Elizabeth Eulberg

Beste Freunde küsst man nicht

Aus dem Amerikanischen
von Anne Markus

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Von Elizabeth Eulberg ist als Arena-Taschenbuch erschienen:

Wie wir einen Sommer (vergeblich) versuchten, uns nicht zu verlieben (Band 50325)

 

 

 

 

 

 

Elizabeth Eulberg
kann mit Jungs ganz prima einfach nur befreundet sein, solange sie einen guten Musikgeschmack haben. Der Junge sollte am besten auch ein Green Bay Packers-Fan sein. Wenn sie nicht gerade die iPods potenzieller Freunde durchforstet, schreibt sie auf, was sie durch ihre Freundschaft mit Jungs herausgefunden hat. Nach »Wie wir einen Sommer (vergeblich) versuchten, uns nicht zu verlieben« ist »Beste Freunde küsst man nicht« ihr zweites Jugendbuch im Arena Verlag.

 

 

 

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Deutsche Erstausgabe
1. Auflage als Arena Taschenbuch 2015
© 2014 by Elizabeth Eulberg
Published by Arrangement with Elizabeth Eulberg
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Better off friends bei
Point, einem Imprint von Scholastic Inc., New York
Deutschsprachige Ausgabe © 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas
Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Aus dem Amerikanischen von Anne Markus
Umschlaggestaltung Frauke Schneider
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80476-7

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Für Erin Black, Sheila Marie Everett und Elizabeth Parisi,
denn mit Euch an ihrer Seite kommt die Autorin besser weg

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Jungen und Mädchen können Freunde sein.

Exakt darum geht’s, Levi.

Damit will ich sagen, dass eine Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen möglich ist. Ich hab nie begriffen, was daran die große Sache sein soll. Na ja, okay, wir mussten uns schon mit lauter blöden Fragen herumschlagen.

Ach ja, die Fragen.

Seid ihr zusammen?

Warum denn nicht?

Aber irgendwann hattet ihr doch mal was, richtig?

Oder habt zumindest mit dem Gedanken gespielt?

Macallan, wie konntest du nur Levis Charme widerstehen?

Nein, wir hatten nie was.

Ich weiß nicht …

Tja, ich weiß es. Und wir hatten nie etwas miteinander. Nie.

Na gut. Allerdings muss ich zugeben, dass es nicht immer ganz einfach gewesen ist. Ein paar Probleme hatten wir schon.

Ein paar?

Okay, mehr als ein paar. Aber schau dir an, wie es ausgegangen ist. Ich glaub nicht, dass einer von uns beiden gedacht hätte, dass wir nach meinem ersten Schultag in der siebten Klasse je wieder ein Wort miteinander wechseln würden. Schon allein deshalb nicht, weil du dich ja ziemlich in mich verguckt haben musst.

Denken wir beide an denselben Tag?

Klar doch.

Oh, tut mir leid. Ich glaube, du leidest unter Wahnvorstellungen.

Keine Wahnvorstellungen. Es gibt jede Menge Begriffe, um mich zu beschreiben: umwerfend, toller Hecht, total heißer Typ. Kannst du dir aussuchen.

Na schön. Du bist umwerfend. Aber zweifellos mit Wahnvorstellungen.

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1.

Ich war wahrscheinlich das allererste Kind, das dem Ende der Sommerferien entgegenfieberte. Zu viel freie Zeit wie in jenen Sommerferien bringt einen ins Grübeln, ganz besonders, wenn man elf Jahre alt ist und von Kummer überwältigt. Ich konnte die siebte Klasse kaum abwarten. Wollte mich auf die Schularbeit stürzen. Mich von der Einsamkeit ablenken. Damals bereute ich, nicht das Angebot meines Dads angenommen zu haben, die Sommerferien bei Moms Eltern in Irland zu verbringen. Aber dort hätte mich alles nur an sie erinnert, so viel war klar. Nicht, dass mir das nicht ohnehin jedes Mal passierte, wenn ich in den Spiegel schaute.

Also war die Schule die einzige Fluchtmöglichkeit, die mir blieb. Als ich erfuhr, dass ich mich vor Unterrichtsbeginn im Schulbüro melden sollte, hatte ich schon Angst, sie würden mich auch dieses Jahr wieder zwingen, die Vertrauenslehrerin zu besuchen. Zusätzlich zu den mitleidigen Blicken meiner Mitschüler und einem wohlmeinenden, aber völlig ignoranten Lehrerkollegium, das mich ständig ermahnte, wie wichtig es sei, »die Erinnerungen an sie wachzuhalten«.

Als ob ich sie je vergessen könnte.

Noch mehr Aufregung konnte ich an jenem Morgen eigentlich nicht gebrauchen. Es war schließlich der erste Tag eines neuen Schuljahrs danach.

»Soll ich mitkommen, Macallan?«, fragte Emily, nachdem ich die Vorladung erhalten hatte. Das verkrampfte Lächeln in ihrem Gesicht verriet ihre Besorgnis, die sie vor mir verstecken wollte.

»Nein, schon gut«, antwortete ich. »Ich bin mir sicher, es ist nichts Schlimmes.«

Sie musterte mich kurz, bevor sie meine Haarspange zurechtrückte. »Na gut, wenn du mich brauchst, ich hab die erste Stunde bei Mrs Nelson.«

Ich lächelte sie beruhigend an, ein Lächeln, das ich beibehielt, als ich ins Schulbüro trat.

Direktor Blaska begrüßte mich mit einer Umarmung. »Herzlich willkommen zurück, Macallan! Wie waren die Sommerferien?«

»Super!«, log ich.

Wir starrten uns gegenseitig an und keiner wusste so recht, was er als Nächstes sagen sollte.

»Gut, ich brauche heute deine Hilfe. Wir haben einen neuen Schüler. Darf ich vorstellen – Levi Rodgers aus Los Angeles!«

Ich sah mich um und entdeckte einen Jungen mit langen blonden Haaren, die im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Seine Haare waren tatsächlich noch länger als meine. Er strich sich eine lose Strähne hinters Ohr, bevor er seine Hand ausstreckte. »Hey«, sagte er.

