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ISBN 978-3-7065-5812-9

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Satz: Studienverlag/Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner

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Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver (Hrsg.)

Politik in Tirol

Jahrbuch 2016

Zu diesem Jahrbuch

Das Jahrbuch Politik in Tirol 2016 ist nun bereits die achte Ausgabe der Reihe seit dem erstmaligen Erscheinen 2009 in Folge. Schwerpunkt des vorliegenden Bandes ist die Kommunalpolitik in Tirol. Zentraler Anstoß für die Themenwahl waren naheliegenderweise die für Ende Februar 2016 anberaumten Gemeindewahlen. Darüber hinausgehend aber geht es in dieser Ausgabe des Jahrbuchs darum, breiter gefasst aktuelle Herausforderungen und Problemlagen, von denen gerade die lokale Ebene der Politik in vielfältiger Weise betroffen ist, zu benennen und näher zu beleuchten.

Die bekannten, allenthalben zu registrierenden Auswirkungen der Globalisierung verdichten sich gerade in einem verkehrsgeografisch exponierten und zugleich touristisch ebenso wie als Lebensraum attraktiven Zuwanderungsland wie Tirol in besonderer Weise. Die Auswirkungen zu spüren bekommt die Landespolitik insgesamt, die kommunale Ebene aber in besonderer und oft sehr konzentrierter Weise. Ausgelöst durch Siedlungsverdichtung und damit verbunden konfrontiert mit veränderten Erwartungshaltungen und Ansprüchen der Bürger, nimmt der Umfang der Gemeindefunktionen – bei meist geschmälertem, selten steigendem Finanzspielraum – zu.

Mit dem diesjährigen Schwerpunkt rückt das Jahrbuch für Politik jene kommunalpolitischen Problemfelder in den Blickpunkt, die in besonderer Weise als lösungsbedürftig empfunden werden: Urbanisierungsprozesse, Raumordnung, Haftungsfragen der Gemeindeorgane, rechtliche Entwicklungen der Gemeindeautonomie, Finanzbeziehungen zwischen Land und Gemeinden, u. a. m.

Zu den Beiträgen in diesem Band:

• Tirol weist bei Gemeindewahlen einige Besonderheiten auf. Ferdinand Karlhofer gibt einen Überblick über Eckdaten und historisch-kulturell bedingte Besonderheiten der Tiroler „Wahlkultur“. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, in keinem anderen Bundesland eine solche Vielfalt an kandidierenden Listen wie hier. Primär ausschlaggebend dafür ist das sogenannte Listenkoppeln. Aus demokratiepolitischer Sicht, so der Befund, hat das System Vorzüge, aber auch Schwächen.

• Ernst Schöpf, langjähriger Präsident des Tiroler Gemeindeverbands und selbst Bürgermeister (Sölden), setzt sich mit dem Wandel des Anforderungs- und Tätigkeitsprofils von Bürgermeistern auseinander. In der Vergangenheit primär Ordnungsfaktor mit hohem Prestige, wird eine Gemeindeleitung heute oft allein nach den Kriterien Effektivität und Effizienz bewertet (und damit überfordert). Das Amt des Bürgermeisters verliert damit an Wert. Hoher Aufwand, bescheidene Entlohnung, geringe soziale Absicherung, oft auch Risiken mit Blick auf die weitere zivilberufliche Karriere (was tun, wenn aus dem Amt gewählt?!) und ständig wachsende Aufgaben mit viel Verantwortung sind Gründe für eine die Attraktivität des Amtes nicht eben fördernde Entwicklung.

• Das Forum Politik, inzwischen schon bewährte Rubrik des Jahrbuchs, in der politische Akteure mit eigenen Beiträgen zu Wort kommen, ist diesmal zwei Themenbereichen im Zusammenhang mit dem Schwerpunkt Kommunalpolitik gewidmet. Im ersten Teil reflektieren vier Altbürgermeister – sie alle verabschieden sich nach langer Amtszeit aus der Politik – über ihre Erfahrungen als Gemeindeoberhaupt. Ihre Erinnerungen sind eine zeitgeschichtlich wertvolle und zugleich anschauliche illustrative Ergänzung zum Beitrag von Ernst Schöpf. Für den zweiten Teil des Forums wurden die im Tiroler Landtag vertretenen Parteien eingeladen, eine Einschätzung des Stellenwerts der Gemeinden – auch aufschlussreiche Einblicke in die Positionen und Sichtweisen der Parteien bietende Statements – für die Landespolitik abzugeben.

• Walter Astner befasst sich in seinem Beitrag mit dem Instrument der Planungsverbände als Form der interkommunalen Zusammenarbeit. Die Voraussetzungen für die Schaffung von Planungsverbänden wurden 2005 für die Gemeinden Tirols bzw. 2007 für Innsbruck und Umgebung geschaffen. Ihr Zweck ist es, die immer größer werdende Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben in den Griff zu bekommen, ohne – was in Tirol abgelehnt wird – Gemeinden zusammenlegen zu müssen. Die in den ersten beiden Jahren noch optimistischen Erwartungen sind mittlerweile einer gewissen Ernüchterung gewichen, da die Planungsverbände sich in der Praxis oft als eher schwerfällig und wenig effektiv erweisen. Eine brauchbare Alternative, so der Verfasser, könnte die Bildung flexibler Verwaltungsgemeinschaften sein.

• Die Bedingungen städtischer und regionaler Siedlungsentwicklung haben sich, wie Wolfgang Andexlinger analysiert, in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Neben lokalen Gegebenheiten wirken auch globale Einflüsse massiv auf die räumliche Programmierung des Raumes Tirol ein. Andexlinger geht in seinem Beitrag vor allem der Frage nach, wie eine Steuerung der räumlichen Entwicklung Tirols erfolgt, welche Einflussgrößen und Rahmenbedingungen vorhanden sind und wie diese auch im Vergleich zu anderen Regionen gesehen werden können. Außerdem zeigt der Artikel mögliche Ansatzpunkte auf, die für einen bedächtigeren Umgang mit dem Raum im Rahmen der weiter voranschreitenden Urbanisierung hilfreich sein könnten. Als Beispiel wird die städtebauliche Strategie für das Inntal präsentiert.

