Holger Peterson

 

Von Menschen
und v
on Booten.

 

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Ob jung oder alt, ob Welt- oder Wattensegler, immer sind es die Menschen, die ihre Leidenschaft an ein Schiff gehängt haben und trotz mancher Unbequemlichkeiten ein schaukelndes Deck jeder anderen Reisemöglichkeit vorziehen, um an eine fremde Küste zu gelangen.

 

Holger Peterson

 

Inhalt.

 

Prolog.      6

Von der Liebe zu einem Schiff.      9

Von Schiffen als Lehrmeistern.      25

Vom Leben auf einem Boot.      37

Von Bootsnamen und -farben.      47

Von Schiffen und Familiengeschichten.      56

Von nordischen Charakterköpfen und ihren Schiffen.      65

Von Seezwergen.      93

Von alten Schiffen und klassischen Schönheiten im Watt.      103

Vom Segeln rund um die Welt.      131

Von Dornröschen-Schiffen.      155

Von der Fischerei und den Arbeitstieren der Nordsee.      177

Von der nächsten Generation.      193

Vom Bootsbau und der Freiheit des Segelns.      217

Von Nordseehäfen.      244

Epilog.      252

Lexikon der maritimen Begriffe.      255

Impressum.      264

 

Prolog.

 

Wir haben das Glück, auf einem Planeten mit Wasser zu leben. Viel Wasser. Unfassbar viel Wasser. Und dann haben wir das Glück, auf einem Kontinent zu leben, der beinahe jedem die Möglichkeiten offeriert, sich zumindest ein bescheidenes Boot zu beschaffen. Wir haben auch das Glück, in Nord- und Ostsee auszulaufen, ohne gekapert und versenkt zu werden, wie es einst den Hansekoggen drohte, wenn sie von Bremen die Weser hinab in die Nordsee segelten und zwischendurch ankern mussten. Und es gab Zeiten, in denen Soldaten kamen, um Boote zu requirieren. Der Erbauer einer Segelyacht aus dem Jahr 1920 versteckte den Motor seines Bootes im Moor und verteidigte den nackten Rumpf seines Schiffes mit der Mistgabel, um ihn danach im Winter jeden Tag vom Eis frei zu hacken – 1945 war ein harter Winter. Nicht nur der Norden ist voller Geschichten von Booten und ihren Fahrten, von Eignern, die Strapazen auf sich nahmen, um mit ihrem Schiff aufs Wasser zu kommen. 2018 ist vieles leichter. Mag es auch öfter mal regnen oder Gischt überkommen, die Fahrten gehen weiter.

Was aber treibt Menschen an, ihr Leben mit Booten zu verbinden und ihre Sehnsüchte mit dem Meer? Und was – zum Klabautermann – fasziniert uns an genau diesen Menschen? Ist es ihre unbedingte Liebe zum Meer? Zu der Freiheit, die einen nicht nur bei einer Weltumsegelung, sondern schon in dem Moment erwartet, wenn wir das Cockpit eines Segelboots betreten? Ob jung oder alt, ob Welt- oder Wattensegler, immer sind es die Menschen, die ihre Leidenschaft an ein Schiff gehängt haben und trotz mancher Unbequemlichkeiten ein schaukelndes Deck jeder anderen Reisemöglichkeit vorziehen, an eine fremde Küste zu gelangen. Vielleicht sind Wassersportler emotional anders mit ihrem Gefährt verbunden, als Auto- oder Wohnmobilfahrer das je sein werden. Wer weiß? Und vielleicht gibt es eine Emotion, die alle Seefahrer verbindet, quer durch alle Zeiten und über alle Seegebiete. Ich jedenfalls bin dankbar für das Leben, welches mir erst meine Boote ermöglicht haben, und neugierig auf die Geschichten derer, die wie ich nicht vom Meer lassen können.

Und so frage ich mich oft, wie andere das Segeln empfinden, was sie antreibt. So viele Geschichten von Menschen und ihren Booten haben mich über die Jahre fasziniert, ich konnte nicht anders, als sie aufzuschreiben. Ich wünsche Ihnen nun viel Freude beim Gedankenflug in fremde Kajüten und Wasserwelten.

 

Ihr Holger Peterson

 

Von der Liebe zu einem Schiff.

 

Die Liebe zu einem Schiff, sie ist etwas Besonderes. Und wenn Schiff und Skipper oder Skipperin gemeinsam Stürme durchgestanden, Langfahrten unternommen und lange Ebbestunden im Watt trockengefallen sind, dann ist sie auch dann noch lebendig, wenn das Boot schon längst in andere Hände übergegangen ist.

 

LEVIATHAN: Die vier Leben eines Schiffes.

 

Die 10 Meter lange LEVIATHAN, eine Reinke Taranga, war meine erste größere Hochseeyacht. Eigentlich war ich nur drei Jahre auf ihr unterwegs, aber sie ist mir immer in Erinnerung geblieben. Ich habe sie nie vergessen.

 

Geht es Ihnen auch so? Sie hatten einst ein Moped, Motorrad, Auto oder Boot, mit dem Sie Erinnerungen verbinden. Nach dem Verkauf vergehen Jahre und Sie fragen sich irgendwann, was daraus geworden ist. Mit dem Fahrzeug verbinden Sie nicht nur seine Technik, sondern auch einen Lebensabschnitt. Da gab es die Vorfreude auf den Kauf, auf die Umbauten, auf die Reisen. Und Sie verbinden Ihre Emotionen mit Menschen an Bord, mit denen Sie unterwegs waren. Diese Gedanken kommen nicht von ungefähr: Blickt man zurück, so erscheint manches besser, und was nicht so gut war, tritt in den Hintergrund, verblasst wie Lack in der Sonne: So entsteht Sentimentalität.

