Zara Kavka

Love, crazy love

Welcher Verrückte
hat eigentlich die Liebe erfunden?

Roman

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1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80588-7

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Liebe hört auf keine Lehre,
weiß im Leben nicht ein noch aus.
Wenn’s nicht eben die Liebe wäre,
sie sperrten sie ins Irrenhaus.

(Friedrich Halm)

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1

Am Anfang dieser Geschichte steht das Ende eines langen Martyriums. Denn leider habe ich meine Schulkarriere genauso engagiert beendet, wie ich sie immer schon vorangetrieben habe: nämlich gar nicht. Mit Pauken und Trompeten bin ich durchs Abi gerasselt. Und das war’s dann für mich. Dumm gelaufen, Clara.

In Physik hatte ich immerhin zwei Punkte, weil ich aus Versehen einen Rechenweg richtig angefangen hatte, in Englisch drei Punkte und in Mathe gar keinen. Wahrscheinlich könnte ich mit dieser Glanzleistung sogar in die Schulgeschichte eingehen. Streng genommen hätte ich damit mein Ziel erreicht, das ich mir als kleines Mädchen erträumt hatte: Ruhm und Ehre, Glanz und Gloria für herausragende Leistungen. Dass es jetzt herausragend schlechte Leistungen geworden sind, ist ein Detail, das ich vielleicht damals nicht präzise genug formuliert hatte.

Ich hätte es natürlich voraussehen können, weil ich die Theaterproduktion und die Abizeitung wesentlich spannender fand als den Lernstoff, der sich vor mir aufgebaut hatte wie ein hungriges Monster. Logisch, dass ich da die Flucht ergreifen musste. Nicht logisch, dass ich bis zuletzt noch geglaubt hatte, dass es klappen könnte. Hatte ja immer irgendwie geklappt bisher.

Mal ehrlich: Gibt es einen Jugendlichen, der sich für Kurvendiskussionen interessiert oder für Erörterungen zum Thema »Neue, zeitsparende Verfahren zur Vernichtung von Plastikmüll«? Falls ja, gehört er in den Sondermüll. Ist doch wahr!

Meine Schulzeit war von folgenden Grundsätzen geprägt: 1. Betreibe keinen Arbeitsaufwand, der das Nachlesen bei Wikipedia übersteigt. 2. Die Freizeit ist zu wertvoll für Hausaufgaben und 3. Mitschüler sind bestechlich. Dann hatte ich auch noch den Trick, hier und da Fremdwörter einzustreuen. Das sicherte mir den Respekt der Klassenkameraden und sogar der Lehrer. Bis die gecheckt hatten, dass ich eigentlich nie was für die Schule gemacht habe, war die letzte Abiklausur längst geschrieben. Klassischer Fall von Selbstbetrug. Das habe ich aber erst in den acht Stunden kapiert, die ich zusammengezählt in den schriftlichen Physik- und Matheprüfungen gesessen habe. Was für eine Zeitverschwendung. Ich fühlte mich dumm wie ein Toastbrot. Nein, ich war dumm wie ein Toastbrot. Auf diese Erfahrung hätte ich echt verzichten können.

Na ja, was soll’s. Nachdem ich ein bisschen geheult hatte, fand ich es gar nicht mehr so schlimm. Klar, meine Mutter hat ziemlich rumgestresst, aber meine Berufsvorstellungen waren auch am Ende der letzten Klasse noch genauso nebulös wie mein Schulwissen. Deshalb habe ich mich erstaunlich schnell mit dem Gedanken angefreundet, noch ein Jahr länger zur Schule zu gehen. Das bedeutete schließlich weiterhin freie Kost und Logis, viel Zeit für persönliche Vergnügungen am Nachmittag und Aufschub der leidigen Berufswahl.

Der Moment, als meine Freunde mit dem Bus Richtung Abipartyparadies losfuhren und mich winkend zurückließen, war allerdings bitter. Doch auch den habe ich überlebt. Natürlich!

Nun lag ein freunde- und terminloser Sommer vor mir. Eine völlig neue Erfahrung für mich, deren Terminkalender eher dem einer Bundeskanzlerin als dem einer achtzehnjährigen Möchtegernabiturientin glich. Mama stand kurz vor ihrer lang geplanten Honeymoon-USA-Reise mit ihrem neuen Freund und ich hatte Aussicht auf einen ganzen Sommer ALLEIN! Eine Masse Zeit, die wie ein See aus durchgekautem Kaugummi vor mir lag.

»Schatz«, sagte Mama irgendwann, als sie in mein Zimmer gekommen war, während ich auf meiner Matratze klebte. An ihrer Tonlage erkannte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie benutzte sie nur für das Überbringen richtig unangenehmer Nachrichten. Ich richtete mich auf, bereit, schreiend davonzulaufen, wenn sie mir eröffnen sollte, dass genau jetzt Zeit für etwas Sport sei. Oder zum Aufräumen. Oder den Müll runterzubringen. Sie ist diesbezüglich extrem einfallsreich.

