Millionen Flüchtlinge auf einem Bruchteil der Landfläche aufnehmen. Stattdessen haben Kampagnen von Immigrationsgegnern die Briten erfolgreich dazu überredet, die EU zu verlassen, und die Amerikaner, einen geistig verwirrten Schwindler zu wählen.

Und wie steht es um die jüdische Frage? Vor dreißig Jahren habe ich mir gewünscht, die Deutschen wüssten, dass ich Jüdin bin, oder wären zumindest nicht schockiert, wenn sie es herausfinden. Obwohl sie häufig recht viel über die Konzentrationslager wussten, wussten sie so gut wie nichts über lebende, atmende Juden. Dieses Jahr schrieben mir mehrere deutsche Freunde eine E-Mail, um mir auf Hebräisch ein gutes neues Jahr zu wünschen. Ein jüdischer Historiker aus der Schweiz ist Präsident des Deutschen Historischen Museums. In Berlin gibt es ein jährliches jüdisches Filmfestival, eine jüdische Kulturwoche, ein deutsch-israelisches Kunstfestival, mehrere jüdische Zeitschriften und zahllose Hummus-Imbisse. Wer Rabbiner werden möchte, kann zwischen einem Reformseminar, einem konservativen oder einem orthodoxen wählen. Dank Chabad, der Lauder Foundation und russischen Immigranten wächst die jüdisch-orthodoxe Gemeinde, so wie auch die Zahl der Israelis zunimmt, die ihr Land verlassen haben, um ihrer von Orthodoxen beherrschten Regierung zu entgehen. In den 80er Jahren war es nicht gerade eine heimliche Aktion, Matze zu kaufen, aber man tat es doch etwas verstohlen. Es gab nur ein Geschäft, in dem man sie neben koscherem Wein, gefilte Fisch, Mesusot und Falafel kaufen konnte. Nachdem 1977 ein Bombenanschlag auf das Geschäft verübt worden war, tauschten die Eigentümer das Ladenschild mit der Aufschrift SCHALOM aus. Künftig las man darauf ORIENTALISCHE SPEZIALITÄTEN. Man musste wissen, wo man hinging, um sie zu finden. Will man heute für Pessach einkaufen, ist das einzige Problem die Konkurrenz, wie ich letztes Jahr entdecken musste, als ich in letzter Minute Matzemehl besorgen wollte. Nirgendwo war noch welches zu haben. »Wir haben den Bedarf unterschätzt«, erklärte mir der Ladenbesitzer. »Sie können es sich ersparen, quer durch die Stadt zu laufen. Sie werden nirgendwo Matzemehl finden.« Während ich mich fragte, wie lange es wohl dauern würde, Matze Stück für Stück zu zermahlen, fiel mir ein, dass die Eltern israelischer Freunde, die zu Pessach nach Berlin kommen wollten, vielleicht noch ein zusätzliches Paket mitbringen könnten. Sie haben richtig gelesen. Israelis hatten sich aufgemacht, um Seder mit ihren Kindern und ihrem Enkel in Berlin zu feiern. Nächstes Jahr in Jerusalem?

Nichts spiegelt den Geisteswandel stärker als die Gedenkfeiern zum 8. Mai. 1985 kam der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in die Schlagzeilen, weil er als erster hoher Politiker Westdeutschlands den Tag des Kriegsendes als Tag der Befreiung bezeichnet hatte. Bis dahin war die deutsche Niederlage mit gemischten Gefühlen betrachtet worden, und wer keine gemischten Gefühle hatte, hielt den Mund. Damals konnte ich die Rede nicht würdigen, weil ich nicht begriff, dass der Geschmack der Niederlage vierzig Jahre nach Kriegsende noch so bitter sein konnte — und deshalb auch nicht sah, was an Weizsäckers Verwendung des Wortes Befreiung so revolutionär war. Heute ist die Hausregisseurin des Maxim Gorki Theaters Israeli; 2015 veranstaltete das Theater ein dreitägiges Festival zur Erinnerung an das Ende des Krieges. Es gab bissige Theater- und Videoaufführungen, freche Dialoge zwischen jüdischen und muslimischen Schwulen, eine Komödie über Beschneidung und eine Diskothek, die eine Mischung aus Hip-Hop und russischer Folklore spielte. »Wir haben etwas zu feiern«, rief einer der Organisatoren, während wir im Foyer zu den Klängen eines Akkordeons tanzten. Draußen vor dem Theater wehte über Berlins größtem Boulevard eine Fahne. WIR HABEN GEWONNEN, war darauf in Deutsch, Englisch und Russisch zu lesen. Nach Weizsäckers Rede stießen deutsche Antifaschisten, Ausländer und die wenigen Juden in der Stadt einen Seufzer ätzender Erleichterung aus: Endlich hatte ein westdeutscher Politiker zugegeben, dass der 8. Mai kein Tag der Trauer war. Aber zur Feier des Tages eine Fahne wehen zu lassen mit der Aufschrift: WIR HABEN GEWONNEN? Wer hätte so etwas gewagt?

