Cover

Ute Karin Höllrigl

Im Zeitlosen ­verwurzelt

Sinnbilder aus Natur, Traum und Dichtung

Bachmann, Domin, Rilke, Trakl

„Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet,
wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?“

Christine Lavant aus ihrem Gedicht
„Es riecht nach Schnee …“

Geleitwort

Gedichte begeistern mich seit meiner Jugend – insbesondere die von Ingeborg Bachmann, Hilde Domin, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl. In ihnen erahnte ich damals eine tiefe Wahrheit, ohne zu begreifen, was mich so in ihren Bann zog. Heute ist mir bewusst, Dichter schreiben visionär in lyrischer Sprache aus ihren Erfahrungen über ein Werden, zu dem wir als Mensch bestimmt sind. Urbilder und dieses Wandlungsgeschehen verdichten sich darin rhythmisch in Worte, die uns zuinnerst berühren. Dieser schöpferische Weg verbindet uns mit einer zeitlosen Dimension, in der wir geistig verwurzelt sind. Erst die Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie C. G. Jungs und die innere Arbeit mit Träumen lösten allerdings für mich dieses Rätsel und es wurde mir bewusst: Poesie und Träume verbinden unser Bewusstsein in phantasievollen Bildern mit dem Unbewussten und dem Urgeschehen menschlichen Entfaltens, das bewusst werden will. Dieses ist in unserer Suche nach Sinn verborgen. In Dichtung und Traum sind wir in diesem Werden oftmals Wanderer auch „auf dunklen Pfaden“, auf welchen uns ein „goldener Baum der Gnaden“ erblüht, wie Georg Trakl es so wundersam dichtet. Dichter und Träume führen uns in unsere Tiefe, vertrauensvoll durch sie hindurch und aus ihr wieder hinein in den Alltag. „Manchmal stehen wir auf, stehen wir zur Auferstehung auf, mitten am Tage“, schreibt Marie-Luise Kaschnitz in ihrem Gedicht „Auferstehung“.

Wir sehnen uns nach dieser uns immanenten Fähigkeit „aufzustehen“, aus dieser uns unbewussten Welt und diese sehnt sich nach Bewusstwerdung und Wandlung. Die Angst will sich in Vertrauen umgestalten.

Der Zeitgeist extremen Wandels und die hohen Anforderungen, die an uns heute als Individuum und Gesellschaft gestellt sind, fragen uns nach möglichen Lösungen der großen Weltkonflikte. Ich denke, dass jede und jeder Einzelne als Mitschöpferin und Mitschöpfer heute dringend gefordert ist, seinen Beitrag zum Gelingen einer neuen und besseren Weltordnung zu leisten. Dies bedeutet für uns auch eine bewusste Zuwendung zu unserer Innenwelt, die zwei Drittel unseres Lebens ausmacht. In ihr liegen einerseits unsere Schatten, die verwandelt und unsere Gaben, die verwirklicht werden wollen. Diese Verwandlung des Destruktiven in uns und die Erkenntnis unserer Talente sind Voraussetzungen für eine Welt, die stark genug ist, dem Terror im Außen zu begegnen. Andererseits lässt uns diese Beziehung von innen erfüllter leben und vertieft unser Lebendigsein, nach dem wir uns sehnen. Dieser Weg steter Bewusstseinserweiterung bewirkt in uns die Sinnerfahrung – so wir diesen auch mit anderen Menschen teilen.

In dem atemlosen Wandel unserer Zeit erachte ich es als wesentlich, dass wir uns in dem Rastlosen wieder auf das Beständige und Zeitlose besinnen. Das Zeitlose schöpft sich aus der Kraft verwandelter Schatten und dem Schöpfen uns innewohnender Schönheit. Die Zeit fragt uns nach positiven Visionen und dem Dialog in Auseinandersetzungen ohne Schuldzuweisung. Mit Ihnen gemeinsam möchte ich daran erinnern, wer das Zeitlose für uns bewahrt. Aus der Schule der Tiefenpsychologie des Arztes C. G. Jungs kommend – werde ich versuchen, seine Forschungen mit den Erfahrungen, Visionen und den Utopien der Dichter zu verbinden und einen möglichen Weg des menschlichen Entfaltens für die Moderne zu besinnen. Einen Weg, in dem der Einzelne sich seiner Begabung bewusst wird und sie in den Dienst eines Gemeinsamen stellt. Für dieses gemeinsame Besinnen brauchen wir die Erfahrungen unserer großen Dichter und Denker. Wie die Visionen unserer Dichterin Ingeborg Bachmann: „Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren“.

Die wesentliche uns eigene Begabung ist die „Wandlungsfähigkeit des Destruktiven in einen achtsamen Umgang mit uns selbst und der Welt“. Zu Letzterem zählt die Würde eines jeden einzelnen Menschen, und wir sind aufgefordert, die Würde auch uns selbst zuzusprechen. Die Würde schöpft sich vornehmlich aus dem Innen, wo sie eigentlich beheimatet ist. Sie kreiert sich aus dem liebevollen Blick auf uns selbst, dass „ES uns gibt“ als „unvollkommen und vollkommene Geschöpfe“. In diesem Spannungsfeld eines „doppelten Ursprungs“ sind wir gefragt, uns dem „Prinzip Menschlichkeit“ immer mehr anzunähern, zu dem wir zutiefst bestimmt sind. Innere Schönheit versuchen zu verwirklichen und in die Welt zu senden, ist unser lebenslanger Auftrag. Kann nicht aus dem Versuch dieser Achtsamkeit des Herzens eine gerechtere und friedvolle Weltordnung erwachsen?

Nicht zuletzt schreibe ich dieses Buch wegen eines großen Traums mit der Dichterin Ingeborg Bachmann. Seit über dreißig Jahren lässt mich dieser Traum nicht mehr los. Aus der Schule Jungs kommend ist uns die zentrale Aufgabe gestellt, unbewusste Bestimmungen und Aufträge aus Träumen zu verwirklichen. Vielleicht ist diese Erkenntnis, dass das Unbewusste bewusst werden will, sogar die zentralste Entdeckung des Seelenforschers. Den „Königsweg“ zur Erkenntnis unbewusster Möglichkeiten bildet der Traum im Individuellen – die Kunst im Kollektiven. Den Traum mit Bachmann, der mich ausrufen ließ „Sie lebt, es ist kein Traum!“, und Gedanken dazu werde ich im Traumkapitel (siehe Seite 31) später näher ausführen. Gleichsam möchte ich versuchen, den tiefenpsychologischen Erkenntnisweg, den Jung erforschte, mit den Visionen unserer Dichter vertiefend kollektiv zu untermauern.

Zur Gedankenwelt C. G. Jungs

Die Sinnfrage in der Gedankenwelt

„Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewussten. Alles, was im Unbewussten liegt, will Ereignis werden, und auch die Persönlichkeit will sich aus ihren unbewussten Bedingungen entfalten und sich als Ganzheit erleben“, schreibt C. G. Jung im Prolog zu seinen Erinnerungen, die der siebenundachtzigjährig verfasste.

Der Begriff „Bewusstwerdung“ steht für Jung im Zentrum seiner Psychologie und kreiert den Sinn des Lebens. Dem geistigen Trieb des Menschen bewusst zu werden, erkannte er eine Wirksamkeit per se zu, die das Herzstück seiner psychologischen Forschungen darstellt. Jung erachtete die Krise unserer Zeit als eine Sinnkrise, die aus einer Orientierungslosigkeit des modernen Menschen nach innen entstand. Der Mensch hatte den Bezug zu der Urerfahrung verloren, Mitschöpferin und Mitschöpfer der Welt zu sein, die ihm Sinn verlieh. Diese Zugehörigkeit war zunächst in die Natur, Mythen und Religionen projiziert. So fehlte dem Menschen damals die Erfahrung eines Verbundenseins mit seiner inneren Welt. In ihr ist unser Vertrauen, Geborgen- und Unverlorensein beheimatet.

Nur dieses In-uns-selbst-geführt-und-aufgehoben-Sein kann unsere Ängste verwandeln oder besiegen. Jungs großes Interesse galt daher vor allem, für den modernen Menschen einen Weg in seine Innenwelt zu finden, der ihn zeitgemäß wieder verwurzeln kann. Jung erforschte diesen neuen Weg nach Innen als „die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten“ und erkannte, dass das Unbewusste selbst ein Prozess ist und die bewusste Beziehung unsere eigentliche Entwicklung und Wandlung bewirkt.

Auf besagter Suche erforschte Jung eine Tiefenschicht des Unbewussten, die von Sigmund Freud zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfasst worden war. ­Diese Seelenschicht ist geprägt von weltumspannenden Urerfahrungen der Menschheit, Jung nannte sie das „kollektive Unbewusste“ und deren Energiezentren bezeichnete er als „Archetypen“. Archetypen sind Bahnen oder Fassungen wie Flussbetten, aus den Urerfahrungen der Menschheit, in die unsere persönlichen und jene unserer Ahnen einfließen. Erfahrungen einer Auseinandersetzung zwischen Schatten und Licht, Krieg und Frieden, Liebe und Tod bilden sich in der Kunst, in Märchen, Mythen und Religionen in einem dramatischen und heilenden Geschehen ab. Archetypische Figuren zeigen sich in Träumen und in der Kunst. Andere symbolische Bilder bedrohen uns angsterregend, wie der Drache oder die Hexe, der dunkle Bruder oder die Stiefschwestern im Märchen. Im Sinnbild des Helden, der Heldin sowie des Fremden ist uns ein erlösender Weg in unsere Würde als Mensch vorgezeichnet.

Der Traum ist eingebettet in archetypisches Geschehen, das uns über die großen Entwicklungsstufen orientiert. Er bildet im individuellen Prozess den Königsweg zum unbewussten Weg und seinem Reichtum. Erscheint beispielsweise im Traum das Symbol eines „Göttlichen Kindes“, ist der Träumende bereit zum Eintritt in oder zu einer neuen Stufe eines persönlichen Weges der Selbstverwirklichung. Andere Formen desselben sind der Kreis, das Quadrat, das tiefgrünblaue Wasser in runder Form. Jung erkannte in diesen Sinnbildern, dass wir ewig Werdende sind, sein dürfen und unser Leben sich im Dienste dieser Verwandlung sinnerfüllend gestaltet. Das gestaltende Zentrum nannte er das „Selbst“. Jung setzt es dem Samenkorn eines Baumes gleich und benennt diesen in der Psyche den „philosophischen Baum“. Das „Selbst“ ordnet in uns ein neues befreiendes Wachsen an, in welches Licht und Schattenseiten einbezogen werden und es ist getragen von dem Blick aus „einer Achtsamkeit des Herzens“. Dieses Wachsen bewegt sich zwischen den Gegensätzen und erlöst uns aus dem beurteilenden, schuldzuweisenden, bestrafenden Prozess in einen erkennenden, verstehenden, verändernden und mitfühlenden, versöhnenden Weg.

C. G. Jung erforschte diesen Entfaltungsweg und schrieb darüber ausführlich in seinem Werk „Mysterium Coniunctionis“. Er erkannte darin, dass das Unbewusste autonom ist und das Selbst unser Bewusstsein sinnbezogen in eine heilende Ganzheit ergänzt. Auf diesem Weg werden wir immer mehr zu jenem Menschen, als der wir gemäß dem griechischen Ideal „Werde, der du bist“ gefragt sind. Wir wachsen darin in eine größere Selbstbestimmtheit, Festigkeit, Konfliktfähigkeit und innere Freiheit hinein und werden Schritt für Schritt allmählich zu Liebenden. Die Dichtung spricht uns visionär ebenso diese Begabung zu, „Wandernde“ zwischen verschiedenen Welten zu sein, und verspricht uns auch auf „dunklen Pfaden“ einen „goldenen Baum der Gnaden“.

Visionen in Dichtung und Traum

Über die Sprache als Vermittlerin zur Wirklichkeit und zur Wahrheit habe ich die schon genannten vier Dichter ausgewählt, die unter anderen mein Leben wesentlich begleitet haben: Ingeborg Bachmann, Hilde Domin, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl.

Diese Künstler haben uns ihre visionäre Schau geschenkt und auch persönlich zutiefst durchlitten. Wir sind nun gefragt, dieses Geschenk ihrer Werke zu erkennen und mit unserem Werden dankend zu beantworten.