Das musste man ihm lassen – wenigstens war er höflich … für einen Surfer-Typen.

Direktor Blaska gab mir Levis Stundenplan. »Könntest du ihm alles zeigen und ihn in seinen Klassenraum begleiten?«

»Gerne.«

Ich lotste Levi in den Flur hinaus und gab ihm die Sparversion der Schultour. Ich war nicht in der Stimmung, das Was bringt dich hierher-Spielchen zu spielen.

»Das Gebäude ist im Grunde genommen wie ein T geformt. In diesem Flur befinden sich die Klassenräume für Mathe, Naturwissenschaften und Geschichte.« Ich deutete wie eine Stewardess den Gang hinunter. »Hinter dir sind die Räume für Englisch und Fremdsprachen sowie der Freistundenraum.« Ich lief schneller. »Und dort sind die Turnhalle, die Cafeteria, die Musik- und Kunsträume. Oh, und am Ende eines jeden Flurs befinden sich die Toiletten sowie die Sprudler.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Was ist denn ein Sprudler?«

Meine erste Reaktion war Fassungslosigkeit. Wie konnte man nicht wissen, was ein Sprudler war?

»Äh, da gibt’s Wasser. Zum Trinken.« Ich ging mit ihm hin und drückte auf den Hebel, der das Wasser aus dem Hahn laufen ließ.

»Oh, du meinst einen Trinkbrunnen.«

»Ja, Trinkbrunnen, Sprudler – wie auch immer.«

Er lachte. »Den Ausdruck Sprudler hab ich noch nie gehört.«

Als Antwort darauf lief ich nur noch schneller. Er sah sich im Flur um und mir fiel auf, dass seine Augen hellblau waren, fast grau. »Wie komisch«, fuhr er fort. »Diese ganze Schule würde glatt in die Cafeteria meiner alten Schule passen.« Seine Stimme ging am Satzende nach oben, als würde er eine Frage stellen. »Tja, das ist ganz schön gewöhnungsbedürftig, weißt du?«

Mir war klar, dass ich mich jetzt eigentlich nach seiner alten Schule erkundigen sollte, aber ich wollte so schnell wie möglich in den Unterricht.

Ein paar meiner Freunde kamen, um mich zu begrüßen, sie alle musterten den Neuen. Unsere Schule war ziemlich klein, die meisten von uns kannten sich seit der fünften Klasse, wenn nicht schon seit dem Kindergarten.

Ich warf noch einmal einen verstohlenen Blick auf Levi. Es war schwer zu sagen, ob er gut aussah. Seine Haare waren an einigen Stellen fast weiß, wahrscheinlich von der Sonne ausgebleicht. Zusätzlich betonte die gebräunte Haut seine blonden Haare und hellen Augen – aber das würde nicht lange so bleiben, denn in Wisconsin ließ sich die Sonne ab Ende August kaum noch blicken.

Levi trug ein kariertes Button-down-Hemd zu Cargo Shorts und Flipflops. Als hätte er sich nicht entscheiden können, ob er sich schick oder eher lässig kleiden sollte. Glücklicherweise hatte mir Emily dabei geholfen, mein Outfit für den ersten Schultag auszuwählen: ein leuchtend gelb-weiß gestreiftes Sommerkleid und darüber eine weiße Strickjacke.

Levi sah mich eifrig lächelnd an. »Was für ein Name ist das eigentlich – Macallan? Oder war das McKayla?«

Aus Reflex wollte ich ihn fragen, ob der Name Levi von der Marke der Jeans kam, die seine Mom am Tag seiner Geburt getragen hatte, aber stattdessen mimte ich die nette, verantwortungsbewusste Schülerin, wie es von mir erwartet wurde.

»Das ist ein Familienname«, sagte ich. Was nicht völlig gelogen war – es war tatsächlich ein Familienname, bloß nicht meiner. Obwohl ich es mochte, einen ausgefallenen Namen zu haben, war es mir immer ein bisschen peinlich zuzugeben, dass ich ihn deswegen hatte, weil mein Dad eine gewisse Sorte Whiskey bevorzugte. »Es wird Ma-cal-lan ausgesprochen.«

»Alter, das ist echt cool.«

Ich konnte nicht fassen, dass er mich eben Alter genannt hatte.

»Ja danke.« Ich beendete den Rundgang vor seinem Klassenraum, in dem er seine erste Stunde, Englisch, hatte. »Na gut, hier wären wir.«

Er sah mich erwartungsvoll an, als sei es meine Aufgabe, ihm einen Platz zu suchen, ihn gut zuzudecken und ihm ein Gutenachtlied zu singen.

»Hi, Macallan!«, begrüßte mich Mr Driver. »Ich dachte, ich hätte dich heute erst später. Oh, Moment, du musst Levi sein.«

»Ja, ich habe ihm die Schule gezeigt. Tja« – ich drehte mich zu Levi – »ich muss weiter in den Unterricht. Viel Glück.«

»Oh, okay«, stammelte er. »Wir sehen uns?«

In dem Moment registrierte ich, dass der Ausdruck in seinem Gesicht Angst war. Er fürchtete sich. Natürlich tat er das. Ich bekam Gewissensbisse, schüttelte sie aber auf dem Weg zu meinem Klassenraum schnell ab.

Ich hatte auch so schon genug Probleme.

In der Sekunde, in der wir uns an jenem Tag beim Mittagessen in die Schlange stellten, kam Emily ohne Umschweife zur Sache.

»Also, wie ist er so, dieser neue Typ?«, fragte sie.

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ganz okay.«

Sie musterte ein Stück Pizza. »Seine Haare sind unfassbar lang.«

»Er kommt aus Kalifornien«, warf ich ein.

»Was weißt du sonst noch über ihn?« Sie stellte den Teller mit der Pizza zurück und nahm sich stattdessen ein Sandwich mit Hühnchen und einen Salat. Ich folgte ihrem Beispiel.