• Johannes Tratter, als Mitglied der Tiroler Landesregierung zuständig für die Gemeinden, befasst sich in seinem Beitrag mit dem Thema Raumordnung und den damit zusammenhängenden Strategien der Landespolitik. Die Raumordnung, so Tratter, wird in den kommenden Jahrzehnten ganz maßgeblich von noch verfügbaren Ressourcen in Hinsicht auf Boden, Energie, Umwelt usw. bestimmt werden. Das Land Tirol, so sein Urteil als Praktiker, sei bereits frühzeitig mit eigenen Programmen in diesen Entwicklungsprozess eingestiegen und habe eine Reihe von konkreten Maßnahmen gesetzt.

• Mit der rechtlichen Verantwortlichkeit der Gemeinden und ihrer Organe beschäftigt sich Niklas Sonntag. Die Haftungsrisiken einer Gemeinde sind vielfältig: die Folgen rechtlicher Auskünfte können ebenso zur Konfliktquelle werden wie Flächenwidmungspläne oder (tatsächlich oder vermeintlich) unterlassene Aufklärung. Hinzu kommen mögliche Haftungen als Gesellschafter in von der Gemeinde betriebenen Unternehmen oder auch im Gefolge von Unfällen etwa bei schlecht gewarteten Wegen. Dass Gemeinden und ihre Funktionäre unter Umständen auch strafrechtlich belangt werden, zeigte der aufsehenerregende Fall Weer, wo der Bürgermeister und der gesamte Gemeinderat wegen Amtsmissbrauchs (Abriss eines denkmalgeschützten Gebäudes) zu empfindlichen Geldstrafen verurteilt wurden.

• Maria Bertel geht in ihrem Beitrag dem Recht der Gemeinde auf Selbstverwaltung und deren rechtlichen Ausgestaltung seit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 nach. Die durch diese Novelle erfolgten Änderungen, nämlich die Möglichkeit des Entfalls des innergemeindlichen Instanzenzugs und der Entfall der Vorstellung, haben Auswirkungen auf die Gemeindeselbstverwaltung. Aus Sicht der Gemeinden bedeutet dies aber nicht unbedingt ein Weniger an Autonomie, sie könnte vielmehr sogar gestärkt werden. Die durch die Verwaltungsgerichtsbarkeitsnovelle erfolgte Verschiebung im Gewaltengefüge geht dem allgemeinen Trend entsprechend vom Verwaltungs- in Richtung Justizstaat.

• Die Finanzbeziehungen zwischen dem Land Tirol und den Gemeinden, dargestellt und erläutert an den Beispielen Bildung, Soziales und Gesundheit, sind das Thema von Kurt Promberger, Christian Mayr und Yvonne Ohnewas. Der Bundesländervergleich zeigt, dass die Tiroler Gemeinden hohen Belastungen ausgesetzt sind und einen überdurchschnittlich hohen Anteil der Netto-Ausgaben tragen. Neben den oberösterreichischen und Kärntner Gemeinden weisen die Tiroler Gemeinden unter Berücksichtigung der Landesumlage die höchsten Transferzahlungen pro Einwohner in den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit auf. Tirols Gemeinden tragen unter Berücksichtigung der Landesumlage nicht weniger als 44 Prozent der Netto-Ausgaben für diese drei Aufgabenbereiche.

• Südtirols Gemeinden stehen so wie jene in Nordtirol vor neuen Herausforderungen. Guido Denicolò, Andreas Januth, Günther Pallaver und Peter Decarli greifen einige davon auf und behandeln, beginnend mit der Einordnung der Südtiroler Gemeinden im italienischen Staatsaufbau, die Art der aktuellen Finanzierung der Gemeinden sowie die im Gang befindlichen Reformversuche. Ziel ist eine ausgewogenere Finanzierung der Gemeinden untereinander, um einen Ausgleich zwischen finanzschwächeren und finanzstärkeren Gemeinden zu finden. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Dynamisierung der Politik, mit der Zunahme des politischen Wettbewerbs, der sowohl die Parteien wie auch direktdemokratische Initiativen der Zivilgesellschaft betrifft.

Abschließend ist es uns ein besonderes Anliegen festzuhalten: Bereits im Jahrbuch 2012 hatten wir den Zusammenhang Migration und Integration exklusiv zum Themenschwerpunkt gemacht (unter anderem mit Statements von Bischof Scheuer und Caritas-Direktor Schärmer). Fest eingeplant für diesen Band war mit Blick auf die Problematik der Flüchtlingswelle aus Syrien ein Beitrag mit Fokus auf den Beitrag von Tiroler Gemeinden zur Bewältigung des akuten Notstands. Aufgrund von Koordinationsproblemen mit den Autoren konnte der Beitrag bedauerlicherweise nicht berücksichtigt werden.

Die Herausgeber bedanken sich bei den Autorinnen und Autoren für die kollegiale und konstruktive Zusammenarbeit. Der Dank geht auch an die Subventionsgeber, die es ermöglicht haben, mit diesem Jahrbuch an eine breitere Öffentlichkeit heranzutreten. Soweit in den Beiträgen die männliche Form verwendet wird, ist sie als geschlechtsneutral zu verstehen.

Innsbruck, Dezember 2015Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver

Gemeindewahlen in Tirol Eckdaten und Besonderheiten

1. Stellenwert der Gemeinden in der Landespolitik

2. Präsenz der Landesparteien in den Gemeinden

3. Charakteristika

3.1 Einheitslisten

3.2 Effekte des Listenkoppelns

3.3 Gemeinderats- und Bürgermeisterwahl – Spannungselemente

3.4 Innsbrucks Sonderstatus

4. Resümee

1. Stellenwert der Gemeinden in der Landespolitik

Für Parteien mit Anspruch, in der Fläche präsent zu sein, sind die Gemeinden unverzichtbares Fundament, auf das letztlich die gesamte Parteiorganisation aufbaut. Politische Karrieren beginnen meist in der Gemeindepolitik, und gerade bei BürgermeisterInnen ist es nichts Ungewöhnliches, auch im Fall einer Wahl in den Landtag, Bundesrat oder Nationalrat im Amt zu bleiben.1 Allein im Tiroler Landtag sind mit Stand Dezember 2015 sieben (zu Beginn der Periode 2013 neun) der 36 Mandatare Bürgermeister.

