Angela Waidmann

Zoe. Das Glück hat vier Hufe

Ritt in die
Freiheit

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Weitere Bände in dieser Reihe:
Kopfüber ins Abenteuer
Filmstars im Galopp

Angela Waidmann, 1965 geboren, im Rheinland aufgewachsen, schreibt Geschichten, seit sie fünf Jahre alt ist. Nach ihrem Examen als Historikerin machte sie sich selbstständig und arbeitet u.a. als Journalistin. Die begeisterte Reiterin schreibt Pferdefachbücher und veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, darunter viele Pferderomane. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn, dem Lusitano-Wallach Vingador und Katze Niki lebt sie in einem Dorf im Spessart.

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1. Auflage 2016
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2016
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: formlabor, unter Verwendung von Motiven von
© www.slawik.com und Annette Shaff/shutterstock.com
Vignetten von mxtama/istockphoto.com
ISBN 978-3-401-80589-4

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Kapitel 1

Wieder zu Hause

Das war’s dann wohl“, seufze ich und schalte mein Smartphone ein. Wehmütig sehe ich mir darauf noch einmal die Bilder von Kloster Eiblwang an, die ich heute Morgen zur Erinnerung bei einem romantischen Sonnenaufgang gemacht habe. Danach rufe ich die Fotos auf, die ich in den letzten Tagen während der Dreharbeiten für den Hollywoodfilm Das Erbe der Musketiere geschossen habe, für den das Kloster zwei Wochen lang als Kulisse gedient hat. Denn mein Pony Filou und ich waren vor der Kamera dabei – als Statisten! Und nicht nur das: Eine Zeit lang bin ich sogar für die kranke Stuntfrau Sonja Stroben eingesprungen und hab die zickige Schauspielerin April Winterheart gedoubelt.

Aber jetzt sind die Filmaufnahmen leider endgültig vorbei. Es ist Freitagnachmittag, gestern habe ich meine letzte Szene abgedreht und jetzt bringt uns der Stuntman László samt unseren Pferden zurück nach Hause.

Ich bin ziemlich traurig, denn die Dreharbeiten waren zwar harte Arbeit, aber sie haben auch richtig Spaß gemacht. Ich hab mich sogar mit dem Hauptdarsteller Travis Lauter angefreundet. Mann, waren meine Freundinnen Birte, Janine und Paulina baff, als sie das erfahren haben. Travis ist vier Jahre älter als wir und der Schwarm aller Mädchen. Die drei können es kaum erwarten, dass ich nach Hause komme und sie mich über ihn ausquetschen können. Und abgesehen davon, dass ich mich darauf freue, meine Freundinnen endlich wiederzusehen, habe ich auch sonst eigentlich jede Menge Grund zur Freude, denn in ungefähr einem Jahr darf ich mich auf der Kino-Leinwand bewundern. Außerdem liegen jetzt noch ein paar Wochen Sommerferien vor mir, in denen ich ausschlafen, chillen und ganz oft mit meinem Pony Filou ausreiten kann.

Trotzdem bin ich ganz schön durcheinander und ziemlich ratlos. Und das liegt an Arpad Erdelyi. Der ist zwar erst vierzehn, hat aber schon mit Favory, dem Lipizzanerhengst seines Vaters, in Das Erbe der Musketiere als Stuntman gearbeitet und den Helden Jean-Philippe d’Artagnan alias Travis Lauter gedoubelt.

Der Grund für meine Verwirrung ist, dass Arpad gestern etwas total Eigenartiges gemacht hat: In meiner allerletzten Szene musste er mich aus einer Grube zu sich in den Sattel ziehen. Dabei hat er mir vor laufender Kamera einen leidenschaftlichen Kuss gegeben. Aber der stand gar nicht im Drehbuch! Ich war total perplex, wirklich absolut geplättet, denn die Wahrheit ist: Ich hab mich heimlich in Arpad verliebt. Und ich weiß bis jetzt nicht, wie er das mit dem Kuss gemeint hat. Wollte er der Szene vielleicht nur einen zusätzlichen Kick geben?

Jedenfalls tut Arpad jetzt so, als wäre das alles nie passiert. Und leider hab ich nicht den Mut, ihn zu fragen, was er sich denn nun dabei gedacht hat. Ich muss nämlich damit rechnen, dass er dann einen seiner typischen abfälligen Sprüche loslässt. Und das wäre für mich eine unglaubliche Enttäuschung, sozusagen der nackte Horror.