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Vor Jahren habe ich mir geschworen, jedem Fremden, der sich die Mühe gemacht hat, mir zu schreiben, zumindest einmal zu antworten. Verantwortlich dafür ist vermutlich ein Brief von C. S. Lewis, den ich von ihm erhielt, nachdem ich ihm als Siebenjährige mitgeteilt hatte, ich wolle Schriftstellerin werden, und ein Gedicht über Narnia beigelegt hatte. Er war so freundlich, über die Qualität des Gedichtes kein Wort zu verlieren und mir eine ermunternde Antwort zu schreiben. Ich war entzückt.

Stewarts Brief enthielt ein Lob zu einem kleinen Aufsatz von mir, der zur Keimzelle dieses Buches geworden ist. Der Aufsatz war im Internet gelandet, und Stewarts Brief war ungemein offenherzig. Ich gebe ihn hier in Auszügen wieder:

Ich habe mein ganzes Leben in Mississippi verbracht — lebe nun in Oxford — und ich bin ein konservativer Weißer. Ironischerweise heißt das (in dieser Zeit) wohl, dass ich ein Rassist bin. Tatsächlich aber frage ich mich — und viele andere tun dies auch —, was im Moment das Richtige ist. Wie sollte man sich zur Geschichte der Südstaaten und zur Geschichte der Vereinigten Staaten allgemein verhalten? Ihr Aufsatz war mir da eine große Hilfe.

Stewart ging noch weiter, sein Brief beinhaltete eine ganze Liste von Fragen:

Was glauben Sie? Sollten wir alle Denkmäler der Konföderierten niederreißen? Sollten wir alle Gebäude und Straßen umbenennen? Sollten wir uns bei der Säuberung nicht nur auf das beschränken, was den Bürgerkrieg betrifft? Sollten wir Washington von den Dollarscheinen entfernen? Ich habe, das zu Ihrer Orientierung, mit vielen angeblichen Köpfen der Bürgerrechtsbewegung in Mississippi gesprochen und hatte selbst Gelegenheit, mit James Meredith zu essen und zu hören, was er dazu sagt. Die Fronten sind gespalten, aber Mann o Mann, am wütendsten sind die, die meinen, wir müssten alle Spuren der Sklavenhalterära beseitigen. Aber haben sie recht?

Ich schrieb zurück, um ein paar konkrete Vorschläge zu machen, und schloss mit der Bemerkung, wenn alle, die sich als weiße Konservative bezeichnen, so nachdenklich seien wie er, wäre das Land in einer besseren Verfassung, als ich geglaubt hatte.

Es hätte nicht der Wahl Donald Trumps bedurft, die ebenso erschreckend wie lächerlich ist, um zu beweisen, dass dies nicht der Fall ist. Hat es in Ferguson angefangen? Mit dem Freispruch des Mannes, der Trayvon Martin erschossen hat? Als Dylann Storm Roof, ein junger Mann mit zynischem Grinsen und toten Augen, neun Afroamerikaner bei einer Bibelstunde in Charleston tötete, erschien die Krise selbst den Weißen, die sie vorher ignorieren konnten, so deutlich wie den Schwarzen, die sie nie vergessen hatten. Bei dem Schmerz, der Amerika ergriff, ging es nicht nur um die Tatsache, dass sich das Massaker in einer Kirche abgespielt hatte. Es gab auch die Stimmen der Familien vieler Opfer, die dem Hass nicht das Feld überlassen wollten.

Roofs Computer war voll mit White-Supremacy-Propaganda und mit Bildern, auf denen er selbst mit der Flagge der Konföderierten posierte. Selbst der Süden schien in dem Moment mit einer Stimme zu sprechen. Das Video, das von der großen Güte als Antwort auf das reine Böse sprach, holte endgültig die Flagge der Konföderierten ein und brachte Obama nach Charleston, wo er eine seiner machtvollsten Reden hielt.