Im Wissen um deren Bedeutung für die Parteiorganisation insgesamt sind die Landesparteizentralen längst dazu übergegangen, ihre Ortsgruppen – wenn auch im Hintergrund – bei Vorbereitung und Ablauf des Wahlkampfes zu unterstützen. Namentlich bei nicht klar abzusehendem Ausgang in größeren Gemeinden wird die lokale Parteileitung von Werbeagenturen und Politikberatern professionell begleitet. Im Einzelnen mögen Gemeindewahlen von geringerer Bedeutung sein, in Summe aber sind sie für die Landespartei eine maßgebliche Größe.2 Vergleichsweise aufwendiger als in anderen Bundesländern gestaltet sich die Betreuung der Ortsorganisationen in Tirol durch die hohe Zahl an Gemeinden mit gleichzeitig niedriger Einwohnerzahl.3 Tirol hat 279 Gemeinden, annähernd gleich viel wie die wesentlich größere Steiermark, wo die Zahl 2015 durch Fusionen von 539 auf 285 verkleinert wurde.4 Hinsichtlich der durchschnittlichen Einwohnerzahl liegt Tirol mit 2.561 an vorletzter Stelle (vor dem Burgenland mit 1.677),5 mehr als ein Drittel (35,5 Prozent) der Bevölkerung lebt in Gemeinden mit weniger als 1.000 Einwohnern (Tabelle 1).

Tabelle 1: Gemeindegrößenklassen nach Bundesländern (Stand 12/2014)

Gemeindegrößenklassen

Bgld

% (abs.)

Ktn

% (abs.)

% (abs.)

% (abs.)

Sbg

% (abs.)

Stmk

% (abs.)

Tirol

% (abs.)

Vbg

% (abs.)

Österreich

% (abs.)

bis 500

9,7 (16)

3,5 (20)

2,8 (13)

5,9 (7)

0,7 (2)

12,9 (36)

15,6 (15)

7,9 (187)

501–1.000

23,4 (40)

9,1 (12)

15,4 (88)

17,8 (79)

13,4 (16)

4,9 (14)

22,6 (63)

19,8 (19)

18,7 (441)

1.001–1.500

28,1 (48)

19,7 (26)

22,1 (129)

18,0 (80)

11,8 (14)

17,4 (50)

19,0 (53)

9,4 (9)

20,7 (486)

1.501–2.000

13,5 (23)

18,2 (24)

17,8 (102)

15,5 (69)

8,4 (10)

18,4 (53)

12,2 (34)

10,4 (10)

14,4 (340)

2.001–2.500

9,9 (17)

14,4 (19)

10,1 (58)

12,8 (57)

6,7 (8)

13,5 (39)

7,2 (20)

10,4 (10)

10,3 (243)

2.501–3.000

7,0 (12)

8,3 (11)

8,6 (49)

8,3 (37)

10,1 (12)

9,0 (26)

6,8 (19)

2,1 (2)

7,0 (164)

3.001–5.000

5,8 (10)

15,2 (20)

11,2 (64)

14,2 (63)

26,9 (32)

20,1 (58)

11,1 (31)

14,6 (14)

11,3 (267)

5.001–10.000

2,3 (4)

9,1 (12)

6,8 (39)

7,4 (33)

10,9 (13)

10,8 (31)

5,7 (16)

8,3 (8)

6,4 (150)

10.001–20.000

0,6 (1)

3,8 (5)

3,0 (17)

1,8 (8)

4,2 (5)

4,2 (12)

2,2 (6)

5,2 (5)

2,1 (50)

20.001–30.000

0,8 (1)

0,9 (5)

0,5 (2)

0,8 (1)

0,7 (2)

2,1 (2)

0,6 (13)

30.001–50.000

0,2 (1)

0,2 (1)

2,1 (2)

0,2 (4)

50.001–100.000

1,5 (2)

0,2 (1)

0,2 (1)

0,2 (4)

100.001–500.000

0,2 (1)

0,8 (1)

0,3 (1)

0,4 (1)

0,2 (4)

gesamt

100,0 (171)

100,0 (132)

100,0 (573

100,0 (444)

100,0 (119)

100,0 (288)

100,0 (279)

100,0 (96)

100,0 (2.351)

Quelle: Daten Statistik Austria.

2. Präsenz der Landesparteien in den Gemeinden

Die Reichweite der Parteien auf kommunaler Ebene steht in direktem Zusammenhang mit der Zahl der Gemeinderäte, in denen sie vertreten sind (Tabelle 2). Bei den Gemeindewahlen zeigt sich die Dominanz der Tiroler Volkspartei noch wesentlich deutlicher, als das bei Landtagswahlen der Fall ist: Nur sie unterhält in allen Gemeinden Ortsorganisationen und ist in ausnahmslos allen Gemeinderäten vertreten. Mit rund 2.500 von insgesamt 3.676 Mandaten (ohne Innsbruck) ist sie mehr als fünfmal und mit 236 von 278 Bürgermeistern fast neunmal so stark wie die nächstgrößere Partei SPÖ.6 In Klein- und Kleinstgemeinden stellt sie mitunter überhaupt die einzige Fraktion im Gemeinderat (s. Kap. 3.1).

Tabelle 2: Präsenz der Landtagsparteien in den Gemeinden*

ÖVP

SPÖ

FPÖ

Grüne

2004

2010

2004

2010

2004

2010

2004

2010

Ortsgruppen

278

278

152

123

53

62

40

36

Präsenz in GR

278

278

89

117

30

~65

40

31

Mandatare

2.320

2.550

468

387

33

73

69

51

Bürgermeister

238

236

22

25

0

1

0

0

* Ohne Innsbruck. Da sich im Laufe einer Periode die Werte verändern, liegt der Tabelle für 2004 der Stand Ende 2009 und für die Wahl 2010 der Stand November 2015 zugrunde.

Quelle: Schriftliche Auskünfte von Geschäftsführern und Angaben auf den Websites der Parteien.

Während die ÖVP ein nicht nur lückenloses, sondern mit den Ortsorganisationen ihrer Bünde sogar mehrfaches Organisationsnetz7 über das Land legt, müssen die anderen Parteien mit weißen Flecken auf ihrer politischen Karte leben. Bei Wahlgängen erweist sich das als empfindlicher Wettbewerbsnachteil: Während die ÖVP ihre Logistik, begünstigt durch das Listenkoppeln (s. Kap. 3.2), umfassend anlegen kann, müssen SPÖ, FPÖ und Grüne bei der Flächenbetreuung Abstriche machen. Keine der vier Parteien verfügt über das für die nachhaltige Erschließung der kleinen Landgemeinden im Oberland, im Außerfern und in Osttirol nötige Mindestmaß an Ressourcen und Infrastruktur. Untersuchungen über Landtagswahlkämpfe in Tirol machen das sichtbar: Die SPÖ setzt den Fokus ihrer Wahlwerbung auf den urbanen Ballungsraum Innsbruck und die Achse Kufstein bis Landeck sowie Lienz. Die FPÖ bemüht sich zwar um einen flächendeckenden Wahlkampf, konzentriert sich letztlich aber doch auf die erfolgversprechenden Bezirke Schwaz, Kufstein und Innsbruck-Land. Die Grünen setzen ihren Schwerpunkt auf Innsbruck, Innsbruck-Land und die Bezirksstädte.8 Bei Gemeindewahlen ist die Schwerpunktsetzung noch deutlicher – in vielen Gemeinden treten SPÖ, FPÖ und Grüne gar nicht erst an.9