Natürlich hab ich seine Schwester Maja, meine Freundin, deswegen um Rat gefragt. Aber sie sieht das leider genauso wie ich.

„Tja, Zoe, auch die schönsten Dreharbeiten gehen mal vorbei“, sagt sie gerade, denn sie sitzt zwischen Arpad und mir auf der Rückbank von Lászlós Auto.

„Aber der nächste Auftrag kommt bestimmt“, ergänzt Arpad optimistisch.

Was dich angeht, hast du ganz sicher recht, denke ich. Immerhin bist du der Sohn eines Reiter-Stuntmans, hast in den letzten Jahren jede Menge von deinem Vater gelernt und bist gerade mächtig dabei, in seine Fußstapfen zu treten. Ich dagegen …

Na gut, immerhin hat Arpads Vater Attila versprochen, mir ein paar Stunt-Tricks beizubringen. Und vielleicht kann ich ja eines Tages wirklich als richtiges Stuntgirl arbeiten. Das ist wenigstens mein ganz großer Traum und ich werde mit aller Kraft dafür kämpfen, dass er Wirklichkeit wird.

Mein Smartphone meldet sich und gibt mir Bescheid, dass ich auf WhatsApp Post bekommen habe. Ich rufe die Nachricht auf.

„Wer hat denn geschrieben?“, fragt Maja neugierig.

„Travis“, antworte ich spontan – und würde mir schon im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge beißen. Arpad glaubt nämlich, dass Travis und ich uns ineinander verknallt hätten. Aber da irrt er sich, denn Travis hat in den USA eine Freundin, und das macht mir wirklich nicht das Geringste aus.

Schnell werfe ich Arpad einen unauffälligen Seitenblick zu. Irre ich mich oder ist gerade so etwas wie ein Schatten über sein Gesicht gehuscht?

Am liebsten würde ich ihm jetzt sagen, dass ich absolut null Interesse an Travis habe. Aber das lasse ich besser bleiben, denn auch damit riskiere ich nur, von Arpad mal wieder einen seiner arroganten Kommentare zu kassieren. Dass László Lovas und Attila Erdelyi in allerbester Hörweite direkt vor uns im Auto sitzen, ist auch nicht gerade hilfreich. Da lese ich doch lieber, was Travis mir geschrieben hat.

„Hi, Zoe! Kim und ich frühstücken auf der Veranda des Farmhauses …“

Frühstücken? Für einen Moment runzele ich die Stirn, aber dann fällt mir wieder ein, dass es in Arizona, wo Travis auf der Farm von Kims Eltern ein paar Tage Urlaub macht, tatsächlich gerade erst Morgen ist.

Ich schaue wieder aufs Display. „Schon auf dem Heimweg?“, fragt er. „Drehe Montag im Filmstudio in Hollywood weiter. Morgen leider letzter Tag mit Kim. Bekomme von ihr weiter Reitunterricht, kann bestimmt bald in Westernfilmen mitspielen!“ Es folgen drei lachende Smileys. „Grüße an Maja und Arpad! Travis und Kim“

Noch heute Abend werde ich ihm antworten, nehme ich mir vor. Dann kann er Kim meine Nachricht nämlich noch zeigen.

„Was schreibt er denn?“, fragt Arpad, als ich das Handy ausschalte. Er hat einen so unbeteiligten Tonfall angeschlagen, dass er mich damit innerlich auf hundertachtzig bringt.

„Im Moment macht er noch Ferien, aber am Montag dreht er in Hollywood weiter. Ich soll dich und Maja ganz lieb grüßen“, antworte ich so cool wie möglich. Kim erwähne ich absichtlich mit keinem Wort. Soll Arpad doch ruhig glauben, dass Travis sich in mich verknallt hat! Wenn ich Glück habe, macht ihn das vielleicht sogar ein bisschen eifersüchtig.

Doch zu meiner Enttäuschung bleibt sein Gesichtsausdruck unergründlich und seine einzige Antwort ist: „Mhm.“

„Dem Travis hast du’s echt angetan“, stellt László fest und wirft mir über den Rückspiegel ein amüsiertes Grinsen zu.