Eines Tages begann ich, nach meiner feuerroten Suzuki GSX 1100 zu suchen, mit der ich unvergessliche Motorradreisen nach Schweden und auf den Balkan unternommen hatte. Ich war fest entschlossen, die Maschine zu finden und zurückzukaufen. Bald ermittelte ich ihren neuen Eigentümer. In einem Schuppen in Hannover stand ich dann vor der Maschine oder besser: vor der Technikleiche, die von ihr geblieben war. Rost, Beulen, undichte Zylinderkopfdichtung, die Verkleidung nach einem Sturz zerborsten. „Nimm mich wieder mit“, schien die Suzuki zu flehen. Aber so toll war sie nun auch wieder nicht, jedenfalls nicht bei diesem Anblick. Und während ich sie noch ansah, fiel mir die im Leerlauf scheppernde Kupplung und ihr Hang zum Hochgeschwindigkeitspendeln jenseits der 200 km/h wieder ein. Und war ihr nicht die Kawasaki GPZ 900 immer eine Nasenlänge voraus, ihr Fahrwerk agiler und einfach 10 Konstruktionsjahre jünger? Es gab einen triftigen Grund, damals auf die Kawa zu wechseln. Und daher: Nur die Erinnerungen verleiten mich zur sentimentalen Suche, etwa als ich in Dubrovnik über eine Planke auf eine winzige Fähre fuhr: Beim Anrollen mit dem Vorderrad schlug die Planke senkrecht hoch. Ich gab etwas Gas. Das „schmale Brett“ fiel zurück, dann fanden meine Beine auf beiden Seiten keinen Halt, da war nur noch das Wasser des Hafenbeckens. Also gab ich noch mehr Gas und mein roter Packesel, vollgetankt und mit Gepäck gut 300 Kilogramm schwer, hüpfte förmlich auf das Vordeck der Fähre, die eigentlich nur für Personen gebaut war. Später entdeckte ich Reiseenduros für mich und trennte mich endgültig vom schweren Eisenhaufen mit vier Zylindern, doch die feuerrote Suzi werde ich nicht vergessen, so wie die rote Reinke Taranga. Nach einer Hai 710 und einer Mirage 28 war sie meine erste Hochseeyacht. Motorräder faszinieren mich nebenbei erwähnt auch weiterhin. Im Herbst habe ich mit einer Suzuki-V-Strom eine wunderbare Alpentour unternommen und freue mich auf den Mai, um „mal eben“ zum Besuch des Abba-Museums nach Stockholm zu düsen.

Der Vergleich von Booten mit Motorrädern enthält allerdings einen gravierenden Unterschied: Alle Boote waren gleichzeitig ein Zuhause, mein „Zweitwohnsitz“ auf dem Wasser – nicht Teil einer One-Man-Inspiration, sondern Refugien der Familie. Gerade meine Boote würde ich alle zu gerne besuchen und erfahren, wie es mit ihnen und ihren neuen Eignern weiterging.

Deswegen war ich sofort Feuer und Flamme, als mich Vorbesitzer Uwe Kley anrief und nach seiner/meiner Reinke Taranga fragte. Bei ihm trug sie den Namen SPICA, ich hatte sie in LEVIATHAN umgetauft – und so heißt sie noch heute. Uwe hatte die 10 Meter lange Stahlyacht 1982 ausgebaut und 1999 an mich verkauft. Der Segler ist bereits 80 Jahre alt, die Gesundheit macht Probleme. Er würde sein Boot so gerne noch einmal sehen. Ich hatte das Boot 2002 weiterverkauft. Wo war es geblieben?

 

Warum manche Eigner nicht jeden Käufer akzeptieren

 

Zurück ins letzte Jahrtausend: „Das Boot ist noch zu verkaufen“, meldete sich Eigner Uwe Kley bei meinem Anruf auf seine Annonce. „Doch bevor ich weiterrede, sagen Sie mir bitte, wie groß Sie sind.“

Seltsame Frage. „1,80 Meter“, antwortete ich.

„Das akzeptiere ich. Sie können vorbeikommen. Wir treffen uns am Stichkanal in Hannover-Linden. Das Boot steht an Land im Winterlager.“

„Bin schon unterwegs“, sagte ich. „Doch warum fragen Sie mich nach meiner Größe?“

Er antwortete: „Das Boot ist wie ein Kind für mich. Den Rumpf habe ich 1982 bei der Benjamins-Werft in Emden bauen lassen. Alles andere habe ich zusammen mit einem Bootsbauer selbst entworfen. Ich hänge daran, aber muss aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten.

SPICA hat eine Stehhöhe von 188 Zentimeter. Wenn Sie größer wären, fühlen Sie sich auf die Dauer nicht wohl. Und wenn Sie sich auf SPICA nicht wohlfühlen, dann behandeln Sie das Boot schlecht. Das möchte ich nicht. Vor Ihnen hat ein Interessent angerufen, der größer war. Ihm habe ich abgesagt.“

Oha, der Skipper schien es ernst zu meinen. So etwas denkt sich keiner aus. Ich nahm mir vor, das Boot über den grünen Klee zu loben, wenn es mir gefallen sollte. Wer beim ersten Besuch am Kind von jemandem herumnörgelt, fliegt gewöhnlich raus. Der kann gleich einpacken. Gespannt fuhr ich nach Hannover. Das Boot stand auf einem Werftgelände am Kanal hinter dem großen Güterbahnhof in Seelze. Seltsam, gerade hier eine Hochseeyacht zu besichtigen. Dann der erste Eindruck des Mannes: Mitte 60. Sehr höflich. Und er wusste genau, wovon er sprach. Der erste Eindruck vom Boot: Etwas unförmig mit dem stählernen Deckshaus. Dazu ein Doppelknickspanter. An Land nicht gerade elegant; dafür ungemein seetüchtig.

Uwe Kley stellte eine Leiter ans Boot und öffnete die Plane. Wir waren gespannt, wie sie unter Deck aussah, und wurden überrascht: Alles sah aus wie neu, das dunkle Holz war fein geölt.

„Ich nehme keinen Lack, damit das Holz atmen kann“, sagte Uwe. „Einen Kratzer kannst du mit Holzöl sofort beseitigen. Es ist nicht nötig, Lackschichten neu aufzubauen.“

Aha, wieder etwas gelernt. Am Hauptschott glänzte silbern ein Taylor-Schiffsofen. Sogar mit richtigem Schornstein, ummantelt von einem gelochten Edelstahlblech, spiegelblank poliert.

