Jennifer Bell

Izzy Sparrow

Die Stadt der verlorenen Dinge

Aus dem Englischen
von Jan Möller

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Jennifer Bell
lebt in London und arbeitete als Buchhändlerin, bevor sie anfing, selbst Bücher zu schreiben. Die Idee für »Izzy Sparrow. Die Geheimnisse von Lundinor« kam ihr, als sie für den Urlaub packte und sich wünschte, einfach in ihren Koffer zu kriechen und an ihrem Urlaubsort wieder herauszukommen. Mit dem Schreiben von Kinderbüchern kann sie sich in fremde Welten hineinträumen und muss nie erwachsen werden, ganz so wie Peter Pan, dessen Geschichten sie am liebsten liest.
www.jennifer-bell-author.com

1. Auflage 2018
Für die deutsche Ausgabe:
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2018
Alle Rechte vorbehalten
Titel der englischen Originalausgabe: »The Uncommoners
– The Frozen Telescope«
Copyright © Jennifer Bell, 2018
erschienen bei: Corgi Books, London 2018
Aus dem Englischen von Jan Möller
Umschlagillustration: Timo Grubing
ISBN 978-3-401-80782-9

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Für Peter, in Liebe.

1

Die neue Babysitterin war eine stämmige Frau mit einem moosgrünen Kopftuch, einem langen Trenchcoat und einer Brille mit runden Gläsern.

Und sie war tot.

»Du musst Izzy sein«, sagte die Babysitterin schroff und ließ ihre Tasche auf den Fußabtreter vor der Haustür fallen. Ihre Mundwinkel hoben sich schwerfällig, als ob sie das Lächeln nicht gewohnt war. »Deine Eltern haben mir alles über dich erzählt. Du kannst mich Curtis nennen.«

Izzy wich einen Schritt zurück. Sie konnte die Toten aus der Welt der Ungewöhnlichen spüren, aber hier im gewöhnlichen London war sie ihnen noch nie zuvor begegnet. »Meine Eltern sind gerade losgefahren, um ihren Zug noch zu erwischen … Ich hol schnell meinen Bruder.« Mit großen Schritten eilte sie die Treppe hinauf und schlug mit der flachen Hand gegen seine Zimmertür.»Seb!«

Seb erschien in einem dicken Kapuzenpulli, Jeans und Turnschuhen, lehnte sich lässig gegen den Türrahmen und sah Izzy durch seine wirren blonden Haare mürrisch an. An einem gewöhnlichen Abend hätte er die Tür im Schlafanzug geöffnet, aber heute hatten sie geplant, sich um Mitternacht davonzuschleichen. Sie wollten nach Nubrook, einem ungewöhnlichen Markt, der unter der Stadt New York verborgen war, um ihrem Freund Valian bei der Suche nach seiner verschollenen Schwester zu helfen. »Du hast mein Lieblingsvideo von The Ripz unterbrochen«, murrte Seb. »Was ist denn?«

»Unsere Babysitterin ist tot«, teilte Izzy ihm mit.

»Was?« Seb nahm eine gerade Haltung an. »Bist du sicher?«

Izzy spähte über das Treppengeländer. Unten im Flur hängte Curtis gerade ihren Mantel auf. An dessen Kragen funkelte eine Brosche in der Form eines gegabelten Pfeils. Curtis mochte vielleicht normal aussehen, aber Izzy wusste, dass das Knifflige bei der Sache mit den Toten war, dass man sie nicht von den Lebenden unterscheiden konnte, bis sie etwas Unmögliches taten – wie durch eine Wand zu schweben oder sich in ein riesiges Insekt zu verwandeln.

»Absolut«, antwortete sie. »Ich kann es fühlen.« Als Flüsterer konnte Izzy die Fragmente menschlicher Seelen spüren, die im Körper der Toten gefangen waren. Vor Sebs Tür im Flur stehend, versuchte sie nun, die Reichweite ihres Flüstersinns zu erweitern, so wie sie es geübt hatte. Izzy konnte die Stimme von Curtis’ zerbrochener Seele ganz leise am Rande ihrer Wahrnehmung hören. »Ihr Name ist Curtis«, teilte sie Seb mit. »Wenn sie tot ist, muss sie eine Ungewöhnliche sein. Was macht sie dann hier?«

Eine Falte bildete sich zwischen Sebs dichten Augenbrauen. »Dad hat sich gestern darüber beschwert, dass in der Gegend kein Babysitter mehr zu kriegen ist, weil so viele Schulen wegen Reparaturen geschlossen sind, nicht nur unsere. Guck …« Er nahm seine Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle, bis er fand, was er suchte. Eine Wetterkarte auf einer Hälfte des Bildschirms zeigte die Luftdrucklinien eines gewaltigen Sturms, der über den Ärmelkanal von Paris nach London wanderte. Der Reporter in der anderen Hälfte rief laut in die Kamera, während sein Mantel wild im Wind flatterte.

»… Meteorologen suchen noch immer nach einer Erklärung für das plötzliche Auftreten von Sturm Sarah vor drei Tagen in Paris. Der Hurrikan der Stufe zwei hat auch bei uns großflächigen Schaden angerichtet und für Ausfälle gesorgt, Schulen und Straßen überall in London und dem Südosten des Landes wurden geschlossen …«

»Ich habe versucht, Dad davon zu überzeugen, dass wir auf uns selbst aufpassen können«, fuhr Seb fort, »und dass wir für die paar Nächte, wenn Mum und er bei der Hochzeit sind, keinen Babysitter brauchen. Aber dann ist Mum nach Hause gekommen und hat verkündet, dass sie durch einen glücklichen Zufall auf eine verfügbare Babysitterin ›gestoßen‹ ist … das muss Curtis gewesen sein.«

Izzy spürte ein Prickeln auf der Haut. Das konnte kein Zufall sein. Sie schnappte sich die Fernbedienung und stellte den Fernseher lauter, damit ihre Stimmen unten nicht zu hören waren. »Was ist, wenn Curtis für die Schattenwanderer arbeitet? Die setzen ständig Tote für ihre Zwecke ein. Sie könnten sie hier eingeschleust haben, um uns auszuspionieren – oder noch Schlimmeres.« Die Schattenwanderer … Izzy wünschte, dass sie nicht über sie reden müsste, aber es war schwer, den Geheimbund zu vergessen, der es immer wieder auf sie abgesehen hatte.

