image

wir haben

NICHTS ZU VER LIEREN

außer unsere Angst

Vom Widerstand in schwierigen Zeiten

FIONA JEFFRIES

Gespräche mit Carolin Emcke David Harvey Silvia Federici u. a.

Aus dem Englischen von Sabine Wolf

image

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Nothing to Lose but Our Fear. Resistance in Dangerous Times im Verlag Between the Lines, Toronto. Sie wurde für die vorliegende Übersetzung überarbeitet und von der Autorin um ein neues Gespräch mit Carolin Emcke ergänzt.

Die Übersetzung wurde gefördert durch den Canada Council for the Arts, der Verlag dankt hierfür. We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.

image

© 2015 Fiona Jeffries

Umschlag: Ulrike Groeger

1. Auflage 2019
eISBN 978-3-85869-831-5

INHALT

FIONA JEFFRIES

EINLEITUNG

CAROLIN EMCKE

DIE GEGENERZÄHLUNG ALS AKT DES WIDERSTANDS

SILVIA FEDERICI

ERINNERUNGEN AN DEN WIDERSTAND, VON DER HEXENVERFOLGUNG BIS ZUM ALTERMONDIALISMUS

MARCUS REDIKER

SCHAUPLÄTZE UND GEGENSCHAUPLÄTZE DER ANGST

DAVID HARVEY

STÄDTE DER EMPÖRUNG

NANDITA SHARMA

SCHRECKEN UND GNADE AN DER GRENZE

JOHN HOLLOWAY

WIR SIND DIE RISSE IM SYSTEM

SANDRA MORÁN

FEMINISTISCHE EMPÖRUNG

GUSTAVO ESTEVA

POLITISCHER MUT UND DIE SELTSAME RESILIENZ DER HOFFNUNG

DANK

FIONA JEFFRIES

EINLEITUNG

Die Gespräche für dieses Buch entstanden zu einer Zeit weitreichender globaler Umbrüche. Inmitten erster Anzeichen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise hatte ich 2007 mit den Interviews begonnen. Als im folgenden Jahr die Wall Street zusammenbrach, waren die Folgen rasch auf sämtlichen Kontinenten bemerkbar. Abermals wurde die Welt, ohnehin entkräftet von neoliberalen Umstrukturierungen, Kriegen, einer wachsenden politischen Entfremdung und gewaltsamer Enteignung, in Furcht und Schrecken versetzt.

Regierungen reagierten mit einer strengen Sparpolitik auf die Krise, was tiefe Einschnitte bei den sozialen Ausgaben mit sich brachte. Zur selben Zeit wurden die Etats fürs Hochrüsten der »öffentlichen Sicherheit« bedeutend aufgestockt. Rechtsnationale Politikerinnen und Politiker haben aus dieser globalen Verschiebung hin zu einem neoliberalen Sicherheitsverständnis Kapital geschlagen wie auch aus den wachsenden Ängsten der Bevölkerung: die Angst davor, den eigenen sozialen Status oder das nationale Ansehen zu verlieren, arbeitslos oder sogar obdachlos zu werden, eine grundsätzliche Angst vor einer Zukunft, die zunehmend verpfändet erscheint. In vielen Ländern präsentiert sich mittlerweile eine erstarkende Rechte als heroisches Rebellenlager gegen eine ungerechte Ordnung; weitverbreitete Ängste werden gnadenlos instrumentalisiert und Sündenböcke für die öffentliche Misere gesucht.

Doch seit 2011 hat sich in Tunis, Kairo, Athen, Madrid, Hongkong, Berlin, New York, Toronto, Istanbul, Mexiko-Stadt, São Paulo, Paris und in vielen anderen Städten Widerstand geregt. Massenproteste gegen Autoritarismus und staatlich verursachten Mangel haben sich über die ganze Welt ausgeweitet. Je mehr diese Aufstände an Dynamik gewonnen haben, umso systematischer und hörbarer wurde auch kritisiert, in welcher Weise Angst überhaupt als Mittel zur sozialen Kontrolle eingesetzt wird. Auch wenn wir uns einer scheinbar allgegenwärtigen Furcht gegenübersehen, wird vielen Menschen doch immer mehr bewusst, wie politisch diese kollektive Angst tatsächlich ist.

Im Lauf der letzten zehn Jahre wurde dieser kritische Geist weltweit und an zahlreichen Orten unter Beweis gestellt. So zeigten die Medien 2011 in den ersten Tagen des ägyptischen Volksaufstands, wie die Demonstrantinnen und Demonstranten ihr Beisammensein auf dem Kairoer Tahrir-Platz als einen gemeinschaftlichen Sieg gegen die Furcht feierten; mehrfach erklang der Ruf »Die Mauer der Angst ist gefallen!«. In Spanien verkündete derweil ein Banner des Kollektivs Juventud Sin Futuro (Jugend ohne Zukunft), Teil der Protestbewegung der Indignados, man habe zwar kein Zuhause, keine Arbeit, keine Rente, aber eben auch keine Angst. Ebenso waren viele der Zeltdörfer der Occupy-Bewegung in ganz Nordamerika mit Plakaten bestückt, die gegen die Tyrannei der Angst protestierten. Und eine Absage an die Angst erteilten auch die Proteste, die 2013 in der Türkei infolge der autoritären Regierungspolitik ausbrachen. Die türkische Journalistin Ece Temelkuran hat hierzu bemerkt, wie erstaunlich die transformative Wirkung in einer bis dahin politisch vollkommen verängstigten Gesellschaft gewesen sei: »Die Menschen überwanden nicht nur ihre Furcht vor der Staatsgewalt, sondern auch die Furcht vor ›dem Anderen‹.«