Ich war so dankbar, dass ich eine Freundin wie Emily hatte. Auch wenn er sich sehr bemühte – in Sachen Frisuren, Klamotten und Make-up konnte mein Dad mir nun wirklich nicht helfen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde ich jeden Tag Jeans, Turnschuhe und ein Green Bay Packers-T-Shirt tragen und zu jeder Mahlzeit Pizza essen.

Und mädchenhafter als Emily ging gar nicht. Mit ihren langen, glänzenden pechschwarzen Haaren und den dunkelbraunen Augen war sie mit Abstand eines der hübschesten Mädchen in unserem Jahrgang. Es besaß auch niemand so coole Klamotten wie sie und ich war froh, dass wir dieselbe Größe hatten, sodass ich mir Sachen von ihr ausleihen konnte, obwohl sie schon viel mehr Oberweite als ich hatte. Aber so hatte ich wenigstens jemanden, zu dem ich gehen konnte, sobald ich einen BH brauchte. Ich mochte mir nicht mal vorstellen, wie peinlich das für meinen Dad wäre. Für uns beide.

»Äh …« Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich noch über Levi in Erfahrung gebracht hatte. Jetzt – leider zu spät – hatte ich das Gefühl, ich hätte mir doch ein bisschen mehr Mühe geben sollen.

Danielle gesellte sich zu uns, ihre honigfarbenen Locken wippten, als wir zu den Tischen gingen. »Ist das der Neue?« Sie zeigte auf Levi, der alleine an einem Tisch saß.

»Der ist ja klapperdürr«, sagte Emily.

Danielle lachte. »Ja, oder? Aber keine Sorge, wenn er von den ButterBurgern bei Culver’s nicht zunimmt, dann bestimmt vom frittierten Käse und den Bratwürstchen, die die Leute hier so gerne essen.«

Zu dritt steuerten wir unseren Stammtisch an. Levis Blick folgte uns. Wir kannten das. Normalerweise kommentierten die Leute das immer mit: »Eine Blonde, eine Rothaarige und eine Asiatin kommen in ein …« Ich aber sah uns so: das Mädchen, neben dem du sitzen möchtest, weil sie so umwerfend lustig ist, das Mädchen, von dem du im Unterricht abschreiben willst, und das Mädchen, dem alle Typen zu Füßen liegen.

Ich lächelte Levi kurz zu, in der Hoffnung, mein abweisendes Verhalten ein bisschen wettzumachen. Er erwiderte mein Lächeln, indem er mir traurig zuwinkte. Ich zögerte eine Sekunde und in diesem Moment registrierte ich Levis dankbaren Gesichtsausdruck. Er rechnete damit, dass ich mich zu ihm setzen oder ihn wenigstens an unseren Tisch einladen würde. Wieder zögerte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Einerseits wollte ich nicht den Babysitter spielen, andererseits wusste ich, wie es war, alleine zu sein. Und Angst zu haben.

»Leute, ich fühle mich furchtbar. Kann er mit bei uns am Tisch sitzen?«

Als niemand etwas dagegen einzuwenden hatte, ging ich zu Levi rüber. »Hey, wie war dein Vormittag?«, fragte ich und bemühte mich, dabei zu lächeln und mich zur Abwechslung mal gastfreundlich zu benehmen.

»Ganz gut.« Der Ton seiner Stimme ließ auf das Gegenteil schließen.

»Möchtest du dich zu uns setzen?« Ich zeigte auf unseren Tisch.

»Danke.« Er atmete tief aus.

Schon bald wandte sich die Aufmerksamkeit dem allgemeinen Ich weiß, was du wirklich in den Sommerferien gemacht hast-Gerede zu. Levi saß neben mir und stocherte unbehaglich in seinem Essen herum. Er stellte seinen Rucksack auf den Tisch und mir fiel ein Button ins Auge, der daran festgesteckt war.

»Das ist doch nicht etwa …« Ich brach ab. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es das war, was ich dachte? Das wäre ein zu großer Zufall gewesen.

Levi bemerkte meinen Blick auf den KEEP CALM AND BLIMEY ON-Button. »Oh, es gibt da so eine verrückte Serie auf BBC …«, fing er an zu erklären.

Ich schaffte es kaum, meine Aufregung in Zaum zu halten. »Buggy and Floyd. Ich liebe diese Serie!«

Sein Gesicht leuchtete auf. »Unfassbar – kein Mensch kennt Buggy and Floyd. Das ist ja total abgefahren!«

Es war total abgefahren.

Buggy and Floyd handelte von den verrückten Eskapaden von Theodore »Buggy« Bugsy und seinem Cousin und Zimmergenossen Floyd. In so ziemlich jeder Folge geriet Buggy in irgendwelche haarsträubenden Schwierigkeiten, aus denen Floyd ihn dann retten musste. Und Floyd schimpfte ununterbrochen über die aktuelle Situation, in der sie sich befanden, über Buggy und über die Gesellschaft im Allgemeinen.

Ich spürte, wie sich auf meinen Lippen ein Lächeln ausbreitete. »Die Familie meiner Mom lebt in Irland und ich hab die Serie gesehen, als ich dort vor ein paar Jahren im Sommer zu Besuch war. Ich hab die DVDs zu Hause.«

»Ich auch! Der Dad meines Kumpels ist Chef der Marktforschungsabteilung einer Filmproduktionsgesellschaft und der hat schon überlegt, die Serie für den US-Markt zu adaptieren.«

Ich stöhnte auf. Ich hasste es, wenn eine total perfekte Serie aus England für die USA umgeschrieben wurde. Manchmal ließ sich britischer Humor eben nicht übersetzen und letzten Endes würde das Ganze einfach nur dümmer werden.

»Sie würden die Serie völlig ruinieren«, sagten Levi und ich wie aus einem Mund. Für eine Sekunde waren wir beide verblüfft, bevor wir in Gelächter ausbrachen.

»Lieblingsfolge?« Er beugte sich vor und sah jetzt schon viel entspannter aus.