Weitere im Landtag vertretene Parteien sind in den Gemeinden so gut wie nicht präsent. Das Bürgerforum Tirol (Liste Fritz), 2008 mit mehr als 18 Prozent eingezogen, peilte ursprünglich zwar einen „nachholenden“ Aufbau regionaler und kommunaler Präsenz an. Bei der Landtagswahl 2013 auf unter sechs Prozent geschrumpft, beschränkt die Partei sich inzwischen aber auf die „Unterstützung“ (nicht näher bezeichneter) bestehender Listen.10 Schon frühzeitig wurde eingeräumt, dass das mit Gemeindewahlen verbundene finanzielle und organisatorische Risiko zu groß sei.11 Innerparteiliche Rebellion ist offensichtlich auch mit dem Risiko nicht erwarteter negativer Rückkoppelungseffekte behaftet: 2009 war einer der sieben Mandatare der Liste Fritz Bürgermeister gewesen (Ehrwald), ein weiterer Vizebürgermeister (Fulpmes); beide Ämter fielen 2010 an die ÖVP.

Von vornherein keine Ambition, bei den Gemeindewahlen 2016 als Partei in Erscheinung zu treten, hat die mit drei (ursprünglich vier) Abgeordneten im Landtag vertretene Partei impuls tirol. 2013 unter Vorwärts Tirol zur Wahl angetreten und ähnlich wie 2008 die Liste Fritz eine Abspaltung von der ÖVP mit dem primären Wahlziel der Ablöse des amtierenden Parteichefs und Landeshauptmanns, haben die Abgeordneten sich nach längerem Konflikt im Februar 2015 durch Gründung ihrer eigenen Partei impuls endgültig von Vorwärts getrennt. Kommunalpolitisch sind beide in je einer Gemeinde verankert: Aus den Reihen von Vorwärts kommt der Bürgermeister von Mutters (Hansjörg Peer), von impuls die Bürgermeisterin von Lermoos (Maria Zwölfer). Letztere wird sich aus der Kommunalpolitik zurückziehen, mit dieser Entscheidung durchaus auf Parteilinie, wonach für das beabsichtigte Wiederantreten bei der Landtagswahl 2018 eine Präsenz in Gemeinden verzichtbar sei.12

Die SPÖ, zweitstärkste Partei auf kommunaler Ebene, deckt rund 45 Prozent (123) der Gemeinden mit Ortsorganisationen ab. Die Zahl der Gemeinderatsmandate ist 2010 gegenüber der letzten Wahl 2004 gesunken, im Gegenzug konnte die Zahl der Bürgermeister von 22 auf 26, mit der Nachwahl in Lienz ein halbes Jahr später auf 27 gesteigert werden. Gewonnen wurde auch Wörgl, verloren gingen die Bezirksstädte Imst (bereits 2008), Reutte (2010) und schließlich auch Landeck (2013). Mit Stand Ende 2015 stellt die SPÖ 25 Bürgermeister in Tirol. Aktuell in 117 Gemeinden mit Mandaten vertreten, rechnet die Partei mit Zuwächsen vor allem in den Bezirken Innsbruck-Land und Kufstein (s. den Beitrag von Dornauer i. d. B.).

Die FPÖ wies lange Zeit eine sehr geringe Zahl von Ortsgruppen auf und behalf sich in vielen Gemeinden mit sogenannten Stützpunkten (1984: 79). Mit dem Wachstum der Partei konnte die Zahl der Ortsgruppen von 48 (1984) auf 110 (2003) angehoben werden, nach den starken Stimmenverlusten bei der Landtagswahl 2003 ging die Reichweite der Partei zunächst auch auf Gemeindeebene empfindlich zurück und stieg 2010 dann wieder an (s. Tab. 2). In Erwartung ähnlicher – primär der verbreiteten Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen geschuldeter – Erfolge wie in Oberösterreich und Wien bei den Gemeindewahlen im September 2015, beabsichtigt die Partei 2016 in rund 80 Gemeinden (gegenüber 62 bei der Wahl 2010) zu kandidieren.13

Mit 34 Ortsgruppen sind die Grünen, abgesehen von Bürgerforum und impuls, in der Fläche am schwächsten vertreten. Man hatte ursprünglich auch nicht auf die Gründung von Ortsgruppen abgezielt, sondern stattdessen „nahestehende Gruppierungen auf Gemeindeebene“ unterstützt.14 Mittlerweile ist diese Ebene aufgewertet worden und entsprechend im Statut verankert.15 Mit der Wahl 2004 wurde eine Zahl von 40 Ortsgruppen mit insgesamt 68 Mandaten erzielt (s. Tab. 2). Die punktuell herben Verluste bei der Wahl 2010 – verloren gingen die Mandate in den Osttiroler Gemeinden Matrei und Lienz – bremsten die Expansion, die Partei ist seither in nur mehr 31 Gemeinden vertreten. Zur Unterstützung der Ortsgruppen richtete die Landespartei im Vorfeld der Gemeindewahlen 2016 eine eigene Anlaufstelle ein. Bereits zur Jahresmitte 2015 wurde eine Vorwahlkampagne gestartet. Ziel ist es, diesmal „in knapp über 50 Gemeinden“ anzutreten, es habe sich auch gezeigt, „dass sich die Regierungsbeteiligung der Grünen hier positiv auswirkt“ (Imsirovic/Lechleitner i. d. B.).

3. Charakteristika

Im folgenden werden die zum Teil sehr spezifischen Charakteristika des Tiroler Wahlsystems – allen voran Einheitslisten, das sogenannte Listenkoppeln und Effekte der Bürgermeister-Direktwahl – näher beleuchtet und abschließend mit Blick auf Vorzüge, Schwächen und Reformbedarf bewertet.