Sie setzte sich auf meine Bettkante. »Was hältst du davon, den Sommer bei deinem Vater zu verbringen?«

Schock! Das übertraf alle Nachrichten, die sie mir jemals mit dieser Achtung-jetzt-kommt’s-Stimme überbracht hatte. Ich war auf einen Schlag bewegungsunfähig. An Flucht war gar nicht mehr zu denken, geschweige denn daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich starrte Mama nur mit offenem Mund an.

»Ich habe gestern mit ihm telefoniert und …«

»Was? Du hast mit ihm telefoniert?« Dank dieser Sensation habe ich meine Sprache wiedergefunden. Ich konnte nicht glauben, was ich da gehört hatte.

»Ja. Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.«

»Wow, ich musste durchs Abi fallen, damit ihr mal miteinander sprecht. Cool.«

»Er fand die Idee gut, dass du den Sommer bei ihm verbringst«, sprach sie weiter, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Er hat auch versprochen, dir beim Lernen zu helfen.«

»Soso. Ich soll also in die Klapse.«

»Clara. Du sollst nicht in die Klapse, sondern zu deinem Vater. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich will dich hier nicht allein zurücklassen!«

Pause. Anscheinend wartete sie auf eine Reaktion. Ich ging im Kopf die Optionen durch: Entweder könnte ich den ganzen Sommer zu Hause auf dieser Matratze verbringen und im Rahmen eines Selbstexperimentes herausfinden, wie lange es dauert, bis sich auf meiner Haut fremde Organismen ansiedeln. Oder ich könnte meine Sachen packen und einen Mordsspaß mit meinem wortkargen Vater haben, der mit einem Haufen Irrer unter einem Dach lebt. Die Vorstellungen waren beide nicht mit einem Strandurlaub zu vergleichen, doch da ich es hasse, allein vor mich hinzugammeln, erschien mir Option zwei als das kleinere Übel. Ein Sommer unter Irren war immerhin besser als gar keine Gesellschaft.

»Clara. Sag was.«

»Mmmmhhh«, brummte ich.

»Hast du eine bessere Idee?«

»Mmmmhhh«, brummte ich wieder und schüttelte den Kopf. Ein Sommer mit meinem Vater und seinen durchgeknallten Patienten klang zumindest wie eine Formel mit mehreren Unbekannten. Schade, dass das jetzt nicht mein Mathelehrer liest.

»Okay«, stimmte ich zu.

2

Schon am nächsten Nachmittag fuhr Mama mich in die Klapse. Dass die Psychoklinik meines Vaters irgendwo im Nirgendwo, weit entfernt von jeglicher Zivilisation lag, fand ich schon immer unheimlich. Als ich ihn mit neun Jahren zum ersten Mal hier besucht hatte, war ich mir sicher, dass die vielen Irren gefährlich sein mussten. Weshalb sonst hatte man sie so weit raus aufs Land geschafft? Außerdem wäre das imposante Gebäude mit seinen fünf Stockwerken und der riesigen Eingangstreppe mit den Säulen und Löwen ein super Motiv für einen Horrorfilm.

»Sei mir nicht böse. Ich hab noch so viel zu tun vor dem Abflug«, sagte Mama, als ich mit meinen Sachen am Fuße der Treppe stand. Wir wussten beide, dass das eine Lüge war. Meine Eltern waren sich seit der Trennung außer im Gerichtssaal nie wieder begegnet. Die Aussicht auf ein entspanntes Treffen meiner Eltern war genauso unwahrscheinlich wie für mich eine Matheprofessur.

Wir verabschiedeten uns, dann fuhr sie zurück nach Köln. Ich blickte ihr nach, bis sie im Wald verschwunden war. Mir war plötzlich ganz komisch. Es fühlte sich an, als würde sich hinter ihrem kleinen roten Auto ein Reißverschluss zum Leben schließen. Schließlich drehte ich mich um und bewegte mich langsam auf die Psychoklinik zu. Der Kies knirschte unter meinen Füßen und die beiden Löwen blickten mich aus ihren versteinerten Augen an.

Jungs, glotzt nicht so. Ich wär jetzt auch lieber woanders.

Wie verabredet schrieb ich meinem Vater eine Nachricht und ging direkt zum Aufzug. Beim Eintippen des Geheimcodes wurde ich stutzig. An was erinnerte der mich bloß? Der Aufzug setzte sich gerade in Bewegung, als es mir einfiel: Es war sein Geburtsdatum. Das war so typisch für meinen Vater. Er hätte sich ja auch für meines entscheiden können, wie Mama, die vom Computer über ihr Handy bis zu ihrem Fahrradschloss immer meinen Geburtstag verwendet.

Neben diesem kleinen Egoproblem tat sich allerdings noch ein ganz anderes auf: Wie sollte ich mich inmitten dieser Hochburg psychisch angeschlagener Menschen, die aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit ihres Lebens womöglich zu allem in der Lage waren, mit einem nicht sehr schwer zu knackenden Code sicher fühlen?

Oben angekommen trat ich durch die Aufzugstür direkt in das Wohnzimmer. Diese Konstruktion fand ich schon als Kind genial, sie erschien mir jetzt aber in Anbetracht der Sicherheitslage äußerst bedenklich.