»Oh, da gibt es viele. Die, in der Floyds Schwester kurz vor ihrer Entbindung steht …«

»Himmelkreuzdonnerwetter, keine Ahnung, wo ich heißes Wasser herbekommen soll, es sei denn, eine Tasse Tee tut es auch.« Levi traf mit seinem Cockney-Akzent genau ins Schwarze.

»Richtig!« Ich knallte meine Hand auf die Tischplatte.

»Was geht bei euch denn ab?« Emily sah uns beide neugierig an.

»Du kennst doch diese britische Serie, von der ich wollte, dass du sie anschaust?«

»Diese Serie?« Emily sah mich kopfschüttelnd an, wie sie es immer tat, wenn sie sich über meine kleinen Schrullen amüsierte. Sie drehte sich zu Levi. »Und die kennst du?«

Er lachte. »Ja, die ist total witzig.«

»Aha.« Emily legte ihre Nase kraus. »Wie süß, dass ihr diese ungewöhnliche Vorliebe teilt.«

»Un-gewöhnlich?«, johlte Levi. »Ich bin zwar nicht die Königin von England, aber gewöhnlich bin ich ja wohl auch nicht.«

Das war ein weiteres Zitat aus der Serie.

»Eine ganz gewöhnliche Nervensäge – das bist du!«, beendeten wir beide den Satz.

Emily starrte uns an, als seien wir Außerirdische. Danielle schien sich zu amüsieren.

Wir unterhielten uns noch ein bisschen über unsere Sommerferien und nach der Pause half ich Levi, sich zu orientieren, wo er als Nächstes hinmusste. Als er diesmal »Bis später« sagte, fand ich den Gedanken nicht mehr so abschreckend. Es war eigentlich ganz cool, dass Levi jemand war, der nicht auf dieselben Dinge stand wie alle anderen.

Emily lachte, als wir unsere Tabletts auf das Fließband stellten. »Scheint ja ganz, als ob du und dein neuer Schatz euch viel zu sagen hättet.«

»Hör auf damit! Du weißt, dass er nicht mein Schatz ist.«

»Mir ist das klar, aber auch alle anderen in der Cafeteria haben euer kleines Techtelmechtel mitbekommen.«

Vermutlich hatte sie recht. Die anderen tuschelten bestimmt schon über unsere ein bisschen zu lebhafte Unterhaltung. Aber das machte mir wirklich nichts aus. Es wäre mal eine willkommene Abwechslung von all den Dingen, über die die anderen im letzten Jahr hinter meinem Rücken geflüstert hatten.

Nach der Schule wartete Onkel Adam bereits auf mich, um mich nach Hause zu fahren. Er war vor Freude immer ganz aus dem Häuschen, wenn er mich sah, obwohl er mich erst heute Morgen hier abgesetzt hatte.

»Wie war der erste Schultag?«, fragte er, während er mich fest in die Arme schloss.

»Gut!«, versicherte ich ihm.

»Großartig.« Er nahm mir meinen Rucksack ab und wir gingen zu seinem Auto.

Levi stieg gerade in einen SUV, vermutlich war die Frau neben ihm seine Mom. Er sagte irgendetwas zu ihr und daraufhin kam sie zu uns herüber. Nach einigem Zögern folgte er ihr. Mein Magen zog sich zusammen. Wenn jemand Adam zum ersten Mal begegnete, ging ich immer intuitiv in Verteidigungshaltung.

Onkel Adam ist ein wunderbarer Mensch und alle in der Stadt haben ihn furchtbar gern. Er ist nett, aufgeschlossen und stets hilfsbereit. Aber er hat einen angeborenen Sprachfehler, und wenn er spricht, lallt er ein bisschen. Ich bin mir nicht sicher, wie man das nennt, aber sein Kehlkopf schließt sich nicht richtig, sodass es manchmal nicht ganz leicht ist, ihn zu verstehen.

Als ich klein war und fragte, was Onkel Adam denn fehle, erklärte mir meine Mom, dass ihm nichts fehle, er würde nur wegen eines Geburtsfehlers anders sprechen als wir. Ich nahm ihre Worte für bare Münze. Dann, vor zwei Jahren, auf dem Nachhauseweg aus dem Park, fragten mich ein paar Jungen, wie es meinem »Spasti-Onkel« gehen würde. Ich brüllte sie an: »Er ist kein Spasti, er spricht bloß komisch.« Tränenüberströmt kam ich nach Hause und erzählte meinem Dad, was passiert war. Damals erklärte er mir dann, dass mein Onkel geistig behindert sei. Meine Eltern waren davon ausgegangen, ich wüsste das bereits. Aber wie sollte ich das wissen?

Er fährt Auto, geht zur Arbeit und lebt in seinem eigenen Haus (gegenüber von uns auf der anderen Stra-ßenseite). Und sein Leben unterscheidet sich gar nicht so sehr von unserem.

Ich hielt die Luft an, als Levis Mom sich bei Adam und mir vorstellte. Ich hatte Angst, dass sie sich wie einige andere falsch verhielt.

»Hi, Macallan, ich bin Levis Mutter. Vielen Dank, dass du Levi heute so einen netten Empfang bereitet hast. Ein Umzug durchs halbe Land und ein Neubeginn an einer fremden Schule sind nicht ganz einfach.« Sie hatte dieselben langen Haare wie Levi, aber ihre waren nicht im Nacken, sondern oben auf dem Kopf zusammengebunden. Sie trug Yogahosen und einen Kapuzenpullover – vermutlich war sie auf dem Rückweg aus dem Fitnessstudio. Selbst ohne Make-up sah sie atemberaubend gut aus.

»Mom«, stöhnte Levi und es bestanden keine Zweifel, dass er versuchte, sie davon abzuhalten, seine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen.

Sie wandte sich an Adam: »Und Sie müssen Macallans Vater sein.«

Onkel Adam packte ihre Hand und ich sah, wie sie unter seinem festen Griff leicht zusammenzuckte. »Onkel.«

»Das ist mein Onkel Adam«, sagte ich.