3.1. Einheitslisten

In 25 der 278 Tiroler Gemeinden, also in fast jeder zehnten Kommune, gibt es keinen Parteienwettbewerb. Es werden hier allein antretende Listen gebildet, die im Wahlgang naturgemäß 100 Prozent der gültigen Stimmen erzielen (Tabelle 3). Den Bestimmungen der Gemeindewahlordnung folgend stellen sie auch den Bürgermeister, da für das Amt nur an die erste Stelle eines Wahlvorschlags für den Gemeinderat gereihte Personen kandidieren dürfen (§ 40 TGWO).

Tabelle 3: Profile der Gemeinden mit Einheitslisten (GRW 2010)

Gemeinde (Bezirk)*

Einw.

Wahlber.

Wahlbet.

ung.

Listenname

Faggen (LA)

280

266

71,1

6,9

Gemeinschaftsliste Faggen

Fendels (LA)

258

198

70,2

10,1

Allgemeine Dorfliste Fendels – Scherl Heinrich

Gerlosberg (SZ)

395

354

72,3

0,8

Gemeinschaftsliste Gerlosberg

Gramais (RE)

60

44

88,6

0,0

Gramaiser Liste

Grän (RE)

597

419

61,1

3,9

Gemeinschaftsliste Grän

Gries im Sellrain (IL)

570

479

62,2

9,7

Dorfliste Gries

Gschnitz (IL)

455

343

68,8

12,7

Gemeinsam für Gschnitz

Hopfgarten in Defereggen (LZ)

839

634

70,4

12,8

Bürgermeisterliste „Gemeinsam für Hopfgarten“

Jungholz (RE)

316

263

71,1

0,0

Wir Jungholzer mit Zukunft

Kaisers (RE)

83

65

80,0

1,9

Gemeindeliste

Karres (IM)

575

500

74,0

17,0

ÖVP – Heimatliste Karres

Kaunerberg (LA)

344

299

86,6

3,1

Gemeinsam für Kaunerberg

Kauns (LA)

447

383

73,1

17,5

Gemeinschaftsliste Kauns

Musau (RE)

374

321

60,1

8,3

Wir für Musau

Namlos (RE)

100

85

74,1

0,0

Gemeindeliste

Pfafflar (RE)

140

96

90,6

2,3

Gemeindeliste „mein Pfafflar“

Pinswang (RE)

444

345

60,3

13,5

Gemeinsam für Pinswang

Schlitters (SZ)

1.276

1.032

57,3

14,9

Gemeinsam für Schlitters mit Bürgermeister Friedl Abendstein

Serfaus (LA)

1.091

883

73,8

7,5

Allgemeine Bürgerliste Serfaus – Paul Greiter

St. Sigmund im Sellrain (IL)

204

145

65,5

9,5

Gemeinsamkeit für die ÖVP St. Sigmund-­Praxmar

Steinberg am Rofan (SZ)

306

256

63,7

8,6

Für Steinberg – Bürgermeisterliste

Thurn (LZ)

634

521

82,7

16,5

Allgemeine Liste Thurn

Tobadill (LA)

522

430

53,3

12,2

Dorfliste Tobadill

Virgen (LZ)

2.128

1.767

53,5

13,3

Für Virgen – unabhängige Gemeinschaftsliste

Vorderhornbach (RE)

282

227

78,0

5,6

Gemeindeliste

IL = Innsbruck-Land, IM = Imst, LA = Landeck, LZ = Lienz, RE = Reutte, SZ = Schwaz.

Einw. = Einwohner, Wahlber. = Wahlberechtigte, Wahlbet. = Wahlbeteiligung (%), ung. = ungültige Stimmen (%)

Quelle: wahlen.tirol.gv.at.

Die Bildung von Listen ohne Konkurrenz durch weitere wahlwerbende Gruppen geht, wie meist schon aus den Namen hervorgeht, von der Grundannahme einer interessenübergreifenden, überparteilichen Gemeinsamkeit aller Bürger aus: Einheitsliste, Gemeindeliste, Gemeinschaftsliste, Dorfliste, Dorfgemeinschaft. Nur in zwei der 25 Einheitslisten kommt ein Parteiname vor (in beiden Fällen ÖVP).

Einheitslisten werden, wie der Vergleich mit den Gemeinden mit mehreren Listen zeigt, bevorzugt in Gemeinden mit niedriger Einwohnerzahl gebildet: der Mittelwert beträgt 509 gegenüber 2.153 (Tabelle 4).

Gleichwohl beschränken sich Einheitslisten nicht ausschließlich auf Kleinstgemeinden, denn es gibt sie durchaus auch in größeren Gemeinden, drei von ihnen mit mehr als 1.000 Einwohnern: Schlitters, Serfaus und Virgen, letztere mit sogar über 2.000 Einwohnern (2004 waren es ebenfalls drei: Reith bei Seefeld, Schlitters und Virgen). Mit Blick auf diese Gemeinden lässt sich nicht pauschal annehmen, das Phänomen Einheitsliste habe damit zu tun, dass auf kleinem Raum eben kein Bedarf für Parteienkonkurrenz sei. Zwei Fragen erheben sich in diesem Zusammenhang: Sind Einheitslisten Ausdruck von (politischer) Harmonie in der Gemeinde? Oder gibt es bestimmte Barrieren – soziale Kontrolle, politikbestimmende Präsenz dominanter Gruppen –, die die Bildung zusätzlicher Listen verhindern?16 Zur näheren Befassung mit diesen beiden Fragen bieten sich als Indikatoren (1) die Höhe der Wahlbeteiligung und (2) der Anteil der ungültigen Stimmen an (Tabellen 4, 5 u. 6).

1. Tritt bei einer Wahl immer nur eine einzige Liste an, dann handelt es sich, mangels Alternative zur bestehenden Liste, im strengen Sinn um keine Wahl. Ist die Beteiligung dennoch hoch, so kann das, zumal es keine Wahlpflicht gibt, als ausdrückliche Zustimmung gewertet werden – kann, muss aber nicht, denn besonders bei sehr kleinen Gemeinden ist die Wahlbeteiligung generell überdurchschnittlich hoch, im überschaubaren Dorf würde ein Fernbleiben von der Wahl registriert. Anders verhält es sich bei größeren Gemeinden. Mit der fehlenden Auswahlmöglichkeit entfällt bei Einheitslisten das Spannungselement der Parteienkonkurrenz, da der Sieger ja vorab schon feststeht und somit Nichtwählen keinerlei Konsequenzen hat. Und hier zeigt sich in der Tat bei größeren Gemeinden eine deutlich niedrigere Wahlbeteiligung, am niedrigsten von allen in Tobadill (53,3 Prozent), knapp gefolgt von Virgen (53,5 Prozent).