Ich blickte mich um. Nichts hatte sich verändert. Kein neues Möbelstück, kein Bild, nicht einmal den kaputten, dreibeinigen Abstelltisch hatte mein Vater repariert oder ausgetauscht. Daraus schloss ich, dass auch sein Privatleben unverändert geblieben war. Nämlich nicht vorhanden. Ich schaute in sein Arbeitszimmer. Es roch nach kaltem Pfeifentabak und war vom Boden bis zur Decke an allen vier Wänden mit Büchern vollgestellt. Ein Wunder, dass er die zwei Fenster ausgespart hatte. Sie wirkten fehl am Platz, genau wie ich.

Gerade als ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa setzen wollte, öffnete sich mit einem leisen Zischen die Aufzugstür und mein Vater trat heraus. Er war ein bisschen runder und ein bisschen grauer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Alles an ihm war irritierend vertraut, sodass ich lediglich ein »Hallo« hervorbrachte. Ihm ging es wohl ähnlich, denn wir sagten es gleichzeitig, wie aus einem Mund.

Ich wedelte unsicher mit meinen Armen, weil ich nicht wusste, was ich sagen oder machen sollte. Handschlag? Umarmung? Warum lernt man in der Schule so unnützes Zeug wie Stochastik und nicht zum Beispiel, wie man einen Vater begrüßt, den man ewig nicht gesehen hat?

Er nahm mir die Entscheidung ab und streckte mir seine Hand entgegen. Ich schüttelte sie. Sein Händedruck war sanft und die Augen hinter dem großen, etwas schief sitzenden Brillengestell blickten mich müde, aber freundlich an.

»Hast du Hunger?«

»Nein.«

»Okay.«

Wir standen uns gegenüber und vergruben unsere Hände in unseren jeweiligen Hosentaschen. Normalerweise hätte ich jetzt einen flotten Spruch auf den Lippen gehabt, nach dem Motto Hi, Sie müssen mein Vater sein. Die hohe Kunst, brenzlige Situationen mit einem flapsigen Kommentar zu entschärfen, hatte ich schließlich im Laufe der letzten Schuljahre perfektioniert. Aber ich schien mich in der Gegenwart meines Vaters in das kleine Mädchen zurückzuverwandeln, das vor vielen Jahren einmal mit ihm zusammengelebt hatte und über jeden Moment der Zweisamkeit so glücklich war, dass es sich kaum bewegte, als wäre die Zweisamkeit eine Fliege, die bei der kleinsten Bewegung davonflog.

»Gut –«, »Ja also –«, brachen wir zur gleichen Zeit die Stille.

Auch jetzt nichts. Nicht einmal ein kleiner Lacher, der die Situation aufgelockert hätte.

»Du zuerst.«

»Nein, du.«

»Okay, also. Schön, dass du da bist.«

»Ja«, sagte ich.

Und das war auch schon das Ende unseres geistreichen Dialogs. Mein Vater nahm meinen Koffer und ich folgte ihm ins hinterste Zimmer. Es war ungefähr doppelt so groß wie mein Zimmer zu Hause. Dafür aber mindestens viermal so hässlich. Die Bezeichnung Gästezimmer war eigentlich ein Witz, denn außer mir war hier garantiert niemals ein Mensch zu Gast gewesen. Darauf würde ich mein Abizeugnis verwetten, wenn ich eins hätte. Alles war staubig und alt. Wenn ich mich hier einen ganzen Sommer aufhalten sollte, musste ich meinen Vater möglichst schnell zu einer Renovierungsaktion überreden. Mit ein wenig Farbe und Accessoires könnte man die triste Atmosphäre vielleicht sogar instagramtauglich machen.

»Ich muss leider gleich noch mal weg, weil … also, ausgerechnet vor zehn Minuten ist ein schwieriger Fall reingekommen … es ist … ich …«

»Ist okay. Mach dir keine Umstände«, unterbrach ich seinen Rechtfertigungsversuch.

»Wir essen aber zusammen zu Abend, ja?«

Ich nickte nur.

Ich öffnete das Fenster. Das Blau des Himmels strahlte eine Fröhlichkeit aus, von der ich hoffte, dass sie sowohl mich als auch das Zimmer anstecken könnte. Als ich den Blick schweifen ließ, entdeckte ich unten im Garten Bänke, auf denen Patienten saßen. Eine junge Frau lief an der hohen Steinmauer entlang, fünf Schritte vor und vier zurück, fünf vor, vier zurück, richtete ihren Kopf dabei auf ihre Füße und wirkte hoch konzentriert. Ein Mann machte professionell aussehende Tai-Chi-Übungen auf der Wiese. Lautes Lachen eines Pärchens unter der Trauerweide, ein Schrei aus einem unteren Stockwerk. Oder war das auch ein Lachen?

Das also wird mein Sommer, dachte ich. Ein Haufen Irrer, ein verstaubter Psychologieprofessor und ich. Ein Gutes hatte diese Situation: Wenn ich aus Langeweile verrückt werden sollte, hätte ich es wenigstens nicht weit.