„Für den Ofen habe ich einen neuen Brenner in Reserve“, sagte Uwe. „Aber der ist eigentlich nicht notwendig. Der Ofen ist fast wartungsfrei. Keine Elektronik, funktioniert auch bei Lage.“ Wir setzten uns auf die Polster. Perfekt. Nicht durchgesessen. Nicht muffig. Warmes Moosgrün. Das mag nicht jeder, wir schon. Gemütlicher Kontrast zum Holz. Uwes Erklärung: „Die Polster sind für die Ewigkeit gemacht. Normalerweise wird das Kernmaterial für Flugzeugsessel verwendet. Ich habe eine kleine Menge kaufen können und Schiffspolster daraus anfertigen lassen. Möchten Sie auch was über den Motor erfahren? Er kommt gerade frisch restauriert von einer Bremer Motorenwerkstatt zurück. Kolben, Lager, Dichtungen, Aggregate: alles neu. Wenn Sie das Boot kaufen möchten, müssen Sie allerdings noch zwei Wochen Geduld haben. Sie sehen ja selbst, dass der Teppich etwas abgenutzt ist. Darum habe ich neue Auslegware bestellt. Muss ich nur noch verlegen und einpassen. Ist aber Qualität. Kommt von BMW. Autoteppich als Meterware.“

Ich war sprachlos. Kein Gedanke daran, irgendetwas zu bemängeln. Denn da gab es nichts. „Kein Rost“, hatte er in der Anzeige geschrieben. Das stimmte ebenfalls. Es war nicht der kleinste Rostpickel in der Bilge zu finden. Dazu fast nagelneue Segel. Eine Rollreffanlage im Mast und eine Rollgenua auf dem Vorschiff. Alles mit Rechnungen belegt. Der Preis von 50.000 DM war wahrlich nicht zu viel für ein hochwertig gebautes Boot der 10-Meter-Klasse.

So wechselte SPICA zu uns. Ich war dankbar, dass Uwe das Boot überhaupt verkaufte. Mehr Geld hatte ich nicht, aber ich wollte auch keinen Pfennig herunterhandeln. Wenn der Mann von „seinem Kind“ sprach, dann gab ihm der Zustand des Schiffes recht. Eine Windsteueranlage ans Heck geschraubt und man hätte sofort zur Weltumsegelung starten können. Es würde Mühe und Anstrengung kosten, SPICA überhaupt in diesem guten Zustand erhalten zu wollen. Viel brauchte ich nicht zu ändern. Ein paar zusätzliche Leselampen und Steckdosen. Ein Autopilot vom Typ Navico TP 300. Eine Rettungsinsel. Und ein neuer Name: LEVIATHAN.

Im April 2000 kam das Boot ins Wasser. Mit Uwe verband mich weiterhin eine herzliche Freundschaft, die bis heute andauert. Er hat nach SPICA kein neues Segelboot mehr gekauft. Noch immer schätze ich seine Bootsbau-Fachkenntnis. Uwe ließ es sich nicht nehmen, uns auf dem Mittellandkanal bis zur Hindenburgschleuse in Hannover-Anderten zu begleiten. Unterwegs erklärte er die letzten technischen Einzelheiten.

In der Schleuse ging Uwe von Bord. Seine Frau holte ihn ab. Sie hatte noch die letzten Sachen dabei, sogar passend genähte Bettwäsche für das Vorschiff. Der arme Uwe. Standen Tränen in seinen Augen? 18 Jahre war er mit dem Schiff unterwegs gewesen, hatte seine Zeit und seine Liebe dafür gegeben. Als er von Bord ging, war ich zu aufgeregt, um weiter darüber nachzudenken. Auf den ersten Fahrten mit einem neuen Boot höre ich nur die Maschine, achte auf den Kühlwasseraustritt, kontrolliere die Dichtigkeit von Leitungen und Seeventilen. Unsere weitere Fahrt auf dem Mittellandkanal verlief ruhig. Vorbei an Braunschweig bogen wir „links“ in den Elbe-Seitenkanal. Nach elf Stunden Fahrt fanden wir gegen 21 Uhr an der Liegestelle „Weißes Moor“ einen Platz für die Nacht. Das wurde auch Zeit, mit 3 Grad war es an diesem 8. April verdammt kalt. Doch unten konnte ich den Dieselofen befeuern, der keinen Strom benötigt. Hier erfuhr ich zum ersten Mal das beglückende Gefühl, autark auf einem Boot unterwegs zu sein, wenn es gut ausgestattet ist. Den Taylor-Dieselofen werde ich vielleicht sogar noch auf meinem derzeitigen Schiff FUCHUR nachrüsten, obwohl sie eine komfortable Heizungsanlage hat.

Einige Fahrten mit LEVIATHAN habe ich im Buch

Wie wir im Norden segeln. beschrieben – auch die Nacht im Sturm auf der Nordsee. LEVIATHAN hat mir damals das Leben gerettet: in der Außenelbe auf dem Kurs nach Helgoland, um Mitternacht bei nicht angekündigtem Nordwest von 11 Beaufort in einer unglücklichen Konstellation von Wind gegen Strom. Dieses frühe Nordseeerlebnis ließ uns in die Ostsee abdrehen. Ich hatte noch keine Erfahrungen im Gezeitensegeln unter schweren Bedingungen. Erst später, mit PALOMA, kam die Erfahrung, um auch Gästen an Bord das sichere Segeln im Sturm zu vermitteln. Braves Boot. Trotzdem habe ich es 2002 weiterverkauft, als Autobahnbaustellen und motorbetriebene Schlauchbootkids in unserem Ostseehafen die Oberhand gewannen. Wir waren „autobahnmüde“ und mochten keinen Krach. Daher wechselten wir für drei Jahre wieder auf trailerbare Boote.