»Wie schön, Sie kennenzulernen.« Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, während Levi seine Hand schüttelte. Ich versuchte auszumachen, ob Levi zögerte, aber das tat er nicht. Wahrscheinlich konzentrierte er sich nur darauf, wie er seine Mom möglichst schnell zurück ins Auto bringen konnte.

Ich plapperte nervös los. »Ja, mein Dad muss manchmal Überstunden machen, obwohl er Chef seiner eigenen Baufirma ist – deshalb kommt Adam ab und zu aus dem Baumarkt rüber, um mich nach Hause zu fahren«, erklärte ich.

»Also, wenn wir dich irgendwann mal mit nach Hause nehmen sollen oder du nach der Schule bei uns bleiben möchtest, bis dein Dad oder dein Onkel Feierabend haben, bist du herzlich willkommen.«

Für ein paar Sekunden lang war ich sprachlos. Hier im Mittleren Westen war man zwar normalerweise recht höflich, aber diese Frau hatte mich gerade erst kennengelernt und lud mich schon zu sich nach Hause ein! Und sie tat es aus reiner Nettigkeit und nicht, weil sie von dem Unfall wusste.

»Wunderbar! Mittwochs ist es immer schwierig«, sagte Onkel Adam, bevor ich ihn daran hindern konnte. Normalerweise arbeitete er von sieben Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags und konnte mich problemlos von der Schule abholen. Außer mittwochs, wenn er Spätschicht hatte. Letztes Jahr hatte ich deswegen die Zeit in der Bibliothek überbrückt oder war mit Emily oder Danielle nach ihren zahlreichen Sportkursen oder Arbeitsgemeinschaften nach Hause gefahren.

Levis Mom fackelte nicht lange. »Warum kommst du am Mittwoch nicht mit zu uns? Natürlich nur, wenn du möchtest.«

Ich schielte zu Levi rüber, der mich ansah. Sein Mund wiederholte ihre Worte: Nur, wenn du möchtest.

»Gerne!«, sagte Onkel Adam zu.

»Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Wenn Macallans Vater irgendwelche Bedenken hat, kann er mich anrufen, okay?«

Levi zeigte auf den Button an seinem Rucksack und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Ich stellte mir vor, wie wir uns zusammen Buggy and Floyd anschauten.

Ich möchte, gab ich ihm stumm zu verstehen.

Die beiden Erwachsenen tauschten Telefonnummern aus. Mein negatives Ich versuchte, mir einzureden, dass Levis Mom den Vorschlag nur deswegen gemacht hatte, weil sie meinem Onkel nicht zutraute, sich um mich zu kümmern. Mein positives Ich hielt dagegen, dass sie ein netter Mensch war und sich für ihren Sohn Freunde wünschte.

Oder vielleicht hat sie ja Mitleid mit dir, sagte mein negatives Ich. Sie weiß es doch gar nicht, warf mein positives Ich ein. Sie war nicht mit den wildfremden Menschen zu vergleichen, die plötzlich auftauchten, mir eine Schulter zum Ausweinen anboten oder ein Eintopfgericht vorbeibrachten, das meine Mutter nie im Leben für mich gekocht hätte.

Onkel Adam und ich stiegen in sein Auto. Er achtete immer darauf, dass ich mich angeschnallt hatte, bevor er den Zündschlüssel drehte.

»Alles in Ordnung?« Er musterte mich kritisch.

»Ja«, sagte ich, auch wenn ich nicht wusste, was ich von dem, was eben passiert war, halten sollte. Ich mochte keine unvorhergesehenen Änderungen. Davon hatte ich in meinem Leben schon mehr gehabt, als mir lieb war.

Adam sah furchtbar traurig aus. »Deine Mutter fand es schön, dich von der Schule abzuholen.«

Ich nickte. Immer, wenn sie erwähnt wurde, war das so ziemlich die einzige Antwort, zu der ich in der Lage war.

Eine Träne rollte ihm über die Wange. »Du siehst ihr so ähnlich.«

Daran hatte ich mich bereits gewöhnt. Ich mochte den Gedanken, dass ich wie meine Mutter aussah. Ich hatte ihre großen haselnussbraunen Augen, ihr herzförmiges Gesicht und ihre welligen kastanienbraunen Haare geerbt, die im Sommer einen rötlichen Schimmer bekamen.

Aber eben auch ihr Spiegelbild – eine lebende Erinnerung an das, was wir alle verloren hatten.

Ich schloss die Augen, holte tief Luft und tröstete mich mit dem Versprechen: In einer Viertelstunde kannst du deine Mathehausaufgaben machen. In einer Viertelstunde bekommst du eine Atempause. Du musst nur die nächste Viertelstunde überstehen und dann wird alles gut.

 

Glaubst du wirklich, dass meine Mom dir aus Mitleid eine Mitfahrgelegenheit angeboten hat?

Nicht mehr. Jetzt weiß ich ja, dass deine Mom der Inbegriff von Vollkommenheit ist.

Wie die Mutter, so der Sohn.

Ach bitte.

Aber du musst zugeben, dass du mich beim Mittagessen aus reinem Mitleid zu euch an den Tisch eingeladen hast.

Stimmt absolut.

Siehst du, eigentlich hättest du jetzt lügen und sagen sollen, dass du mit mir zusammensitzen wolltest, weil du mich cooler als cool fandest.

Du willst also, dass ich lüge?

Äh, ja. Freunde belügen sich gegenseitig, um den anderen glücklich zu machen. Wusstest du das nicht?

Hab ich dir schon gesagt, dass du heute richtig süß aussiehst?

Danke, ich … Moment.

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2.

Zuerst passte es mir überhaupt nicht, als meine Eltern mir eröffneten, dass wir nach Wisconsin ziehen würden. Wieso musste ich meine Freunde und mein Leben komplett aufgeben, nur weil mein Dad befördert worden war? Warum konnten wir nicht in Santa Monica bleiben, einem Ort mit genialem Wetter und den coolsten Wellen überhaupt?