Ich lächle ihm kurz zu, dann schiele ich noch einmal unauffällig zu Arpad hinüber. Aber ich kann sein Gesicht nicht sehen, weil er aus dem Fenster schaut und vermutlich die riesige Pferdeweide inspiziert, die gerade auf der anderen Straßenseite an uns vorüberzieht.

Da meldet sich WhatsApp schon wieder. Diesmal ist es meine Freundin Birte: „Hallo! Bist du bald da? Janine, Paulina und ich warten! Treffen uns bei mir morgen Nachmittag um drei, okay?“

„Und wer war’s diesmal?“, fragt Arpad.

„Birte. Sie wartet mit Janine und Paulina im Reitstall auf uns“, erkläre ich und antworte meiner Freundin: „Treffen morgen geht klar. Sind in zehn Minuten da!“

László setzt nämlich gerade den Blinker und biegt auf die Straße ein, die auf direktem Wege zu unserem Heimatdorf führt.

Tatsächlich brauchen wir nur neun Minuten, bis wir auf Hof Buchental ankommen. Dort werden wir allerdings nicht nur von meinen Freundinnen, sondern auch von einem ganzen Pulk anderer Leute erwartet.

„Birte und Janine haben offenbar wirklich jedem erzählt, dass wir im Anflug sind“, grinst Maja.

Ihr Bruder brummt etwas schwer Verständliches, das so ähnlich klingt wie: „Fehlt nur noch, dass wir Autogramme geben müssen.“

Dass wir bei einem Hollywoodfilm mitgemacht haben, ist in unserem Reitstall eine kleine Sensation. Jetzt müssen wir bestimmt jede Menge Fragen beantworten – über Hauptdarsteller Travis Lauter, John Deacon und April Winterheart, über die berühmte Regisseurin Angelina Jones, natürlich auch über die Pferde und, und, und … Filou und Favory, die hinter Lászlós Auto im Anhänger stehen, müssen jetzt wahrscheinlich erst mal ein paar Minuten warten. Aber was sollen wir machen?

Als ich aussteige, erinnert mich ein unangenehmer Schmerz in meiner linken Hüfte allzu deutlich daran, dass ich erst vor wenigen Tagen bei den Dreharbeiten mit dem Stuntpferd Xingaro gestürzt bin und dabei einen versehentlichen Tritt von ihm kassiert habe. Aber ich beiße die Zähne zusammen; die Leute auf Hof Buchental brauchen das nämlich nicht unbedingt zu merken.

Langsam steige ich aus und umarme erst mal meine drei Freundinnen, die sich tapfer zu uns durchgedrängelt haben. Maja, ihr Vater Attila und ich erzählen und zeigen Fotos auf unseren Smartphones, während Arpad und László sich so schnell wie möglich verdrücken, um die Pferde auszuladen.

Als wir uns endlich loseisen können, ist László bereits mit Filou am Halfter im Stall verschwunden. Eilig laufe ich hinter den beiden her und hole sie ein, als er mit meinem Pony vor dessen Box stehen bleibt und die Tür öffnet.

„Tut mir echt leid, die Leute haben mich nicht früher gehen lassen“, schnaufe ich.

„Kein Problem“, beruhigt er mich.

Filou marschiert in seine Box und macht sich gleich über den Haufen Heu her, den ihm Herr Sattler in kluger Voraussicht hingestreut hat.

Eine Weile stehen wir noch auf der Stallgasse und beobachten, wie er zufrieden vor sich hin kaut.

„Dein Pony hat die Dreharbeiten erstaunlich gut weggesteckt“, meint László nach einer Weile. „Dafür, dass es schon einundzwanzig Jahre alt ist, ist es noch erstaunlich fit.“

„Ja, Gott sei Dank“, erkläre ich. „Filou gehört meiner Mutter schon seit achtzehn Jahren, also länger, als ich auf der Welt bin. Ein Leben ohne ihn kann ich mir gar nicht vorstellen.“

Er nickt. „Mach dir mal keine Sorgen. So stark und gesund, wie er aussieht, kann er ohne Weiteres dreißig Jahre alt werden.“

„Das wäre wunderbar!“ Ich strahle ihn an.

Als wir zurückgehen und auf den Hof hinaustreten, bleibt László in der Tür stehen.

