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Helmut Brandstätter
Wolfgang Brandstetter

BRANDSTÄTTER

versus

BRANDSTETTER:

DISKURS

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Alle Erlöse der Autoren gehen an die »Aktion Lernhaus«.
Eine Initiative von »KURIER Aid Austria« und
dem Österreichischen Roten Kreuz

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01138-9

Copyright © 2018 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG; Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer

Unter Verwendung eines Fotos von Manfred Weis

Typografische Gestaltung und Satz: Sheila Ehm, Wien

INHALTSVERZEICHNIS

ZUM GELEIT FÜR DAS BUCH Heinz Fischer

VORWORT Helmut Brandstätter

KAPITEL 1

Über die Zeit als Justizminister

KAPITEL 2

Über das Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten

KAPITEL 3

Über Rücktritte in der Politik und den Streit um »Plan A«

KAPITEL 4

Über politische Prägung und ethische Grundsätze

KAPITEL 5

Das Jahr 1968, die Folgen und politische Vorbilder

KAPITEL 6

Erfahrungen im Cartellverband und erste Politisierung

KAPITEL 7

Von der ÖH bis zum Verfassungsgerichtshof

KAPITEL 8

In die Welt hinaus:

Der Weg vom Juristen zum Journalisten

KAPITEL 9

Die Politik der 80er Jahre und die Reformstaaten

KAPITEL 10

Über Kreativität im Recht und ethische Verantwortung

KAPITEL 11

Über die gelebte Verfassung und notwendige Reformen

KAPITEL 12

Wenn Journalismus und Politik nicht zueinander finden

KAPITEL 13

Als Strafverteidiger in schwierigen Fällen

KAPITEL 14

Strukturelle Schwierigkeiten im Recht und Korruption in der Politik

KAPITEL 15

Vom Nationalstaat zum vereinigten Europa?

KAPITEL 16

Über Migration, Solidarität und europäische Herausforderungen

KAPITEL 17

Ein neuer europäischer Zugang zu Russland und ein Ausblick

ANHANG

ZUM GELEIT FÜR DAS BUCH

»Brandstätter versus Brandstetter«

Als mir Bundeskanzler Faymann am 13. Dezember 2013 sagte, dass ihm vom ÖVP-Obmann, Vizekanzler Dr. Michael Spindelegger, als Nachfolger für die aus dem Amt scheidende Justizministerin, Frau Dr. Beatrix Karl, Universitätsprofessor Dr. Wolfgang Brandstetter vorgeschlagen worden sei, den er auch persönlich kenne und schätze und daher guten Gewissens als neuen Justizminister zur Ernennung und Angelobung empfehlen werde, wollte ich mir doch selbst ein persönliches Bild vom Kandidaten für das heikle Amt des Justizministers machen.

Und das tat ich.

Am 14. Dezember um 12.00 Uhr besuchte mich Dr. Wolfgang Brandstetter in der Hofburg zu einem sehr ausführlichen und angenehmen Gespräch. Das war das erste längere Gespräch, das ich mit Dr. Brandstetter geführt habe. Sehr positiv beeindruckte mich dabei, dass mir der Kandidat für das Amt des Justizministers in glaubwürdiger Weise seine feste Absicht versicherte, in seiner Amtsführung um ein Höchstmaß an Objektivität und Unparteilichkeit bemüht zu sein, um dann noch fast wörtlich hinzuzufügen: »Wenn mir der Herr Bundeskanzler eines Tages sagen sollte, er hat das Vertrauen in mich verloren, oder wenn Sie als Bundespräsident mir das sagen, dann werde ich ohne zu zögern mein Amt niederlegen, denn ich möchte es nur auf der Basis des Vertrauens von Bundeskanzler, Vizekanzler und Bundespräsident ausüben. «

Einen solchen Satz hatte ich vorher nie von einer zur Ernennung zum Regierungsmitglied vorgeschlagenen Persönlichkeit gehört. Und es hat sich in der Tat in kurzer Zeit eine sehr angenehme und vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt, die sich auch in allen möglichen Situationen – nicht zuletzt bei heiklen Personalentscheidungen – bewährt hat.

Ich habe dem Herrn Justizminister Dr. Brandstetter auch hoch angerechnet, mit welcher Sorgfalt und Einfühlsamkeit er im Justizministerium im Frühjahr 2016 eine eindrucksvolle Veranstaltung zum 100. Geburtstag seines Vor-, Vor- Vorgängers Christian Broda organisiert hat. Wenn man die unterschiedlichen Lebenswege dieser beiden Justizminister in Betracht zieht, war das absolut keine Selbstverständlichkeit.