Die politische Landschaft scheint in den letzten Jahren immer paradoxer geworden zu sein. So wurde 2015 eine Aktivistin zur Oberbürgermeisterin Barcelonas gewählt, die sich nicht nur im Zuge der Indignados-Bewegung gegen Zwangsräumungen engagiert hat, sondern auch einer der führenden Köpfe des weltweiten Netzwerks Fearless Cities (furchtlose Städte) ist. Und während in Italien, Griechenland, Australien und den USA brutal gegen all jene vorgegangen wird, die vor Krieg und Gewalt fliehen, bauen dort gleichzeitig Aktivistinnen und Aktivisten neuartige Infrastrukturen der Betreuung und Versorgung auf, von Rettungsschiffen und Flüchtlingshotels über Depots von Wasserkanistern in der Wüste und kostenloser Rechtshilfe bis zu den Solidarity Cities, in denen alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus das Recht haben sollen, zu leben, zu wohnen und zu arbeiten.

Doch so heldenhaft und wichtig diese Bemühungen auch sein mögen – angesichts der gewaltigen autoritären Gegenreaktion, die heute weltweit zu spüren ist, erscheinen sie bei weitem nicht ausreichend. Sei es in den USA, in Brasilien und Indien oder in den Philippinen oder Ungarn: Die Behauptung, man kümmere sich um die Ängste vor einer chancenlosen Zukunft, vereint ein wachsendes Sortiment rechtsgerichteter Bewegungen. Im Gegenzug für die Loyalität ihrer Wählerschaft huldigen Figuren wie Trump, Bolsonaro oder Orbán diffusen Ängsten gegenüber der Gegenwart und verlagern diese Ängste auf all jene, die sie sozial noch weiter schwächen wollen.

Vor fünf Jahren dokumentierte der Fotojournalist Emin Özmen die Protestbewegung im Gezi-Park; heute sagt er, dass sich die Angst wieder ausgebreitet habe: »Protest wäre mittlerweile für viele Menschen undenkbar. Angst und Resignation lähmen.« Wir leben in stürmischen, widersprüchlichen Zeiten; Angst wird als Waffe missbraucht und Solidarität als zwangsläufig illusorisch oder exklusiv dargestellt. Doch der politische Widerstand gegen willkürliche Macht blickt auf eine lange Geschichte zurück, auf eine Vielzahl von Momenten, in denen die Mauern der Angst immer wieder eingerissen wurden. Angesichts der Aufstände, die heute weltweit an Häufigkeit und Größe zunehmen, erleben wir womöglich abermals einen solchen historischen Moment.

Dieses Buch versammelt eine internationale Gruppe von Denkerinnen und Denkern, Aktivistinnen und Aktivisten. Gemeinsam ist ihnen die Beschäftigung mit einer Frage, die in den letzten zehn Jahren immer dringender geworden ist: Wie können wir in einer angsterfüllten Welt kritisch denken und produktiv handeln? Die Gespräche in diesem Buch bieten Reflexionen und Anstöße aus unterschiedlichen Blickwinkeln und aufgrund vielfältiger Erfahrungen; sie sollen uns den globalen Aufstand gegen die Angst besser und neu verstehen lassen.

Jahrzehntelang konzentrierten sich Untersuchungen zu politischer Angst darauf, inwieweit diese die Demokratie bedroht oder das aufklärerische Ideal der Dominanz von Vernunft über Emotionen. In der jüngeren Vergangenheit bestimmten dann zwei prägende Ereignisse der Nullerjahre die Diskussion: die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die globale Finanzkrise von 2008. Viele Soziologen, Filmemacherinnen, Medienkritiker und Philosophinnen haben die präzedenzlosen Auswirkungen dieser beiden Ereignisse als eine neue Ära globaler Angst gelesen. In Wissenschaft, Journalismus und Kunst wurde eine Renaissance der »Angststudien« lanciert, um das irrationale, gar grausame menschliche Verhalten zu verstehen, zu dem verängstigte Menschen schnell neigen.

Angefangen mit Spinoza in der frühen Neuzeit über Karl Marx bis zu Hannah Arendt und Frantz Fanon: Schon lange bevor unsere heutigen Schlagzeilen von Ängsten dominiert werden sollten, haben sich Denkerinnen und Denker damit befasst, auf welch zentrale Weise Angst als politisches Mittel für die Festigung von Macht und Hierarchien wirkt. In den 90er-Jahren, als das Ende des Kalten Kriegs soziale Gegensätze verschärfte und sich der neoliberale Kapitalismus endgültig ausbreitete, begann man sich noch einmal verstärkt für die politischen Auswirkungen kollektiver Angst zu interessieren. Bis dahin hatten die dominierenden englischsprachigen Untersuchungen zum Thema dazu tendiert, Angst weniger als Schauplatz politischer Kämpfe denn als individuelles psychologisches Befinden abzuhandeln.