„Aha“, sagt er nur und schaut zu Emily, die gerade ihr neues Dressurpferd Amorio über den Hof führt. Dann murmelt er beeindruckt: „Das ist aber ein toller Kerl.“

Und da hat er absolut recht: Der falbfarbene Wallach ist wunderschön. Ich hab mich regelrecht in ihn verliebt, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Und jetzt, wo Emily sein verschwitztes Fell mit lauwarmem Wasser abgespritzt hat, glänzt er in der Sommersonne wie Gold.

„Er heißt Amorio und er ist wirklich etwas Besonderes, nämlich eine Kreuzung zwischen einem Lusitano und einem Warmblutpferd“, erkläre ich. „Seine Besitzerin heißt Emily Münzkötter. Sie will mit ihm Dressurturniere reiten.“

Zu meiner Überraschung antwortet László: „Ja, ich weiß. Arpad hat mir von den beiden erzählt.“

Etwas in meinem Bauch krampft sich zusammen; es fühlt sich fast so an, als würde eine dünne Schlange durch meine Gedärme kriechen. Genauso ist es mir schon am letzten Sonntag gegangen, als ich heimlich beobachtet habe, wie Arpad Emily und Amorio beim Training zugesehen hat. Weil Amorio dabei ungehorsam war und mehrmals heftig den Kopf geschüttelt hat, hat Arpad Emily danach sogar tröstend den Arm um die Schulter gelegt!

Na gut, mir war ja schon länger klar, dass Emily sich an Arpad heranmacht. Aber da hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, als würde er sich auch für sie interessieren. Also ehrlich: In dem Moment hab ich Emily glatt zum Teufel gewünscht. Und richtig vergessen kann ich die Szene seitdem auch nicht mehr.

„Was hat Arpad dir denn gesagt?“, frage ich, wobei ich László möglichst unauffällig aus den Augenwinkeln mustere.

Der hat tatsächlich nichts von dem Gefühlsaufruhr in meinem Inneren bemerkt, denn er sieht weiter interessiert zu Amorio hinüber und erklärt in ahnungslosem Ton: „Er findet, dass Emily nicht gut mit ihrem neuen Pferd umgeht. Amorio sei sehr sensibel, meint er. Trotzdem hat sie wohl sofort angefangen, mit ihm für Turniere zu trainieren. Dabei hätte er mindestens zwei Wochen gebraucht, um sich hier auf Hof Buchental einzugewöhnen.“

„Mehr hat er nicht über die beiden erzählt?“, hake ich mit möglichst gleichgültig klingender Stimme nach.

László runzelt die Stirn. „Das sagt doch schon alles, oder?“

Ob er jetzt doch noch was gemerkt hat? Ich fluche innerlich. Denn mir dämmert gerade, dass ich jetzt genauso schlau bin wie vorher. Wenn Arpad László gestanden hätte, dass er sich in Emily verknallt hat, würde László mir das nämlich mit Sicherheit nicht verraten.

„Da hast du wohl recht“, sage ich darum. „Ich ärgere mich halt so über Emily.“

„Das ist ja auch verständlich“, urteilt er. „Weißt du, es gibt leider immer noch zu viele Reiter, die mit zu viel Ehrgeiz an ihren Sport herangehen. Sie setzen ihre Pferde unter einen zu großen Druck und verlangen Dinge von ihnen, die sie noch gar nicht leisten können. Solche Pferde sind oft derartig überfordert, dass sie anfangen, sich zu wehren. Arpad hat mir nämlich auch erzählt, dass Amorio öfter mit dem Kopf schlägt, wenn Emily ihn reitet.“

Aha. Dann hat er dir also doch mehr gesagt, als du mir gegenüber zugegeben hast, denke ich und spüre, wie die Schlange in meinem Bauch sich weiter windet und dreht.

Trotzdem nicke ich heftig und erkläre: „Ich glaube allerdings, dass Emily gar nicht die Hauptschuldige ist. Ihr Vater ist nämlich ein reicher Bauunternehmer; er sponsert sie nach Kräften, aber er setzt sie auch tierisch unter Druck. Vielleicht hätte sie mit ihren beiden Pferden mehr Geduld, wenn er nicht ständig Turniersiege von ihr erwarten würde.“

Da ertönt Birtes Stimme von links. „Ich fürchte, du hast absolut recht.“

Erschrocken zucke ich zusammen. Mann, oh Mann! Ich war mit meinen Gedanken so sehr bei Arpad, Amorio und Emily, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie sie mit Janine und Paulina um die Ecke gebogen ist. Jetzt bleiben die drei neben uns stehen.