Genauso sorgfältig und korrekt hat Minister Brandstetter zum 90. Jahrestag des Brandes des Justizpalastes, also im Sommer 2017, eine Gedenkveranstaltung zu diesem tragischen, dramatischen und sehr kontroversiell beurteilten Ereignis organisiert.

Als Justizminister Brandstetter beim Richtertag am 24. November 2017 erstmals öffentlich erklärte, dass er der sich abzeichnenden Bundesregierung nicht mehr angehören werde, habe ich das sehr bedauert und in Ergänzung zu meiner vorbereiteten Rede auch öffentlich zum Ausdruck gebracht. Dies hat ihn, wie er mir später einmal sagte, ganz besonders gefreut.

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Mit dem »anderen« Brandstätter, dessen Familiennamen nur unhörbar anders buchstabiert wird und der es geschafft hat, im Jahr 1955 nur drei Wochen vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages das Licht der Welt zu erblicken, habe ich schon länger persönlichen Kontakt als mit dem ehemaligen Justizminister, aber es ist ein Kontakt auf Augenhöhe, mit einem gewissen Mindestabstand, wie es sich im Verhältnis zwischen Politikern und Chefredakteuren gehört. Helmut Brandstätter hat eine lange und erfolgreiche Karriere im ORF hinter sich, war freiberuflich als Unternehmensberater tätig und ist seit acht Jahren ein sehr präsenter und aktiver Chefredakteur des KURIER.

Da beide Brandst-ä-e-tter das Milieu des Journalismus gut kennen, beide in den 70er Jahren an der gleichen Fakultät der Wiener Universität (erfolgreich) studiert haben, beide auch an Politik interessiert sind und seit ihrer gemeinsamen Tätigkeit in der österreichischen Hochschülerschaft auch persönlich befreundet sind, ist das vorliegende Buch auch kein Interviewbuch (Journalist interviewt ehemaligen Politiker), sondern ein Diskussionsbuch mit Interviewaspekten. Beide vertreten plausible bürgerlich- liberale und christlichsoziale Positionen, in denen das Bekenntnis zur Demokratie und zu den Menschenrechten eine starke Rolle spielt, und denen man noch einen Hauch von »Post-1968er-Ideen« anmerkt.

Damit verbunden ist eine klare und entschiedene Absage an nationalistische oder nationalpopulistische Positionen – also insgesamt eine Gedankenwelt, bei der Journalismus und Demokratie in guten Händen sind, was umso wichtiger ist, als genau diese Gedankenwelt derzeit in manchen europäischen Regierungen stark unterrepräsentiert oder überhaupt nicht vertreten ist.

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Wenn man für ein Buch ein Vorwort schreibt, darf man sich auch vorsichtig zu Fragen äußern, die in diesem Buch abgehandelt werden.

Mich beschäftigt immer wieder das Problem, wie ein demokratischer Staat, der die Menschenrechtskonvention nicht nur unterschrieben, sondern sogar in den Verfassungsrang erhoben hat und sich zu europäischen Werten, einschließlich zum Zentralwert der unteilbaren Menschenwürde bekennt, mit Flüchtenden und Asylsuchenden umgehen soll.

Auch die beiden Autoren dieses Buches lassen Interesse an dieser Frage sowie Sorgen und Unbehagen über Entwicklungen und manche Entscheidungen auf diesem Gebiet erkennen – insbesondere was die Abschiebepraxis bei gut integrierten Flüchtlingen betrifft. Die beiden Brandst-ä-e-tter bringen in diesem Zusammenhang Max Weber ins Spiel, der bekanntlich zwischen einer abstrakten Gesinnungsethik und einer konkreten Verantwortungsethik (die z. B. auf Staatsinteressen Rücksicht nehmen muss) unterscheidet.

In dieser Differenzierung stecken konkrete Erfahrungen mit schwierigen Entscheidungssituationen, und ich nehme die Analyse von Max Weber sehr ernst.