Doch mit dem Vormarsch des Neoliberalismus zeigten schließlich immer mehr Studien, wie Angst als politisches Disziplinierungsmittel eingesetzt wird. So ist etwa untersucht worden, wie gerade die Vorgaben der herrschenden neoliberalen Globalkultur – absolute Selbstverantwortung und beständiges Streben nach sozialem Aufstieg einschließlich der tugendhaften Opfer, die vermeintlich dazugehören – eben jene Strukturen verdecken, die das Leben vieler Menschen überhaupt erst prekär, gefährlich und unsicher machen. Und wie könnten wir uns inmitten einer fortschreitenden Globalisierung voller systemischer Verunsicherungen auch nicht fürchten? Löhne sinken, Lebenshaltungskosten steigen, Null-Stunden-Verträge nehmen zu, in Nordamerika werden bereits ausgezahlte Sozialleistungen zurückgefordert, weltweit schießen die Nahrungsmittelpreise in die Höhe und die soziale Ungleichheit wächst rasant.

Andere Beobachter haben ihr Augenmerk auf die dominante neoliberale Medienkultur gerichtet: Dort beherrschen statistisch unwahrscheinliche Bedrohungen die Nachrichten – von Terrorangriffen bis zu Vergiftungen durch Blaualgen in Badeseen –, während im Vergleich dazu tatsächlich legitime Ängste bestehen. Liegt die allgemeine Aufmerksamkeit erst auf den überzogenen Ängsten, so das Argument von Sozialkritikern wie Barry Glassner und Mike Davis, ist die Bevölkerung von den systemischen Wurzeln ihrer Verängstigung abgelenkt; Angstschürer in der Politik, den Massenmedien und der florierenden globalen Sicherheitsindustrie werden derweil weiter gestärkt.

Ein weiterer Forschungszweig zeichnet nach, wie eine neue Geografie der Angst die aggressive Umwandlung von Städten nach den Kriterien der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung antreibt, oft mithilfe von Mitteln moderner Kriegsführung. Und wieder andere Studien verweisen auf die Schlüsselrolle hochgradig konzentrierter Massenmedien in der autoritären Verbreitung von Angst, insofern als Nachrichten, Reality-Fernsehen und Social-Media-Algorithmen immer stärker auf das Spektakel blutender Körper, erniedrigender Szenarien und zwischenmenschlicher Verbrechen setzen. Einen zusätzlichen Problembereich bildet rechtsnationale Demagogie, die mittels einer Atmosphäre der Angst marode Regime stützen und gewaltvoll Konsens erzeugen will.

Doch ebenso befasst sich dieses Buch damit, wie Angst eigentlich funktioniert: nicht nur als Gefühl und Machtinstrument, sondern auch im Sinne von Rede und Gegenrede, als dialektische Beziehung. Furcht bedeutet zweifelsohne Unterdrückung, Herrschaft und Hilflosigkeit. Aber gerade weil sie politisch ist, muss man sie auch als Katalysator, wenn nicht sogar als Schauplatz einer Vielzahl individueller und kollektiver Formen von Verweigerung und Widerstand verstehen. Um sich kritisch mit dieser inneren Gegensätzlichkeit zu beschäftigen, reflektieren die hier gesammelten Dialoge zeitgenössische wie historische Erscheinungsformen einer Kultur der Angst.

Die Gespräche für diesen Band haben zu einer Zeit verstörender globaler Geschehnisse stattgefunden. Auf der einen Seite wären da die grassierenden Sicherheitsmaßnahmen – weltweit im Namen des Kampfs gegen Terrorismus und Kriminalität eingeführt –, auf der anderen eine wachsende sozioökonomische und existenzielle Unsicherheit, die als zwingende Notwendigkeit zugunsten einer neoliberalen Vernunft dargestellt wird. Vor diesem Hintergrund wollte ich mit anderen darüber sprechen, was unsere heutige politische Situation bedeutet, besonders im Hinblick auf eine emanzipatorische Politik, die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gerechtigkeit zum Ziel hat.

Zwei Anliegen bilden die praktische und theoretische Grundlage dieses Projekts: erstens, politische Subjektivität in einer Situation der beschleunigten Akkumulation durch Enteignung zu verstehen; und zweitens, zu artikulieren, wie Angst unsere sozialen Strukturen unterwandert und die Fähigkeit zu gesellschaftsübergreifendem Großmut und Solidarität immer weiter mindert. Somit ging ich in jeden der Dialoge mit dem Ziel einer radikalen Kritik von Angst als politischem Problem. Mit meinen Fragen wollte ich über das gängige politische Verständnis von Angst als einem Mittel hierarchischer Manipulation hinausführen. Ein besonderes Interesse hatte ich daran, wie Angst gerade in besonders gefährlichen Umgebungen hinterfragt wird, zum Beispiel an Schauplätzen extremer geschlechtsspezifischer Gewalt, in Räumen der Migration und der Grenzen, an Orten, die zutiefst von politischer Gewalt erschüttert wurden oder die auf einen langen Krieg zurückblicken. Die Gespräche sollen das Augenmerk auf oft ungesehene Kämpfe lenken, auf Praktiken und Ideen, die Lebensbedingungen und die Welt verbessern sollen.