Der Interessent Dirk Krauss ist Fotograf. Beim Besichtigungstermin war er misstrauisch, warum ich das Boot nach so kurzer Zeit wieder verkaufen wollte. Ich konnte seine Zweifel schnell zerstreuen und hatte nur Bedenken, dass ihn die Konservierung des schlecht zugänglichen Falzes der Fußreling stören könnte. Uwes Zweifel, es an keine zu großen Interessenten zu verkaufen, ignorierte ich einfach. Dirk ist 1,90 Meter groß, doch er hatte sich gleich beim ersten Mal in die Stahlyacht verliebt und segelte LEVIATHAN mehr als ein Jahrzehnt begeistert weiter. Der 51-Jährige lebte zeitweise an Bord, bis er sich ein komfortableres Boot mit mehr Stehhöhe für sein Gardemaß wünschte und auf eine breitere Westerly Sealord wechselte: 11,75 x 4 Meter statt 10 mal 3,25 Meter der Reinke Taranga … dazwischen liegen tatsächlich Wohnwelten. Nachdem ich zehn Jahre nichts mehr von ihm und der Reinke gehört hatte, stieß ich zufällig im Buch GewitterSegeln, in dem Dirk seinen Bericht einer Sturmfahrt mit LEVIATHAN niedergeschrieben hatte, auf mein altes Schiff.

Inzwischen hatte es Dirk verkauft. Der jüngste Eigner ist der 44-jährige Mike Güllekers aus Düsseldorf. Er verlegte LEVIATHAN nach Monnickendam ans Ijsselmeer und begann nach einer Segelsaison, es komplett zu restaurieren: sandstrahlen, neu lackieren, innen die Einrichtung runter bis auf den nackten Stahl ausbauen und praktisch wieder ein neues Boot schaffen – genau nach seinen Vorstellungen.

 

Vier Kapitäne.

 

An einem Samstag im Februar 2015 hole ich den inzwischen 80-jährigen Uwe in Bad Nenndorf ab, erfülle ihm seinen Wunsch und fahre mit ihm 350 Kilometer in die Niederlande zu seinem Boot, das er seit der Übergabe im Jahr 2000 nicht mehr gesehen hat. Mit Dirk und Mike haben wir uns um die Mittagszeit verabredet. Als wir in Monnickendam aus dem Wagen steigen und die beiden treffen, verbindet uns vier sofort ein nicht zu erklärendes Gemeinschaftsgefühl. Schon unterwegs erzählt Uwe von seinen Abenteuern mit dem Boot: vom Bau in der Benjamins-Werft in Emden, vom Transport nach Hannover, von den Tücken des Ausbaus und den ersten Farbexperimenten, als er der Verlockung unterlag, auch die letzten Dosen roter Farbe einfach zu verstreichen. Er und seine Frau Renate waren damals in unserem Alter, als sie sich als Selbstausbauer an das Projekt wagten. Auf Fotos dieser Zeit sehe ich einen sportlichen Skipper mit viel Elan, aber auch Renate beim Streichen des Rumpfes und in Schiffsschleusen an der Pinne. Ihre Fahrten waren lange Zeit ungeschützt – ohne Sprayhood –, bis sie das feste Doghouse nachrüsteten. Die senkrechten Scheiben aus Lexan sind ein wirklich guter Wetterschutz, unter dem ich mich vor der kalten Gischt so manches Mal ducken konnte, weil man die lange Pinne von dort aus noch erreichen konnte.

„Als wir unterwegs waren, gab es gerade die ersten Funknavigationsgeräte“, erzählt Uwe. „GPS-Empfänger lagen noch in der Zukunft. Es wurde nach alter Art gekoppelt und selbst ein einfacher Landfall war auf der Ostsee noch ein echtes Abenteuer.“ Dreimal waren sie auf Bornholm, dreimal auf Anholt. Ihre Kurse auf Leviathan führten sie nach Oslo, durch den Limfjord, an die schwedische Schärenküste und bis nach Danzig. Damals war der Kalte Krieg noch nicht vorbei, sie mussten einen großen Bogen um die Hoheitsgewässer der DDR fahren. Als sie nachts bei schlechter Sicht und Flaute nach der Ansteuerungstonne zum Fahrwasser nach Danzig suchten, wurden sie von der polnischen Küstenwache aufgebracht. Unter dem Vorwurf, sie wären in militärisches Sperrgebiet eingelaufen, landeten sie vor einem polnischen Seegericht: 1000 Mark Geldstrafe, zahlbar in bar. Zum Beweis diente ein alter Zettel, auf dem der Kommandant des Wachbootes ihren Kurs notiert hatte. Zurück in Deutschland erfuhr Uwe, dass ein Segelkumpel ebenfalls mit dem gleichen Zettel als „Beweis“ verurteilt worden war. Da lag der Verdacht auf staatliche Devisenbeschaffung nah.

 

Wiedersehen mit LEVIATHAN.

 

Und dann sind wir da und betreten zusammen die Halle, in der Mike gerade das Boot überholt. Uwe darf vorangehen. Er schaut auf den mächtigen Rumpf, den Mike neu lackiert hat. Es ist noch immer „sein“ Rot, das mindestens viermal aufgetragen werden muss, bis es deckt, aber dafür weithin zu erkennen ist. Der Wasserpass hat nach wie vor keinen Zierstreifen, aber die Fußreling hat Edelstahlbleche als Scheuerleisten erhalten. „Davor haben GFK-Bootfahrer beim Anlegen im Päckchen Respekt“, lacht Mike. Es ist ein selten berührender Moment, als Uwe „sein Kind“ wiedersieht, seine Hände über den Stahlrumpf streichen und ihm sofort jedes technische Detail einfällt: „2000 Kilogramm Blei haben wir eingegossen – 200 Kilogramm mehr, als Konstrukteur Kurt Reinke errechnet hatte. Ich wollte etwas mehr Sicherheit.“ Und dann erzählt Uwe, wie er auf der Fahrt von Fehmarn nach Neustadt in Holstein gegen den Konstrukteur segelte: „Kurt Reinke war mit seinem längeren Boot unterwegs und hatte mehr Segelfläche zur Verfügung. Bei Dahme hat er am Kap über den Unterwasserfelsen geschnippelt, deswegen hat er knapp gewonnen. Aber auf dem Törn zurück nach Fehmarn lagen wir Bug an Bug. Er war überrascht, welches Potenzial eine Taranga hat. Damals hatte ich noch die kleine Selbstwendefock und nicht die große Genua, sonst hätte ich bestimmt gewonnen.“

Als Uwe vorsichtig die Leiter hinaufklettert, muss ich schlucken. Was für ein anrührender Moment. Er schaut in den leeren Rumpf, der noch den Teergeruch der Farben ausströmt, die er einst vor einem halben Leben aufgetragen hat. Mike hat die Farbe weitgehend abgetragen, um den Rumpf innen neu zu konservieren. Aber tatsächlich fand er nur zwei reparaturwürdige Roststellen. Unter drei Klampen hatten sich durch Kondenswasser Lecks gebildet. Und der 170 Liter fassende Stahltank im Kiel wies ein winziges Loch auf, das bei der Generalüberholung gerade noch rechtzeitig festgestellt wurde. Für ein 33 Jahre altes Stahlboot eine gute Bilanz. Und so erhält Uwe respektvolle Schulterklopfer für seine solide Konservierung.

Unterdessen schießt Dirk fleißig Fotos. Er segelt seit seinem elften Lebensjahr. Der Fotograf hat seine große Kamera und ein Stativ dabei. Auch ihm geht dieser Moment nah, als er Uwe auf der Leiter sieht. Von allen vier Skippern hat er vielleicht die meiste Zeit an Bord verbracht, als er rund 120 Tage im Jahr darauf lebte. Der Kölner ist in seiner ersten Saison noch in der Ostsee gesegelt, doch die Anreise von sieben Stunden wurde ihm zu lang. So verlegte er seinen Liegeplatz in die Niederlande. Von der Provinz Zeeland war sein Lieblingsrevier im Südwesten Englands nicht weit: Gut 40 Mal hat er den Ärmelkanal überquert – er liebt Dartmouth am River Orwell, Harwich, Ramsgate. Für lange Seestrecken schraubte er einen Windpiloten ans Heck, mit dem LEVIATHAN ganz vorzüglich ohne seine Hand am Ruder segelte – und das gar nicht langsam. Wie Uwe, Mike und ich schätzt er die Sicherheit einer rundum verschweißten Yacht aus Metall: „Da gibt es keine Verbindungen verschiedener Materialien an Kiel, Püttingen oder Relingstützen, die undicht werden könnten. Die Innensteifigkeit durch verschweißte Stringer und Schotten ist auch unübertroffen, ebenso wie die Kollisionssicherheit.“

Dirk weiß genau, wovon er spricht: Er ist gelernter Maschinenschlosser. Als einziger Schwachpunkt des Bootes wird von allen der etwas unterdimensionierte Bukh-Diesel erachtet: 20 PS sind für 7 Tonnen im Tidenrevier nicht besonders viel, auch wenn er über ein ordentliches Drehmoment verfügt. Es war Uwe, der die Maschine noch 1998 in Bremen überholen ließ: neue Kolben, Lager, Einspritzdüsen. Sie hat in all den Jahren keinen von Uwes Nachfolgern im Stich gelassen. Nur der Auspuffkrümmer ist viermal durchgerostet.

Als ich das Deck betrete, spüre ich sofort wieder die Solidität dieser Yacht, ihre seegerechte Ausstattung. „Benjamins hat für das Deck 4 statt 3 Millimeter dicke Bleche verwendet“, erzählt Uwe. „30 Millimeter dick ist die Kielplatte, 6 und 5 Millimeter stark sind die Bleche des Unterwasserschiffs.“

Irgendwie wird wohl jede Reinke schwerer als geplant. Aber egal, eine Reinke verliert niemals ihren Kiel, wie es jüngst etwa bei mehreren Yachten aus GFK passiert ist. Uwe kennt noch jedes Detail und auch ich erinnere mich wieder an das „Feeling“, das diese Yacht vermittelt. Ihr Laufdeck hat im Gegensatz zu meiner neuen Reinke Super 11 viel Platz, wenn man aus dem Cockpit nach vorn geht. Ungewohnt ist nur der schräg abfallende Winkel, aber überkommendes Wasser schüttelt das Deck schneller wieder ab. Mustergültig ist auch der Handlauf auf dem Doghouse. Rundum hat LEVIATHAN nun getönte Lexanscheiben bekommen. Mike mag es etwas blickdichter.

 

Vier Männer. Ein Boot. Eine Geschichte.

 

Zum Mittagessen schlendern wir durch die Gassen von Monnickendam, finden ein Restaurant und klönen über das Boot.

 

Mike: „Das Küchenbullauge werde ich noch wechseln, da steht immer Regenwasser drin.“

Uwe: „Stimmt, da regnet es rein, das hatte ich mir damals nicht gut überlegt.“

Dirk: „Ich habe extra noch einen Kartentisch eingebaut, aber eigentlich ist er überflüssig.“

Mike: „Als Ablage ist er nicht schlecht. Sorgen bereitet mir die Elektrik, teilweise Plus und Minus in Braun …“

Holger (verlegen): „Da hatte ich mal schnell eine Steckdose zum Handyladen verlegt und nur noch ein Lautsprecherkabel gehabt.“

Mike: „Ich will nun einen Magnetkompass haben, auch wenn das Kalibrieren auf einem Stahlboot aufwendig ist.“

Uwe: „Ja, der elektronische Kompass hat immer wieder Probleme gemacht.“

Dirk: „Beim Kauf von Holger gab er einen Nachlass, weil der Kompass nicht funktionierte. Bei mir ist er auch mehrfach ausgefallen.“

Mike: „Jetzt bekommt das traditionelle Boot die modernste Elektronik. Alle Kabel werden in Kanälen auf den Verkleidungen geführt und die Geräte per NMEA 2000 vernetzt, dann kann ich sie sogar per Fernsteuerung auf das iPad legen. Aber Redundanz ist trotzdem wichtig – ich will lernen, wie man einen Sextanten bedient.“

Holger: „Ich habe früher nie Geräte vernetzt und setzte auf einzelne Komponenten. Übrigens mag ich heutzutage eine komfortable Radsteuerung lieber.“

Mike: „… die Pinne ist aber solide, das wissen selbst die Möwen. Sie haben sogar ihre Muscheln darauf geknackt.“

Dirk: „Radsteuerung ist vergleichsweise Käse. Ich will spüren, was das Boot will. Außerdem ist LEVIATHAN sehr kursstabil. An der französischen Küste auf dem Kurs nach Boulogne bin ich vor dem Wind mit Schmetterlingssegeln und Bullentalje bei hoher Welle stundenlang unter elektrischem Autopilot gesegelt …"

Uwe: „Am Wind reicht meist die Genua, dann hält die Taranga auch ohne Autopilot den Kurs. Heutzutage kann man ja sogar den Plotter damit verbinden und Wegpunkte automatisch absegeln lassen.“

Dirk: „Ja, aber davon halte ich nichts. Man ist dann irgendwie nicht mit dem Kurs verbunden, ist nicht richtig wach. In Küstennähe können sich schnell Navigationsfehler einschleichen.“

Mike: „Bei achterlichem Wind am Liegeplatz pumpt der Mast laut und vernehmlich.“

Uwe: „Das hat er bei mir auch getan, deswegen habe ich Windabweiser angeklebt, doch die sind wieder abgefallen.“

Dirk: „Stimmt, ich habe den Zettel des Herstellers im Bordbuch gefunden – gegen das Pumpen habe ich einen Fender in den Mast gebunden, das hat auch geholfen.“

Uwe: „Ich sehe mit Freude, dass die Doradelüfter immer noch stehen. Sie waren damals schwer zu bekommen.“

Dirk: „An diesem Boot ist alles solide.“

Mike: „Nicht mal die Polster hatten Sitzdellen, so was gibt es heute bestimmt nicht mehr.“

Uwe (grinst verschmitzt): „Den Schaumstoff orderte auch die Lufthansa; ich habe ihn durch Beziehungen von Continental aus Hannover bekommen.“

Dirk: „… und deine BMW-Teppiche waren auch im Jahr 2013 noch drin, als ich das Boot für 27.000 Euro an Mike verkauft habe. Der Wert von LEVIATHAN blieb über die Jahre stabil.“

Mike: „Weil es so ein robuster Rumpf ist, habe ich die Yacht gekauft und investiere nun diese gewaltige Arbeitszeit.“

Uwe: „Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Du musst nachbauen, was ich 1982 vor mir hatte. Warum tust du dir das an?“

Mike: „Eigentlich passen die Arbeiten jetzt nicht in unsere Familienzeit. Mein Sohn ist ein Jahr alt, ich habe einen anstrengenden Job und wir leben in Düsseldorf, aber nach der ersten Saison auf dem Veersemeer und dem Ijsselmeer wussten wir genau, was wir ändern möchten. Also haben wir uns für den Neubau im betagten Rumpf entschieden. Beispielsweise wollen wir die Koje vorne verlängern, aber wir müssen sie um das Ofenrohr herum bauen.“

Dirk: „Dann lass doch den Kartentisch weg, der ist überflüssig. Ein Schiebebrett über der Hundekoje tut es auch.“

Holger: „Hast du dir mal überlegt, weiße Flächen mit dunklen Leisten zu verwenden – im amerikanischen Bootsbaustil? Das würde alles größer und freundlicher wirken lassen.“

Uwe: „… und die Toilette würde ich weiter nach achtern setzen.“

Mike (grinst): „… ich merke schon, wie ihr eure Vorstellungen nachträglich umsetzen wollt, aber jetzt bin ich am Ruder und werde erst mal einen provisorischen Probeausbau machen, bis alles passt.“

Uwe: „Wird es nicht zu teuer, das Boot ewig lange in der Halle stehen zu lassen? Andererseits sind die Arbeiten draußen auch nicht so gut. Sobald ich damals eine Dose Farbe öffnete, kam sofort eine Regenwolke oder ein Gewitter …“

Mike: „Dann müsste ich ja das Werkzeug und Baumaterial immer wieder gegen die Witterung und gegen Diebstahl sichern. So bin ich da und kann gleich loslegen.“

Dirk: „Da liegen aber noch locker 2000 Arbeitsstunden vor dir. Wann willst du fertig werden?“

Mike: „2016 werden wir nicht fahren können. Ich nenne besser keinen Termin, aber irgendwann schwimmt LEVIATHAN wieder. Nach dieser Konservierung wird uns LEVIATHAN wohl alle überleben.“

 

Am Ende dieses Tages denke ich nach, ob ich mich noch einmal für LEVIATHAN entscheiden würde?

Nüchtern betrachtet, spricht für ein Gebrauchtboot zunächst der günstigere Preis. Ein gebrauchtes Boot ist in der Regel vollständig ausgestattet. Hinzu kommt der Grad der Bewährung durch die Fahrten der Vorbesitzer. Wenn der Rumpf nach 10 oder 20 Jahren noch tadellos ist, warum sollte sich das in meiner avisierten Nutzungszeit von vielleicht weiteren 20 Jahren ändern? Kann ich denn bei einem neuen Boot sicher sein, dass die Werft gut gearbeitet hat? Garantieansprüche helfen mir draußen auf hoher See zunächst nicht weiter. Und abgesehen vom luxuriösen Gefühl, Erstbesitzer zu sein: Für den Preis von LEVIATHAN hätte ich gerade mal ein neues GFK-Boot von nur 6,50 Metern mit Krabbelkajüte und einer Tonne Gewicht bekommen, im Seegang ständig dümpelnd, wahrscheinlich ohne Sprayhood und Motor. Was für ein Vergleich: Ein „Seezwerg aus Plastik“ gegen einen soliden Boliden.

Wenn ich müsste: Jederzeit würde ich LEVIATHAN wieder den Vorzug vor einem fragilen Leichtbau geben. Wegen ihrer Sicherheit und ihrer Patina. Und auch wegen der Spuren und Erfahrungen, die ihre Eigner auf diesem Schiff hinterließen.

 

 

Von Schiffen als Lehrmeistern.

 

Schiffe, wie auch das Meer selbst, sind erstaunliche Lehrmeister. Geduldig bis zu einem gewissen Punkt.
Dann streng. Im Einzelfall unbarmherzig. Nicht nur ich habe viel von ihnen gelernt.

 

Arno: Und dann fuhr er einfach aufs Meer.

 

Das Wattenmeer ist ein besonderes Meer.

Hier gelten andere Gesetze: Eben erscheint es noch als eine weite Wasserfläche, dann liegt ein Gewirr von mehr oder weniger befahrbaren Rinnen voraus. Von übertriebener Ehrfurcht vor der Nordsee sollte man sich aber nicht bremsen lassen. Der Schutz der vorgelagerten Inseln ermöglicht es auch Anfängern, hier ihre Lehrzeit zu verbringen, wie die folgende Geschichte einer Erstfahrt zeigt.

 

Seine Westerly Centaur liegt klar zum Auslaufen in Greetsiel. Mit seinem Kimmkieler ist Arno einen Tag zuvor über das Binnentief von Norden zum malerischen Kutterhafen gefahren, damit wir zusammen das 8 Meter lange Boot in seinen avisierten Heimathafen nach Norddeich überführen. Ich sehe es zum ersten Mal und muss schmunzeln: Eine orangefarbene Schwimmleine liegt als Festmacher als großer Haufen auf der Stegklampe – der nächtliche Starkwind hat die Strippe zum dünnen Bindfaden gereckt. Eigentlich dient sie als Wurfleine für den Rettungskragen. Aber woher soll er das wissen? Die Tüte mit den neuen Festmachern und dem Rest der Ausrüstung hat er noch nicht ausgepackt, er ist bisher nicht dazugekommen. Dafür hat er den Mut bewiesen, sich ganz schnell der Seglerszene anzuschließen.

Jetzt strahlt er übers ganze Gesicht: Es ist sein erstes Boot, heute folgt sein erster Segeltörn auf dem Meer, seine erste Wattfahrt. Dabei ist er an der Küste aufgewachsen, betreibt nebenbei noch einen Pferdehof in der Nähe von Norden. Ich finde es erstaunlich, dass ich einen waschechten Ostfriesen im Schlepptau habe und ihm quasi „sein Meer“ erkläre. Gleichzeitig erinnere ich mich an meine erste Meeresfahrt, bei der mir auch ein erfahrener Skipper zur Seite stand.

Er ist mir quasi zugelaufen, ein 45-jähriger Kollege, versetzt von einer anderen Dienststelle direkt in das Nachbarbüro. Just als ich eine Betriebssportgruppe für angehende Segler ins Leben rufe, um Newcomer zu shanghaien, ist er da. Arno ist ein unbeschriebenes Blatt, was Boote angeht. Doch er entpuppt sich als mein konsequentester Schüler: Eine Woche nach dem ersten Informationsabend meldet er sich in Bremen zum Sportbootführerscheinkurs bei der Bootswerft Maleika an. Segellehrer Nicolai Garrecht nimmt ihn unter seine Fittiche. Arno besteht die See- und Binnenprüfungen auf der Weser im ersten Anlauf und präsentiert stolz seine Patente. Sogar den Binnensegelschein hat er in der Tasche, ersegelt in einer Jolle auf der Weser im Windschatten der Kellogg’s-Werke, wo es stets nach Honig duftet.

Nun muss ein eigenes Boot her, die Saison ist noch jung. Maximal 10.000 Euro will er in sein erstes Boot investieren, das groß genug sein muss, um mit der Familie auch ein paar Urlaubstage im Wattenmeer verbringen zu können. Weil er mit Tidenberechnungen noch keine Erfahrung hat, sollten die Zeitfenster zum Überqueren der Untiefen von Baltrum nicht zu knapp ausfallen. Da ist ein Tiefgang von maximal 1 Meter von Vorteil. Und einfach müsste das Boot sein, wenig Schnickschnack, keine Kostenfallen durch Reparaturen in unzugänglichen Kielkästen enthalten, aber doch tauglich zum Trockenfallen. Immer wieder kommt er mit neuen Vorschlägen. Wir verwerfen überführungsproblematische Angebote aus Großbritannien, bis er die Westerly für 8000 Euro gleich um die Ecke in der Bootshalle von Norden findet. Unter der Bedingung, ein seeklares und osmosefreies Boot zu bekommen, vermittelt der Werftchef die Übergabe: Schon ist Arno frischgebackener Skipper auf zwei eigenen Kielen: Tiefgang 90 Zentimeter.

Gekauft hat er zunächst nur ein relativ nacktes Boot, das außer einem 25-PS-Volvodiesel und einem Echolot praktisch leer ist. Also fahren wir zusammen zum Ausrüster. Arno ordert die Erstlingsausstattung für sein Baby: GPS, Fernglas, Kompass, Festmacher, vier Rettungswesten, eine Kartusche Pantera-Dichtungsmittel (man kann ja nie wissen) und einen Seekartensatz, Ostfriesische Inseln. Schwupps, schon wandern 800 Euro über den Tresen. Und er fühlt sich förmlich erschlagen, welche „Wohnideen“ er für seine betagte Britin noch entdeckt. Entdeckt hat er eine Woche später auch den Originalkompass der Westerly, den der Vorbesitzer unter der Koje gelagert hatte. Ein Heizlüfter wird folgen, ein Seefunkgerät und eine elektronische Seekarte für sein Tablet. Ich lade mit ihm die Navigationssoftware Navionics als App. Ganz Europa gibt es für 69 Euro. Dass er auch Klebebuchstaben für den Schiffsnamen und Heimathafen benötigen würde, ahnt er nicht und ich gehe vor dem ersten Törn davon aus, dass sein Boot bereits einen Namen hat.

„Boot ohne Namen“, trägt die Hafenmeisterin von Greetsiel ein. Wie gesagt, Arno hat viele Hobbys, eine 1200er BMW steht auch in seiner Scheune, da kann man nicht gleich alles wissen, geschweige denn eine Bootstaufe zelebrieren. Aber er weiß immerhin, wo er einen Tiefbettanhänger für den Kimmkieler organisiert, den er mit seinem Trecker bis in seine Scheune ziehen kann.

„Wie heißt das Boot?“, ruft eine Seemeile nach Verlassen von Greetsiel der Schleusenwärter zu uns hinunter, denn auch er muss sein Dienstbuch korrekt führen und kann den Verdacht nicht ausschließen, dass hier zwei Laien gerade ein Boot klauen wollen. Dann würde er einfach beide Tore schließen, in Ruhe auf die Polizei warten und den Dieben beim Fluchtversuch von oben an der Kammerkante auf die Finger treten. Doch Arno holt seine verbale Geheimwaffe raus und antwortet im breiten ostfriesischen Dialekt mit rollendem R: „Das Boot heißt WESTEREEN“. Der Name ist frisch ausgedacht und auf Lebenszeit für gut befunden. Den Namen seines Heimatdorfes kennen nur Einheimische. Er würde den Namen auch gleichzeitig als Heimathafen ankleben. Ich weise ihn auf anstehende Probleme in künftigen Häfen bei den Anmeldungen hin. Arno überlegt nur kurz und entscheidet sich für Norddeich als Heimathafen. Da hat er zwar noch keinen Liegeplatz und eigentlich ist der Yachtclub gerade ausgebucht, aber mit etwas Glück hofft er auf einen Dauerliegeplatz, den man eine Woche später tatsächlich für ihn frei macht. Auch da hilft der Vertrauensvorschuss, gewährt wegen seines plattdeutschen Dialekts. Einen wie ihn nimmt man gerne auf. Er will auch nirgendwo anders hin, allein schon wegen seines Lieblingslokals: „Meta’s Musikhalle“ heißt die ostfriesische Kultdisko, schon in den 60er-Jahren von der resoluten Namensgeberin eröffnet. Und wenn er da regelmäßig einkehrt, braucht er bei dem nahen Liegeplatz kein Taxi mehr, kann an Bord schlafen und am nächsten Tag mit dem Zug von Norddeich-Mole nach Bremen zum Dienst fahren. So streichen wir Accumersiel als Alternative. Doch weil der küstennahe Prickenweg von Greetsiel nach Norddeich eingezogen wurde, müssen wir erst bis Juist fahren und haben eine lange Schleife durch das Wattenmeer über einige Untiefen zu schippern.

Die spontan getaufte WESTEREEN verfügt über ein modernes Echolot, sogar „vorausschauend“. Doch die Menüführung ist ohne Anleitung kompliziert. Wir wissen beide nicht, ob es den tatsächlichen Wasserstand oder die verbleibende Wassertiefe unter dem Kiel anzeigt, dann wären es 90 Zentimeter weniger, was im Wattenmeer „Welten“ bedeutet. Während ich als Bootsschlaumichel noch herumdeute und mich frage, ob man im modrigen Grund eine Handlotung durchführen könnte, schüttelt Arno eine Antwort aus dem Ärmel, auf die ich nie gekommen wäre: Bei der Schleusenausfahrt hat er auf den Pegel der Kammer geschaut. Und siehe da: Er entspricht genau der Anzeige des Echolots. Das heißt für ihn ab sofort: Immer schön 90 Zentimeter abziehen und später in Ruhe das Instrument kalibrieren. Wieder stelle ich fest, wie man als vermeintlich erfahrener Seebär auch von den Fragen und Ideen der Laien profitiert.

Die Fahrt heute ist zugleich sein erstes Schleusenmanöver. Ich zeige ihm, wie man rechtzeitig die Leinen klarlegt und warum man stets zügig bis nach vorne, aber nicht über den Drempel fährt – also den Mauervorsprung, über dem sich das Schleusentor befindet. Am Vortag hat er bereits die kleine Schleuse zwischen Norden und Greetsiel allein bewältigt, aber sie hatte einen moderaten Hub. Wenig später hängt Arno jedoch vor einer Klappbrücke fest, an der keine Telefonnummer steht. Er ruft den Schleusenwärter an. Der weiß Rat und so öffnet sich alsbald die Brücke in der Einsamkeit der ostfriesischen Tiefebene.

Auch für uns öffnen sich nun die Schleusentore. Kalter Nordwind steht uns entgegen, aber die Westerly schiebt locker mit 6 Knoten bei 1800 Umdrehungen gegenan. 25 Pferdestärken haben mit 3 Tonnen Bootsgewicht keine Mühe, 15 PS würden auch reichen. Bis zur Nenndrehzahl wird der Volvo gar nicht erst hochgejubelt, sonst würde sich das Heck nur unnötig festsaugen, und so halten sich die Vibrationen in Grenzen. Arno steht an der Pinne. Da das Boot bei Maschinenfahrt kräftig nach Backbord drehen will, steuert er es freihändig mit dem Knie, an das sich die Pinne automatisch schmiegt. Ich schaue zu, wie er die Tonnenfarben deutet, wenn er nun auf die See hinausfährt. Eigentlich wäre das ganz einfach, aber in der Passage vor der Schleuse wechselt die Betonnung die Seitenfarben zur West-Ost-Richtung. Ein Blick in die Seekarte verleiht Klarheit. Wir loten fleißig, haben zwei Stunden vor Hochwasser bis zur ersten Untiefe gut 4 Meter Wassertiefe voraus und ich beobachte, wie Arno den Tonnenstrich abfährt. Als wir in einen Bereich mit kräftigem Querstrom kommen, lässt Arno das Schiff schnell abdriften, meint aber immer noch, direkt die Tonne anzusteuern. Das ist ein typischer Anfängerfehler, den jeder Stromneuling macht. Man muss sich stets umdrehen und schauen, ob das Boot auf einer Linie mit den Tonnen liegt. Auch „alte Hasen“ vergessen diese Stromnavigation gelegentlich. Eine halbe Stunde später steuern wir auf die Untiefe zu. Das letzte Mal war ich 2006 hier und weiß nicht, ob und wie sie sich verändert hat. Arno lässt die Westerly immer noch mit 6 Knoten laufen. Ich mahne ihn, genau das Echolot zu beobachten. Als wir nur noch einen Meter unter den Kielen haben, greife ich ein und reduziere die Fahrt auf 2 Knoten. Das britische Boot wurde 1978 zwar stabil gebaut, aber einen GFK-Rumpf sollte man nicht mit Höchstgeschwindigkeit auf eine Sandbank setzen.