Aber auch die Verantwortungsethik ist eine Ethik und muss eine Ethik bleiben. Man kann sich nicht auf Verantwortungstätigkeit stützen, wenn man von der legitimen Möglichkeit, ein gut begründetes humanitäres Bleiberecht zu gewähren, nicht Gebrauch macht, sondern junge, bestens integrierte und deutschsprachige Flüchtlinge gegen ihren Willen in Hochrisikoländer wie Afghanistan abschiebt. Wir sind vom Thema der Verantwortungsethik auch weit entfernt, wenn es darum geht, Asylsuchenden ihr Bargeld bis auf einen kärglichen Rest abzunehmen, oder darum, Angst zu schüren, um die Wirksamkeit von Wahlkampfparolen zu erhöhen.

Das sehen – soviel ich weiß – auch die beiden Gesprächspartner in diesem Buch in Übereinstimmung mit sehr vielen anderen Persönlichkeiten unseres Landes ähnlich, denn die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik muss begleitet sein vom Versuch, diese beiden Gesichtspunkte so nahe wie möglich zueinanderzuführen und im Idealfall deckungsgleich zu machen – und darf nicht zur Grundlage für eine Doppelmoral werden.

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Wer dieses Buch liest, wird auch Gedanken und Anregungen finden, wie man unsere Gesellschaft, unser Land und Europa stärker, gerechter, pluralistischer und erfolgreicher machen kann, ohne Konzessionen an einen Nationalpopulismus zu machen.

Ich wünsche diesem Diskussions- und Gesprächsbuch daher viele interessierte Leserinnen und Leser und eine gute Aufnahme in der Öffentlichkeit.

Im April 2018

Heinz Fischer

VORWORT

Von Helmut Brandstätter

SAMSTAG, 21. OKTOBER 2017: Justizminister Wolfgang Brandstetter hat zur Feier seines 60. Geburtstages in den Festsaal seiner Heimatgemeinde Eggenburg eingeladen. Die Nationalratswahl liegt gerade sechs Tage zurück, die ÖVP hat als türkise Partei des Sebastian Kurz klar den 1. Platz geschafft, aber an diesem Abend spielt Parteipolitik keine Rolle.

Die Gästeliste zeigt, dass Brandstetter ein Mann ist, der nicht nur in der ÖVP, für die er in der Regierung sitzt, Freunde hat, sondern auch in anderen Parteien. Gekommen sind die ÖVP-Regierungskollegen Andrä Rupprechter, Wolfgang Sobotka, Hans-Peter Doskozil (SPÖ) sowie Thomas Drozda (SPÖ), sein politischer Erfinder, der frühere Vizekanzler Michael Spindelegger, Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und andere ÖVP-Politiker. Wahlsieger Sebastian Kurz ist durch eine Familienfeier verhindert und schickt eine Videobotschaft. Unter den vielen Gästen sind aber auch Alt-Bundespräsident Heinz Fischer und Ex-Kanzler Werner Fay-mann sowie der frühere Bundesminister Josef Ostermayer, Sozialdemokraten, mit denen Brandstetter in der Regierung saß und denen er zuvor auch rechtsfreundlich zur Seite gestanden hat. FPÖ-Volksanwalt Peter Fichtenbauer und der grüne Ex-Bundesrat Marco Schreuder feiern ebenfalls mit, dazu Brandstetters Lehrmeister im Institut für Strafrecht, Winfried Platzgummer, weiters Unternehmer, Manager, Beamte, Anwälte, Journalisten und viele Freunde aus der Jugend und seiner Waldviertler Heimat. Die Familie hat das riesige Fest perfekt vorbereitet.

Eines wollte Brandstetter an diesem Abend nicht: Lange Ansprachen mit Lobesreden auf sein vielfältiges Wirken. Also drehte er die Dramaturgie um, ging auf die Bühne und hielt eine einstündige Laudatio auf seine Gäste. Und da folgte eine Anekdote auf die andere, von seiner Zeit als Student an der Uni Wien, seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor und Strafverteidiger und schließlich auch als Politiker. Viele seiner Gäste kamen darin vor, auch nicht Anwesende wie der russische Präsident Wladimir Putin. Und plötzlich war mir klar, dass diese Geschichten aufgeschrieben gehören, dass wir auch gemeinsam viel erlebt haben, weil sich unsere Lebenswege seit der Studentenzeit immer wieder gekreuzt haben. Und dass wir dabei auch schwierige Themen ansprechen müssen, wie die Frage, was die Politik überhaupt bewegen kann, wie sie die handelnden Personen verändert und ob Politiker und Journalisten überhaupt miteinander befreundet sein können.