Bei diesem Buch geht es mir um zwei Dinge. Zum einen soll es kluge und provokative Anregungen dazu bieten, inwieweit ein Klima allgegenwärtiger sozialer Angst Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gefährdet oder sogar unterbindet. Besonders möchte ich hierbei einen Raum zur Reflexion darüber schaffen, wie Angst jene geistigen und materiellen Kapazitäten lähmt, die uns zu Empathie gegenüber Menschen außerhalb unseres eigenen direkten Umfelds befähigen. Für den neoliberalen Angriff auf lang erkämpfte Maßnahmen des Gemeinwohls hat sich gesellschaftliche Angst als unerlässlich erwiesen; der Abbau des Sozialstaats, ein fortschreitend ausgehöhltes Verständnis von Gerechtigkeit und die immer repressivere Überwachung, die mit diesen Entwicklungen einhergeht, haben in der Bevölkerung Angst und das Gefühl von Verletzbarkeit drastisch verschärft. Die sozialen Ängste, um die es in den Gesprächen geht, lassen sich auch nicht einfach als entweder rational oder irrational bewerten. Denn als Begleiterscheinung eines Systems, das Wettbewerb und Verknappung als kreativ und produktiv idealisiert, sind sie nur folgerichtig. Tatsächlich beherrschen die Dogmen der individuellen Verantwortung, des privatisierten Lebens und erbarmungslosen Wettbewerbs unser soziales und symbolisches Umfeld so stark, dass die zerstörerischen Ängste, die diesen Vorgaben innewohnen, oft mit bloßem Auge gar nicht mehr zu erkennen sind. Demgegenüber soll dieses Buch einen alternativen Blickwinkel auf unsere umkämpfte Gegenwart bieten.

Darüber hinaus ist es mir ein Anliegen, dass diese Gespräche unser Denken auf ein dialektisches Verständnisses richten – darauf, wie Angst politisches Bewusstsein formt, es aber auch zum Widerstand antreibt und verwandelt. Dieser Aspekt bringt uns zum zweiten und wahrscheinlich wichtigeren Ziel des Buchs: festzuhalten, auf welch unterschiedliche Weise an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten und Gegebenheiten Widerstand gegen die Angst geleistet wird. Meine Gesprächspartnerinnen und -partner betrachten Angst sozusagen »von unten her«. Daran lässt sich aufzeigen, wie zerbrechlich Herrschaftsbeziehungen im Grunde sind.

Konzeptionell beruhen die Gespräche auf drei Aspekten. Erstens wird untersucht, auf welche Weise die Politik der Angst öffentlich angefochten wird. Hierdurch überwinden wir zum einen den ausschließlichen Diskurs einer »Angstkultur«, wie er gerade im Hinblick auf den Vormarsch der Rechten die politische Debatte beherrscht, wie auch die weitverbreitete Tendenz, auf die Existenz eines solchen öffentlichen Widerstands gar nicht weiter einzugehen. Indem sich die Gespräche auf die Erfahrungen und Überlegungen von Denkern und Aktivistinnen konzentrieren, die sich aktiv in oder für Lokalitäten engagieren, in denen Angst zum Alltag gehört, wird ein einseitiges oder verallgemeinerndes Denken über Angst gleich auf verschiedenerlei Weise herausgefordert.

Zweitens lehnt dieses Buch die Idee ab, Ängste seien irrational, da sie nur auf vermeintlichen Bedrohungen beruhten; nach dieser Sichtweise würde schließlich die Kraft des Verstands oder ein grobes Verständnis von Wahrscheinlichkeit und Statistik zur Lösung des Problems genügen. Statt Angst als irrationale Emotion abzutun, machen die Gespräche Kritik und Widerstand sichtbarer und verweisen damit auf Situationen, in denen Menschen auf unterschiedliche Weise – und trotz ihrer Furcht – gegen die politische Instrumentalisierung von Angst tätig geworden sind.

Drittens bietet dieses Buch, indem es Aktivisten an der sozialen Basis und politisch engagierte Denkerinnen zusammenbringt, nicht nur neue Ansätze, um die historische und gegenwärtige Funktion von politischem Mut im öffentlichen Leben und in sozialen Kämpfen zu betrachten, sondern auch eine einzigartige und aufregende Zusammenstellung von Stimmen.

Die Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen, die hier zum Ausdruck kommen, schenken uns wertvolle Einsichten in das drängende Problem sozialer und politischer Angst; weil meine Gesprächspartnerinnen nicht primär zu diesem Thema arbeiten, werden die meisten Darlegungen hier zum ersten Mal veröffentlicht. So bietet der Austausch mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern wie Carolin Emcke, David Harvey, Silvia Federici oder Marcus Rediker Einsichten zum Thema Angst, die auch für langjährige Leserinnen und Leser dieser Autorinnen und Autoren neu sind. Und all jene mit einem bereits bestehenden Interesse am Gebiet der Angstforschung, die jedoch mit diesen Autoren bislang noch nicht vertraut sind, werden die Originalität und Überlegtheit ihrer Ansätze schätzen.

Gerade in den Unterhaltungen mit Aktivistinnen, die in Gefahrenzonen arbeiten, wird noch einmal deutlich, wie wenig politischer Mut mit Furchtlosigkeit zu tun hat. Vielmehr wird sichtbar, wie Angst als politisches und hierarchisches Instrument in bestimmten Momenten an Macht verliert – und dass gemeinschaftliches Handeln und Solidarität unter Umständen sehr viel schwerer wiegen als die heroische Furchtlosigkeit des Einzelnen. In ihrer Gesamtheit spricht diese Sammlung somit aus der unerlässlichen Perspektive des Widerstands, die in Debatten über Angst in Politik und Kultur bislang weitestgehend ausgelassen wurde.