Aber dann wurde mir klar, dass ich dort noch mal neu starten konnte. Ich war immer eifersüchtig gewesen, wenn ein Neuer an unsere Schule kam. Alle Aufmerksamkeit galt ausschließlich ihm. Ihn umgab ein Geheimnis. Er war ein unbeschriebenes Blatt. Ein Umzug wäre also vielleicht gar nicht so schlecht. Ich wäre der Fremde aus einem fremden Land. Welches Mädchen konnte dem widerstehen?

Dann war ich da.

Erst hatte ich mich gefreut und war ein bisschen nervös gewesen, als mich der Schuldirektor Macallan vorstellte, denn sie war echt hübsch. Aber dann gab sie mir in etwa 2,5 Sekunden zu verstehen, dass sie nicht das geringste Interesse an mir hatte. Im Ernst, man hätte ihr ein Glas Milch in die Hand drücken können und sie wäre in weniger als einer Minute zu Eis erstarrt. So kalt war sie.

Ich fand mich also mit dem Gedanken ab, dass wir nie wieder miteinander ein Wort wechseln würden, und hielt mich an die Jungs in der Schule. Jungs waren sowieso viel entspannter als Mädchen.

Kurz vor der Mittagspause ging ich auf eine Gruppe von Jungen zu, stellte mich vor und gab mich so cool und lässig wie möglich. Aber ich bin ziemlich sicher, dass meine Verzweiflung eine Meile gegen den Wind zu spüren war. Ich konnte sofort das Alpha-Männchen des Jahrgangs ausmachen, Keith, eine wahre Bestie von Kerl. Ständig hatte er drei oder vier andere Typen um sich versammelt und alle trugen T-Shirts mit dem Logo irgendeines Wisconsin-Teams. Keith hatte einen Kapuzenpullover mit Badgers-Logo an, dazu trug er Shorts. Er war etwa ein Meter achtzig groß und überragte alle, die meisten Lehrer eingeschlossen. Dünn war er nicht, aber auch nicht dick, sondern einfach bloß groß und kräftig.

Er musterte mich, als ich auf ihn zukam, und bevor ich eine Chance hatte, mich vorzustellen, sagte er: »Was bist du denn für einer?« Ich machte ein bisschen Small Talk und fühlte mich wie bei einem Vorstellungsgespräch.

Dann beging ich einen fatalen Fehler. Ich hätte es besser wissen sollen.

Ich gab zu, dass ich ein Chicago Bears-Fan war.

Ich bin ziemlich sicher, dass ich tatsächlich jemanden fauchen gehört habe. Was soll’s, dachte ich, dann würden sie mich halt damit aufziehen, wie das bei Jungs so üblich ist. Das jedenfalls hatte ich erwartet, mir sogar erhofft. Denn wenn Jungs mit dir herumalbern, bist du schon so gut wie drin.

Doch nachdem ich mir mein Essen geholt hatte und loszog, um mir einen Platz zu suchen, ignorierten sie mich. Sie waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen, um mitzukriegen, dass da ein Neuer gottverlassen in der Gegend herumstand. Anstatt dieser geheimnisvolle Fremde zu sein, den alle kennenlernen wollten, fühlte ich mich wie ein Aussätziger oder so. Jeder hatte mir erzählt, wie wahnsinnig nett die Leute in Wisconsin wären, aber so kamen sie mir nicht vor. Ich fühlte mich eher wie ein Eindringling, der ihnen ins Gehege gekommen war. Ich hatte meinen ersten Tag erst halb überstanden und mir ging es schon richtig schlecht.

Dann erschien Macallan auf der Bildfläche.

Sie rettete mich vor der öffentlichen Demütigung, an meinem ersten Schultag alleine essen zu müssen. Von da an saß ich immer mit ihr und ihren Freundinnen zusammen.

Zuerst wusste ich nicht recht, was ich davon halten sollte, dass Macallan jetzt jeden Mittwoch nach der Schule mit zu uns kam. In der Sekunde, in der wir zu Hause waren, machte sie sich an die Hausaufgaben. Und dann lernte sie, bis ihr Dad sie abholte. Ihr Gesicht leuchtete nur auf, wenn ich Buggy and Floyd in den DVD-Player schob. Nach ein paar Wochen fingen wir an, uns ein bisschen miteinander zu unterhalten.

Sie war echt cool. Richtig, richtig cool, auch wenn sie manchmal sehr abweisend sein konnte.

An einem Mittwoch, ungefähr nach einem Monat, musste sie länger als sonst bei uns bleiben. Mom kam aus dem Supermarkt zurück und sagte: »Macallan, Süße, dein Dad hat mich eben angerufen. Bei ihm wird es heute später. Du musst also bei uns essen. Ich hoffe, du magst Gemüsepfanne.«

Macallan musterte meine Mom von unserem Platz am Esszimmertisch aus, während sie in die Küche ging und anfing, ihren Einkauf auszupacken. Ich bemühte mich, mir das Lachen zu verkneifen, als sich Macallans Gesicht in Falten legte. Sie machte das immer, wenn sie über etwas nachdachte, egal ob über meine Mom oder über Mathe. Es saß hinreißend aus.

»Hey.« Ich versuchte, Macallans Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. »Hast du Lust auf ein Computerspiel?«

»Ich will die Gliederung für meinen Englischaufsatz fertig schreiben.« Sie fing an, sich in ihrem Heft Notizen zu machen.

Ich nahm mir das zerfledderte Buch, das sie gerade las. »Miss Lulu Bett?« Ich lachte. »Du schreibst dein Autorenporträt über jemanden, der ein Buch mit dem Titel Miss Lulu Bett geschrieben hat?«

Macallan streckte ihre Hand nach dem Buch aus. »Kannst du damit bitte vorsichtig sein? Ich habe es mir aus der Bücherei ausgeliehen. Es ist selten.«

Ich überreichte ihr das Buch mit beiden Händen und einer leichten Verbeugung.