Womit Wolfgang nicht rechnen konnte, war eine Sonderausgabe des KURIER, in der Freunde und Wegbegleiter über ihre Erlebnisse schrieben – das war dann doch eine Art Laudatio in Form einer Zeitung. Diesen KURIER habe ich ihm übergeben und dabei selbst eine große Freude gehabt.

Vor rund 40 Jahren, an der Uni Wien, war ich Vorsitzender der Hochschülerschaft, also Studentenpolitiker, während Wolfgang Brandstetter Pressesprecher und quasi auch journalistisch tätig war. In der Fakultätszeitung »Juristl« schrieb er schon damals kluge Artikel. Nun wollte ich ihm beweisen, dass ich inzwischen ein anständiger Journalist geworden bin, er hatte sich ja als Politiker bewährt, in einem Beruf, den ich einmal angestrebt hatte, aus guten Gründen aber nicht ergriffen habe. Um die Berufswahl geht es in diesem Buch auch.

Es war leicht, für die KURIER-Sondernummer Autoren zu finden, und es sammelten sich Geschichten, die viel über ihn erzählen. Michael Spindelegger etwa schreibt, wie er als ÖVP-Chef im Jahr 2013 neue Mitglieder für die Bundesregierung suchte. Wenn er jemanden fragte, ob sie oder er ein wichtiges Amt übernehmen würden, gab es zwei mögliche Antworten: »Zum einen spontane und überschwängliche Reaktionen, die in einem augenblicklichen und euphorischen Ja mündeten. Und zum anderen zögerliche, verhaltene, ja auch von Selbstzweifeln geprägte Antworten, die oft mit der Bitte um Bedenkzeiten verbunden waren. Als ich Wolfgang Brandstetter im Herbst 2013 gefragt habe, ob er sich vorstellen kann, das Justizministerium zu übernehmen, hat er eine dritte Kategorie eröffnet: denn er hat nicht nur gezögert und seine Zweifel bekundet, sondern gleich auch noch mehrere andere Kandidaten genannt, die das sicher noch besser könnten«. Das sagt viel über seinen Charakter aus.

In der Sondernummer gibt es noch viele andere Erzählungen. Sein Kollege, unser gemeinsamer Freund als Student und ÖH-Funktionär, der Wirtschaftsanwalt Georg Karasek, berichtet, wie er ihn einmal in der Teeküche fragte, was denn »seine Verbrecher« so machen? Darauf Brandstetter: »Ich vertrete keine Verbrecher, sondern nur Unschuldige und Opfer von Justiz-Irrtümern.« Sebastian Kurz bedankte sich, dass Brandstetter das Amt des Vizekanzlers übernommen hat, Ex-Minister Thomas Drozda berichtete, »dass Brandstetter auch in angespannten, kontroversen Situationen immer die Contenance bewahrt hat«. Der Motorjournalist Helmut Zwickl berichtet über Brandstetters liebstes Hobby, Oldtimer, und zitiert ihn: »Die Ennstal Classic entschädigt mich für eine Woche Nationalrat.«

Im vorliegenden Buch sind viele Anekdoten versammelt, die an diesem Abend erzählt wurden, aber es enthält noch viel mehr: Gespräche zwischen zwei Freunden, die ihr Leben lang politisch tätig waren. Nur kurz als aktive Politiker, aber immer als aktive Beobachter von gesellschaftspolitischen Entwicklungen, und zwar weit über die Grenzen Österreichs hinaus.

KAPITEL 1

ÜBER DIE ZEIT ALS JUSTIZMINISTER

»Vertrauen ist etwas, das in seiner
Bedeutung unterschätzt wird.«

Wolfgang Brandstetter

HELMUT BRANDSTÄTTER: Du bist mit der Franz-Josefs-Bahn von Eggenburg zu mir in die Redaktion gekommen. Das Dienstauto ist weg, manche Verneigung vielleicht auch, die Macht ohnehin. Viele sind ja über Nacht Minister geworden, und von heute auf morgen ist man es nicht mehr. Wie schlimm ist das?

WOLFGANG BRANDSTETTER: Für mich war es gar nicht schlimm. Erstens, weil ich in der aktiven Zeit immer wieder auch mit der Bahn gefahren bin, zweitens, weil ich meine früheren Freunde ja nie verloren habe, und drittens, weil ich die Schaffner noch immer gut kenne. Die freuen sich, wenn sie mich sehen, und wir haben unseren Spaß miteinander. Für mich war das Zugfahren nie ein Problem.