Schließlich bieten die hier gesammelten Gespräche eine ganz eigene Sichtweise auf das Verhältnis zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen. Furcht wirkt sich im Persönlichen wie im Politischen aus: Sie tritt als individuelle menschliche Empfindung oder Vorstellung auf, ist aber auch klar als eine kollektive Gemütsbewegung wahrnehmbar, die in der gesamten Gesellschaft widerhallt. Wenn wir also untersuchen, wie wir mit unseren Ängsten leben oder wie wir gegen sie handeln können, müssen wir die Trennung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, dem Persönlichen und dem Politischen aufheben. Demnach habe ich meine Gegenüber gebeten, auch ihre eigene Teilhabe an politischen Bewegungen zu reflektieren und sie in einen größeren Rahmen zu setzen. Dadurch verbinden alle Unterhaltungen eigene Erfahrungen mit einer Analyse der Strukturen, die unser aller Leben zugrunde liegen. Das persönliche Gespräch bietet zum Knüpfen derartiger Beziehungen einen idealen Rahmen; und auch, um der verbreiteten Auffassung entgegenzutreten, dass wir mit unseren Ängsten einfach kurzen Prozess machen sollten – ganz so, als seien sie unabhängig vom politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Umfeld, in dem sie kultiviert, herumgereicht und ausgelebt werden.

Das geografische und historische Spektrum ist breit. Die Leserin, der Leser wird eine Reihe angstbesetzter Ereignisse wiedererkennen, die wesentlich zur Erfahrung der Moderne beigetragen haben: die Hexenverfolgung in Europa und in den europäischen Kolonien, die Praktiken des Terrors und der Gnade auf den transatlantischen Sklavenschiffen, die Unterdrückung durch den italienischen Faschismus während des Zweiten Weltkriegs sowie soziale Ängste im 19. Jahrhundert angesichts einer rapide wachsenden Stadtbevölkerung. Andere Gespräche, die Angst als eine effektive Technologie der Macht verhandeln, orientieren sich wiederum näher an laufenden Debatten über den Aufstieg der autoritären Rechten. Außerdem gehen meine Gesprächspartner darauf ein, welche Funktion Angst in der Organisation von Gefängnissen einnimmt, im städtischen Leben, in Momenten politischer Unterdrückung, in den beschleunigten Massenmedien und in den hochgerüsteten Grenzgebieten der Welt. Es kommen Menschen zu Wort, die mit ihrer Arbeit direkt auf Räume der Angst einwirken wollen und diese dabei hinterfragen, sie auf den Kopf stellen oder ihr trotz all ihres Schreckens einfach ins Gesicht lachen.

Dieses Buch soll seinen Beitrag zu einem weltweiten Aufstand gegen die Angst leisten. Wir wissen, dass Angstschürer immer rasch auf ein Repertoire erprobter Mittel politischer Macht, des Zwangs oder Konsens zurückgreifen können. Doch eines machen die hier gesammelten Gespräche klar: Eben jene Momente der Gespräche, des Zuhörens und des Miteinanders, die die politischen Feldlager und laufenden Revolten unzufriedener und entrechteter Bürgerinnen und Bürger häufig auszeichnen, können zu Ausbrüchen kollektiven Muts führen – beharrlich zersetzen sie die nur scheinbare Undurchdringlichkeit der Angst.

Dezember 2018

CAROLIN EMCKE

DIE GEGENERZÄHLUNG ALS AKT DES WIDERSTANDS

Die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke befasst sich seit über zwanzig Jahren und in einer Vielzahl von Formaten mit sozialer Gewalt und mit öffentlicher Meinungsbildung. Wer erhält das Recht, gehört zu werden? Wessen Geschichten fließen in den öffentlichen Diskurs ein, und wessen Erleben bleibt aufgrund von Kriegen, Konflikten und sozialer Ausgrenzung unbeschrieben? Diesen Fragen geht Carolin Emcke nach. Von den späten 90er-Jahren an berichtete Carolin Emcke etliche Jahre als Journalistin aus Krisengebieten, wo sie ihren Blick jedoch weniger auf die Frontlinie richtete als vielmehr auf die Zivilbevölkerung und das Schweigen derer, die Gewalt erlitten hatten; in ihren Gesprächen mit Zivilistinnen und Zivilisten zeichnete sie Erlebnisse auf, die gerade inmitten gewaltsamer Konflikte noch immer allzu oft unerzählt und somit unsichtbar bleiben. Das publizistische Gesamtwerk, das aus Carolin Emckes Reisen und Begegnungen in jener Zeit entstand, ist bevölkert von Figuren des Alltags; oftmals beweisen die Fahrer, Lehrerinnen, Kinder, Tanten, Cousinen und Cousins, Mütter, Studentinnen und Ladeninhaber, die wir dank dieser Texte kennenlernen, durch ihr soziales Handeln in aller Stille großen Mut.