»Und nur zu deiner Information, die Autorin, Zona Gale, wurde in Wisconsin geboren und war die erste Frau, die je den Pulitzer-Preis in der Kategorie Theater gewonnen hat. Es würde dich nicht umbringen, ein bisschen mehr über die Geschichte der Gegend zu wissen, in der du jetzt lebst.«

»Ah ja.« Das war gewöhnlich meine Antwort, wenn Macallan mal wieder versuchte, mich über so ziemlich alles zu belehren. In der Schule war ich ganz gut, meine Noten waren akzeptabel, aber ein ultimativer Musterschüler wie sie war ich nicht. Macallans Blick blieb auf ihr Heft gerichtet. »Über wen willst du denn dein Porträt schreiben? Dr. Seuss?«

»Ich mag ›Grünes Ei mit Speck‹, du nicht?«

Sie zog eine Grimasse. »Manchmal weiß ich nicht, warum ich mir überhaupt noch Mühe gebe.«

Sie tat so, als ob sie weiterarbeitete, aber ich konnte erkennen, wie ihre Mundwinkel anfingen zu zucken.

Vorsichtig nahm ich mir wieder das Buch. »Vielleicht sollte ich das mal lesen. Leidet Lulu wohl an einer Schlafstörung?«

Macallan stöhnte. »Mrs Rodgers, brauchen Sie Hilfe beim Kochen?«

Mom steckte ihren Kopf durch den Türrahmen. »Danke, aber ich glaube, ich hab alles im Griff.«

Macallan stand dennoch auf und ging in die Küche. »Sind Sie sicher?«

»Na gut, wenn du willst, kannst du mir beim Gemüseschneiden helfen.« Mom sah sie lächelnd an.

Ich dachte, na super, bedeutete das jetzt etwa, dass ich auch helfen muss? Macallan war gut darin, mich wie einen Faulpelz aussehen zu lassen.

Mom holte ein paar grüne und rote Paprikaschoten, Zucchini und Pilze aus dem Einkaufsbeutel und gab Macallan ein Schneidebrett und ein Messer. Macallan ließ ihren Blick zwischen dem Messer und dem Gemüse hin und her wandern, als müsste sie eine knifflige Matheaufgabe lösen. Sie legte das Messer an die Paprikaschote, probierte es mal so, mal so. Irgendwann sah sie zu mir hoch, wahrscheinlich hoffte sie auf meine Hilfe. Als ob ich wüsste, wie man kocht! Letztes Jahr hätte ich bei meinem Versuch, in der Mikrowelle Popcorn zu machen, beinahe das ganze Haus abgefackelt. Es hatte über eine Woche lang nach verbranntem Popcorn gerochen. Seitdem war ich vorsichtshalber aus der Küche verbannt worden.

»Gibt es eine bestimmte Art, wie ich die Paprika schneiden soll?«, fragte sie Mom.

Mom machte den Mund auf und dann schien buchstäblich eine Glühbirne über ihrem Kopf aufzuleuchten. Sie stellte sich neben Macallan und zeigte ihr, wie man das Gemüse schnitt. Macallans grüne Augen folgten jedem ihrer Handgriffe aufmerksam, als würde sie dafür benotet werden.

»Danke«, sagte sie leise, als sie fertig waren. »Bei uns zu Hause wird nicht viel gekocht. Nicht mehr.« In diesem Moment kapierte ich, warum Macallan sich so zu Mom hingezogen fühlte. Es war Emily gewesen, die mir von dem Autounfall erzählt hatte – mit mir hatte Macallan über ihre Mom kaum gesprochen. Und ich wusste nicht, ob ich es ihr gegenüber erwähnen sollte. Na ja, wie sollte man sich in so einer Situation auch verhalten? Himmelkreuzdonnerwetter, wenn ich das bloß wüsste.

Obwohl ich mich schnell mit Macallan und den Mädels angefreundet hatte, hatte ich trotzdem das Gefühl, dass noch ein paar Kumpel in meinem Leben fehlten.

»Ey, was geht ab, Kalifornien?« Keith kam Anfang November nach der Stunde auf mich zu. »Wie läuft’s, Bro?« Bro sprach er allerdings wie Brah aus. Ich wusste, dass er sich über meine Sprechweise lustig machte, aber hatte er sich mal selbst gehört? Alle hier sprachen mit diesem näselnden Akzent und betonten die Vokale zu stark. Ich fand’s saukomisch. »Hab dich in Sport auf der Laufbahn beim Sprint gesehen. Du bist ziemlich schnell.«

»Danke, Mann.«

Ich überlegte, ob ich damit angeben sollte, dass ich noch schneller lief, wenn es nicht so kalt war. Auch wenn der Schnee des ersten Schneesturms des Schuljahres (schon vor Halloween) mittlerweile geschmolzen war, herrschten draußen immer noch Temperaturen unter dem Gefrierpunkt.

Ein Teil von mir hatte Keith und seine Leute bereits abgeschrieben … und trotzdem freute ich mich insgeheim ein bisschen, als Keith fortfuhr: »Na ja, vielleicht könntest du ja irgendwann mal bei uns mitspielen. Als Passempfänger oder so. Spielt ihr in La-La-Land überhaupt Football?« Er lachte dröhnend.

Ich entschied mich sofort, den Ball zurückzuspielen. »Keine Ahnung, Mann. Jemals von dem total unbedeutenden Rose Bowl gehört? Wohl eher nicht, die Badgers haben ihn ja seit Jahren nicht mehr gewonnen.«

»Autsch.« Aber Keith sah beeindruckt aus.

Ich war im männlichen Schlagabtausch ein bisschen außer Übung. Damals in Kalifornien hatten meine Freunde und ich Stunden damit verbracht, uns gegenseitig hochzunehmen, über unsere Familien herzuziehen, über die Mädchen, auf die wir standen, das ganze Zeug halt. Je gelungener die Verarsche, desto größer das Gelächter. Wir hatten daraus regelrecht eine Kunst gemacht.

»Okay, Kalifornien.« Keith nickte. »Ich schätze mal, wir sehen uns. Lass dir von diesen Tussis nicht die Haare flechten oder die Nägel lackieren. Echte Männer spielen Football.«

»Ja, absolut.« Wir machten dieses peinliche Handschlagdings, bei dem ich mir mehr denn je wie ein Mitläufer vorkam. Aber hey, wenigstens sprach er mit mir. Das war schon mal ein Anfang.

Ich wusste sofort, dass Macallan keine gute Laune hatte, als die Schule vorbei war. Mom steckte in einem Meeting fest, das länger als geplant dauerte, und deshalb mussten wir die zwanzig Minuten nach Hause laufen. Auf dem Weg wechselte sie kaum ein Wort mit mir und wollte auch keinen Zwischenstopp im Riverside Park machen. Wenn wir zu Fuß zu mir nach Hause gingen, legten wir normalerweise jedes Mal im Park eine Pause ein und alberten herum. Selbst wenn es draußen kalt war. Aber nicht an diesem Tag.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich sie irgendwann, hauptsächlich, weil das Schweigen echt unangenehm war.

Sie antwortete bloß: »Ja, nein … mir geht’s nicht gut.«

Ich sah, wie sie sich den Bauch hielt. Ich hoffte, sie würde nicht kotzen.

Als wir zu Hause waren, saß sie einfach nur da. Sie sprach nicht, sie wollte kein Fernsehen gucken, sie wollte nichts essen. Sie unternahm nicht mal den Versuch, ihre Bücher aufzuschlagen und zu lernen. Und da wusste ich, dass die Lage ernst war.

Ich spielte auf der Konsole ein paar Spiele und sie schaute mir vom Sofa aus schweigend zu. »Mann, ich sag dir …« Ich warf ihr einen Blick zu und stellte fest, dass sie verdammt schlecht aussah. Ich kam zu dem Schluss, dass es nur noch eins gab, was sie zum Lächeln bringen konnte. »Oi!«, rief ich in meinem allerbesten Cockney-Englisch. »Jetzt bleib nicht auf deinem Hintern sitzen, sondern hilf mir endlich … ein Baby zu entbinden?« Dann tat ich so, als würde ich in Ohnmacht fallen. Eine klassische Buggy-Darbietung.

Sie stand abrupt auf und ging zur Toilette.

Das war eben das Problem, wenn man mit Mädchen befreundet war. Sie konnten kompliziert sein. Hey, sollte ich jetzt erraten, was ihr fehlte? Konnte sie mir nicht irgendeinen Hinweis geben?

Nachdem ich noch ein bisschen weitergespielt hatte, fiel mir irgendwann auf, dass sie schon ganz schön lange im Badezimmer war. Igitt! Aber was, wenn sie mit dem Kopf gegen das Waschbecken geknallt war oder so? Ich wollte sie ja nicht stören, aber sie hatte tatsächlich gesagt, dass es ihr nicht so gut ging.

Vorsichtig näherte ich mich der Toilettentür. »Äh, Macallan?«

»Verschwinde!«

»Äh, brauchst du …«

»ICH HAB GESAGT, VERSCHWINDE!«

Ich war mir ziemlich sicher, dass sie irgendetwas an die Tür pfefferte. Oder gegen die Tür hämmerte. Jedenfalls wurde es laut und ganz offensichtlich war sie nicht besonders glücklich.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Meine Kumpel zu Hause hatten sich nie im Klo eingeschlossen.

Gott sei Dank kam Mom ein paar Minuten später nach Hause. Sie warf mir sofort einen fragenden Blick zu, als sie mich auf die Toilettentür starren sah.

»Mom, ich weiß nicht, was los ist. Sie hat sich dadrinnen eingesperrt. Ich glaube, sie weint. Ich schwöre, dass ich nichts getan habe.«

Moms Augen wurden groß. »Geh und spiel Computer.«

Normalerweise ritt Mom ständig darauf herum, dass ich nicht so oft zocken sollte. Ich ging zurück ins Wohnzimmer, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, kam Mom aus dem Badezimmer.

»Was hat …«

Sie schnitt mir das Wort ab. »Hör zu, du verlierst über die Sache kein Wort, weder zu Macallan noch zu sonst irgendjemandem in der Schule. Hast du mich verstanden?« Ich war es nicht gewohnt, dass sie mir gegenüber so einen strengen Ton anschlug. »Ich möchte, dass du jetzt auf dein Zimmer gehst …«

»Was?«, protestierte ich. »Aber ich hab doch gar nichts …«

Mom schnippte mit ihren Fingern. Na super. Jetzt war Mom auch noch sauer auf mich.

Sie senkte ihre Stimme. »Ich muss mit Macallans Dad ein Gespräch unter vier Augen führen, sobald er kommt. Also ab mit dir in dein Zimmer und ich will kein Wort mehr darüber hören.«

Sie verschränkte die Arme und ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb, als zu tun, was sie sagte.

Völlig verwirrt ging ich in mein Zimmer. Aber eine Sache wusste ich genau. Mädchen würde ich nie verstehen.

 

Ach so!

Was?

Endlich ist mir klar geworden, was an jenem Tag mit dir los war.

Da bist du eben gerade erst draufgekommen?

Ja, vermutlich …

Wir werden darüber nicht sprechen.

Kaum zu glauben, dass ich nie kapiert hab, dass du …

Welchen Teil von »Wir werden darüber nicht sprechen« begreifst du nicht?

Glaubst du etwa, dass ich darüber sprechen will?

Warum sprichst du dann darüber?

Äh, egal.

Wir sollten mal lieber schnell ein Männerthema diskutieren, damit du auf deiner Macho-Punkteskala wieder nach oben rutschst.

Ja. Äh, ich mag Fleisch.

Mädels.

Football.

Feuer.

Bratwürstchen.

Pediküren.

Okay, du hast mir versprochen, dass du das nie mehr erwähnen würdest. Ich hatte eine Blase, ich habe bloß …

Ausreden, nichts als Ausreden.

Du bist ein Biest.

Und deswegen liebst du mich.

Ja, weil ich einen Hang zum Masochismus habe. Und hundert Prozent ein echter Mann bin.

Hör auf zu lachen.

Ich meine das ernst – hör auf zu lachen.

Macallan, so lustig ist das nicht.

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3.

Was wäre, wenn ich mir die Haare abschneiden lassen würde?«