„Trotzdem hat Emily einen totalen Dusel“, fügt Janine hinzu. „Denn seit letztem Dienstag scheint sich eine Wandlung in Amorio vollzogen zu haben. Seitdem ist er brav wie ein Lämmchen.“

Paulina nickt heftig. „Er hat seitdem nicht mehr ein einziges Mal mit dem Kopf geschlagen. Emily ist überglücklich und meint, dass ihrem ersten Turnierstart in zwei Tagen jetzt nichts mehr im Weg steht.“

„Puh!“, mache ich und mir fällt ein dicker Stein vom Herzen.

„Hoffentlich läuft bei der Dressur auch wirklich alles gut“, meint Janine.

„Wie ist es, sollen wir übermorgen nicht zusammen hingehen?“, schlägt Birte vor. „Ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr auf einem Reitturnier und wir könnten problemlos mit dem Bus hinfahren.“

„Von mir aus gerne“, stimme ich zu.

„Oh ja, wir haben auch schon so lange nichts mehr gemeinsam unternommen, nur wir vier“, findet Paulina.

„Dann tschüss bis morgen“, verabschiedet sich Janine und die drei gehen zu ihren Fahrrädern, um nach Hause zu fahren.

„Na, du Hübscher?“, sage ich zu Amorio. Bevor László mich nach Hause bringt, hab ich noch ein bisschen Zeit, darum bin ich zu dem schönen Falben in den Stall gegangen. Jetzt stehe ich an seiner Box, schaue in seine großen, dunklen Augen und rede leise mit ihm.

„Ich hab gehört, dass es dir jetzt mit Emily besser geht“, sage ich zu ihm. „Also ehrlich: Darüber bin ich ja so was von froh … Weißt du, ich hab mir nämlich Sorgen um dich gemacht. Du hast so unzufrieden, ja richtig unglücklich gewirkt, und ich hätte dir so gerne geholfen. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich das machen sollte.“

Zwar weiß ich, dass er meine Worte nicht versteht. Aber er scheint meine Stimme zu mögen. Denn jetzt kommt er einen Schritt näher, schiebt seine Nüstern zwischen den Gitterstäben hindurch und lässt sich von mir streicheln.

„Ja, du bist ein Lieber“, murmele ich und mir wird ganz warm ums Herz. „Am Sonntag, wenn du deinen ersten großen Auftritt auf einem Turnier hast, werde ich dabei sein. Dann drücke ich dir beide Daumen. Versprochen.“

Kapitel 2

Das große Turnier

Schau mal, da drüben sind sie ja!“, ruft Paulina. Dabei fuchtelt sie so aufgeregt mit ihrem Vanilleeis herum, dass ein Spritzer der langsam schmelzenden Creme auf Birtes T-Shirt landet.

„He, pass gefälligst auf!“, meckert die, zieht ein Papiertaschentuch hervor und wischt sich den Fleck ab, so gut es geht.

Seit etwas mehr als einer halben Stunde sind wir jetzt schon auf dem Reitturnier; wir haben uns vergeblich nach Amorio und Emily umgesehen, uns Pommes mit Ketchup und Mayo gekauft und beim Futtern einem Springwettbewerb zugesehen. Wie Paulina es schafft, gleich hinterher noch ein Eis zu verdrücken, ist mir allerdings ein Rätsel.

Plötzlich verpasst mir Birte aufgeregt einen Stoß in die Rippen. Denn während gerade der nächste Starter auf den Dressurplatz trabt, beginnt Emily tatsächlich, auf dem Abreiteplatz Amorio warm zu reiten.

Wir drängen uns durch die vielen Menschen zu den beiden hinüber.

„Puh, hier ist ganz schön was los“, stöhnt Janine, als wir endlich die Bande des Abreiteplatzes erreicht haben.