Im Lauf der letzten Jahre hat Carolin Emcke ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Analyse von Rassismus und Demokratiefeindlichkeit, die Mechanismen von Exklusion und Inklusion gerichtet. Ihre Beiträge über die neuen Rechten und die Politik des Hasses in der globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sind über Europa hinaus auf große Resonanz gestoßen: Mit ihren Büchern,* Essays, Kolumnen und zahlreichen öffentlichen Gesprächen und Vorträgen ist Carolin Emcke zu einer wichtigen Stimme geworden, die von all jenen gehört wird, die durch die gegenwärtigen politischen Verhältnisse alarmiert sind und die sich für soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und gegen Unterdrückung starkmachen wollen.

Ebenso hat Carolin Emcke über die Politik und die Möglichkeiten queeren Begehrens geschrieben – angesichts der weltweit grassierenden geschlechtsspezifischen Gewalt ein unerlässlicher Beitrag. Mit ihrer publizistischen Arbeit gegen den Hass und für einen positiven Begriff des Begehrens bringt sich Carolin Emcke ein in die öffentliche Diskussion über unsere Vorstellungen eines ethischen Miteinanders. Die Themen Hass und Begehren ziehen sich durch das gesamte Gespräch. Carolin Emcke mahnt uns zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den dringlichen Fragen unserer Gegenwart; denn die Art und Weise, wie wir globale Veränderungen begreifen, evoziert immer auch grundlegende geopolitische, kulturelle und soziale Verschiebungen.

Schreiben als Zeugenschaft

Fiona Jeffries: In Ihren Texten und in Ihrem öffentlichen Wirken befassen Sie sich mit drängenden Themen unserer Zeit: Gewalt, Angst, Hass, der Aufstieg der Rechten, Fragen des persönlichen Begehrens, Möglichkeiten der Demokratie. Erzählen Sie zu Anfang doch etwas über die Begegnungen und Geschehnisse, die Sie in Ihrer Arbeit und in Ihrem politischen Engagement antreiben. Was hat Sie zu diesen Themen geführt?

Carolin Emcke: Als Publizistin und als Mensch wüsste ich nicht, wie ich zwischen diesen Themen Unterscheidungen treffen sollte. Wer schreibt, wird Teil einer ganzen Familie von Autorinnen und Autoren, denen man nie begegnet ist, aber deren Sprache, Rhythmus und Gedanken einem dabei helfen, sich selbst und die eigene soziale und politische Umgebung zu verstehen.

Als Kind der Nachkriegszeit wuchs ich in einem Deutschland auf, dessen Selbstverständnis in der Geschichte des Dritten Reichs gründete. Das historische Bewusstsein über die Schoah diente vielen meiner Generation als moralischer und politischer Bezugspunkt: der Schrecken, dass eine demokratische Gesellschaft einen autoritären Diktator wählt, dass sie eine antisemitische, faschistische Ideologie unterstützt, sich an der Deportation und Ermordung von Millionen von Menschen beteiligt, einen Angriffskrieg führt … – der Schrecken über diese Verbrechen prägte ein gesellschaftliches Bewusstsein: Deutsch zu sein bedeutete für viele in meiner Generation, eine antinationalistische Haltung einzunehmen. Im Studium vertiefte dann die Kritische Theorie der Frankfurter Schule mein Nachdenken über die Bedingungen und Strukturen von Gewalt, über die Politik der Ausgrenzung und des Totalitarismus. Der soziale Konsens über den Antinationalismus hat sich in Deutschland in den letzten Jahren gewandelt. Am deutlichsten wurde das während der Fußballweltmeisterschaft 2006 – da wurde Nationalismus als etwas Harmloses, Heiteres gefeiert und propagiert. Inzwischen haben wir es nun auch in Deutschland mit rechtsradikalen Bewegungen und Parteien zu tun, wie es sie in anderen Teilen Europas schon seit längerem gibt. Diese Gruppen versuchen, die kritische Reflexion über die Schoah zu unterlaufen, sie verfolgen eine revisionistische, ethnisch-nationalistische Agenda. Wir benötigen heute also neue, zeitgemäße Wege, um die kritische Reflexion auf die Vergangenheit auch für jüngere Generationen zu gewährleisten. Dafür braucht es einerseits einen politischen Willen, aber auch moderne didaktische, lebendige Erzählweisen, die diese Geschichte vermitteln.

Fiona Jeffries: Journalistisch wie philosophisch haben Sie sich vornehmlich mit Konfliktschauplätzen befasst, ob nun mit großräumigen – von Irak und Kosovo über Nicaragua bis Deutschland – oder mit solchen auf der Mikroebene – die Straße, der Schulhof oder das Schlafzimmer. Wie lässt sich sozialer und politischer Konflikt über Sprachen, Kulturen, spezifische Umstände und Erfahrungen hinweg übersetzen? Was bewirkt Schreiben inmitten von und gegen Gewalt?