Was sagen die Schaffner jetzt?

Wir plaudern oft, und wir politisieren auch oft. Es ist mir noch nie passiert in öffentlichen Verkehrsmitteln, und das inkludiert auch die Wiener Linien, dass ich irgendwo unangenehm angesprochen worden wäre. Kritisch zur Politik allgemein schon. Erst heute, auf dem Weg zum KURIER, als ein Fahrgast in Heiligenstadt zu mir sagte: »Herr Justizminister, Sie haben recht gehabt, dass Sie jetzt nicht mehr dabei sind.« Das war offensichtlich jemand, der der jetzigen Regierung kritisch gegenübersteht. Aber ich persönlich habe dabei wirklich noch nie ein unangenehmes Erlebnis gehabt – abgesehen davon, dass mir erst kürzlich eine gar nicht so junge Dame im überfüllten D-Wagen einen Sitzplatz angeboten hat. Aber das hat sicher nichts mit meiner früheren Funktion, sondern mit meinem von ihr eindeutig zu hoch eingeschätzten Alter zu tun.

Die Leute schimpfen gerne über Politiker, aber nur, wenn keiner in der Nähe ist. Wenn Politiker anwesend sind, habe ich oft eher unterwürfiges Verhalten erlebt. Ich erinnere mich an ein KURIER-Gespräch mit Werner Faymann, da kommt nachher ein Mann zu mir und sagt, er hätte auch noch gerne was gefragt. Ja, was denn? Ob der Kanzler Matura hat? Das ist kein Problem, sage ich, da drüben steht der Bundeskanzler. Nein, ist eh nicht so wichtig, meint der Mann, offenbar ängstlich geworden ob der Nähe des Kanzlers. Da habe ich ihn fest bei der Hand genommen und zu Faymann geführt. Und er hat nur sehr leise gefragt: »Haben Sie Matura?« Ja freilich, sagte dieser, und der Mann war froh, davonzukommen. Die Ämter von Kanzler, Ministern oder Abgeordneten sind ja noch immer etwas ganz Besonderes.

Ich habe das nie so stark empfunden. Am Anfang habe ich mich schon gewundert, dass Leute von mir ein Autogramm wollten, dann habe ich herausgefunden, was der wirkliche Grund war. Ich habe ja nie angenommen, dass jemand von mir ein Autogramm will, weil er von mir persönlich so angetan ist. Ich bin draufgekommen, dass im Internet mit diesen Autogrammkarten gehandelt wird. Mein Sohn hat mich gleich am Anfang darauf aufmerksam gemacht und mir gesagt, dass der Marktwert meiner Autogramme im Internet im Verhältnis zu Bundeskanzler Werner Faymann drei zu eins war, also ein Faymann gegen drei Brandstetter. Daraufhin habe ich beschlossen, die Autogrammkarten und deren Versand zu beschränken, um das Angebot zu reduzieren und den Wert zu erhöhen. Das ist auch gut gelungen. Man muss das einfach locker und mit Spaß betrachten. Wobei es dann eine kurzzeitige Steigerung gab, denn die Autogrammkarten, die ich als Vizekanzler verschenkt habe, das sind geborene Raritäten gewesen. Die standen zeitweise hoch im Kurs.

Braucht man in der Spitzenpolitik einen, der hinter dir steht wie hinter den erfolgreichen römischen Feldherrn und dir zuflüstert: »Vergiss nicht, du bist sterblich«?

Ich brauch das nicht. »Memento mori« gehört zum katholischen Basiswissen.

Aber manche hätten es gebraucht.

Das hast jetzt du gesagt.

Es würden dir keine Namen einfallen?

Wir sind beide katholisch geprägt, da hat man diese Dimension immer im Kopf. Wir wissen alle, die Friedhöfe sind voll von Menschen, die sich zeitlebens immer für unentbehrlich gehalten haben.