Ich stellte fest, dass die Fröhlichkeit keinen Einzug gehalten hatte. Im Gegenteil. Das Zimmer sah jetzt noch trister und unfreundlicher aus, weil meine Augen geblendet waren. Halbherzig öffnete ich meinen Koffer und nahm die Schulbücher und den Stapel Schreibhefte raus, die Mama mir aufgezwungen hatte mitzunehmen. Der Gedanke an Mathe löste bei mir schlagartig schlechte Laune aus. Als drohte mir dieser Pythagoras mit seinem gleichschenkligen Dreieck aus dem Buch heraus Prügel an, stopfte ich das Schulzeug in Windeseile so tief wie möglich zurück in den Koffer. Sollte Pythagoras mit all seinen superschlauen Homies dort versauern bis in alle Ewigkeit, mir doch egal. Anschließend nahm ich einen Stapel T-Shirts und öffnete die Schranktür. Dort sprangen mich die quietschbunten Klamotten an, die ich vor vielen Jahren im Glauben, meinen Vater regelmäßig zu besuchen, hiergelassen hatte. Wie rührend! Vor langer Zeit war ich ein kleines Mädchen mit Mickymaus-T-Shirts und bunten Leggins gewesen.

»Ach, sieht man dich auch mal wieder?«, schienen sie mich anzuklagen. »Hast uns und deinen Vater wohl komplett vergessen, was?«

»Vergessen? Wer hat denn hier wen im Stich gelassen?!«, hätte ich fast geantwortet.

Stattdessen knallte ich die Schranktür zu und die T-Shirts zurück in den Koffer. Jetzt hätte ich fast schon mit Klamotten geredet. Ich hatte Level eins erreicht. Das ging schnell.

Der WhatsApp-Ton beendete den Spuk. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und las: »Du fehlst mir. Laff ja, Sonja.«

»Ich mir auch«, schrieb ich zurück.

Das war natürlich ungerecht. Sonja wollte nett sein, mir signalisieren, dass sie an mich dachte. Aber ich rutschte gerade in eine Stimmung, in der ich nicht gerecht sein konnte. Während die anderen ihre Astralkörper in der Sonne Kroatiens bräunten, schmorte ich in einem muffigen Zimmer einer Irrenanstalt. Meine Neidskala war am Anschlag.

Wieder das Bling von WhatsApp. Und wieder. Und wieder. Der Sperrbildschirm teilte mir mit, dass Fotos in unsere WhatsApp-Gruppe gestellt wurden. Es war 16 Uhr. Sie erlebten wahrscheinlich gerade die beste Zeit ihres Lebens. Hier ein bisschen durchfuttern am Büfett, da ein wenig brutzeln in der Sonne und dann eine Runde chillen am Pool. Und natürlich mussten alle Fotos immer sofort in die Gruppe gestellt werden, damit niemand auf diese traumhaften Erinnerungen verzichten musste. Aber wie dieses Gute-Laune-Bombardement für mich, die vom Schicksal Gebeutelte und ungerechterweise auf der Strecke Gebliebene, sein würde, daran dachte niemand. War es nun eine Ehre oder ein Fluch, noch immer Mitglied dieser WhatsApp-Gruppe zu sein? Keinen Schimmer. Ich stellte den Ton aus und steckte mein Handy zurück in die Hosentasche.

Anschließend legte ich mich auf die viel zu weiche Matratze und tauchte erneut ab in den klebrigen Kaugummisee. Macht, was ihr wollt, dachte ich und versuchte, das vibrierende Handy zu ignorieren. Mein Gott, hatten die einen Spaß. Irgendwann klopfte es an der Tür.

Endlich passierte hier mal etwas!

Mein Vater schob seinen Kopf durch den Türspalt. Mir fiel jetzt erst auf, dass der Zahn der Zeit ordentlich an seinen Haaren genagt hatte, denn ich konnte seine Kopfhaut sehen.

»Darf ich reinkommen?«

»Ja.«

»Hast du Hunger?« Das war entweder seine Lieblingsfrage oder er hatte sich vorgenommen, sich erst mal auf die Primärbedürfnisse zu konzentrieren. Die waren schließlich wunderbar unverfänglich. Immerhin gab er sich sichtlich Mühe, Kontakt aufzunehmen. Und ein gemeinsames Abendessen mit meinem Vater war immer noch besser, als die Nichtfarbe der Decke über meinem Bett anzustarren. Vielleicht konnte es mich sogar über den auf mich niederprasselnden Fotohagel hinwegtrösten.

»Ja, eigentlich schon«, sagte ich, obwohl ich noch ziemlich satt war, weil Mama und ich unterwegs etwas gegessen hatten. Als ich aufstand und meinem Vater entgegenlief, wurde ich wie aus dem Nichts durch einen Zeittunnel zehn Jahre zurückkatapultiert. Wow. Plötzlich konnte ich sogar unsere alte Familienwohnung vor mir sehen. Erst Sekunden später wurde mir bewusst, dass der Auslöser für diesen Flashback sein Rasierwasser war. Das hatte ich schon damals so gern gerochen. Auch das war also gleich geblieben. Mein Vater kam mir vor wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. Um ihn herum verändert sich die Welt. Nur er bleibt immer gleich.