Carolin Emcke: Wenn Sie mich das in unterschiedlichen Situationen fragen würden, müsste ich jedes Mal eine andere Antwort geben. In meinen Augen birgt das Schreiben über Kriegsgebiete drei unterschiedliche Aufgaben oder Formen. Zunächst geht es um Zeugenschaft. In Kriegs- oder Krisenregionen, in Flüchtlingslagern vor den Grenzen der USA oder Europas treffen Sie Menschen, die niemand will, deren Würde und Subjektivität negiert werden, die ausgestoßen wurden, umgebracht werden sollten oder aus ihrem Land vertrieben wurden. Die Menschen, die ich dort traf, haben generell die Erfahrung gemacht, dass ihnen ihre Menschlichkeit aberkannt worden ist. Die bloße Tatsache, dass sich jemand zu ihnen setzt, sie ansieht, ihnen zuhört oder gemeinsam mit ihnen isst, wird so zur ethischen Geste. Sie werden wieder als Subjekte anerkannt. Das geschieht noch vor dem Schreiben. Hier geht es nur darum, sich zu jemandem zu setzen, der oder die misshandelt, vergewaltigt oder vertrieben wurde, und ihn oder sie wieder zu re-humanisieren. Diese Menschen sind oftmals erstaunt, dass jemand ihnen Aufmerksamkeit schenkt, sie überhaupt sieht. Ich denke also, dass der erste Moment, der für mich beim Schreiben wichtig ist, in dieser Zeugenschaft liegt, darin, festzuhalten: »Das ist hier geschehen.« Diese Menschen sind da. Sie haben einen Körper. Sie haben ein Geschlecht. Sie haben eine Hautfarbe. Sie haben Familie, Kinder. Hierher stammen sie.

Der zweite Aspekt der Zeugenschaft hält fest: »Was diesen Menschen wiederfährt, ist nicht rechtens.« Es bedeutet, Ungerechtigkeiten zur Sprache zu bringen, zu artikulieren: »Das ist nicht richtig.« Dieser zweite Teil kritisiert, was ist, aber nicht sein sollte. Dabei ist es egal, wie oft ein Unrecht geschieht oder wie viele Menschen es ausüben. Es ist egal, ob es durch Gesetze begründet wird. Es ist egal, wer das Unrecht ausübt, ob es sich um eine Armee, eine Miliz oder um Zivilisten handelt. Menschenrechtsverletzungen anzuprangern ist keine Frage der Quantität, es geht nicht um die Menge, sondern um die einzelne Handlung, jede einzelne Verletzung, darum, ob einem Menschen Leid angetan wird, ihm seine Rechte verwehrt werden. Auf die Zeugenschaft folgt also diese Kritik. Kritik an Praktiken, Taten, Ideologien, an Strukturen, durch die Menschen misshandelt oder missbraucht werden.

In einem dritten Schritt geht es meiner Ansicht nach darum, etwas noch nicht Existentes zu kreieren. Indem du über Menschen schreibst, denen ihr Menschsein sonst versagt wird, erschaffst du ein universelles Wir, ein Wir, das sonst durch Ungerechtigkeiten, Tyranneien oder Kriege unterlaufen oder negiert wird. Dem Ganzen wohnt also auch ein utopischer Aspekt inne. Einerseits wirken da der Glaube und die Überzeugung, dass ein solches universelles Wir überhaupt existiert, dass es moralisch existiert, auch wenn es tagtäglich geleugnet wird. Aber beim Schreiben geht es auch darum, dieses Wir erst zu erschaffen, und dieser letzte Schritt dürfte der schwierigste sein.

Sie haben mich gefragt, wie man Erfahrungen über unterschiedliche Kontexte und Kulturen hinweg übersetzt. Genau das ist die Frage – eine sehr schwierige Frage! Wie man das genau schafft, kann ich nicht sagen, aber in jedem Fall ist das die Aufgabe. Als Autorin muss ich zweierlei erreichen: Ich muss eine Person in einem besonderen Kontext sichtbar machen, mit einer besonderen Geschichte, einer besonderen Kultur, besonderen Erfahrungen. Aber gleichzeitig muss ich es irgendwie schaffen, dass sich andere Menschen in diese Person hineinversetzen, Empathie entwickeln mit jemand Fremdem – Menschen, die eine andere Sprache sprechen, in anderen Gegebenheiten leben und keine Ahnung vom Kontext eben dieser Person haben. Ich weiß nicht – ich denke, da gibt es keine bestimmte Methode. Ich könnte das nicht unterrichten oder erklären. Ich weiß nur, dass man genau diesen Punkt lösen muss. Für den utopischen Aspekt des Schreibens ist das maßgeblich.

Gewalt rekonstruieren

Fiona Jeffries: Wie wirkt sich Schreiben inmitten sozialer Spannungen aus? Was kann Schreiben erreichen, wenn wir dadurch Brücken schaffen, Mitgefühl und Neugier erregen?