Das ist ein gutes Stichwort, weil das führt zum Beginn deiner Ministerschaft. Ich erinnere mich, ich sitze in meinem Büro, ohne irgendeine Ahnung, es war Dezember 2013, die Zeit der Regierungsbildung nach der Nationalratswahl. Du rufst an und ich sage spontan: »Gut, jetzt musst du den Justizminister machen.« Du fragst mich: »Woher weißt du das?« Ich habe gesagt, ich weiß es nicht – aber ich habe es gespürt. Später, zu deinem Geburtstag, hat Ex-Vizekanzler Spindelegger genau beschrieben, wie das war. Er hat dich gefragt, ob du Justizminister werden willst und du hast andere Leute vorgeschlagen, die das besser könnten. Kannst du jetzt sagen, wer das gewesen wäre?

Ich habe einige Namen genannt, darunter auch solche, von denen ich jetzt weiß, dass sie es ohnehin nicht gemacht hätten. Es hätte aber keinen Sinn, wenn ich diese Namen nun nennen würde.

Das heißt, das erfahren wir nicht.

Nein, weil das keinen Sinn mehr macht.

War das eine künstliche Bescheidenheit, also: Ich tue jetzt so, als wäre ich bescheiden und sage, das kann jemand anderer besser – oder bist du wirklich so? Andere sagen auf die Frage »Ja, ich freue mich« oder »Nein, das kann ich auf keinen Fall machen«. Aber dass man jemand anderen vorschlägt, der besser sein soll, das hat Spindelegger noch nie erlebt, wahrscheinlich auch sonst kaum ein Parteichef.

Das war aber so. Ich habe damals den Eindruck gehabt, dass zwei, drei Personen diese Funktion doch besser ausfüllen könnten, als ich es vermocht hätte, aus meiner damaligen Sicht der Dinge. Und das habe ich Michael Spindelegger auch gesagt. Er hat mich letztlich mit dem Argument des Vertrauens beider Regierungsparteien überzeugt. Wobei ich zwei Tage Bedenkzeit hatte. Und das Vertrauen zwischen mir und Spindelegger war hundertprozentig da, auch zu Werner Faymann und Josef Ostermayer habe ich bis heute freundschaftliche Kontakte. Michael Spindelegger hat mir vor allem eines gesagt, und das hat sich dann wirklich bewahrheitet: Du hast völlige Freiheit, man wird dir nirgendwo dreinreden, du hast keinerlei Vorgaben, du bist parteifrei und Werner Faymann und ich wollen, dass das Justizressort von jemandem geführt wird, der es wirklich parteifrei führen kann, wir vertrauen dir in diesem Punkt, wir glauben, du kannst das, und wir wollen dich beide haben. Klingt unglaublich, war aber so.

Parteifrei, aber doch mit einem engen persönlichen Verhältnis zu Michael Spindelegger seit langer Zeit? Ihr kanntet euch aus der CV-Verbindung.

Das hat mit der katholisch-akademischen Verbindung »Norica« begonnen, die innerhalb des Cartellverbands betont fortschrittlich war. Wir waren immer wieder zusammen in Arbeitskreisen oder in der Politischen Akademie der ÖVP, in deren politischen Jahrbüchern ich damals auch gerne publiziert habe.

Und daraus wurde eine persönliche Freundschaft?

Das ist eine ehrliche Freundschaft, wir treffen uns regelmäßig und tauschen uns aus. Das ist ungebrochen. Und das 100-prozentige Vertrauen, das war immer da und eine gute Basis für meine Regierungstätigkeit. Im Übrigen war auch ein bisschen der KURIER daran schuld, weil ich im September 2013 meinen ersten Gastkommentar geschrieben habe über die Problematik des Weisungsrechts gegenüber den Staatsanwälten, und da bin ich erstmals mit einer rechtspolitischen Frage in eine breitere Öffentlichkeit getreten. Aber nicht, um etwas in der Politik anzustreben, sondern weil mich das Thema interessierte. Und der KURIER hat mir damals die Chance gegeben, diesen Gastkommentar zu schreiben. Das hat vielleicht ein bisschen dazu geführt, dass man aufmerksam geworden ist auf mich. Du hast das sicher schon längst vergessen, aber ich erinnere mich genau daran, dass du mir damals als Chefredakteur ein SMS geschrieben hast mit dem Wortlaut: »Dein Beitrag ist in Druck, das können über 600.000 Menschen lesen.« Das hat mir natürlich schon getaugt. Ich habe damals nach dem Gespräch mit Spindelegger auch noch mit Faymann geredet und bestätigt bekommen, dass auch er will, dass ich diese Funktion übernehme, auch Josef Ostermayer hat mich darin bestärkt. Da habe ich mir gedacht, mein Gott, was soll schon passieren. Ich habe ja einen angestammten Beruf als Universitätsprofessor, in den ich jederzeit zurückkehren kann. Ich habe Spindelegger aber auch gesagt: »Du darfst nicht bös’ sein, wenn ich dich enttäuschen sollte. Ob ich es wirklich kann, werden wir erst sehen.« Aber es war sicherlich so, dass das Vertrauen ausschlaggebend war. Vertrauen ist, glaube ich, etwas, das in seiner Bedeutung unterschätzt wird.