»Ich …« Er räusperte sich. »Es ist … Clara, es tut mir so leid.« Er zog seine Schultern hoch bis zu den Ohren, wodurch sein Kopf wie der einer Schildkröte wirkte, die scheu aus ihrer Behausung hervorlugte.

Jetzt kommt endlich die Entschuldigung, schoss es mir durch den Kopf. Die große Generalentschuldigung, die ich mir so oft in den schillerndsten Farben herbeigesehnt hatte. Die Erklärung dafür, dass er mir kein Vater sein konnte. In meiner kindlichen Naivität hatte ich immer geglaubt, dass alles sofort besser werden würde, der Riss zwischen uns gekittet, die jahrelange Abwesenheit weggewischt, wenn er sich erst entschuldigt hatte. Nun also, da ich an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, kam der große Moment, an dem mein Vater seine Tochter entdeckte. Und ich war bereit und milde gestimmt, weil ich die kahlen Stellen auf seinem Kopf irgendwie rührend fand. »Wollen wir das nicht besser beim Essen besprechen?«, fragte ich in seine Schildkrötenaugen hinein.

»Das ist ja das Problem. Ich kann nicht mit dir essen.«

»Du kannst was nicht?« Ich glaubte, mich verhört zu haben.

»Mit dir essen. Wir haben in der Geschlossenen einen besonders schwierigen Fall. Stark suizidal. Und ich muss …«

Blablabla, ich hörte ihm nicht mehr zu, weil ich mich viel zu sehr vor den Kopf gestoßen fühlte. Wieder einmal hatte er versagt. Hundert Punkte für den Kandidaten mit der beginnenden Glatze! Eigentlich total paradox. Er war ein Experte in seinem Job, wo er tagein, tagaus erfolgreich dafür sorgte, dass die Macken anderer Menschen verschwanden, aber seinen eigenen Macken blieb er treu wie seinem Rasierwasser und dem kaputten Abstelltisch.

Ich konzentrierte mich darauf, meine Freude über die Generalentschuldigung, die mir irgendwo in der Kehle stecken geblieben war, runterzuschlucken. Ist auch egal. Was hätte sie schon bewirkt? Ich bin schließlich kein kleines Mädchen mehr, das die Aufmerksamkeit seiner Eltern braucht. Und die des Vaters schon gar nicht, denn ich hatte mich eh schon lange daran gewöhnt, sie nicht zu bekommen.

»… Aber ich habe auf Station 2 in der PSA Bescheid gegeben«, fuhr mein Vater seinen Ausredenmonolog fort, »dort kannst du um 18 Uhr mit den Patienten essen.«

Super, ich würde schneller ins Irrenhaus kommen, als ich gedacht hatte! Eben noch Level eins, jetzt schon mittendrin. Ich hatte zwar keine Ahnung, was PSA bedeutete, aber ich war zu allem bereit, was irgendwie nach Abwechslung, Unterhaltung, Leben klang. Und wenn ich diese Dinge in einer Psychoklinik finden sollte – warum nicht?

»Soll ich dich hinbringen?«, fragte mein Vater.

»Nein, ist ja alles ausgeschildert.«

»Dann sehen wir uns spätestens morgen zum Frühstück, ja? Ich habe mir extra den Vormittag freigenommen.«

Blablabla. Ich nickte.

Es war schon halb sechs. Ich ging ins Bad, um zu schauen, ob ich so aussah, wie ich mich fühlte. Der Blick in den Spiegel offenbarte, dass es noch viel schlimmer war. Ich war leichenblass, meine Locken standen zu allen Seiten ab und meine Schminke hatte sich im Laufe des Tages verselbstständigt. Ich startete einen halbherzigen Versuch, mich mithilfe meiner Kosmetiktasche in einen einigermaßen ansehnlichen Menschen zu verwandeln. Das Ergebnis war jedoch nicht sehr zufriedenstellend. Aber egal, dachte ich und schmiss das Schminkzeug zurück in die Tasche. Warum sollte ich Zeit in etwas investieren, das hier sowieso niemanden interessierte?

Und dann passierte etwas, das ich unter Einsatz all meiner motorischen Fähigkeiten bestimmt schon hundert Mal im letzten Moment verhindern konnte, diesmal allerdings nicht: Als ich die Jeans runterließ, um mich auf die Toilette zu setzen, rutschte mir das Handy aus der Tasche. Es gab ein erstaunlich dumpfes Geräusch, als es in die Kloschüssel plumpste. Eine Schocksekunde lang wünschte ich mir, einfach hinterherzuspringen und mit ihm unterzugehen. Denn mein Handy und ich, wir waren unzertrennlich. Doch beim Blick in die Kloschüssel verwarf ich den Gedanken schnell. Das Handy war vollkommen ins Spülwasser getaucht, das sich wiederum in einer Schüssel befand, die vermutlich zu einer Zeit zum letzten Mal gereinigt worden war, als sich die Menschen noch mit Rauchzeichen unterhielten. Die ganze Situation war im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich scheiße. Mit spitzen Fingern fischte ich das Handy aus dem Wasser und trocknete es mit einem Handtuch ab. Auf ein Wunder hoffend, drückte ich den ON-Knopf, aber es ließ sich nicht mehr anstellen. Tot. Aus. Vorbei. RIP, du treuer Freund. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und war tatsächlich den Tränen nahe. Das letzte Mal hatte ich mich so gefühlt, als Flecki, mein Hase, gestorben war.