Carolin Emcke: Ich glaube, das hängt von den jeweiligen Umständen ab. Beim Schreiben über Menschen stellt sich die Frage der Empathie: Wie bringen wir die Leserinnen und Leser dazu, sich für die Menschen, über die wir schreiben, zu interessieren? Und was passiert, wenn ihnen dann plötzlich Ereignisse, Zusammenhänge oder Regionen wichtig werden, die ihnen bislang egal waren? Die andere Frage betrifft den Akt des Schreibens über Gewalt, also wenn der Gegenstand des Schreibens die Gewalt selbst ist und nicht ein Mensch, ein Individuum, eine Geflüchtete. Im Hinblick auf den Effekt, den der Akt des Schreibens hat, empfinde ich das als entscheidend. Ich sehe Gewalt niemals als eine natürliche, sozusagen anthropologische Gegebenheit. Nie. Um eine Gewalttat, ein gewalttätiges Ereignis oder einen Ausbruch von Gewalt wirklich zu rekonstruieren, ist es für mich als Autorin wichtig, sehr genau zu sein. Einerseits erhöht das die Glaubwürdigkeit. Aber vor allem ist die Vagheit, das Ungenaue oft ein rhetorischer Schutz derer, die Gewalt verharmlosen wollen. Sie sprechen dann von »belästigen« – wenn es wirklich brutale Gewalt war; sie sprechen von »demütigen« – wenn es brutale Folter war. Je genauer sich ein Vergehen beschreiben lässt, umso schwerer fällt es den Tätern, ihre eigenen Handlungen zu verniedlichen. Nehmen Sie beispielsweise das Gefängnis von Abu Ghraib im besetzten Irak. Ich hatte mich mit diesem Fall als Reporterin befasst. Die Leute wollten damals gerne glauben, dass es sich bei den dortigen Geschehnissen nur um ein bisschen Schikane gehandelt habe, dass es gar nicht so brutal gewesen sei. Also muss man durch die Details gehen, damit niemand mehr annehmen kann, es sei legitim gewesen, was hinter diesen Mauern geschah.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Wenn man Gewalt wirklich rekonstruiert, tatsächlich einmal ihre Abläufe oder Mechanismen beschreibt – all die kleinen Details, die winzigen Schritte, die schlussendlich zu Folter, Vergewaltigung und Kriegsverbrechen geführt haben –, dann wird sichtbar, wie viele Möglichkeiten es gegeben hätte, anders zu handeln, wie viele Möglichkeiten es gab, dass jemand Nein sagt und aussteigt. Solange wir Gewalt als ein monolithisches Phänomen verstehen, als etwas, das geschieht wie eine Naturkatastrophe, solange wird Gewalt als unvermeidlich wahrgenommen werden. Beschreibt man Gewalt hingegen sorgfältig und gewissenhaft, in ihrer Entstehung, mit all den Kleinigkeiten, all den Personen, all den individuellen und kollektiven Entscheidungen, all den Variablen, die zur Gewalt beigetragen haben, dann lassen sich die Momente aufzeigen, an denen jemand hätte Nein sagen können. Das verteilt zum einen die Verantwortung, es zeigt, wie viele Menschen sich beigetragen haben, welche Strukturen und welche Institutionen. Gleichzeitig öffnet es aber auch den Blick für Dissidenz und Widerstand. Es werden mehr Möglichkeiten sichtbar, wie man aus einer solchen Situation heraustreten, sich nicht an ihr beteiligen kann. Das hat mich schon immer stark beschäftigt. Bei allen brutalen und entsetzlichen Verbrechen hat es immer Menschen gegeben, die Nein gesagt haben; entweder haben sie Menschen geholfen, die sonst zu Opfern geworden wären, oder eben einfach gesagt, dass sie nicht mitmachen.

Beim Folterskandal in Abu Ghraib ist meine liebste Geschichte die eines jungen US-Soldaten, der Gefangene in einen der Abschnitte im Block 1A bringen sollte, wo die Folterungen stattfanden. Seine Vorgesetzten sagten ihm, er solle sich an der Misshandlung der nackten Gefangenen beteiligen. Er antwortete einfach mit »Nein« und ging wieder auf sein Zimmer. Ihm passierte nichts. Er wurde nicht dafür bestraft, dass er bei den Misshandlungen nicht mitmachte. Der Soldat hieß Matthew Wisdom. Ein perfektes Beispiel für menschlichen Widerstand – und auch noch von jemandem, der die Weisheit im Namen trägt.

Fiona Jeffries: Hat er selbst Ihnen diese Geschichte erzählt?

Carolin Emcke: Nein, wenn ich das richtig erinnere, stand das in den Militärakten über die Geschichte der Misshandlungen. Ich habe allerdings einen der Folterer in dem Fall interviewt.

Geschichten über den Krieg

Fiona Jeffries: Wie verarbeiten Sie Ihre eigenen Gefühle, Angst, Ekel oder Wut? Und im Zusammenhang damit eine Frage, die in Bezug auf Kriegsdarstellung und -berichterstattung regelmäßig aufkommt: Wie sprechen wir über Gewalt, ohne dadurch eben jene Furcht zu reproduzieren, die Folter gerade erzeugen soll?

Carolin Emcke: In den letzten paar Jahren habe ich gar nicht mehr in Krisenregionen gearbeitet, sondern nur hier in Berlin Bücher geschrieben. Ich hatte also Zeit, mich etwas zu erholen. Dazu muss ich jedoch auch sagen: Ich habe mich in meiner Arbeit generell mit Zivilisten beschäftigt, kaum je mit Soldaten. Als der Abu-Ghraib-Folterskandal aufgedeckt wurde, war ich über die damalige Strategie des US-Verteidigungsministeriums unter Donald Rumsfeld sehr aufgebracht: Die Folter sei von ein paar fehlgeleiteten Soldaten im Alleingang begangen worden, die Misshandlungen hätten kein System gehabt, niemand habe Befehle erhalten. Ich fand die Medienberichterstattung unglaublich schlecht, weil sie ausschließlich zwei Menschen in den Blick nahm: Charles Graner und Lynndie England.

Fiona Jeffries: Zwei durch und durch stereotype Figuren.

Carolin Emcke: