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Titelseite

Inhalt

Kapitel 1 – Philipp!« Philipp Pelzer …

Kapitel 2 – Als Anna aus …

Kapitel 3 – In den Tagen …

Kapitel 4 – Stefans Gehilfe, Josef, …

Kapitel 5 – Professor Happe registrierte …

Kapitel 6 – Wochenlang setzte Anna …

Kapitel 7 – Einen Monat nach …

Kapitel 8 – Anna hatte sich …

Kapitel 9 – Jakob schien alles …

Kapitel 10 – Um die Jahreswende …

Kapitel 11 – Das Prüfungskomitee bestand …

Kapitel 12 – Fast ein Jahr …

Kapitel 13 – Chaos war für …

Kapitel 14 – An der Nebenpforte …

Kapitel 15 – Schon den zweiten …

Kapitel 16 – Ute war reichlich …

Kapitel 17 – Dr. Gremillon war …

Kapitel 18 – Auf der Bühne …

Kapitel 19 – Herzlich war der …

Kapitel 20 – Ein bisschen übergangen …

Kapitel 21 – Anna fand am …

Kapitel 22 – Ganz früh, als …

Kapitel 23 – Der Friede bei …

Kapitel 24 – Stefan arbeitete allein …

Kapitel 25 – Anna war in …

Kapitel 26 – Direktor Fabian erhob …

Kapitel 27 – Das Einzige, was …

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Impressum

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Philipp!«

Philipp Pelzer drehte sich ohne Eile um und sah zu dem blauen Pick-up, der mit laufendem Motor im Gang des Parkhauses stand. Er war nicht gerade begeistert, seine Mutter am Steuer des Lieferwagens zu sehen.

Ute Pelzer winkte ihm energisch und rief: »Mach schon! Steig ein!«

Philipp fertigte schnell seine letzte Kundin ab: »Zwei Euro fünfzig, die Firma dankt!«, leierte er einen seiner Sprüche runter. Dann rannte er zum Wagen und auf die Fahrerseite zu seiner Mutter.

»Ich hab erst das Geld für zwei Fahrstunden zusammen«, maulte er und sah sie trotzig an.

Philipp war fast achtzehn Jahre alt und in der Schule eher unauffällig. Vor Kurzem hatte er eine Leidenschaft entdeckt, die die Familie mit großer Gelassenheit über sich ergehen ließ: Autofahren. Philipp hatte beschlossen, so schnell wie möglich seinen Führerschein zu machen. Denn erst mit dem in der Tasche, dachte er, sei er ein echter Mann. Den Antrag und das nötige Foto hatte er schon vorbereitet, aber die nötigen Fahrstunden fehlten noch.

Jetzt stand er vor dem blauen Lieferwagen und war gekränkt, weil ihm seine Mutter die Aussicht auf eine private Fahrstunde verdorben hatte. Aber es kam noch schlimmer.

Ute Pelzer zeigte auf die Einfahrt des Parkhauses, wobei die bunten Armreifen an ihrem Arm klimperten, und sagte: »Dein selbst erfundener Job hier gefällt mir überhaupt nicht!«

Immer, wenn Ute ernsthaft böse wurde, betonte sie jede einzelne Silbe. Das hatte sie von ihrer Mutter geerbt. »Wenn sie dich erwischen, bekommst du deinen Führerschein nie!«

Damit hatte sie recht. Philipp fuhr im Parkhaus die Wagen von Kunden, die in der Dunkelheit und zwischen den Betonwänden der engen Rampen ins Schwitzen kamen, an die freien Stellplätze.

»Da bekomme ich jede Menge Trinkgeld und auch noch Fahrpraxis«, sagte er.

»Aber ohne Führerschein«, sagte Ute. »Und jetzt rein mit dir! Anna wartet schon!«

Philipp änderte seine Taktik und versuchte es mit Erpressung. »Nur, wenn du mich fahren lässt.«

Jetzt wurde seine Mutter richtig böse. »Mach erst deinen Führerschein! Und wenn ich dann den Wagen nicht brauche, kannst du ihn haben. Vorher auf gar keinen Fall! Und damit das klar ist: Du wirst den Pick-up auch nicht heimlich fahren, verstanden!«

Schmollend stieg Philipp ein: »Papa wollte doch Anna abholen.«

»Schnall dich an! Papa sitzt in der Dienststelle des Landesdenkmalpflegers fest! Sonst noch Fragen?«

Jetzt war auch Philipp sauer. Kurz angebunden antwortete er: »Nein.«

Die Fahrt verlief in finsterem Schweigen. Ute, die Realistin in der Familie, kochte innerlich vor Wut über ihren Sohn.

Kaum zu fassen! Keine Ahnung, wo er das herhat, dachte sie. Von Stefan bestimmt.

Stefan Pelzer … Vor knapp 20 Jahren hatte sie ihn auf der Kunstschule kennengelernt und bald darauf geheiratet. Und sie hatte es bis heute nicht bereut. Sie lächelte ein wenig in sich hinein und dachte an den Anfang ihrer Ehe.

Nach der Hochzeit hatte Ute ihre Begabungen richtig entfaltet. Sie töpferte und sie schweißte Eisenschrott zu modernen Skulpturen zusammen. Das Kunsthandwerk machte sie glücklich und Stefan bewunderte ihre Arbeit. Dann wurde die Künstlerin Mutter: Erst kam Philipp und fünf Jahre später folgte Anna. Eine ganze Weile sagten Stefan und Ute zueinander »Papi« und »Mami«, aber das gab sich dann.

Und wegen Anna hatten sie auch ihr erstes Zerwürfnis. Nachdem Ute auch für die Kleine alle Sachen für den ersten Schultag gekauft hatte, hatte sie ihren Stefan angesehen und gesagt: »Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, aber das Geld reicht hinten und vorne nicht.«

Er hatte sie angelächelt und seinen Lieblingsspruch gesagt: »Wird schon reichen. Es hat immer gereicht. Mehr als ein Kotelett kann keiner essen.«

Sie hatte tagelang gegrübelt, wie sie ihren weltfremden Mann wachrütteln konnte, und dann war sie auf die Idee gekommen, selbst etwas zu tun.

Die Idee, die dann schließlich das Leben der Familie veränderte und die finanzielle Lage deutlich besserte, kam ihr eines Nachts, kurz nach dem Tod ihrer Mutter.

Sie war aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte ihren Mann wachgerüttelt und gefragt: »Weißt du, was der Blumenschmuck auf Omas Sarg und der Kranz gekostet haben?«

»Wenn du so fragst, war er bestimmt teuer«, brummelte Stefan schläfrig.

»So meine ich das nicht! Daran ist was zu verdienen! Verstehst du das?«

»An Beerdigungen?« Jetzt war Stefan entsetzt und mit einem Schlag hellwach.

»Zum Beispiel. Und an Geburten und Taufen und Geburtstagen und Konfirmationen …«

Stefan war auch nicht auf den Kopf gefallen. Er hatte Utes Idee begriffen und dachte selbst weiter: »Verlobungen, Hochzeiten … Und die Leute kaufen ja auch sonst zu jeder Gelegenheit Blumen. Glaubst du denn, dass Omas Geld als Startkapital ausreicht?«

»Leicht«, sagte Ute und bei dem Gedanken, wie lange ihre Mutter daran gespart haben mochte, kamen ihr die Tränen.

Das Blumengeschäft, das ihnen nach langer Suche in der ganzen Stadt dann schließlich von einem Makler vermittelt worden war, mauserte sich unter Utes tatkräftiger Leitung tatsächlich bald zu einem gesunden Unternehmen und mit der Familie ging es finanziell aufwärts.

Ja, und ausgerechnet sie musste einen Sohn haben, der den Realitäten des Lebens völlig ahnungslos gegenüberstand.

Ute seufzte, als sie vor der Ballettschule hielt und nun ihre Tochter auf sich zukommen sah. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie grazil Anna auf den Pick-up zuschritt.

Als Stefan Pelzer spät am Abend von seiner Dienststelle nach Hause kam, wollte er sofort in Annas Zimmer gehen, um den allabendlichen Gutenachtkuss einzuheimsen.

Er hatte schon die Hand an der Klinke, da rief Ute: »Sie schläft schon.«

Stefan zögerte. Er war runde 40 Jahre alt, trug einen erstklassig gebürsteten Schnurrbart und war von Beruf Restaurator. Er liebte seinen Beruf und konnte sich bei der vielfältigen und abwechslungsreichen Arbeit entfalten. Wenn er etwas reparierte, das im Laufe der Jahre und Jahrhunderte Schaden erlitten hatte, war er Maler, Bildhauer, Stuckateur, Maurer, Tischler oder Vergolder, je nach Auftrag. Und er war nicht nur irgendein Restaurator, sondern einer mit einem guten Auge, Fingerspitzengefühl und Fantasie. Deshalb sagte der Oberlandesdenkmalpfleger hin und wieder: »Sie sind mein bestes Pferd im Stall«. Denn wenn Stefan Pelzer Denkmäler, Reliefs, Skulpturen, Ornamente und Bemalungen reparierte, dann war auch auf den zweiten und dritten Blick nichts von seiner Arbeit zu sehen.

Stefan legte ein Ohr an die Tür zum Zimmer seiner Tochter. Was er hörte, machte ihn froh, denn er war einer jener Väter, die unbelehrbar daran glaubten, dass Töchter ohne väterliche Gutenachtküsse nicht gut schlafen. Auch wenn sie schon dreizehn waren.

Anna schlief jedenfalls noch nicht. Sie hatte einen kräftigen Schluckauf, was ihm leidtat. So schlich er ins Zimmer und fragte leise: »Du schläfst noch nicht?«

»Hicks!«, antwortete sie. »Ich hab zu viel Spaghetti gegessen.«

Er grinste und setzte sich auf den Bettrand. »Sind denn Nudeln für eine angehende Primaballerina die richtige Nahrung? Ich denke, du wolltest bloß von Salat und Obst leben, Anna Pelzer.«

»Hicks, Papa, manchmal bist du richtig albern. Erzähl mal, was du heute gemacht hast. Wie war’s denn?«

Es tat ihm gut, dass sie sich um ihn Gedanken machte, dass sie Interesse an ihm zeigte. Aber sollte er ihr mit Fachbegriffen erklären, dass er mit der Pinzette stundenlang fünf verschiedene Farb- und Schmutzschichten vom Holz einer dreihundertjährigen Madonnenstatue abgetragen hatte, um die ursprüngliche Tönung freizulegen? Das langweilte sie sicher. Also sagte er nur: »Manche Tage sind ganz unbedeutend. Ich hab nur geschwatzt und bin zu gar nichts gekommen.«

Sie schien sich mit dieser Antwort abzufinden und kam auf ihre eigenen Probleme zu sprechen: »Du, hicks, Frau Breuer glaubt, dass ich eitel und ehrgeizig bin und unbedingt die Hauptrolle in dem neuen Ballett tanzen will. Hicks. Wie findest du das?«

»›Frau Breuer glaubt‹ …, auf dich kommt es an«, tadelte er. »Willst du oder willst du nicht? Und was ist das überhaupt für ein Ballett?«

»Die Puppenfee, eine Ballett-Pantomime in einem Akt. Für Weihnachten. Und Frau Breuer hat gesagt, dass ich es könnte und dass meine Linie wundervoll sei. Sie meint, ich hätte das Zeug zur klassischen Tänzerin.«

Stefan war in diesem Moment sehr stolz auf seine Tochter und musste sich selbst bremsen, um das nicht zu zeigen. Deshalb fragte er nur: »Und wie beurteilst du deine Leistungen?«

»Ich denke, Elke ist besser – ihr Adagio bestimmt.«

»Ihr was?« Stefan wusste zwar, wie seine Tochter beim Pas de bourrée dessus, dessous oder beim Jeté en tournant par terre die Füße setzte und die Arme hielt, aber ein Adagio war ihm neu.

»Der weibliche Charme im Pas de deux.« Ihre Stimme klang belehrend und altklug.

»Also, Charme hast du auch!« Stefan war sich seines Urteils hundertprozentig sicher. Für ihn war seine Tochter die Liebenswürdigkeit in Person.

Anna rückte nah an ihn heran und überlegte lange, ehe sie fragte: »Meinst du, dass ich über Nacht, hicks, ehrgeizig werden kann?«

»Über Nacht? Nein, sicher nicht. Aber ich würde mich freuen, wenn du Erfolg hättest.«

Etwas Ehrgeiz machte sich bei Anna nun doch bemerkbar. »Papa – du siehst doch zu, wenn es so weit ist, oder?«

»Klar!«, antwortete er, dankbar, dass sie ihn dabeihaben wollte.

Anna nutzte die Chance, weil sie merkte, dass ihr Vater ganz hingerissen war: »Und morgen nach der Probe holst du mich ab! Hicks! Diesmal aber wirklich.«

»Ich versuche es«, sagte er vorsichtig, weil er ihr eine mögliche Enttäuschung ersparen wollte. »In meinem Beruf kann ich nicht sofort alles aus der Hand fallen lassen, wenn es mir passt.«

»Hicks!«, sagte Anna diplomatisch.

Er gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn und stand auf. »Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Sieben Schluck und der Schluckauf ist weg.«

Anna schüttelte den Kopf. »Wer zu viel isst, muss eben leiden.«

»Dann versuch, eine halbe Minute lang die Luft anzuhalten – dann geht er vielleicht auch weg.« Und im Türrahmen stehend sagte er noch: »Gute Nacht, Anna Pelzer.«

Stefan war mit dem Tagesausklang hochzufrieden. Seine Tochter, was für ein Mädchen! Eine Tänzerin, eine Primaballerina vielleicht sogar! Das hatte keiner vorausgesehen an dem Nachmittag, an dem sie alle im Garten von Utes Mutter gesessen hatten. Anna und Philipp waren durch den Garten getollt, und plötzlich hatte Oma gesagt: »Anna latscht richtig! Ihr müsst mal etwas für sie tun.«

Besorgt hatte Stefan auf die Beine von Anna gesehen und erleichtert gesagt: »Plattfüße hat sie aber nicht.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.« Oma hatte tief Luft geholt und erklärt: »Das Mädel läuft nicht gra-zi-ös!« Da war jede Silbe betont – Oma meinte es also sehr ernst: »In meiner Jugend nahmen Mädchen Ballettstunden! Das war gut für ihren Gang und für ihre Haltung!«

Stefan hatte das Gespräch schnell vergessen. Aber Ute hatte sich nach Ballettschulen und nach den Preisen für Unterricht, Spitzentanzschuhe und Trainingskleidung erkundigt. Denn natürlich wünschte sie sich eine graziöse Anna, immerhin war Ute die Tochter ihrer Mutter.

Unter dem Strich stand dann aber eine Summe, die vom Familienetat nicht verkraftet wurde. Ute hatte das ihrem Stefan schonend mitgeteilt, aber seine Antwort hatte genau am Problem vorbeigezielt: »Dann soll Oma das doch bezahlen. Sie hat dich ja auch auf die Idee gebracht.«

Ute hatte daraufhin nur ein einziges Wort gesagt: »Ach!«

Jetzt hatte Stefan geahnt, dass er ihr aus irgendeinem Grund in diesem Fall nicht gewachsen war, und hatte eine Erklärung verlangt: »Was heißt ›Ach‹?«

»Das heißt, dir macht es also nichts aus, wenn deine Tochter wie ein Trampel läuft?«, hatte Ute hinterhältig gefragt.

»Also – mir ist noch nie aufgefallen, dass Anna ›latscht‹, wie Oma sagt. Anna läuft ganz normal, nicht anders als ich.«

Genau darauf hatte Ute gewartet. Jetzt spielte sie ihren Trumpf aus: »Ja, genau das ist es ja. Du stakst! Damals auf der Kunstschule haben wir Mädchen dich hinter deinem Rücken immer ›Schlenkerbein‹ genannt.«

Nach diesem Streit hatte Stefan eine Zeit lang seine Denkmäler sehr aufgebracht und unwirsch restauriert, denn vorher hatte er nichts vom »Schlenkerbein« gewusst. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, machte er vorsichtig Testschritte und setzte seine Füße ganz bewusst auf. Er probte seinen Gang vor dem Spiegel und fühlte sich für alle Zukunft aus dem Tritt gebracht. Außerdem studierte er unauffällig die Beine, Füße und Schritte seiner Anna. Er beobachtete ihr Laufen, Rennen und Hopsen und er kam zu dem Schluss: Wozu Ballett?

Immerhin war das Ganze außerdem noch ein finanzielles Problem. Dann aber war im Juli die Oma gestorben, ein Ereignis, das den Sommer überschattet hatte. Ute hatte viel geweint, und dass Oma ihnen eine Erbschaft hinterlassen hatte, mit der aus der latschenden Anna eine graziös schreitende junge Dame werden konnte, hatte ihr den Verlust auch nicht leichter gemacht.

Und dann hatte Ute eines Nachts die Idee mit dem Blumengeschäft gehabt. Seitdem ging es ihnen gut und Anna wurde Schülerin in der kleinen, aber feinen Ballettschule von Frau Breuer.

Der Austausch von Gutenachtwünschen mit Philipp lief rauer ab als der mit Anna. »Kasernenmäßig«, sagte Philipp immer. Ute hatte das schon bemängelt: »Der Junge braucht auch mal eine Umarmung vom Vater.«

Stefan hielt sein Familienleben für intakt und sagte zu dieser Kritik nur: »Soll ich einen Achtzehnjährigen knutschen? Dafür hat er dich.«

Und weil er meinte, dass ein markiger Vater Vorbild genug für einen Sohn sei, machte er auch diesen Abend nur zackig Philipps Tür auf, steckte kurz den Kopf ins Zimmer und rief: »Gute Nacht – und Licht aus!«

Einen Teil seiner Einkünfte bestritt Philipp aus Dienstleistungen für das Blumengeschäft seiner Mutter, indem er Sträuße, Gebinde und Kränze zu den jeweiligen Kunden brachte. Diese einträgliche Arbeit hatte aber einen Nachteil. Da Philipp noch keinen Führerschein hatte, musste er für den Pick-up immer einen Fahrer engagieren – Andreas. Andreas war neunzehn und ein guter Freund. Und: Er hatte einen Führerschein.

Heute Nachmittag packten die beiden Jungen drei Kränze auf den Wagen, dann flogen im wahrsten Sinne des Wortes sechs eingetopfte Bäumchen für die Aussegnungskapelle auf die Ladefläche und schließlich landete der Sargschmuck wie ein Fallschirm neben den breiten Schleifen der Trauerkränze.

Als Philipp die Seitenwände des Lieferwagens hochklappte und mit den Haken sicherte, kam Ute aus dem Laden und fragte Andreas: »Du fährst, ist das klar?«

»Klar, Frau Pelzer«, beeilte sich Andreas zu antworten.

»Hast du gehört, Philipp?« Sie wandte sich an ihren Sohn.

Der blickte zu Boden und grummelte etwas Unverständliches.

»Und fahrt bitte bei der Ballettschule vorbei und holt Anna ab. Papa schafft’s nicht. Sie soll sich ihren Schal richtig umbinden.«

»Ich weiß Bescheid, ich kenn die Welt«, spöttelte Philipp. »Sonst niest sie vielleicht noch, und Papa behauptet dann, wir hätten ihr eine Lungenentzündung an den Hals gewünscht.«

Um dem Streit, der nach dieser Bemerkung in der Luft lag, aus dem Weg zu gehen, setzte sich Andreas schnell hinter das Steuer und startete den Motor. Philipp kletterte auf den Beifahrersitz, kurbelte das Fenster herunter und hängte lässig den Ellenbogen heraus. Andreas fuhr an.

»Vertauscht nicht die Karten an den Sträußen«, rief Ute hinterher. »Und wenn ihr nachher Hunger habt, zu Hause ist genug im Kühlschrank.«

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Als Anna aus der Tür trat, sah sie den blauen Lieferwagen schon vor dem Haus der Ballettschule stehen. Sie seufzte: »Wie immer! Papa kann nicht!«

Philipp stieg mit einer Körperhaltung aus dem Wagen, die Außenstehenden eindeutig signalisierte, dass jetzt der Boss kam. »Genau. Aber wie ich ihn kenne, hat er dir das auch nicht versprochen.«

Andreas rutschte für den kurzen Schwatz hinüber auf die Beifahrerseite und zupfte Annas eingedrehte Korkenzieherlocken lang. »Wer hat dir denn die Frisur eingeredet?«

»Frau Breuer«, gab Anna kurz zurück.

»Die ist lustig.«

»Hört mal auf mit dem Kinderkram«, sagte Philipp. »Wir fahren jetzt.« Er lief um den Wagen herum, zog den Startschlüssel ab und hob ihn triumphierend hoch. »Und ich fahre!«

Anna dachte, sich verhört zu haben: »Was? Das geht doch gar nicht!«

»Du weißt, dass ich fahren kann.«

Anna versuchte es mit Vernunft: »Weiß ich – aber nicht auf der Straße!«

»Was willst du«, schlug sich Andreas auf Philipps Seite: »Fahren kann er und den Schein bekommt er doch sowieso bald.«

»Dann macht das ohne mich«, rief Anna. »Ich nehme den Bus.«

»Benimm dich nicht so zickig!«, fuhr Philipp seine Schwester an: »Los, steig ein!«

Anna schien auf dem Bürgersteig angewachsen zu sein. »Kommst du mit, wenn ich fahre?«, fragte Andreas.

Philipp ließ die Autoschlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln. »Andreas. Ich fahre und du bekommst dafür das Geld für die heutige Tour, okay?«

»Sag bloß, das machst du?« Anna war entsetzt.

Andreas hob die Schultern. »Warum nicht? Ist doch ein super Angebot.«

»Dann wäre das ja geklärt«, sagte Philipp und startete den Wagen. Der Gang war eingelegt und er vergaß, die Kupplung zu treten. Der Pick-up machte einen Satz nach vorn und die Bäumchen fielen um wie Dominosteine.

»Mamma mia«, schimpfte Anna und kletterte auf die Ladefläche, um die Pflanzen zu retten. »Das darf doch nicht wahr sein.«

Jetzt riskierte Philipp einen Start, der nach Kavalieren benannt wurde, die keine sind: Die Hinterreifen drehten durch und hinterließen schwarze Streifen auf der Fahrbahn. Anna konnte sich nicht halten. Sie kippte nach hinten über, konnte gerade noch das Gestänge greifen, trat dabei aber genau in den sorgsam gesteckten Sargschmuck hinein. Die Blumen, etwa hundert, waren zerdrückt.

»Langsam!«, schrie sie. »Hier geht doch alles kaputt!«

Andreas schaute aus dem kleinen Rückfenster des Fahrerhauses, sah amüsiert die Bescherung und mahnte Philipp lachend: »Nimm mal Gas weg. Deine Schwester kann sich kaum halten. Gleich liegt sie in den Blumen.«

Philipp hörte gar nicht zu. Das Gefühl, ein Auto richtig auszufahren, riss ihn mit. Die Geschwindigkeit und das Gefühl, nicht nur im Parkhaus auf Schleichfahrt zu gehen, löschte bei ihm jede andere Überlegung aus. Es gab nur noch ihn und das Fahrzeug, das immer schneller wurde.

Er bog in die kurvenreiche Straße zum Westfriedhof ein. Durch das offene Seitenfenster blies ihm kühl der Fahrtwind um die Ohren. Er kniff die Augen zusammen und nahm alle Kurven flott auf der Mittellinie.

Anna hielt die Bäumchen fest. Doch dann bekam sie Angst. Sie hangelte sich nach vorn und schlug mit der Faust auf das Dach der Fahrerkabine. Das amüsierte die beiden Jungs köstlich.

»Idioten!«, rief Anna gegen den Fahrtwind und trommelte nochmals auf das Dach.

Philipp beschleunigte den Lieferwagen noch mehr.

Der Auspuff röhrte, der Pritschenaufbau klapperte, der Wind pfiff, das Fahrzeug wurde schneller. Philipp hielt jetzt das Steuerrad krampfhaft umklammert und starrte auf den weißen durchgehenden Strich auf der Straßenmitte. Er schnitt die Kurven und berührte dabei rechts mehrmals den Fahrbahnrand.

Andreas hielt sich am Armaturenbrett fest und schrie: »Mach langsam, Philipp, brems ab. Verdammt.«

Philipp reagierte nicht. Er merkte, dass er den Wagen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er wollte bremsen und gleichzeitig herunterschalten, war aber unsicher in der Wahl des richtigen Pedals. Für einen Moment blickte er nach unten zu den Füßen und ließ dabei das Lenkrad mit einer Hand los.

Abermals gerieten die Vorderräder an den Straßenrand. Der Aufprall schlug Philipp das Steuer aus der schweißnassen Hand und lenkte den schweren Pick-up mit voller Geschwindigkeit in eine Schneise und auf einen Stapel Baumstämme zu. In rasendem Lauf prallte das linke Vorderrad auf den Holzstoß. Die Karosserie wurde hochgerissen, die ganze linke Wagenseite hob ab, neigte sich um 45 Grad zur Seite. Das linke Hinterrad drehte wild durch.

Zweimal, dreimal überschlug sich das Fahrzeug laut krachend über die rechte Seite und wühlte den weichen Boden der Lichtung auf. Die Windschutzscheibe zerbarst, sprang heraus, Scheinwerferglas zersplitterte, der linke Vorderreifen platzte, Moosfetzen und Grasbüschel wurden in die Luft geschleudert. Die Stoßdämpfer stöhnten dumpf, als das Wrack auf seinen vier Rädern tief federte und schließlich schief stehen blieb. Der Motor hatte sich selbst abgewürgt, nur der rechte Blinker leuchtete in monotonem Rhythmus auf, als wäre gar nichts geschehen.

Es herrschte völlige Stille. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu singen.

Andreas war beim Überschlag aus der Fahrerkabine geschleudert worden. Er lag fünf Meter vom Wagen entfernt auf dem Boden. Sein Gesicht sah schlimm aus, den rechten Arm konnte er nicht bewegen. Aber er überwand den Schock schnell: Mühsam richtete er sich auf und blickte fassungslos um sich. Ihm wurde elend, als er begriff, was gerade geschehen war.

»Philipp!«, schrie er und stolperte auf das blaue Wrack zu. »Philipp, wo bist du denn?!«

Als er keine Antwort erhielt, übermannte ihn die Hilflosigkeit. So verzweifelt und allein hatte er sich noch nie in seinem Leben gefühlt. Das gleichmäßige Ticken des Blinkers stahl sich in sein Bewusstsein. Wie ferngesteuert griff er ins Fahrerhaus und zog den Schlüssel aus dem Schloss – und da entdeckte er Philipp.

Er lag auf dem Boden der Kabine und starrte blicklos geradeaus.

»Bist du in Ordnung? Warum antwortest du nicht?«, fragte Andreas ganz leise.

Philipp schwieg. Er musste erst noch zu sich kommen. Der elenden Angst im Augenblick des Unfalls folgte Erleichterung. Langsam konnte er auch wieder klar denken. Und dann traf ihn die Erinnerung wie ein Schlag: Er richtete sich abrupt auf und fragte mit verzweifeltem Mut: »Ist Anna bei dir?«

Andreas konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. An Anna hatte er bis jetzt nicht gedacht.

Völlig außer sich und zitternd hangelte Philipp sich am Steuerrad hoch und ließ sich aus der offenen Tür auf den Boden rutschen. Er blutete im Gesicht und an den Händen. Humpelnd und ohne bestimmte Richtung rannte er vom Autowrack weg und rief: »Anna! Anna!« Immer wieder. Langsam stieg die Panik in ihm auf: »Anna! Anna!«

Auch Andreas überwältigte Angst. Bewegungslos stand er da und schaute Philipp hinterher, der im Zickzack über die Waldlichtung hetzte, hinter jeden Baum, hinter jeden Strauch und in jede Mulde spähte und alle paar Meter nach seiner Schwester rief. »Anna! Anna!«

Dann fand er sie.

Bewegungslos lag sie hinter einem gefällten Stamm. Sie sah ganz ruhig und friedvoll aus, wie sie so dalag; nicht verkrümmt oder unnatürlich. Das Gesicht war nicht schmerzverzerrt. Philipp wagte fast zu hoffen, dass ihr nichts geschehen war. Er ging vor ihr in die Knie und flüsterte: »Anna, du, sag doch was.«

Anna sagte nichts.

Philipp kniete noch immer völlig abwesend bei ihr auf dem Boden, als Polizei und Notarztwagen eintrafen. Der Unfallarzt prüfte Annas Reflexe, erkannte den psychogenen Schock, ließ sie von den Sanitätern auf die Trage heben und legte ihr zur Stabilisierung des Kreislaufs einen Tropf an.

Als Anna in den Notarztwagen geschoben wurde, fragte Philipp mutlos: »Wohin wird sie denn jetzt gebracht?«

»Ins Krankenhaus, junger Freund«, antwortete der Streifenführer und bugsierte Andreas und Philipp, die auf die Polizisten einen geistesabwesenden und verwirrten Eindruck machten, auf die hinteren Sitze des weißgrünen Einsatzfahrzeugs.

»Wer von euch hat den Unfallwagen gefahren?«, begann der Streifenführer das Verhör. Phillip, der kaum etwas wahrnahm, hob fast automatisch die Hand und unterdrückte, mit aller Gewalt schluckend, eine plötzlich aufsteigende Übelkeit.

»Und wie heißt du?«

»Pelzer.«

Wie bringe ich das bloß den Eltern bei, dachte Philipp.

»Vorname?«

»Philipp.«

Er begriff jetzt langsam, was geschehen war.

»Wie alt?«

»Achtzehn«, sagte er.

Wenn sie hören, dass Anna im Krankenhaus ist, wird Papa glatt wahnsinnig – und Mama auch. Philipp steigerte sich in eine Verzweiflung hinein.

»Kann ich mal deine Fahrerlaubnis und deinen Personalausweis sehen?«, setzte der Polizist das Verhör fort.

»Hab ich noch nicht«, antwortete Philipp mutlos. Dann bekommst du den Führerschein nie, hat Mama gesagt. Jetzt fiel es ihm wieder ein.

»Keine Fahrerlaubnis, ist das richtig?« Der Polizist war erschüttert. Aber es war leider nicht das erste Mal, dass er so einen Fall erlebte.

Philipp nickte und dachte abermals an den Führerschein, der nun in ganz weite Ferne gerückt war. Und da musste er endlich weinen. Anna hatte er völlig verdrängt. Nur nicht an sie denken …

»Wagenpapiere?«, zog ihn der Polizeibeamte wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Hat er«, sagte Philipp und zeigte auf Andreas.

»Und dein Ausweis?«

»Den habe ich nicht dabei.« Die Tränen liefen an seinen schmalen Wangen herunter und in die Mundwinkel. Er wischte sie mit dem Handrücken weg. Seine Nase war verstopft.

Als die Türen des Fahrzeugs nachdrücklich von außen geschlossen wurden, heulte auch Andreas. Was hatte Frau Pelzer gesagt? Du fährst, ist das klar? Er dachte auch an seine Antwort: Klar.

Der Einsatzwagen fuhr rückwärts mit ihnen aus der Schneise.

Professor Happe, ein Mann mit gebeugter Haltung, grauen Haaren, Spitzbart und Halbbrille, ging den langen, nach Desinfektionsmitteln riechenden Gang im Krankenhaus entlang. Stefan und Ute Pelzer folgten ihm.

Drei Schritte hinter seinen Eltern schlich auch Philipp über den braunen PVC-Boden. Auf seinen Gesichtsverletzungen, die sich als unerheblich erwiesen hatten, klebten rosafarbene Pflaster.

Professor Happe blieb vor einer breiten Doppelglasscheibe stehen, die in die Wand eingelassen worden war. Er klopfte mit seinem Siegelring dagegen und sofort zog von innen die diensthabende Schwester einen hellgrauen Vorhang auf die Seite.

Stefan und Ute hatten freien Blick auf die Intensivstation. Nur ein Bett war belegt.

Anna lag still und bleich zwischen den weißen Kissen. Dünne Kabel liefen zu Monitoren, die Herztätigkeit und Atemfrequenz durch wandernde rote Punkte und hellgrün zuckende Linien anzeigten. Infusionsschläuche verschwanden in ihren Nasenlöchern, andere liefen zu den Armvenen, über weitere wurden Körperausscheidungen abgeleitet.