2. Aussagekräftiger als die Wahlbeteiligung ist der Anteil der ungültigen Stimmen. Nichtwählen kann viele Gründe haben, ungültig zu wählen ist dagegen klar und eindeutig Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem vorhandenen Angebot. Bei den Gemeinden mit mehreren Listen liegt der Mittelwert für den Anteil ungültiger Stimmen bei 3,4 Prozent, mit 10,5 Prozent deutlich höher ist er bei Gemeinden mit Einheitslisten. Weniger eklatant ist dabei aber der Mittelwert als vielmehr die Streuung: In sieben von zehn der 278 Gemeinden mit dem höchsten Anteil an ungültigen Stimmen stand nur eine Liste zur Wahl. Spitzenwerte erzielten dabei Obertilliach und Schwendt mit je rund einem Viertel. Herausragend besonders die Gemeinden Schwendt und Reith bei Seefeld: Die beiden Indikatoren Wahlbeteiligung und gültige Stimmen zusammengenommen, ist die Gemeindevertretung in Form einer Einheitsgemeinde ausgesprochen schwach legitimiert. Am Beispiel Virgen: Die Liste „Für Virgen – unabhängige Gemeinschaftsliste“ stützt sich auf weniger als die Hälfte (40,3 Prozent) der Wählerstimmen.

Tabelle 4: Wahlverhalten – Eckdaten im Vergleich (GRW 2004/2010)*

Einwohner

Wahlbeteiligung

ungültige Stimmen

2004

2010

2004

2010

2004

2010

Gemeinden mit mehreren Listen

1.967

2.153

76,9

73,5

4,1

3,4

Gemeinden mit Einheitsliste

534

509

64,7

66,1

12,4

10,5

* jeweils Mittelwert

Quelle: wahlen.tirol.gv.at.

Tabelle 5: Wahlbeteiligung – niedrigste Werte (GRW 2010)

Gemeinde (Bezirk)

Wahlbet.

ungültige Stimmen

Zahl der Listen

Einw.

Tobadill

53,3

12,2

Einheitsliste

522

Virgen

53,5

13,3

Einheitsliste

2.128

Aurach bei Kitzbühel

56,6

7,8

mehrere Listen

1.203

Schlitters

57,3

14,9

Einheitsliste

1.276

Tannheim

59,5

5,1

mehrere Listen

1.061

Musau

60,1

8,3

Einheitsliste

374

Pinswang

60,3

13,5

Einheitsliste

444

Grän

61,1

3,9

Einheitsliste

597

Hall in Tirol

61,2

3,8

mehrere Listen

11.492

Kitzbühel

61,5

3,4

mehrere Listen

8.574

Quelle: wahlen.tirol.gv.at.

Tabelle 6: Anteil ungültiger Stimmen – höchste Werte (GRW 2010)

Gemeinde (Bezirk)

ungültige Stimmen

Wahlbet.

Zahl der Listen

Einw.

Kauns

17,5

73,1

Einheitsliste

447

Karres

17,0

74,0

Einheitsliste

575

Thurn

16,5

82,7

mehrere Listen

634

Schlitter1s

14,9

57,3

Einheitsliste

1.276

Pinswang

13,5

60,3

Einheitsliste

444

Virgen

13,3

53,5

Einheitsliste

2.128

Hopfgarten in Defereggen

12,8

70,4

Einheitsliste

839

Gschnitz

12,7

68,8

Einheitsliste

455

Tobadill

12,2

53,3

mehrere Listen

522

Hart im Zillertal

12,1

73,5

mehrere Listen

1.284

Quelle: wahlen.tirol.gv.at.

Resümierend lässt sich zum Thema Einheitslisten feststellen: Sie sind Ausdruck eines Mangels an Wettbewerb, der bei sehr kleinen Gemeinden nachvollziehbar ist, bei größeren Gemeinden dagegen weniger – auch wenn es sich hier um einen insgesamt sehr kleinen Teil der Wählerschaft handelt. Festzuhalten ist auch, dass die Buntheit und zugleich die Unübersichtlichkeit hinsichtlich der parteipolitischen Zuordnung dieser Listen deutlichere Konturen annimmt, sobald man den Blick auf die Bürgermeister dieser Gemeinden richtet: Mit Ausnahme von Virgen, dessen Bürgermeister als parteiunabhängig gilt, ist in allen Gemeinden mit Einheitslisten der Bürgermeister (und damit auch der Listenerste) Mitglied der ÖVP. Einheitslisten sind somit eine Domäne der ÖVP, abgeschwächt durch die Einbeziehung unabhängiger bzw. unter Umständen auch anderen Parteien verbundener Exponenten.

Nun gibt die Tiroler Gemeindewahlordnung (TGWO § 49) dem Wähler zwar die Möglichkeit, durch die Vergabe von bis zu zwei Vorzugsstimmen die Reihung auf der Liste zu beeinflussen (wie weit speziell in diesen Gemeinden davon Gebrauch gemacht wird, wäre eine aufschlussreiche Untersuchung wert). Dass das aber kein Ausgleich für fehlenden Parteienwettbewerb sein kann, zeigt sich gerade dort, wo eine auffallend niedrige Wahlbeteiligung mit einem auffallend hohen Anteil ungültiger Stimmen zusammenfällt.

3.2. Effekte des Listenkoppelns

Nicht unerheblich, wenn auch nicht zentral, wird die Dominanz der ÖVP durch das für Tirol spezifische Listenkoppeln bei Gemeinderatswahlen abgestützt, welches gezielt eingesetzt systematisch die größte Partei begünstigt; es ist die ÖVP auch die einzige Partei, die das Listenkoppeln in ihrem Parteistatut (§ 58 Abs. 4) regelt.17 Die Tiroler Gemeindewahlordnung (§ 37) ermöglicht es einer Partei, mit mehreren Listen anzutreten und dabei zu „koppeln“. Der Vorteil dabei: es gehen nicht mehr Reststimmen verloren als bei einem Wahlvorschlag mit einer einzigen Liste. Vorgesehen war die Möglichkeit des Listenkoppelns lange Zeit auch in der Tiroler Landtagswahlordnung; in der Praxis wurde davon aber nicht Gebrauch gemacht, im Rahmen einer Gesetzesnovelle 2011 wurde der Passus eliminiert.

Die Vorteile des Wechselspiels aus – wenn man so will – Pluralität und Einheit wurden in der Vergangenheit schon geschätzt: Die Partei „kann damit Wählerschichten in den städtischen Gemeinden wie in den Landgemeinden ansprechen, die ihr sonst verschlossen bleiben; Bruchlinien innerhalb der Partei gab es fast nur in wirtschaftlichen Belangen oder in persönlichen bündisch-lokalen Eifersüchteleien, niemals aber in grundsätzlich-weltanschaulichen Bereichen. Die von der Parteileitung geübte Toleranz der Listenfreiheit mit Koppelungsverpflichtung belebte den innerparteilichen Wettbewerb und bewirkte den soziologischen Aufbruch der oft konservativen Dorfgemeinschaft zur demokratischen Fragmentierung ohne Schaden für die Gesamtpartei.“18

Die Zahl der Koppelungen ist von Wahl zu Wahl unterschiedlich und lässt im Zeitverlauf weder eine Zu- noch eine Abnahme erkennen. Bei der Landtagswahl 1998 kam es in 88 Gemeinden (32 Prozent) zu Listenkoppelungen, 2004 waren es 71 (25 Prozent), 2010 73 (26 Prozent). Naturgemäß nimmt bei Koppelungen die Zahl der zur Wahl antretenden Listen zu: Zu den herausragenden Gemeinden mit starker Auffächerung des Parteiensystems zählte 1998 die Gemeinde Sölden mit zehn, 2004 Inzing mit acht und 2010 Imst mit 9 Listen (Tabelle 7).19

Tabelle 7: Koppelung von Listen – Beispiele

Sölden 1998

Inzing 2004

Imst 2010

A

Junge Liste mit Ernst Schöpf

A

Aktives Inzing mit Bürgermeister Kurt Heel

Bürgermeisterliste – Sozialdemokratische Akzente für Imst

A

Arbeiter – Angestellte – Zimmervermieter

B

Unabhängige Inzinger Bürgerliste

A

Imster Bürgermeisterliste – Gebi Mantl

B

Allgemeine Bürgerliste

B

JUF – Lebensraum Inzing

A

Ein Herz für Imst – Gitti Flür

B

Liste 2000

FPÖ Inzing

B

IFI-Initiative für Imst – Liste Helmut Gstrein

B

Miteinander – Tourismus und Landwirtschaft

B

Sozialdemokratische Partei Österreichs – Inzing

C

Alle für Imst mit Stefan Weirather

B

Wirtschaft und Fremdenverkehr

A

Für das Dorf

C

Liste 2000 mit Heinrich Gstrein

C

Pro Tourismus – für die Zukunft unserer Heimat

Freie Namensliste FÜR INZING

B

Die Grüne Alternative Imst

C

Gemeinsam für Sölden – ÖAAB

Wir für EUCH

B

Gemeinsam für unser Imst

Bauernliste der Gemeinde Sölden

Freiheitliche und Unabhängige Liste Imst

Freie Bürgerliste (FBS)

Quelle: wahlen.tirol.gv.at.

Was die Namensgebung betrifft, verzichten die Listen fast durchgängig auf einen expliziten Parteibezug. Erkennbar wird dieser meist erst bei genauerer Betrachtung: So gehören, um zwei Beispiele zu nennen, die von der Liste „Aktives Inzing“ und der „Allgemeinen Heimatliste“ in Steinach am Brenner gestellten Bürgermeister beide der ÖVP an. Anzumerken ist zur ÖVP überdies, dass in vielen Gemeinden – in offenem, von der Landespartei aber geduldetem Widerspruch zum Parteistatut – eigenständig antretende Listen nicht miteinander koppeln. In der Gemeinde Hinterhornbach gab es bei der Wahl 2010 nur zwei Listen: die „ÖVP Gemeindeliste Hinterhornbach“ und die „ÖVP Gemeinsam für Hinterhornbach“, beide mit eigenem Bürgermeisterkandidaten. In der Gemeinde Unterperfuss koppelte bei derselben Wahl eine „ÖVP-Dorfliste“ mit der SPÖ, um den amtierenden Bürgermeister mit seiner „ÖVP – Liste Unterperfuss – Bürgermeisterliste“ abzuwählen (mit Erfolg). Nicht beachtet wird das Parteistatut auch in der Statutarstadt Innsbruck, wo (zuletzt) die Liste des VP-Seniorenbunds 2006 mit „Für Innsbruck“20 koppelte, nicht aber mit der ÖVP, 2012 dann wieder umgekehrt.

Bei einer Abwägung der Vorzüge und Schwächen des Listenkoppelns ist zunächst zu beachten, dass Tirol mit dieser Facette des Wahlrechts zwar eine Ausnahme unter den österreichischen Bundesländern ist, allerdings findet es auch in der Schweiz und bei Kommunalwahlen in einigen deutschen Bundesländern Anwendung. Dort wird es vor allem von kleineren Parteien als eine Art „Zählgemeinschaft“ genutzt, um den Verlust von Reststimmen gering zu halten. Bündnisse dieser Art gingen in Tirol 2010 SPÖ und FPÖ in drei Gemeinden (Tarrenz, Waidring, Nasserreith) und SPÖ und Grüne in Hopfgarten i. B. und in Kramsach ein. In zwei Gemeinden koppelten Listen der ÖVP mit der FPÖ (Thiersee) bzw. der SPÖ (Unterperfuss).

Unter den 73 Gemeinden mit Listenkoppelung bei der Wahl 2010 war in 51 Fällen die ÖVP beteiligt, in zwölf Fällen die SPÖ, in acht Fällen die FPÖ und in zwei Fällen die Grünen. Geradezu prädestiniert für das Listenkoppeln ist mit ihrer bündischen Gliederung – Wirtschaftsbund, Bauernbund, AAB – die ÖVP; allfällige Rivalitäten bei der Zusammenstellung einer Parteiliste lassen sich hier durch Auslagerung in die Bünde hintanhalten, die dann (im Idealfall, aber keinesfalls lückenlos) mit gekoppelten Listen kandidieren. Gleichsam als Nebeneffekt dieser Lockerung der Einheit der Partei kommt es immer wieder zu einer Verselbständigung von Listen, die – trotz mehr oder weniger klarer Parteinähe – auf ihre Unabhängigkeit pochen und sich schlussendlich nicht nur weigern zu koppeln, sondern sich oft sogar untereinander einen heftigen Schlagabtausch liefern. Im Ergebnis weist Tirol eine im Bundesländervergleich ausgeprägte und bunte Listenvielfalt auf, die ursächlich auf das Listen­koppeln unter dem Dach der ÖVP zurückzuführen ist – verschiedentlich erstaunlich kreativen Listennamen, in denen kaum eine Zielgruppe ausgespart bleibt.21