Vertrauen hat es ja auch zum SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann gegeben. Er war dein Mandant. Und das hat wieder mit dem KURIER und mir persönlich zu tun, weil der KURIER über ein Protokoll des Vorstands der Österreichischen Bundesbahn geschrieben hat. Aus dem ist hervorgegangen, dass der Vorstandsvorsitzende Martin Huber berichtet hat, dass der damalige, inzwischen verstorbene Herausgeber der »Kronen-Zeitung«, Hans Dichand, mit dem Infrastrukturminister Faymann über gemeinsame Aktionen, Inserate und anderes gesprochen hat, wo Geld der ÖBB zur »Kronen-Zeitung« fließen sollte. Wir haben das lange recherchiert und zum Ärger des Bundeskanzlers genau beschrieben. Dann hat es eine Anzeige der FPÖ gegen Faymann und seinen Minister Josef Ostermayer gegeben. Faymann und Ostermayer haben plötzlich einen Strafverteidiger gebraucht – sind die beiden über Michael Spindelegger zu dir gekommen?

Ob das über Michael Spindelegger war, weiß ich heute gar nicht mehr. Aber, mein Gott, der KURIER ist immer sehr kritisch, wie wir wissen, aber man muss schon unterscheiden zwischen rein politischen und strafrechtlichen Kategorien. Ein politischer Angriff muss noch lange nicht strafrechtlich relevant sein. Und dieses Verfahren war eines, wo ich von Anfang an überzeugt war, da kann nicht wirklich was rauskommen. Aber es ist richtig, dass sich durch diesen direkten Kontakt natürlich auch Vertrauen entwickelt hat.

Den sozialdemokratischen Bundeskanzler zu verteidigen war für dich kein Problem?

Aber ganz und gar nicht. Das wäre ja absurd, das würde ja bedeuten, dass ich einen Schranken vor dem Kopf hätte. Genau solche Gedanken darf man als Justizminister, wenn man die Funktion unabhängig ausüben will, überhaupt nicht haben. Und den Menschen Werner Faymann habe ich sehr gerne, mit Herzblut und auch erfolgreich verteidigt, was angesichts der Sach- und Rechtslage nicht allzu schwer war.

Also wenn jetzt ein FPÖ-Minister kommt und was braucht, würdest du ihn auch betreuen.

Ich sehe darin kein Problem. Alles andere wäre schlimm. Die Frage ist aber rein theoretisch, weil ich als Strafverteidiger nicht mehr tätig bin.

Die klassische Antwort eines Strafverteidigers ist, Kinderschänder würde er nicht verteidigen. Aber auch ein Kinderschänder hat Anspruch auf einen Strafverteidiger.

Selbstverständlich, das ist auch durch die staatliche Verfahrenshilfe abgesichert.

Aber es ist etwas, wo man sagt, das mache ich nicht freiwillig.

Als Strafverteidiger agiert man letztlich als ein Organ im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit. Da geht es um Einhaltung der rechtsstaatlichen Grenzen, und da sollte jeder seinen Beitrag leisten, ungeachtet der Person.

Zurück zur Partei. Wir haben festgestellt, du warst nicht Parteimitglied. Kein Problem für dich oder Michael Spindelegger. War es für andere ein Problem, die brav die Ochsentour gemacht hatten? Es gibt ja Leute, die von klein auf in der Partei aufwachsen und irgendwann vielleicht auch einmal Minister werden wollen. Und jeder Parteilose, der Minister wird, übergeht diese Personen.

Auch von Sebastian Kurz haben sich einige erwartet, dass sie jetzt was werden, weil sie der Partei gedient haben. War das intern dann zu spüren, dass der eine oder andere gesagt hat, warum kommt der von außen, warum nicht ein richtiger Schwarzer?