Ute weinte lautlos und ohne Schluchzen, als sie ihre Tochter im Spezialbett der Intensivstation sah. Ihre Tränen tropften auf das Papier, in das sie die Blumen für Anna eingewickelt hatte, Blumen, die Anna nicht bekommen durfte, die sie gar nicht wahrnehmen konnte.

Stefan presste seine Zähne aufeinander, um seinen Schmerz und sein Grauen nicht laut herauszuschreien. Er konnte nicht schlucken, weil seine Kehle so eng zu sein schien, als ob ein Kloß darin steckte. Unwirkliche Überlegungen peinigten ihn: Warum denn Anna, warum kann ich denn nicht an ihrer Stelle dort liegen? Die ganzen Drähte an ihr. Wenn sie das nun nicht schafft? Was mache ich dann?

Professor Happe gab ein Zeichen und der Vorhang versperrte gnädig den Blick auf Anna, deren Leben an Maschinen hing. Im schwachen Spiegelbild der großen Glasscheibe bemerkte Ute den grenzenlos verzweifelten Ausdruck in Stefans Gesicht. Sie zuckte zusammen: Er wirkte so fremd.

»Kommen Sie«, forderte Professor Happe sie auf und ging wieder voran. »Ich halte es für das Beste, in meinem Büro weiterzusprechen.«

Abermals marschierten sie den langen Gang entlang, diesmal in umgekehrter Richtung. Wieder schlich Philipp hinterher. Er hatte nur kurz in den Raum der Intensivstation geblickt und schemenhaft das Bett gesehen. Doch genau wie seine Mutter hatte auch er die Veränderung bei Stefan wahrgenommen und es hatte ihm Angst eingejagt.

In seinem Zimmer rückte Professor Happe schweigend zwei Stahlrohrsessel vor seinem Schreibtisch zurecht und bedeutete Stefan und Ute, sich zu setzen. Er selbst setzte sich auf seinen weich gepolsterten Sessel und sah sie an. Für ihn schien sein Schreibtisch so etwas wie ein Schutzwall zu sein, hinter dem er sich verschanzte und nun zunächst Aktenstapel von links nach rechts schob. Dabei hüstelte er einmal, um das laute, erregte Atmen von Stefan zu unterbrechen, was ihm allerdings mit dem Räuspern allein nicht gelang.

So suchte er Zuflucht bei einem medizinisch-diagnostischen Vortrag und sprach über die zwölf Brust- und fünf Lendenwirbel – Vertebrae, sagte er –, die jeweils aus dem Wirbelkörper, dem Bogen, den Quer-, Dorn- und Gelenkfortsätzen bestanden. Dann näherte er sich schließlich dem unvermeidlichen Hauptthema über Querfortsatzbrüche, verschiedene Abbrüche des Dornfortsatzes und endlich den Wirbelkörperbruch: »Wissen Sie, ich habe Ihre Tochter mehrere Stunden auf dem OP-Tisch gehabt. Der vierte und dritte Lendenwirbel. Wir sind auf Schäden an der Wirbelsäule spezialisiert …«

Stefan konnte sich kaum noch beherrschen. Ute begriff nicht alles, weil sie an Annas Zustand dachte und nicht richtig zuhörte. Philipp, der vor der Tür bleiben musste, lauschte konzentriert und hörte jedes Wort.

»Ein Wirbelkörperbruch«, sagte Happe, um unklare Ausdrucksweise bemüht, »braucht zur Heilung seine Zeit. Das wissen Sie sicherlich.«

»Nein, das weiß ich nicht!«, platzte Stefan der Kragen.

Doch der Professor blieb ruhig. »Ihre Tochter wird acht bis zehn Wochen in einem Spezialbett liegen müssen. Sie darf sich nicht rühren. Wir hoffen, dass es sich nur um eine Einengung des Nervenkanals handelt.«

»Des Nervenkanals?«, fragte Ute. Es klang wie ein Echo.

»Darf ich darum bitten, dass Sie uns jetzt reinen Wein einschenken«, bat Stefan mit einer Stimme, die ihm nicht zu gehören schien.

Professor Happe suchte nach einem Ausweg, um die schlechte Nachricht noch weiter vor sich herzuschieben, und so nahm er wieder Zuflucht zum medizinischen Vortrag: »Wirbelkörperbrüche sind wegen der damit verbundenen Verletzungsmöglichkeit des Nervenkanals oft lebensgefährlich und führen häufig zu Lähmungen.«

»Was heißt das: ›oft‹ und ›häufig‹?«, fragte Stefan verbittert dazwischen. »Trifft das auf Anna zu?«

Happe musste sich überwinden, Stefan in die Augen zu sehen, doch dann sagte er ihm die Wahrheit: »Im Augenblick ist Ihre Tochter gelähmt.«

Stefan sprang wütend auf, wollte sich auf Happe stürzen, obwohl er wusste, dass dieser Mann im weißen Kittel nichts dafür konnte und im Augenblick nichts weiter war als der unfreiwillige Übermittler einer entsetzlichen Nachricht. Die Schreibtischkante blockte Stefan ab und brachte ihn zur Besinnung, aber sein Zeigefinger schoss vor, und er tobte los: »Anna im Rollstuhl, ja? Das soll es doch bedeuten, oder? Vielleicht ihr Leben lang, ja? So ein junger Mensch …«

»Daran sollten Sie noch nicht denken«, beschwichtigte Happe, der jetzt wieder Boden unter den Füßen hatte. »Wenn meine günstige Prognose, der jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine gesicherte Diagnose zugrunde liegt, wie von mir erwartet eintritt, wird Ihre Tochter in vier bis sechs Wochen wieder ein Gefühl in den Beinen verspüren. Ein Kribbeln, verstehen Sie?«

Stefan zitterte. »Ich verstehe nur, dass meine Tochter gelähmt ist! Querschnittgelähmt! Richtig?«

Professor Happe machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte: Das haben Sie gesagt.

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In den Tagen danach bewegte Stefan Pelzer sich wie in einem zeitlosen Raum. Alles, was seinem Leben bis dahin Konturen gegeben hatte, verblasste. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, ging er still in Annas Zimmer. Er betrachtete immer wieder die Poster an den Wänden, strich zehnmal, zwanzigmal ihr Bett glatt, öffnete ihren Kleiderschrank.

Er sprach auch halblaut mit ihr. Allerdings gab er nur wirre Antworten auf nicht gestellte Fragen und nicht gesprochene Sätze. »Du, das weiß ich nicht, dazu kann ich nichts sagen. Aber das ist eine Musik, die mir nicht gefällt. Zu laut, weißt du, zu unecht.« Dann äußerte Anna offenbar etwas, doch er war zu wenig Medium, als dass sie durch ihn sprach, dass er sie verstand.

So versuchte er, ihr Mut zuzusprechen mit Sätzen wie: »Manchmal gewinnt man, wenn man verliert, verstehst du? Aber eines sag ich dir: Ohne Genialität geht’s nicht.« Dabei wusste er genau, dass er nur versuchte, sich selbst Mut zu machen.

Schwer, doch etwas ausgeglichener und versöhnter mit dem Tag, trennte er sich dann stets von Annas Zimmer. Er ging hinüber in das Wohnzimmer zu Ute, prallte aber förmlich zurück, wenn er dort auch Philipp erblickte. Kalt sah er ihn an, machte auf dem Absatz kehrt und schwor sich, in Zukunft kein Zimmer des Hauses mehr zu betreten, in dem sein Sohn sich aufhielt.

»Siehst du, ich existiere für ihn nicht mehr«, sagte Philipp und begann hilflos zu weinen. »Er hat seit dem Unfall kein Wort mit mir gesprochen.«

»Mit mir redet er auch kaum«, antwortete Ute leise.

»Aber er muss doch erkennen, dass alles meine Schuld ist, dass es mir leidtut und dass ich dafür gradestehen will.«

Ute schaute ihn verständnislos an. »Kannst du mir verraten, was er mit dieser Einstellung anfangen soll? Das weiß er doch. Aber macht ihm das seine Anna wieder gesund? Und gradestehen musst du vor dem Jugendrichter. Aber das nutzt ihr ja nichts.«

»Was kann ich denn für sie tun? Jeden Tag durch dieses Glasfenster starren nutzt ihr auch nicht.«

»Beten«, empfahl Ute, »das hilft dir vielleicht – und vielleicht auch Anna.«

Beten? Das war für Philipp nur ein Wort. Er verbarg unwillkürlich sein Gesicht in den Händen. Verzweiflung? Hilflosigkeit? Sein Murmeln hinter den Fingern war kaum hörbar. »Mir ist völlig egal, was mit mir passiert.«

Ute stützte sich mit den Händen auf den Armlehnen des Sessels ab, in dem Philipp zusammengekauert hockte, und beugte sich über ihn. »Es ist schrecklich für uns alle. Am schlimmsten ist es für dich, ich weiß. Aber niemand kann dir gerade helfen. Damit musst du allein fertig werden.«

Stefan Pelzer veränderte sich zusehends. Er wurde sich selbst und allen anderen fremd: Er zog sich in sich selbst zurück, kapselte sich von seiner Familie ab und gab insgeheim jedem die Schuld am Zustand seiner Tochter. Für ihn war es nicht Philipp allein, der den Wagen gefahren hatte, der Anna »auf dem Gewissen hatte«. Auch Ute, die Andreas und Philipp bestimmt hatte, Anna abzuholen, trug für ihn Schuld. Und auch Andreas, der Philipp das Steuer überlassen hatte. Ganz tief im Inneren wusste er, dass eigentlich auch Anna selbst nicht richtig gehandelt hatte: Warum war sie auf die Pritsche geklettert? Und vor allem machte er sich selbst schwere Vorwürfe, weil er nicht zur Ballettschule gefahren war, um Anna nach Hause zu holen. Auf diese Weise schob er sich allmählich die Hauptschuld zu, ohne die »Mittäter« zu entlasten.

Wie ein programmierter Automat fand er jeden Tag den Weg zur Klinik, stand wie ein Fremder neben Ute vor dem Glasfenster der Intensivstation und suchte Blickkontakt mit Anna. Ihre Augen waren zwar geöffnet, sie nahm ihn jedoch nicht oder nur schemenhaft wahr. Er versuchte verbissen, mit allerlei verzweifelten Mätzchen ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er reckte sich hüpfend, klapperte mit seinem Schlüsselbund, zog jene freundlichen Grimassen, über die sie sich als kleines Kind amüsiert hatte. Erfolglos.

Eines Tages legte ihm Professor Happe die Hand auf die Schulter und schob Stefan mit leichtem Druck von diesem für ihn so unseligen Fenster weg. Ute warf einen letzten Blick auf das Bett und folgte den beiden Männern zögernd.