Seb versteifte sich. »Ich habe die ungewöhnlichen Zeitungen gelesen, die Valian uns geschickt hat: Die Schattenwanderer sind seit dem Frühjahr mit allen möglichen Vorfällen in Verbindung gebracht worden. Sie sind doch bestimmt viel zu beschäftigt, um sich mit uns abzugeben?«

Das Zittern in seiner Stimme sagte Izzy, dass er den letzten Teil selbst nicht glaubte, aber in einem hatte er recht: Die niederträchtige Gilde der Schattenwanderer war äußerst aktiv gewesen. Ihre Visitenkarte – ein krummer Sixpence – war an mehreren Tatorten rund um die ungewöhnliche Welt gefunden worden. In Moskov, dem geheimen Markt in Russland, wurden den Schattenwanderern verschiedene Fälle von Erpressung und Entführung zugeschrieben, in China groß angelegter Betrug. Eine Reihe von Ladenüberfällen auf dem ägyptischen Markt Cryp trug ebenso ihre Handschrift wie das rätselhafte Verschwinden einiger hoher Amtsträger im deutschen Ausmark. Bei so viel krimineller Aktivität wunderte es Izzy, dass die sechs Mitglieder der Gilde ihre Identität weiterhin geheim halten konnten.

»Jetzt, wo ich darüber nachdenke …«, sagte Seb und blinzelte. »Ich glaube, Curtis’ Auftauchen könnte mit einer Nachricht zu tun haben, die Valian mir vorhin geschickt hat. Er wollte uns mitteilen, dass wir keine ungewöhnlichen Gepäckstücke mehr nutzen können, um nach Nubrook zu reisen – er hat nicht gesagt, warum –, aber er hat uns stattdessen neue Anweisungen gegeben.«

»Ach ja? Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Das konnte ich nicht riskieren, solange Mum und Dad noch in der Nähe waren. Keine Sorge – ich bin sicher, es ist nichts Schlimmes.«

Izzy biss die Zähne zusammen. Ihr Bruder hatte die frustrierende Angewohnheit, alles unhinterfragt zu akzeptieren. »Seb«, sagte sie vorwurfsvoll, »Valian sucht seit sieben Jahren allein nach Rosie … er ist es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten. Es könnte etwas passiert sein …« Izzy hatte ein hohles Gefühl in der Magengrube, wenn sie an die wiederholten Enttäuschungen dachte, die Valian bei der Suche nach seiner kleinen Schwester erlebt hatte. Sie war entschlossen, alles zu tun, was sie konnte, um ihm diesmal zu helfen. »Diese Reise ist bis jetzt seine beste Chance, sie zu finden. Wir müssen ihn bei jedem Schritt unterstützen.«

Seb errötete schuldbewusst. »Na gut, dann lass uns jetzt gleich nach Nubrook reisen. Ich bin nicht gerade scharf darauf, noch länger hierzubleiben und herauszufinden, ob Zombie Poppins uns nun umbringen will oder nicht.« Er zog seinen fertig gepackten Rucksack unter dem Bett hervor und schaltete den Fernseher aus. Izzy holte ihre Sachen aus ihrem Zimmer und stopfte sich noch einen extra Pullover in ihre Umhängetasche. Ein dickes, in Leder gebundenes Buch schaute daraus hervor. Auf die Vorderseite war ein Symbol geprägt: eine rauchende Sanduhr. Seb bedachte es mit einem skeptischen Blick.

»Du nimmst Amos Stirlings Tagebuch mit?«, fragte er. Izzy verstand seine Sorge. Das Tagebuch war mit Notizen gefüllt und enthielt viele gefährliche Geheimnisse über die Großen Ungewöhnlichen Güter – die fünf mächtigsten ungewöhnlichen Gegenstände der Geschichte – und deshalb zog es jede Menge Ärger an.

»Ich habe bisher erst ein bisschen davon übersetzen können«, erklärte sie ihm. »Amos hat in Sprachen geschrieben, die nicht mal Google kennt. Er hat alles Mögliche über die Großen Ungewöhnlichen Güter herausgefunden und er wollte verhindern, dass dieses Wissen den Schattenwanderern in die Hände fällt. Wenn ich das Buch hierlasse und Curtis es findet …«

»… werden die Schattenwanderer Amos’ sämtliche Geheimnisse erfahren«, beendete Seb ihren Satz. »Schon verstanden.« Er führte sie ins Badezimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Izzy zog die Rollläden vor dem Fenster herunter.

»Hat Valian gesagt, dass es einen geheimen Eingang nach Nubrook gibt, der irgendwo hier versteckt ist?«, fragte sie und dachte daran, wie Seb und sie einmal durch einen Schuppen in einer Kleingartenanlage nach Lundinor gelangt waren. Es gab viele verschiedene Wege, wie man den geheimen Markt unter London erreichen konnte. Vielleicht war es mit Nubrook genauso.

»Nein«, antwortete Seb, »seine Anweisungen waren noch seltsamer.« Er schloss den Stöpsel des Waschbeckens und drehte den Wasserhahn auf. »›Wascht eure Hände und findet den Mann in Rot.‹ Mehr hat er nicht geschrieben.«

Izzy fragte sich, warum Valian wohl so undeutlich geblieben war. Sie klopfte auf ihre Umhängetasche. »Scratch, hörst du zu? Hast du eine Ahnung, was Valian damit meint?«

Sie spürte ein Vibrieren an ihrer Hüfte, öffnete die Tasche und holte eine zerkratzte Fahrradklingel heraus. Wie alle ungewöhnlichen Objekte fühlte sich die Klingel seltsam warm an ihrer Haut an, als hätte sie in der Sonne gelegen.

»Los es geht endlich!«, rief eine kindliche Stimme, die aus der Klingel kam. »Gereist Nubrook nach zuvor nie noch ist Scratch!« Izzy konnte das Seelenfragment in Scratchs Innern flüstern hören –genau das war es, was ihn ungewöhnlich machte. »Hmm. Will haben sauber Hände die Valian warum, nicht weiß.«

Izzy ließ die Schultern hängen. Trotz Scratchs Eigenheit, alles rückwärtszusprechen, verstand sie, was er meinte.

Im Erdgeschoss knallte eine Tür: Anscheinend lief Curtis durchs Haus.

Eilig stellte Izzy Scratch auf dem Rand des Waschbeckens ab, pumpte ein bisschen Flüssigseife in ihre Handfläche und verrieb sie. Vielleicht würde sich ja alles von selbst erklären, wenn sie Valians Anweisung genau befolgten. Als sie ihre Hände abwusch, wurde sie auf eine zerbrochene Seele aufmerksam, die sich irgendwo in der Nähe befinden musste. Am scheppernden Klang ihrer Stimme erkannte Izzy, dass sie in einem ungewöhnlichen Gegenstand eingeschlossen war …

Aber diese Stimme kam nicht aus Scratch. Izzy öffnete das Schränkchen über dem Waschbecken und entdeckte auf einem der Regalbretter eine silberne Seifenschale mit zwei delphinförmigen Henkeln. »Seb«, rief sie, »die hier ist ungewöhnlich!«

»Ja?« Er musterte die Seifenschale nervös, während Izzy sie aus dem Schränkchen holte. »Die habe ich noch nie zuvor gesehen. Was macht die hier?«

Izzy drehte die Schale um und betrachtete sie von allen Seiten. »Vielleicht hat Valian sie geschickt? Das könnte der Grund sein, warum er wollte, dass wir uns die Hände waschen –damit wir die Schale finden. Was glaubst du, was sie kann?« Izzy dachte nach. Jeder Gegenstand erhielt eine besondere Fähigkeit, wenn er ungewöhnlich wurde.

»Experimentieren damit sollte Izzy«, schlug Scratch hilfsbereit vor und stieß klappernd gegen den Wasserhahn. »Entdecken zu Funktionen ungewöhnliche, Methode gute eine ist.«

Izzy folgte seinem Rat und versuchte, die Seifenschale auf dem Wasser schwimmen zu lassen. Sofort bildete sich ein seltsamer grüner Schaum, der rund um die Schale brodelte und sie einen Moment später schon verschluckt hatte. Bevor Izzy Zeit hatte zu entscheiden, ob das jetzt gut oder schlecht war, hallte ein Ruf die Treppe herauf.

»Soll ich zu euch HOCHKOMMEN?«, donnerte Curtis. Ihre Stimme hatte einen unverkennbar misstrauischen Ton.

»Wir kommen gleich runter!«, rief Izzy zurück, wobei sie sich Mühe gab, so ungezwungen wie möglich zu klingen.

Seb rüttelte an der Tür, um sich zu vergewissern, dass sie abgeschlossen war. »Wir müssen uns beeilen«, zischte er. »Curtis ahnt vielleicht schon, dass wir abhauen wollen – du siehst eher aus, als ob du auf eine Bergwanderung willst, nicht ins Bett.«

Izzy musterte sich im Badezimmerspiegel. Ihre zerzausten rotbraunen Locken guckten unter einer marineblauen Beanie-Mütze hervor, die farblich zu ihrem Wollmantel passte. In ihren dicken Cargohosen und ihren sauberen Wanderstiefeln war sie genau so gekleidet, wie Valian es ihnen geraten hatte: Sie war auf alles vorbereitet.

»Wir versuchen besser was anderes«, meinte Seb und fischte mit den Fingern im trüben Seifenwasser, um die Schale wiederzufinden.

Es gab ein unangenehm knirschendes Geräusch …

… und dann war Seb nicht mehr da.

»Seb!« Izzy beugte sich über das Waschbecken, vermied es aber noch, das Wasser zu berühren. Die Seifenschale war ebenso verschwunden wie Seb.

Ein deutliches Knarren war aus dem Flur zu hören: Curtis kam die Treppe herauf. Izzy nahm in Gedanken Kontakt zu Scratch auf: Hilfe! Weißt du, was mit Seb passiert ist? Soll ich das Wasser berühren?

Nach denkt Scratch, hörte sie ihn in ihrem Kopf antworten. Sein vorsichtig muss Izzy.

Die Fähigkeit, auf diese Weise mit ihm zu kommunizieren, war eine neuere Entwicklung. Am Anfang hatte sie nur undeutliches Gemurmel von dem Seelenfragment in Scratch vernommen, aber jetzt konnte sie vollständige Sätze verstehen und ihre eigenen Worte zurücksenden. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass ihre Begabungen stärker wurden, je öfter sie ihren Flüstersinn gebrauchte.

Jetzt knarrte es schon auf dem Treppenabsatz.

Anmarsch im Curtis!, warnte Scratch sie.

Weil sie keinen anderen Ausweg sah, steckte Izzy Scratch schnell wieder in ihre Tasche und tauchte dann ihre Hand ins Waschbecken, so wie Seb es getan hatte. Kitzelnde Bläschen stiegen ihr in die Nase. »Hatschi!«, nieste sie. Dabei schloss sie für einen Sekundenbruchteil die Augen und in diesem Moment hörte sie noch ein anderes Geräusch, ein Knirschen und Kreischen …

… und im nächsten Augenblick stand sie im schwankenden Inneren eines Unterwasserfahrzeugs. Seb stand neben ihr und blähte beide Nasenflügel auf, als hätten sich dort gerade ein paar Fliegen hineinverirrt.

»Was ist denn jetzt passiert?«, fragte er und rieb sich das Gesicht. »Wo sind wir?«

Das metallische Gefährt hatte die Größe eines kleinen Schleppers. Es war vorne und hinten rund und hatte eine durchsichtige Haube aus Seifenblasen, die es an allen Seiten abschirmte wie das Dach eines Cabrios, nur wabbeliger. In dem trüben Wasser ringsum waren undeutlich die gezackten Umrisse von Felsen zu erkennen und, etwas näher bei ihnen, die eleganten Rundungen eines silbrigen Delfins.

»Wir sind in der Seifenschale!«, begriff Izzy. Nach der starken Strömung zu urteilen, waren sie in einem Fluss oder Strom untergetaucht. Die Luft roch nach Chlor und parfümierter Seife wie die Umkleidekabinen im Schwimmbad.

»Willkommen an Bord des Aqua-Transport-Schiffs Nummer 2895«, sagte eine computerähnliche Stimme. Izzy hatte keine Ahnung, woher sie kam: Im Innern des Schiffs gab es weder Lautsprecher noch ein Steuerpult. »Was ist Ihr gewünschtes Reiseziel?«

»Nubrook«, sagte Izzy.

Erneut ertönte das knirschende Geräusch – wie Metall, das über Stein schabt. Die Seifenschale begann, so heftig zu schaukeln, dass die Geschwister auf den Boden purzelten. Seb hielt sich den Bauch. »Boah … mir ist schlecht …«

»Besser, wir bleiben sitzen, bis es vorbei ist«, riet Izzy. Sie wusste nicht, wie lange es dauern oder wie turbulent es wohl werden würde.

Der Delfin am Heck des Gefährts schlug mit seiner Schwanzflosse auf und ab und sie nahmen Fahrt auf. Izzy hielt sich fest, um nicht wieder umzukippen. Ihre Umgebung war lebensgroß, also nahm sie an, dass die Schale sich vergrößert hatte, nachdem sie an ihren derzeitigen Ort teleportiert worden war. Aber sie war sich immer noch nicht sicher, wie Seb und sie in die Schale hineingelangt waren.

Sie sausten durch ein Dickicht aus schlammigem Laichkraut, bevor sie in klarere Gewässer kamen und tiefer tauchten. Während sie dahinglitten, blickte Izzy staunend durch die wirbelnden Regenbögen in der Seifenblasenkuppel auf die langsam vorbeischwimmenden Fischschwärme und die von Rankenfüßern überzogenen Röhren. Schon bald fegten sie über eine dunkle und sandige Fläche hinweg. Der Meeresgrund.

Dann begann die Schale, in Windeseile wieder aufzusteigen. Sie erreichte die Wasseroberfläche und strandete mit einem heftigen Ruck auf einer Plattform. Die Kuppel platzte und Izzy erschrak, als ihr plötzlich gewaltiger Lärm entgegenschlug.

»Willkommen in Nubrook«, verkündete eine fröhliche Stimme, »dem tiefsten Markt der Welt!«

2

Die fröhliche Stimme gehörte zu einem rotbackigen Mann mit wild gemustertem Hemd, der Izzy seine Hand reichte, als sie aus der Seifenschale auf einen Anlegesteg trat. »Vorsicht beim Aussteigen, bitte«, warnte er.

»Danke«, murmelte sie. Andere Seifenschalen ankerten entlang desselben langen Kanals. Er durchschnitt den Kalksteinboden einer riesigen Ankunftshalle, in der es von Leuten nur so wimmelte. Eiserne Laternenpfähle, die wie Tänzer geformt waren, säumten den Rand der Halle und jeder von ihnen hielt eine leuchtende ungewöhnliche Zitronenpresse.

»Festes Land, endlich …« Seb schwankte hinter ihr auf den Steg, sein Gesicht war kreidebleich.

Etwas traf Izzy am Arm. Als sie sich umsah, entdeckte sie zu ihren Füßen eine zerfledderte Broschüre. Sie hob sie auf und las die Vorderseite: Nubrook: Farrows Reiseführer für den Fahrenden Händler.

»Kostenlose Reiseführer für Nubrook!«, rief ein Junge mit amerikanischem Akzent, während er am Steg entlangging. Er warf ein paar Broschüren in Richtung einer anderen Seifenschale. »Entdecken Sie die Geheimnisse des Marktes, der in die Tiefe gebaut ist, während die Gewöhnlichen in die Höhe bauen.«

Farrows Reiseführer … So einen hatte Izzy auch für Lundinor erhalten. Diese Handbücher waren in einem seltsamen Code geschrieben, den Scratch entschlüsseln konnte. Andere benötigten ungewöhnliche Operngläser, um sie zu lesen.

»Der Ausgang ist dort hinten«, sagte der Mann mit dem wild gemusterten Hemd und zeigte zum Ende des Stegs. Er reichte Izzy die Seifenschale mit den Delfin-Henkeln, die – irgendwie – wieder auf ihre ursprüngliche Größe geschrumpft war.

Sie schüttelte sie trocken und steckte sie zusammen mit dem Reiseführer in ihre Umhängetasche, bevor sie nach Sebs Jackenärmel griff, um ihn in die richtige Richtung zu lotsen. Während sie den Steg entlanggingen, kehrte allmählich die Farbe in Sebs Gesicht zurück. Eine Schar von Aqua-Transport-Reisenden drängelte sich an ihnen vorbei. Izzy musste einem Mädchen ausweichen, das eine Sherlock-Holmes-Mütze zu einem mit goldenen Fransen besetzten Sari trug, während Seb beinahe zwischen zwei glatzköpfigen Männern mit Schlaghosen und Römersandalen eingequetscht wurde. »Händlerkluft«, murmelte Seb und umrundete eine Dame in Abendkleid und Rindslederweste. »Anscheinend ist der Kleidungsstil der Ungewöhnlichen überall auf der Welt gleich.«

Izzy dachte sehnsüchtig an die Händlerkluft zu Hause in ihrem Kleiderschrank. Bei den Ungewöhnlichen war es Mode, viele verschiedene Stile gleichzeitig zu tragen, aber auf Valians Rat hin hatten Seb und sie beschlossen, ihre eigenen Outfits nicht mitzunehmen. Händlerkluft mochte zwar wahnsinnig spektakulär sein, aber sie war ganz sicher nicht praktisch.

Am Ende des Docks stand eine Frau in marineblauer Uniform. Sie hatte eine weiße Schärpe über der Schulter und eine adrette Schirmmütze auf dem Kopf. Seb stieß Izzy an, als sie sich ihr näherten. »Das muss eine Untergardistin von Nubrook sein«, flüsterte er.»Das sind die einzigen Ungewöhnlichen, die ich je in Uniform gesehen habe.«

Die Frau sah anders aus als die Untergardisten, die in Lundinor für Recht und Ordnung sorgten, allerdings trug sie dieselbe Waffe an ihrem Gürtel: eine ungewöhnliche Klobürste, die jedem, der sich nicht an die Gesetze des Großen Ungewöhnlichen Handels hielt, einen Stromschlag verpassen konnte.

»Einen schönen guten Tag, Herrschaften«, sagte die Beamtin feierlich und verstellte ihnen den Weg. »Ich muss euch beide bitten, mir die Hand zu schütteln, bevor es weitergeht. Aufgrund der Nachrichten von heute Morgen wurden die Sicherheitsmaßnahmen erhöht: Wir überprüfen alle, die auf dem Wasserweg anreisen.«

Die Nachrichten von heute Morgen? Während sie sich fragte, was wohl vorgefallen war, holte Izzy ihre ungewöhnlichen weißen Baumwollhandschuhe aus ihrer Umhängetasche. Jeder Händler hatte ein einzigartiges Paar, das alle Handelsgeschäfte seines Trägers aufzeichnete. Izzys sah bemerkenswert sauber aus, dafür dass sie es auf geheimen Märkten die ganze Zeit tragen musste. Sebs ungewöhnliche Drummer-Handschuhe dagegen waren entschieden schmuddeliger.

»Entschuldigen Sie, aber wir haben die Schlagzeilen nicht mitbekommen«, sagte Seb und streckte seine Hand aus. »Was ist denn passiert?«

Die Stimme der Beamtin nahm einen strengeren Tonfall an. »Vor drei Tagen sind Diebe in die private Schatzkammer eines Quartiermeisters in Montroquer eingebrochen. Die Ermittler haben ihre Befunde erst heute Morgen der Öffentlichkeit mitgeteilt.«

Izzy wusste, dass Montroquer ein berühmter Markt unter Paris war. Wie alle geheimen Märkte wurde er von vier Quartiermeistern geleitet. Sie hatte nichts von einem Einbruch gehört, andererseits hatte Valian ihnen schon seit über einer Woche keine ungewöhnlichen Zeitungen mehr geschickt.

»Die Beweise haben gezeigt, dass die Diebe zwei Wochen damit verbracht haben, einen Tunnel unter Montroquer zu graben, um in die Schatzkammer zu gelangen«, fuhr die Beamtin fort. »Ein krummer Sixpence wurde am Tatort gefunden: Es ist wieder mal das Werk der Gefallenen Gilde.«

Izzy schluckte. »Die Gefallene Gilde« war ein anderer, offizieller und weniger Furcht einflößender Name für die Schattenwanderer.

Die Beamtin trat zur Seite, um sie passieren zu lassen. »Sie müssen hinter etwas Wichtigem her gewesen sein«, kommentierte Seb, als Izzy und er weitergingen, »wenn sie sich so viel Mühe gemacht haben, um es zu stehlen. Was kann das gewesen sein …?«

Während sie die Halle durchquerten und ihren Blick über die Menge schweifen ließen, versuchte Izzy, die düsteren Gedanken an die Schattenwanderer zu verdrängen. Sie mussten sich jetzt darauf konzentrieren, Valian und Rosie zu helfen, und durften sich nicht von anderen Problemen ablenken lassen.

»Das wird Ewigkeiten dauern«, stöhnte sie, als sie sich Valians nächste Anweisung ins Gedächtnis rief. »Wir wissen ja nicht einmal, was ›Mann in Rot‹ bedeuten soll. Es könnte auch ein Symbol auf einer Wand sein oder der Name eines Geschäfts in Nubrook …«

»… Oder jemand, der rote Händlerkluft trägt«, fügte Seb hinzu, während er die Halle nach so einem Kandidaten absuchte. »Das Problem ist, hier sind so viele Ungewöhnliche, dass ich gleich drei Leute auf einmal sehe, die rot gekleidet sind. Warum konnte Valian uns nicht auftragen, nach einem Mann im Bananenkostüm zu suchen? Den hätten wir ganz leicht gefunden.«

Izzy überlegte, ob Valian wohl erwartet hatte, dass sie später eintrafen, weil es dann weniger belebt gewesen wäre. Da New York in der Zeit fünf Stunden hinter London lag, war es in Nubrook jetzt erst zwei Uhr nachmittags. »Wir müssen einfach weitersuchen. Vielleicht sollten wir uns nach einem Mann in Rot umsehen, der etwas Außergewöhnliches tut?«

»Na klar«, murrte Seb und duckte sich, als über ihm ein Junge auf einer fliegenden Fußmatte vorbeisauste, »weil hier ansonsten ja alles so gewöhnlich ist.«

Wo immer Izzy hinsah, trafen Leute auf ungewöhnlichen fliegenden Objekten ein. Wischmopps, Staubsauger und Teppiche, alle mit mehreren Passagieren, schossen aus riesigen Löchern in der Decke, flogen knapp über die Köpfe der Menge hinweg und landeten dann auf einer Bahn, die parallel zu den Kanälen der Aqua-Transporte verlief.

Endlich, nach gut zehn Minuten, wurde Izzys Aufmerksamkeit von einem einzelnen Mann angezogen, der von Kopf bis Fuß in Purpurrot gekleidet war. Er lehnte an einer alten Holzkommode im Schatten der Höhlenwand und schien mit der Kette einer Taschenuhr zu spielen. »Was ist mit dem?«, schlug Izzy vor. »Der wirkt ziemlich auffällig.«

Als sie sich einen Weg zu dem Mann bahnten, um der Sache auf den Grund zu gehen, erkannten sie, dass er andauernd auf die Uhr schaute, wieder und wieder, als ob er auf etwas Bestimmtes wartete. Plötzlich steckte er die Uhr weg und zog die unterste Schublade der Kommode auf.

Die Erde bebte …

Und dann sprühte mit lautem Knistern und Prasseln eine Fontäne winziger goldener Lichtkugeln aus der offenen Schublade – wie bei einem Feuerwerk. Wo die Kugeln landeten, tauchten wie aus dem Nichts Ungewöhnliche in ihrer natürlichen Größe auf, streckten ihre Arme und ließen ihre Schultern kreisen, als ob sie sich auf eine Yoga-Stunde vorbereiteten. Sie strichen ihre Händlerkluft glatt und schlenderten davon, um sich unter die Menge zu mischen.

»Valian!«, rief Seb auf einmal, sprang auf und ab und winkte dabei. »Hier sind wir!«

Izzy blinzelte überrascht und erkannte Valians schlanke Gestalt, der durch das Gedränge auf sie zukam. Sein strähniges dunkles Haar glänzte verschwitzt, aber sein Gesicht hellte sich sofort auf, als er die beiden erblickte. »Was macht ihr zwei denn schon hier? Ich habe euch erst in ein paar Stunden erwartet. Ich dachte, ich müsste bis dahin noch die Zeit totschlagen.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Izzy besorgt.

Valian zog eine Grimasse und wischte sich mit dem Rücken seiner fingerlosen Handschuhe über die Stirn. »Ja, alles bestens. Ich kann es bloß nicht ausstehen, in diesen schrecklich überfüllten Schubladen zu reisen. Die letzten zwanzig Minuten lang hatte ich den Rücken eines fremden Mannes in meinem Gesicht.« Er warf einen grimmigen Blick zurück über die Schulter, als könnte er die besagte Person damit treffen. »Leider ist das zurzeit die schnellste Möglichkeit für Fernreisen. Der Internationale Ungewöhnliche Rat hat Kofferreisen seit heute Morgen verboten, um Sturm Sarah nicht noch zu verschlimmern.«

»Ach, deshalb hast du die Anweisungen geändert …«, begriff Izzy mit einem erleichterten Seufzer. Aus irgendeinem Grund wurde der geothermische Gradient der Erde durch Kofferreisen beeinträchtigt. Sie kannte mindestens einen Fall, in dem ein plötzlicher Anstieg von Reisen durch ungewöhnliche Gepäckstücke einen Schneesturm in London ausgelöst hatte, also war die Entscheidung des IUR vielleicht nur zum Besten.

»Ich konnte in letzter Minute noch die Seifenschale per Geisterkurier schicken«, erklärte Valian. »Ich nehme an, ihr habt sie problemlos gefunden? Tut mir leid, dass die Anweisungen so undeutlich waren – hinter mir in der Schlange am Federleichtpostamt war so ein Phantom, dem ich ganz und gar nicht über den Weg getraut habe.«

»Wir haben es ja herausgefunden«, versicherte Izzy Valian und schloss aus dem, was er gesagt hatte, dass früher am Tag vermutlich auch ein Geist in ihrem Badezimmer gewesen war. »Wie funktionieren denn Schubladenreisen?«

»Stationsvorsteher in Rot bedienen die Kommoden«, sagte er. »Alle paar Minuten wird eine Schublade geöffnet. Jede von ihnen führt zu einer anderen Schublade in einem anderen Teil der Welt.« Er zeigte auf die gegenüberliegende Seite der Halle, wo ein gewaltiger, mit aufwendigen Art-déco-Schnitzereien verzierter Torbogen in die Steinwand gehauen war. »Das ist der Eingang nach Nubrook. Lasst uns gehen.«

Sie schlängelten sich durch die Ankunftskammer, gaben ihr Bestes, um den baumelnden Beinen der Staubsaugerpassagiere im Landeanflug auszuweichen, und drängten sich dann mit allen anderen durch den riesigen gewölbten Durchgang. Valian marschierte voran und bahnte ihnen einen Weg durch die Menge. Izzy verstand seine Eile: Wie die meisten geheimen Märkte öffnete auch Nubrook nur zu bestimmten Zeiten im Jahr seine Tore und Valian hatte sechs Monate lang auf diese Gelegenheit gewartet.

Ihr fiel auf, dass er als Teil seiner Händlerkluft diesmal nicht seine typischen roten Basketballschuhe anhatte, was ihr sehr seltsam vorkam. Stattdessen trug er ein Paar brauner lederner Segelschuhe, die so abgetragen waren, dass sich am Absatz die Sohle gelöst hatte und Izzy seine Socken sehen konnte. »Ich weiß, sie sehen furchtbar aus«, gab er zu, als er ihren Blick bemerkte. »Aber sie sind ungewöhnlich: Sie erlauben mir, durch die meisten Wände zu gehen, so wie es die Toten tun. Ich habe sie mir gekauft, nachdem ihr mir die Hälfte eures Preises vom Grivens-Turnier geschenkt habt. Ich wollte bei diesem Ausflug auf alles vorbereitet sein.«

Hitze und Lärm wurden erdrückend, als sie auf der anderen Seite ankamen. »Hier ist es immer voll!«, rief Valian. »Hier entlang.«

Während Izzy hinter ihm herstolperte, huschte ihr Blick von einer Häuserwand zur anderen, als ob sie eine Flugshow verfolgte. Nubrooks Gebäude waren mit grellen Neonschildern und blinkenden Lichtern überzogen und Izzy wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Riesige Tischtücher hingen an den Häusern und zeigten Werbung, genau wie die Bildschirme am Times Square, und Musik dröhnte aus den Muschelhörnern auf beiden Seiten. Sie dachte an die ungewöhnlichen Bettlaken, die in Lundinor eingesetzt wurden, um Live-Übertragungen zu zeigen. Die Ungewöhnlichen nannten sie Bilderlaken.

»Boah«, flüsterte Seb und starrte zu den erleuchteten Anschlagtafeln auf den Dächern hinauf, »das ist ja Wahnsinn.«

Thanksgiving-Dekorationen verzierten fast jedes Gebäude. Glitzernde Eichelketten waren um Fensterrahmen drapiert und sternförmige Kränze aus Getreideschalen hingen an den Türen. Valian führte sie zu einer Ecke, an der es von Verkaufskarren wimmelte, die Kaffee und Hotdogs anboten. Der verführerische Duft gebratener Zwiebeln lag in der Luft.

Izzy starrte hinauf zur fernen Betondecke, die mit Kristallleuchtern in der Größe von Heißluftballons geschmückt war. Sie konnte spüren, dass Scratch in ihrer Umhängetasche vor Aufregung ganz außer sich war. »Ich hatte angenommen, dass Nubrook sich wie Lundinor in einer riesigen Höhle befinden würde, aber es kommt mir hier eher vor wie im Innern eines gewaltigen Einkaufszentrums«, staunte sie.

Valian lachte. »Nubrook ist berühmt dafür, dass es komplett erbaut wurde. Das Beste sind die Keller. Manche Läden haben fünfzig Stockwerke unter dem Erdgeschoss – jedes mit einem anderen Thema.«

Der tiefste Markt der Welt … Jetzt verstand Izzy auch, warum.

»Nubrook hat vier verschiedene Quartiere, genau wie die anderen geheimen Märkte«, fuhr Valian fort, »aber hier liegen sie übereinander. Wir sind jetzt im ersten Quartier. Das zweite, das dritte und das vierte sind unter uns.« Er holte drei weiße Tischtennisbälle aus seiner Jackentasche. »Hier, nehmt jeder einen. Werft sie bitte auf jede freie Fläche, die ihr finden könnt –Wände, Ladenfronten, Eingänge, Gullideckel … Es müssen so viele Leute wie möglich sehen.«

Seb zog eine Augenbraue hoch. »Wie soll uns das helfen, Rosie zu finden, wenn wir Tischtennis spielen?«

Valian ließ einen Ball auf den Boden fallen. Er prallte mit einem leisen Pock vom Bürgersteig ab und sprang zurück in Valians Hand. Wo der Ball den Boden berührt hatte, erschien ein buntes DIN-A4-Plakat auf dem Beton. Über einem Foto stand in großen Buchstaben: VERMISST! BITTE HELFEN SIE! Auf dem Bild darunter war ein kleines Mädchen in Händlerkluft zu sehen.

Rosie.

»Ungewöhnliche benutzen Tischtennisbälle zum Kopieren«, erklärte Valian. »Man lädt sie auf, indem man sie wiederholt auf das Bild prallen lässt, das kopiert werden soll. Wenn man sie dann das nächste Mal gegen eine Fläche wirft, lassen sie dort eine exakte Kopie des Bildes zurück.«

»Geht schneller als im Copyshop«, kommentierte Seb. »Das muss ich schon zugeben.«

Izzy bemerkte Valians verwirrten Gesichtsausdruck und schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig«, versicherte sie ihm. (Sie vergaßen oft, wie wenig Valian über die Welt der Gewöhnlichen wusste, weil er sein ganzes Leben auf geheimen Märkten verbracht hatte.) Sie steckte ihren Tischtennisball in die Hosentasche und sah sich das Plakat genauer an. Izzy hatte zuvor erst einmal ein Bild von Valians Schwester gesehen, aber die Ähnlichkeit der Geschwister war unverkennbar: Rosie hatte die gleichen schrägen Wangenknochen und wilden braunen Augen wie Valian. Ihr weißblondes Haar war zu zwei seitlichen Zöpfen zusammengebunden und eine silberne Halskette hing über ihrer Tupfenbluse bis zu ihren Badeshorts hinunter.

»Das Bild wurde an dem Morgen aufgenommen, als sie verschwand«, erklärte Valian. »Da war sie sechs. Sie wird jetzt anders aussehen … inzwischen ist sie zwölf – dreizehn nächsten Monat.«

Izzy prägte sich die Einzelheiten von Rosies Bild ein. »Ihre Haarfarbe ist wirklich auffällig. Die Leute sollten sich an sie erinnern, wenn die sie gesehen haben.«

»Das hatte ich zuerst auch gehofft«, sagte Valian und seine Stimme nahm einen ernsten Ton an. »Das Problem ist, dass niemand sie je gesehen hat. Ich habe alle möglichen ungewöhnlichen Objekte eingesetzt, um nach ihr zu suchen, aber nichts funktioniert. Das Einzige, was ich erfahren habe, ist, dass sie auf jeden Fall noch am Leben ist.«

Izzy sah die Entschlossenheit in seinem Blick. Seine Eltern waren nicht lange vor Rosies Verschwinden gestorben, deshalb hatte er ganz allein die Verantwortung für die Suche nach ihr übernommen. Sie bewunderte ihn dafür – es musste ihn eine Menge Mut gekostet haben, diese Aufgabe ohne fremde Hilfe anzugehen.

»Irgendetwas Ungewöhnliches muss sie vor Entdeckung verbergen«, schloss Seb. »Das ist die einzige Erklärung.«

»Ja, aber ohne zu wissen, um was für ein Objekt es sich handelt, kann ich dessen Wirkung nicht aufheben.« Valian schüttelte den Kopf. »Es hat irgendetwas mit dem zu tun, was passiert ist, als ich sie mit dem Sack der Sterne aufspüren wollte. Ihr erinnert euch – bevor er zerstört wurde, hat er mich an Rosies Aufenthaltsort befördert, allerdings konnte er sich nicht für einen Ort entscheiden, als ob sie zur selben Zeit an mehreren verschiedenen Orten wäre.«

Es war ein frustrierendes Rätsel. Der Sack der Sterne, eines der fünf Großen Ungewöhnlichen Güter, hatte Valian seiner Schwester so nah gebracht, aber ohne Ergebnis. Den ganzen Sommer lang war Izzy immer wieder die Fakten durchgegangen und hatte versucht, eine Lösung zu finden. »Wenigstens hat dir Mr Punchs Einladungskarte einen weiteren Hinweis gegeben«, versuchte sie, Valian zu trösten.

Valian steckte eine Hand in seine Tasche und holte die Karte mit dem goldenen Rand hervor, die Mr Punch ihm in Lundinor gegeben hatte. Er las sie noch einmal aufmerksam durch.

Sehr geehrter Herr,

Sie sind hiermit offiziell eingeladen zu Forward & Rifes großer Wanderauktion für ungewöhnliche Kostbarkeiten.

Nubrook
Thanksgiving

»Mr Punch mag ja der klügste Mann in Lundinor sein, aber er ist auch der geheimnisvollste«, warnte Seb. »Wir wissen immer noch nicht, warum er dir diese Einladung überhaupt gegeben hat – oder warum er Izzy Amos’ Tagebuch überlassen hat.«

Izzy dachte an Mr Punch, einen von Lundinors Quartiermeistern. Er war äußerst rätselhaft, das stimmte, aber er hatte auch bewiesen, dass er mutig und selbstlos war und Lundinor vor den bösen Plänen der Schattenwanderer verteidigte.

»Ich weiß nur eines«, sagte Valian und tippte mit dem Daumen gegen die Karte. »Wenn wir dem Sack der Sterne glauben, dann ist an allen Orten, zu denen Forward & Rifes Auktionshaus gereist ist, auch Rosie gewesen. Es muss eine Verbindung zwischen beiden geben.« Er reckte sein Kinn und marschierte weiter. »Das ist also mein Plan, um sie zu finden: Wir forschen im Auktionshaus nach, verbreiten die Plakate, fragen so viele Händler wie möglich, ob die sie gesehen haben. Wenn Forward & Rife die nächsten paar Tage hier sind, besteht eine gute Chance, dass Rosie auch hier sein wird.« Er spähte in eine Seitenstraße. »Kommt, zum Auktionshaus geht es hier entlang.«

Auf dem Weg dorthin stürmte das Stimmengewirr Tausender Seelenfragmente auf Izzys Ohren ein – sowohl von solchen, die in ungewöhnlichen Objekten eingeschlossen waren, als auch von solchen, die ungewöhnliche Tote belebten. Obwohl die meisten von ihnen keine klaren Worte murmelten, begrenzte Izzy den Radius ihres Flüstersinns auf Scratch, weil sie wusste, dass sie Kopfschmerzen bekommen würde, wenn sie versuchte, all den anderen zu lauschen. Während sie sich durch die überfüllten Straßen drängten, ließ sie ihren Blick über die Gesichter der anderen Passanten schweifen und suchte nach braunen Augen und weißblondem Haar. Es war zwar albern anzunehmen, dass Rosie zufälligerweise an ihnen vorbeilaufen könnte, aber Izzy fand, dass sie die Augen trotzdem jederzeit offen halten sollten. Sie bemerkte mehrere tote Händler mit Pappschildern um den Hals, die mit trauriger Miene umherschwebten. Auf jedes Schild war ein bestimmtes Objekt gezeichnet und darunter stand: HABEN SIE DAS HIER GESEHEN?, gefolgt von einer Auflistung wiedererkennbarer Merkmale. Izzy hatte noch nie zuvor einen der Toten mit einem solchen Schild gesehen. Sie fragte sich, ob es wohl eine Besonderheit Nubrooks war.

Nach einer kurzen Weile kamen sie an ihrem Ziel an. Forward & Rifes Auktionshaus befand sich in einem üppigen Dachgarten auf einem hohen Marmorgebäude. Eine kräftig wirkende Wachfrau in Schottenrock und Kettenhemd stand unten vor dem Eingang zum Gebäude auf der Straße. »Einlass nur mit Einladung«, teilte sie ihnen mit und starrte skeptisch auf Valians abgerissene Segelschuhe.