Zu spüren war das bei einigen schon, durchaus. Es ist mir nie so offen kommuniziert worden, aber gespürt hat man es, keine Frage. Am Anfang jedenfalls, dann mit der Zeit eher nicht mehr. Dann haben sich auch Freundschaften herausgebildet, oft zu genau jenen, die eine klassische Parteikarriere hingelegt haben, was ja nichts Schlechtes ist. Ich habe Menschen erlebt, die durch die Partei geprägt und manchmal auch verbogen wurden, ich habe aber auch Persönlichkeiten erlebt, die ihre Partei geprägt haben, und auf die kommt es letztlich an. Ich muss vielleicht noch hinzufügen, dass ich immer ein politisch denkender Mensch war. Insofern gab es immer diesen Konnex mit der Politik. Bei mir kommt vielleicht noch dazu, dass ich mich als Christdemokraten sehe und daher ideell viele Bezugspunkte zur Sozialdemokratie habe. Von den Grundideen her gibt es da viele Berührungspunkte, und das hat mich natürlich auch geprägt.

Bleiben wir noch kurz beim Thema der Partei, weil das ja auch immer in Diskussion ist. Jetzt entstehen auf einmal Bewegungen, Sebastian Kurz mit seiner Bewegung, die das in Wirklichkeit weniger ist als »En Marche« von Emmanuel Macron. Kürzlich hat der frühere deutsche Bundespräsident Joachim Gauck gesagt, dass es zwar mühsam ist mit den Parteien, aber eine Demokratie ohne Parteien wäre wahrscheinlich noch mühsamer.

Da hat er recht. Wir dürfen nicht vergessen, wir haben im Parteiengesetz 1975 ausdrücklich festgelegt, dass die Parteien die Grundlage unserer Demokratie sind. Die Parteien müssen sich organisieren, damit die Demokratie leben kann. Das ist für mich keine Frage. Der Rest ist eigentlich Marketing. Dass sich der Begriff der politischen Partei zu etwas entwickelt hat, was negativ besetzt ist, das hat viele Gründe.

Aber wenn ich rein marketingtechnisch bemerke, der Begriff der politischen Partei ist statisch und negativ besetzt, dann versuche ich natürlich, einen anderen, dynamischeren Begriff zu finden.

Ich möchte dazu kommen, dass sich Menschen massiv verändern, wenn sie als Politiker ständig beobachtet werden. Und es ist auch die große Enttäuschung vieler Menschen, dass sie oft von Politikern angelogen wurden. Das trifft ja auch auf Journalisten zu, mit denen natürlich niemand Mitleid hat, aber ich wurde oft belogen und beide Seiten haben es gewusst. Wie oft hast du gelogen in deinem Amt als Minister?

Auch wenn mir das jetzt kein Mensch glaubt, ich habe nie lügen müssen. Ich habe vieles verschwiegen, es ist klar, dass man vieles nicht sagen kann, wenn man weiß, das würde jetzt marketingtechnisch schaden. Aber wirklich bewusst gelogen habe ich nie, und das war auch nie notwendig. Im Zweifel habe ich dann oft gesagt, dazu nichts sagen zu können. Solche Statements gibt es, da sind die Journalisten zwar nicht zufrieden, aber das muss man in Kauf nehmen. Natürlich versucht man, in der Kommunikation nach außen möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten, man wird selektiver bei der Wortwahl, man versucht natürlich, Dinge so darzustellen, dass sie einem selber nützen. Das ist auch legitim, das macht jeder. Aber dass man jetzt bewusst täuscht und lügt, das wäre für mich ein No-Go. Es gibt ja auch den schönen Begriff des vielsagenden Schweigens …

Bei dieser Gelegenheit: Was wirklich unterschätzt wird, ist die Belastung von Ministern bei parlamentarischen Anfragen, wo man zur wahrheitsgemäßen Beantwortung verpflichtet ist. Wir haben zusätzliche Kapazitäten in unserem Kabinett gebraucht, weil das so überhandgenommen hat. Aber das ist wirklich heikel, denn eine falsche Antwort bei einer parlamentarischen Anfrage führt normalerweise zu einem Misstrauensantrag. Mit Recht. Damit darf man sich nicht spielen. Und ich war bekannt dafür, das wurde mir auch von allen Seiten attestiert, dass gerade meine Anfragebeantwortungen besonders detailliert waren. Mir war schon wichtig, dass man das ernst nimmt, das ist auch verfassungsrechtlich so vorgesehen.