Mein Abi, der gähnend lang vor mir liegende Sommer, das Gästezimmer, mein stets abwesender Vater … mein ganzes Leben schien zurzeit ein Griff ins Klo zu sein. Deutlicher hätte es mir mein Handy nicht sagen können.

Ich aktivierte mein Gen, mich selbst aus dem Sumpf ziehen zu können, und sagte mir: Scheiß drauf, Clara. Du brauchst eh einen Cut. Und ohne Handy erreicht dich das pralle Leben der anderen wenigstens nicht mehr. Alles hat zwei Seiten.

In Ermangelung einer dramatischeren Bestattungsmöglichkeit schmiss ich mein Handy in den Mülleimer unter dem Waschbecken. Irgendwo gibt es ein Offline-Leben, auch für mich. Die Tatsache, dass ich es momentan nur unter Irren oder bei meinem verschrobenen Vater finden konnte, versuchte ich zu ignorieren. Betont optimistisch machte ich mich auf den Weg zu Station 2.

3

Die war leicht zu finden. Ein Schild im Aufzug erklärte, dass die Zahlen der Stationen den jeweiligen Etagen entsprachen. Und als ich im zweiten Stockwerk aus dem Aufzug trat, stand auf einem weiteren Schild, dass es rechts zur Abteilung Psychosomatik – Adoleszenz ging und links in die Geschlossene. Diese Tür war blickdicht und verriegelt. Adoleszenz klang irgendwie ansteckend. Aber weitaus gruseliger stellte ich mir ein Abendessen in der Geschlossenen vor. Ich weiß noch von früher, dass sich hinter dieser Tür Menschen verbargen, die wirklich total anders sind. Einmal hatte ich einen gesehen, der einen selbst gebastelten Helm aus Alufolie trug, um die Gedankenleser abzuwehren. Und von meinem Vater weiß ich, dass er schon welche behandelt hatte, die sich für Jesus oder gar Adolf Hitler hielten. Ein Abendessen mit dieser Sorte Verrückter würde mich definitiv überfordern. Da steckte ich mich doch lieber mit Adoleszenz an. Also öffnete ich die rechte Tür und trat in einen Gang. Er war von vielen in die Decke eingelassenen Halogenlampen erleuchtet und an seinen Seiten gingen geschlossene Türen ab. Weiter hinten, ungefähr in der Mitte des Gangs, herrschte jedoch Trubel. Ich ging langsam darauf zu und merkte, wie mit jedem Schritt meine Anspannung wuchs. Ein Abendessen in der Klapse. Eigentlich war es gerade der Reiz des Speziellen, der mich neugierig machte, doch langsam bekam ich Sorge, dass es zu speziell werden könnte. Ich drosselte mein Tempo und lauschte. Hier gleich links war scheinbar der Speiseraum. Stimmen, Lachen und Geschirrgeklapper waren daraus zu hören. Nach der Ödnis meines Gästezimmers klang das für mich wie Willkommensmusik.

Die Tür stand offen und ich hatte gerade genug Mut gesammelt, um reinzugehen, da hörte ich jemand meinen Namen sagen: »Clara?« Eine schwarzhaarige Krankenschwester mit knallroten Lippen trat auf mich zu, ergriff meine Hand, um sie beherzt zu schütteln, stellte sich als Schwester Kathy vor und hieß mich herzlich willkommen.

»Dein Vater hat dich angekündigt. Komm rein, die anderen essen schon.«

Sie schob mich in den Speiseraum. Jetzt gab es kein Zurück mehr. In Erwartung, dass mich auf der Stelle tausend Blicke durchbohren würden, hielt ich die Luft an. Doch dann würdigte mich niemand eines Blickes. Überrascht stellte ich fest, dass alle im Raum eigentlich ganz normal aussahen. Okay, ich hatte keine Ahnung, was Adoleszenz war, aber dass man den Patienten diese gruselig klingende Krankheit so gar nicht ansah, fand ich direkt ein bisschen enttäuschend. Niemand wies körperliche Auffälligkeiten auf. Alle saßen in Gruppen an Tischen zusammen und unterhielten sich. Ganz normal.

Nachdem ich mir am Büfett ein Brot, eine Scheibe Käse und ein Ei genommen und mich zu Schwester Kathy an den Tisch gesetzt hatte, fühlte ich mich sogar ein bisschen wohl. Das war schon etwas irritierend, wenn man bedachte, wo ich war. Ich legte den Käse auf das Brot und biss hinein.