»Ach so – stimmt ja«, murmelte Valian und streckte ihr unbeholfen die golden umrandete Karte entgegen. Izzy wurde klar, dass er es wahrscheinlich eher gewohnt war, sich heimlich in solche Veranstaltungen einzuschleichen.

Die Wachfrau las die Karte und warf ihnen dann einen bewundernden Blick zu. »Oh, ihr seid Gäste von Mr Punch? Bitte, kommt doch herein.«

Sie wurden durch einen Hof geleitet und dann auf einen chinesischen Teppich mit verworrenem Muster, der so sanft zum Dach hinaufstieg wie eine Serviette im Wind. Ein blumiger Duft erfüllte die Luft, als sie den Garten betraten. Schmale Steinpfade führten zwischen den exotischen Pflanzen hindurch, die entsprechend ihrer Gattungen etikettiert waren. Hier und da, inmitten der dekorativen Bonsaibäume und Kakteentöpfe, standen Glasvitrinen mit Objekten, die in zwei Tagen versteigert werden sollten. Jedes von ihnen war an der Seite mit einem kleinen Schildchen ausgestattet. Ungewöhnliche in modischer Händlerkluft spazierten umher, stießen mit Champagnergläsern an und musterten eingehend die angebotenen Artikel. Zwischen ihnen schlenderten Wachleute.

Izzy warf einen Blick in den nächstgelegenen Schaukasten. Er enthielt zwei Gegenstände: Artikel Nummer 235 –eine kleine Keramikspieldose, die angeblich einst Queen Victoria gehört hatte –und Artikel Nummer 236 –ein Vergrößerungsglas aus reinem Gold, das, dem Schildchen zufolge, Talente verstärken konnte. Allerdings erklärte eine hastig geschriebene Notiz in der Ecke der Vitrine, dass das Vergrößerungsglas vom Verkauf zurückgezogen worden war.

»Glaubt ihr, die Spieldose hat wirklich Queen Victoria gehört?«, fragte Seb.

»Da bin ich eher skeptisch«, meinte Valian. »Ich habe zu Forward & Rife eine Menge recherchiert und mehrere Berichte darüber gefunden, dass sie sich wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen verantworten mussten. Das Unternehmen gehört Mr Rife. Mir scheint, er war ein ziemlicher Betrüger.«

»Was meinst du mit ›war‹?«, erkundigte sich Izzy. Er hatte ihre Neugier geweckt. »Hast du noch etwas anderes über ihn herausgefunden?«

Valian zuckte mit den Schultern. »In den letzten fünf Jahren gab es keine Anschuldigungen wegen zwielichtiger Geschäfte mehr. Es scheint, als habe Mr Rife sich gebessert.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Obwohl«, fuhr er fort, »für einen Mann, der nichts zu verbergen hat, macht er sich unheimlich rar. Ich habe ihm mehrere Nachrichten per Federleichtpost geschickt, in der Hoffnung, dass er die Verbindung zwischen Rosie und seinem Unternehmen erklären könnte, aber sie kamen alle ungelesen zurück.«

Sie gingen weiter zum nächsten Schaukasten. Darin befand sich eine langstielige, aus Kirschbaumholz geschnitzte Pfeife. In ihren Kopf war ein aufwendiges Muster graviert.

»Ich glaub es ja nicht«, stieß Valian überrascht hervor und drückte sich die Nase an der Scheibe platt.

»Artikel Nummer 245 – Tabakpfeife, circa 1565«, las Seb auf dem Schildchen. »Erlaubt dem Anwender, alle Sprachen der Welt zu sprechen. In Bolivien gefunden von Cherry und Florian Kaye …« Er blickte auf. »Kaye – ist das nicht dein Nachname, Valian?«

Valians Stimme stockte. »Cherry und Florian Kaye sind meine Mum und mein Dad.«

3

Izzy hatte Valian selten über seine Eltern sprechen hören. Sie wusste nur, dass sie Finder gewesen waren, wie er selbst. Finder fahndeten in der gewöhnlichen Welt nach ungewöhnlichen Objekten, um sie weiterzuverkaufen.

»Ich wusste nicht, dass meine Eltern Geschäfte mit Forward & Rife gemacht haben«, sagte Valian mit leiser Stimme.

»Erinnerst du dich daran, dass sie nach Bolivien gereist sind?«, fragte Izzy.

Er nickte. »Sie sind ständig geschäftlich unterwegs gewesen. Sie waren gerade erst von ihrer letzten Reise zurückgekehrt, als sie …«

Izzy senkte den Blick. Manchmal gelang es Valian auf Anhieb, »ermordet wurden« zu sagen, andere Male blieben ihm die Worte im Hals stecken. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie schmerzhaft es für ihn sein musste, laut auszusprechen, dass die Schattenwanderer seine Eltern umgebracht hatten.

Ihre Unterhaltung wurde von lautem Beifall unterbrochen. Valian löste sich mit einem Kopfschütteln aus seinen trüben Gedanken und trat um die Ecke einer Bambuswand, um zu sehen, was da los war. Izzy und Seb folgten ihm eilig. Neben einem weiteren Schaukasten stand ein charmant aussehender Herr mit einer silbrigen Haartolle und tiefen Falten um seine funkelnden blauen Augen. Ein getüpfeltes Stofftaschentuch ragte aus der Brusttasche seiner Knautschsamtjacke hervor, zu der er einen passenden Umhang und Mokassinstiefel trug. An seinem blauen Piratenhut wippte eine Straußenfeder, als er sprach.

»Meine Damen und Herren!«, verkündete er mit geschmeidiger Stimme, die Izzy vermuten ließ, dass er es gewohnt war, ein großes Publikum für sich einzunehmen. »Mein Name ist Mr Rife und es ist mir eine Ehre, Ihnen heute Nachmittag ein paar ganz außergewöhnliche Schätze aus der Forward-&-Rife-Sammlung vorzustellen. Zunächst haben wir da diesen Brieföffner aus London, England.« In seiner behandschuhten Hand hielt er einen kleinen goldenen Dolch mit Emaillegriff hoch.

Valians Augen weiteten sich. »Das ist der Mann! Meinen Recherchen nach hat er an jeder einzelnen Auktion teilgenommen, die Forward & Rife jemals abgehalten haben. Wenn einer Rosie gesehen hat, dann am ehesten er. Wir müssen mit ihm sprechen.«

dir?«