Die Vielfalt bietet den Wählern ein deutlich breiteres Spektrum an Wahlmöglichkeiten als in anderen Bundesländern. Zugleich aber ist der Informationsstand zum Listenkoppeln, wie eine – schon länger zurückliegende – Befragung in drei Gemeinden (Zirl, St. Anton, Kirchberg) ergab, denkbar gering: Nur 59 Prozent der Befragten gaben an, über das Koppeln Bescheid zu wissen, 41 Prozent konnten damit nichts verbinden, und auch von denen, denen das Koppeln bekannt ist, gaben zwei Drittel an, dass es auf ihre Wahlentscheidung keinen Einfluss habe. Ob in einer Gemeinde das Listen­koppeln praktiziert wird (St. Anton, Kirchberg) oder nicht (Zirl), ist für den Informationsstand nicht ausschlaggebend – die Werte waren in allen drei Gemeinden annähernd gleich.22 Kehrseite der Listenvielfalt ist, dass sie zu Lasten der Übersichtlichkeit geht und Wähler, die ihre Stimme einer gekoppelten Liste geben, mehrheitlich nicht wissen, was mit dieser Stimme geschieht.

Lange Zeit kein landespolitisches Konfliktthema, wurde das Listenkoppeln ab Ende der 1990er Jahre von SPÖ, FPÖ und Grünen als demokratiepolitisch bedenklich kritisiert – wiewohl alle drei, wenn auch in bescheidenem Umfang, gelegentlich selbst koppeln –, während die ÖVP es naturgemäß weiterhin als „Bereicherung für die Gemeindepolitik“ beibehalten will.23 Die Grünen haben ihre ablehnende Haltung zwischenzeitlich relativiert, zu SPÖ und FPÖ ist anzumerken: Auch wenn die Parteiposition dem Listenkoppeln gegenüber reserviert ist – in der Praxis, siehe die Beispiele oben, verzichten, wenn die Gelegenheit sich bietet, auch sie nicht darauf. In der Übersicht stellen die Positionen der Parteien sich wie folgt dar:

Tabelle 8: Listenkoppeln – Positionen der Parteien

ÖVP – pro

Listenkoppeln ist eine Bereicherung für die Gemeindepolitik: sie gibt unterschiedlichen Interessengruppen die Möglichkeit, ihre Klientel direkt anzusprechen, und führt mitunter zu Mandatsverschiebungen als „angenehme Begleiterscheinung“. Einziger Wermutstropfen: kleinere Gruppen sind tendenziell im Nachteil.

Da die Listenkoppelung ja bereits vor der Wahl bekannt sei, weiß der/die Wähler/in von vornherein, dass seine Stimme allenfalls der gekoppelten Liste zukommen kann.

Weiterer Vorteil: durch die Listenkoppelung weiß der/die Wähler/in auch, welche Gruppierungen nach der Wahl eine Zusammenarbeit anstreben.

SPÖ – contra

Die Mechanismen und die Regeln bei Wahlen – siehe Innsbrucker Stadtrecht – interessieren die WählerInnen auf der Straße nicht.

Bei der Koppelung wird eine Trennung vorgetäuscht, die es bei der Zuteilung der Mandate auf Grund der Zurechnung der Reststimmen nicht gibt.

Die Mehrzahl der WählerInnen weiß mit Koppelungen nichts anzufangen. Zu fragen wäre auch: Will man diese Unwissenheit vielleicht auch? Und warum gibt es dieses System nur in Tirol?

Grüne – pro (mit Reformvorschlag)

Listenkoppeln ist grundsätzlich eine Möglichkeit, die kleinere Listen stärkt. Es darf jedoch nicht zur „WählerInnentäuschung“ kommen, deshalb sollte die Koppelung am Stimmzettel deutlich erkennbar sein, damit niemand eine Partei mit wählt, die er/sie gar nicht will – Kennzeichnung am Aushang reicht nicht.

FPÖ – contra

Die Listenkoppelung wird abgelehnt, weil sie eine Ausweitung der Listen bewirkt, die als eine Liste ausgewertet und gezählt werden. Die Möglichkeiten des Koppelns nützt fast ausschließlich die ÖVP, um „schwarze“ Listen als „nicht ganz schwarze“ Listen erscheinen zu lassen.

Quelle: Erhebung des Verfassers 2009 – Auskünfte der Parteizentralen.

3.3. Gemeinderats- und Bürgermeisterwahl – Spannungselemente

In der Mehrzahl der Bundesländer – Ausnahmen sind Wien, Niederösterreich und Steiermark – wurde im Verlauf der neunziger Jahre die Direktwahl des Bürgermeisters eingeführt. Tirol (1991) zählte neben Kärnten (1990) und Burgenland (1992) zu den Vorreitern. In allen drei Ländern wurden die darauffolgenden Gemeindewahlen nach diesem Modell durchgeführt. Von dem VfGH-Erkenntnis von 1993, durch das die Direktwahl als nicht verfassungskonform eingestuft wurde (erst nach einer Abänderung des Art. 117 B-VG 1994 war der Weg wieder frei), blieben alle drei Länder faktisch unberührt, da die Gemeindewahlen vor dem Urteil stattfanden. In Tirol wird die Bürgermeister-Direktwahl somit ungebrochen seit 1992 (in Innsbruck seit 2012) praktiziert. Entsprechend liegen inzwischen hinreichend Erfahrungen mit der Dualität von Gemeinderats- und Bürgermeister-Wahlen über die drei Perioden vor. Ähnlich wie auch in anderen Bundesländern24 ist die Zusammenarbeit zwischen Gemeinderat und Bürgermeister mehrheitlich kooperativ, wenn auch nicht immer friktionsfrei und in Einzelfällen sogar von offener Konfrontation gekennzeichnet. 25

Auslösend für Kontroversen zwischen Gemeinderat und Bürgermeister sind meist Kompetenzstreitigkeiten im Zusammenhang mit der starken rechtlichen Position des Gemeindeoberhaupts: Der Bürgermeister vertritt die Gemeinde nach außen, ist allein zuständig für den übertragenen Wirkungsbereich bei der Ausübung staatlicher Aufgaben, führt den Gemeindehaushalt und hat erheblichen Spielraum beim Vollzug der Beschlüsse von Gemeinderat und Gemeindevorstand bzw. Stadtrat.

Die mit der Direktwahl verbundene Personalisierung und direkte Legitimation durch die Wählerschaft erhöht die strategische Stärke des Bürgermeisters zusätzlich26