»Lass es dir schmecken«, sagte Schwester Kathy, die mit Schreibkram beschäftigt war und auf meinen Teller schaute. »Kannst dir gerne noch mehr nehmen. Wir haben selten Mädchen hier, die mit Appetit essen.«

»Danke«, sagte ich. »Aber ich habe gar nicht so viel Hunger.«

Kauend blickte ich mich um. Die großen Fenster, die Grünpflanzen und die bunten Zeichnungen an den Wänden strahlten Wärme aus. An dem Tisch vor dem linken Fenster saßen Manu, Sofia und Kuimba, deren Namen ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht kannte. Ich weiß noch genau, wie mich bereits an diesem Abend Kuimbas Aussehen fasziniert hatte. Ihre hellbraune Haut, ihr dunkles Kraushaar, ihr melancholischer Blick. Plötzlich schauten sie wie auf Kommando alle drei zu mir. Anscheinend sprachen sie über mich. Klar, auch in der Klapse bleibt man nicht vor Lästereien verschont. Schnell blickte ich in eine andere Richtung, zu den Jungs, die unter dem Gummibaum vor dem rechten Fenster saßen. Der eine saß mit dem Rücken zu mir, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Der andere hatte orangefarbenes Stoppelhaar und sah aus, als sei er zwar normal gewachsen, aber mit seinem Gesichtsausdruck irgendwo zwischen acht und zehn Jahren stehen geblieben.

Ich fragte Schwester Kathy, was Adoleszenz bedeutete, und sie erklärte mir, dass damit junge Menschen gemeint sind, also die, die keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen sind. Da lag ich also falsch. Auch wenn Eltern die Pubertät ihrer Kinder wohl manchmal genauso ätzend finden wie die Pest, ist Jugend definitiv keine ansteckende Krankheit.

Schwester Kathy musste ihre Unterlagen wegbringen und ließ mich allein zurück. Ich pellte mein Ei, streute Salz drauf und biss hinein. In dem Moment stand Sofia auf. Sie kam direkt auf mich zu und setzte sich auf Schwester Kathys Platz.

»Neu hier?«, fragte sie. Ihre extrem dunkle Stimme passte überhaupt nicht zu ihrer spindeldürren Figur und den unruhigen Augen.

»Also … hmmm … ich …«

»Das erste Mal?«

»Ja, also …« Oh Mann, sonst hatte ich immer die große Klappe und jetzt bekam ich keinen anständigen Satz raus. Ich hatte absolut keine Lust, die Klinikcheftochter zu spielen. Da hätte ich mir auch gleich einen Zettel mit der Aufschrift Mobbt mich an die Stirn kleben können. Um Zeit zu gewinnen, zeigte ich auf meinen Mund, als würde mich das Ei am Sprechen hindern.

Zum Glück machte Sofia es mir leicht. »Schon klar«, sagte sie sofort und wedelte mit der Hand, als wollte sie ihre Frage wegwischen. »Die ersten Tage sind hart. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ist nicht schön. Wenn du Hilfe brauchst: Ich bin Sofia. Kannst mich immer ansprechen. Einfach fragen, kein Problem. Weshalb bist du hier?«

Sie ließ mir keine Zeit für eine Antwort, sondern holte einfach nur tief Luft und plapperte weiter. »Wir haben gewettet. Ich habe Selbstmord gesagt. Wirkst ein bisschen so.«

Nettes Kompliment von einer, die aussieht wie ein Skelett und deren Stimme nach Whiskey und Zigaretten klang.

»Also … ääähhh …«

»Musst es auch nicht sagen«, sprudelte es weiter aus ihr heraus. »Ist ja nicht so angenehm. Kannst du später auch noch erzählen. In der Gruppe oder so. Ich hab Magersucht. Schmeckt dein Ei?«

Oh Mann, hatten die denn keinen Ausschaltknopf?

»Ja, ich …«

»Ich mag Eier nicht. Tut mir irgendwie leid, die Babys von Tieren zu essen. Na gut. Ich geh wieder. Viel Spaß. War nett, dich kennengelernt zu haben.«

Ich nickte verdattert. Bisher dachte ich immer, dass der Mensch, der mich sprachlos machen konnte, erst noch erfunden werden musste, von meinem Vater mal abgesehen. Ich blickte ihr hinterher. Ihre langen blonden Haare schwangen auf Höhe der Taille im Rhythmus ihrer Schritte, als würden sie tanzen.

Als sie sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte, hörte ich die drei Mädchen lachen. Super! Ich kam mir vor, als blinkte über mir eine Leuchtschrift mit Pfeil auf mich: Babyfresserin, Anfängerin, Selbstmörderin oder so ähnlich. Doch dann winkte mir Sofia lächelnd zu. Sie war zwar eine akustische Herausforderung, aber anscheinend nett.

Wäre ich jetzt psychisch krank, wäre ich eine von ihnen, würde mitlachen, könnte nach dem Essen mit ihnen fernsehen, was spielen oder vielleicht sogar irgendwas draußen unternehmen. Müsste den Sommer nicht allein in dem muffigen Zimmer verbringen und über meinen schulischen Totalausfall und meine glücklichen Freunde nachdenken. Mir war schon klar, wie schräg diese Sehnsucht war. Aber ich hasste die Einsamkeit. Und Sofia wirkte trotz ihres Geschnatters sympathisch.

Bei den Jungs kam Bewegung auf.

Ich warf ihnen einen flüchtigen Blick zu, als sie an mir vorbei zum Geschirrwagen gingen.

Ist das nicht …?

Schockstarre!!!

Den Moment, als ich ihn erkannte, werde ich niemals vergessen. Es war absolut verrückt, weil mein Gehirn die unterschiedlichen Synapsen (Köln – Schule – mein Vater – Klinik – Pampa) erst einmal miteinander verknüpfen musste. Entsprechend zeitversetzt kapierte ich, wer da gerade auf mich zukam. Augenblicklich floss all mein Blut sturzbachartig erst in meine Beine, dann durch meine Füße in den Boden. Mein Herz hüpfte kreuz und quer durch meinen kompletten Innenraum, während mein Äußeres wie versteinert war. Ich muss ausgesehen haben wie eine Irre. Irgendwie passend.

Kurz darauf erkannte er mich auch und blieb abrupt vor mir stehen. Seine blauen Augen, die unter dem gelockten dunklen Pony hervorblitzten, bohrten sich direkt in meine Magengrube.

»Bist du nicht Clara aus dem Humboldt?«

Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit war ich sprachlos. Logisch. Da vor mir stand … Ich konnte es einfach nicht fassen. Er war es. Unsere Augen verhedderten sich ineinander und eins war klar: Ich musste etwas sagen. Sofort!

»Ah, und du bist …?« Mehr kam nicht. Denn hätte ich seinen Namen gesagt, hätte er womöglich am Klang meiner Stimme hören können, dass ich ihn schon unfassbar oft vor dem Einschlafen, nach dem Aufwachen und auch tagsüber gesprochen, geflüstert und gedacht hatte. DARIUS.

»Ich bin Darius. Wir sind auf die gleiche Schule gegangen.«

»Ach ja, stimmt. Ich erinnere mich.« Ich setzte einen möglichst beiläufigen Gesichtsausdruck auf. Hoffentlich zahlte sich das jahrelange Schauspielern jetzt aus!

»Bist du heute angekommen?«

Auf eine normale Frage bei einer normalen Zufallsbegegnung sollte man etwas Normales erwidern können. Leider geht das nicht, wenn man unverhofft auf der Jugendpsychiatriestation zu Abend isst und man noch immer blutleer im Kopf vor einem Jungen steht, vor dem man definitiv nicht unvorbereitet stehen will.

»Ich bin hier. Den Sommer … weil …«

Den Versuch, einen vernünftigen Satz mit Subjekt, Prädikat, Objekt zu formulieren, erklärte ich in dem Moment als gescheitert. Womöglich hatte ich meine Schlagfertigkeit in Köln vergessen, vielleicht aber auch ganz verloren, zum Beispiel in den unzähligen Abistunden. Oder diese Situation war die Grenze meines Mundwerks. Was kein Wunder gewesen wäre. Unzählige Male hatte ich mir eine Begegnung mit Darius ausgemalt, nachdem er plötzlich aus unserer Schule verschwunden war. Alle waren sie romantisch, geheimnisvoll und leidenschaftlich. Eine psychosomatische Klinik und Wortfindungsstörungen waren nie dabei gewesen!

»Ausgerechnet du!«, sagte er, als nach dem »weil« von mir nichts mehr kam. »Die fröhliche Clara.«

Ich nickte nur und sah, wie sein orangehaariger Begleiter die Servietten auf meinem Tisch schön säuberlich entlang der Tischkante anordnete.

»Der Anfang ist ein bisschen hart, aber du gewöhnst dich dran. Bis später«, sagte Darius.

Da ich bereits aufgegeben hatte, irgendetwas Sinnvolles von mir zu geben, war ich direkt froh, als er ging. Ich stammelte noch etwas, aber ich glaube, das hörte er gar nicht mehr.

Nachdem Eddi, dessen Namen ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht kannte, alle Servietten millimetergenau aneinandergereiht hatte, verschwand auch er. Später würde ich Eddis Verhalten verstehen lernen.

Ich war so aufgewühlt, dass ich mich sogar auf die dreckig weiße Decke in meinem Verlies freute. Schnell stellte ich mein Geschirr auf den Wagen, verabschiedete mich von Schwester Kathy, die gerade wieder in den Speiseraum trat, und beeilte mich, ins Dachgeschoss zu entfliehen.

Als Erstes holte ich mein Handy aus dem Mülleimer und versuchte, es wieder zum Laufen zu bringen. Doch es fuhr nicht hoch. Das Teil war hinüber und ich ließ es wieder in den Müll fallen. Dabei hätte ich alles gegeben, wenn ich Sonja hätte anrufen können.

Elisabeth