„Unglaublich, wie viele Leute bei diesem feucht-heißen Wetter hier aufgekreuzt sind“, seufzt Birte und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„Bestimmt sind die alle irgendwie mit einem Teilnehmer verwandt oder befreundet. Sonst lägen die mit Sicherheit dösend im Freibad oder in ihrem Garten im Schatten“, vermute ich und recke mich, um Amorio besser sehen zu können.

„Garantiert“, bestätigt Paulina. „Stellt euch vor: Heute Morgen um acht Uhr waren es auf unserem Balkon schon über zwanzig Grad! Ich bin nur hergekommen, weil ich unbedingt sehen wollte, wie Emily und Amorio klarkommen.“

„Allerdings frag ich mich, warum so viele Reiter sich das antun“, überlegt Birte laut. „Und erst recht ihren Pferden …“

„Hoffentlich kriegen die bloß genug zu trinken“, erkläre ich. „Mama sagt nämlich, dass Pferde noch viel mehr schwitzen als Menschen. Darum können sie bei Hitze nur etwas leisten, wenn sie genug Wasser bekommen.“

„Man ist es seinem Pferd ja wohl schuldig, dass man immer gut für es sorgt“, bestätigt Paulina.

„Also, meine Eltern und ich lassen es mit unseren beiden Isländern viel ruhiger angehen, wenn es heiß ist“, meint Birte.

„Das ist ja auch vernünftig. Andererseits: Wenn man das Startgeld bezahlt und tage- oder vielleicht sogar wochenlang für einen Wettbewerb trainiert hat, möchte man bestimmt auch starten“, gibt Paulina zu bedenken.

„Da hast du auch wieder recht“, findet Janine.

Ich hab ihnen nur mit halbem Ohr zugehört, weil ich wegen Amorio so aufgeregt bin. Hoffentlich ist er brav! Hoffentlich gehorcht er und schlägt nicht wieder ungehorsam mit dem Kopf!

Ich bin so gespannt, dass ich mich immer wieder auf die Zehenspitzen stelle, weil mir schon wieder irgendein Zuschauer die Sicht verdeckt.

Uff! Momentan scheint alles gut zu gehen, denke ich total erleichtert, nachdem ich Amorio eine Zeit lang beobachtet habe.

Er geht ganz ruhig und brav, sein Schweif pendelt entspannt hin und her und schlägt nicht mehr so nervös wie letztes Wochenende, als ich Emily beim Training zugeschaut habe. Gerade geht der schöne Wallach mit aufmerksam spielenden Ohren ein lupenreines Schenkelweichen im Trab, dann galoppiert er ruhig zwei Runden, wird langsamer und wechselt im Trab durch die ganze Bahn die Seiten.

„Sieh mal, wie die anderen Reiter Emily anschauen“, flüstert mir Birte amüsiert zu. „Denen ist wohl allen sonnenklar, was für eine scharfe Konkurrenz gerade an ihnen vorbeireitet.“

Da hat sie absolut recht: Manche Teilnehmer machen total beeindruckte Gesichter, andere sehen eher frustriert aus und wieder anderen steht der Neid regelrecht ins Gesicht geschrieben.

„Hach! So gut wie Emily möchte ich auch reiten können“, wünscht sich Paulina und steckt sich die letzten Reste ihres Vanilleeis-Hörnchens in den Mund.

„Ja, und so ein tolles Pferd möchte ich auch haben“, seufzt Janine.

Für einen Moment steigt auch in mir die Eifersucht hoch. Weil Amorio, an den ich vom ersten Tag an mein Herz verloren habe, nun mal Emily gehört.

Dabei weiß ich ganz genau, was für einen hohen Preis sie für ihre beiden wertvollen Pferde und das teure Training bei den Sattlers bezahlen muss, nämlich ständigen Stress und mächtig Druck von ihren Eltern, die sie am liebsten jedes Wochenende mindestens einmal auf dem Siegertreppchen irgendeines Reitturniers sehen würden.

Trotzdem lässt sich meine innere Stimme nicht zum Schweigen bringen. Bei dir hätte Amorio es hundertmal besser, flüstert sie mir ein ums andere Mal hartnäckig zu, während Emily mit ihrem Pferd noch ein allerletztes Mal den Mitteltrab übt. Meine nervigen Gedanken lassen sich erst zum Schweigen bringen, als die beiden auf den Dressurplatz gerufen werden.

Eilig gehen wir hinüber und drängeln uns auf gute Plätze direkt an der Umzäunung.

Amorio hat gerade in der Mitte der Bahn angehalten und seine Reiterin grüßt die Richter mit einem deutlichen Kopfnicken. Dann wendet sie ihr Pferd in Richtung Hufschlag ab und trabt an, einmal um die ganze Bahn, dann einen Zirkel, eine Volte …

„Na also, klappt doch!“, flüstert mir Birte zu.

Ich antworte nicht, sondern halte gespannt die Luft an. Denn gerade bringt Emily Amorio zum Stehen, woraufhin er prompt hektisch mit dem Schweif schlägt.

„Uff!“, seufze ich, weil er trotzdem brav stehen bleibt und nicht mit dem Kopf wirft.

Emily lässt Amorio auf der Hinterhand wenden und zuerst im Schritt, dann wieder in einem flotten Trab weiterlaufen. Noch einmal geht Amorio eine punktgenaue Volte, bald darauf machen die beiden aus der Ecke kehrt.

„Sieht alles gar nicht so schlecht aus“, meint jetzt auch Janine.

„Hoffentlich sehen das die Richter bloß genauso“, seufzt Paulina. „Ich hab nämlich keine Ahnung, worauf die eigentlich wirklich achten.“

Ich sage wieder nichts, denn jetzt wird es richtig spannend: Die Galopparbeit fängt an! In vorbildlicher Haltung galoppiert Amorio einmal um den Reitplatz, dann einen Zirkel und wieder um die ganze Bahn, die beiden biegen im Galopp zum Wechseln durch die ganze Bahn ab und gehen in der Mitte des Reitplatzes kurz in Trab über, dann galoppiert Amorio absolut korrekt auf der anderen Hand wieder an. Noch einmal geht er einen Zirkel, dann lässt Emily ihn wieder traben … und beim Langsamerwerden schlägt er wieder nervös mit dem Schweif. Erschrocken schnappe ich nach Luft … aber Emily hat Glück, weil Amorio nicht mit dem Kopf wirft. Die beiden traben noch einmal einen Zirkel, dann ist die Prüfung fast vorbei, denn Emily reitet in die Mitte der Bahn, bringt ihr Pferd dort zum Stehen und grüßt noch einmal die Richter.

„Uff! Geschafft!“, seufze ich total erleichtert, als die beiden die Bahn verlassen.

Da tönt es aus dem Lautsprecher: „Wertnote für Emily Münzkötter auf Amorio: 6,8.“

Wenn ich bloß wüsste, ob das gut oder schlecht ist!

„Hat jemand von euch aufgepasst, welche Noten die anderen Reiter bekommen haben?“, fragt jetzt auch Birte in die Runde. Doch wir anderen können leider nur mit den Achseln zucken.

„Ich finde jedenfalls, dass die beiden gar nicht so übel waren“, urteilt Paulina. „Wetten, die landen auf einem vorderen Platz?“

„Oder sie gewinnen gleich die Siegerschleife“, vermutet Birte.

Janine nickt. „Fürs erste Mal können Emilys Eltern jedenfalls absolut nicht meckern.“

„Ich glaube, das haben sie auch gar nicht vor“, stelle ich zufrieden fest. Dabei weise ich mit dem Kopf zu Herrn und Frau Münzkötter hinüber, die gerade mit strahlenden Gesichtern in Richtung Abreiteplatz marschieren.

„Bestimmt sind sie jetzt endlich davon überzeugt, dass sich die teure Investition für Amorio gelohnt hat“, stellt Paulina sarkastisch fest.

Emily hat nämlich durchblicken lassen, dass ihr neues Dressurpferd richtig viel Geld gekostet hat.

Während der nächste Teilnehmer einreitet, machen auch wir uns auf den Weg zum Abreiteplatz.

Als wir fast dort angekommen sind, stößt mich Janine in die Seite: „Schau mal, mit wem Emily gerade spricht!“

Ich recke mich, um über die Schulter des großen älteren Herrn zu spähen, der in gemütlich langsamem Tempo vor mir herspaziert. Dann sehe ich es auch: Emily lässt Amorio im Schritt durch die Bahn gehen. Und der Junge, der jetzt neben ihr hermarschiert und sich dabei so angeregt mit ihr unterhält, dass er uns gar nicht bemerkt, ist niemand anderer als …

„He, das ist ja Arpad“, stellt Paulina grinsend fest. „Was den wohl hierher gelockt hat …?“

„Er macht sich bestimmt auch Sorgen um Amorio“, vermutet Janine mit betont unschuldiger Miene. Aber mir ist völlig klar: In Wirklichkeit denkt sie, dass Arpad wegen Emily gekommen ist.

Die bösartige Schlange in meinen Gedärmen meldet sich schon wieder; sie dreht und windet sich sogar noch stärker als sonst. Am liebsten würde ich meine Freundinnen anfahren, dass sie gefälligst den Mund halten sollen. Dabei können sie doch gar nichts dafür, dass mich ihre Bemerkungen so treffen, denn sie haben ja keine Ahnung, dass ich in Arpad verliebt bin. Und ich hab auch kein Interesse daran, ihnen davon zu erzählen. Dann würden sie mich nämlich bestimmt ausfragen und mit Mitleid überschütten und, und, und …

Nein, danke! Lieber beiße ich mir auf die Lippe und zwinge mich zu einem entspannten Lächeln. Doch in meinem Inneren verkochen Eifersucht und Zorn gerade zu einem hochexplosiven Gemisch. Ach, wie gerne würde ich jetzt zu Arpad hinüberrennen, ihn bei den Schultern packen und fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat, weil er sich ausgerechnet für so eine blöde Kuh wie Emily interessiert! Stattdessen winke ich mit gespielter Fröhlichkeit Maja zu, die uns gegenüber am Zaun des Abreiteplatzes steht.

Ein bisschen schüchtern lächelt sie zurück.

Kein Wunder, dass du dich unwohl fühlst, denke ich. Schließlich bist du die einzige von meinen Freundinnen, die weiß, dass ich in deinen Bruder verknallt bin. Außerdem spürst du deutlich, dass Birte, Paulina und Janine dich immer noch nicht so ganz akzeptiert haben.

Arpad hat gemerkt, dass Maja uns begrüßt hat, und schaut zu uns herüber. Er lächelt, hebt die Hand, spricht kurz mit Emily und kommt zu uns.

„Hallo!“, sagt er und strahlt uns an; seine schönen dunklen Augen leuchten und mir wird wieder mit aller Macht bewusst, wie gut er aussieht und wie heftig ich mich in ihn verknallt habe.

„Scheint ja ganz gut gelaufen zu sein mit Emily und Amorio“, meint Paulina.

Arpad nickt. „Allerdings. Jetzt wollen wir nur noch hoffen, dass die Richter das genauso sehen.“

„Na gut“, erkläre ich. „Aber ich finde, Amorios Leistung ist kein bisschen weniger wert, wenn einer der Richter ihn nicht so toll findet.“

„Da hast du auch wieder recht“, gibt er zu. „Hoffen wir nur, dass das Emilys Eltern …“

Er unterbricht sich, denn Emily hat Amorio zum Stehen gebracht und schaut gespannt zum Dressurplatz hinüber.

Schnell sehe ich in die gleiche Richtung.

Aha. Gerade hat der letzte Teilnehmer die Bahn verlassen. Nicht mehr lange und die Richter werden das Ergebnis bekannt geben!

Jetzt bekomme ich richtig Herzklopfen. Für einen Moment lenkt mich das sogar von meiner quälenden Eifersucht ab und mir wird klar: Ich hab Amorio so gern, dass ich Emily wirklich von ganzem Herzen einen Platz auf dem Siegertreppchen wünsche.

Doch da verabschiedet sich Arpad mit einem kurzen „Jetzt wird’s ernst. Also: Bis dann!“ und geht mit eiligen Schritten wieder zu Emily hinüber, die ihn übers ganze Gesicht anstrahlt. Prompt kippt meine Stimmung schon wieder und ich muss mich ganz schwer zusammenreißen, damit man mir meinen Frust nicht allzu deutlich ansieht. Am liebsten würde ich Emily lautstark zum Teufel wünschen!

Weil Birte mir einen Rippenstoß gibt, schrecke ich aus meinen düsteren Gedanken hoch.

„Was ist denn plötzlich los mit dir?“, fragt sie besorgt.

„Du, mir ist einfach nur heiß“, flunkere ich, weil das die erste Ausrede ist, die mir einfällt.