Friedrich Schlegel

 

Über das Studium der griechischen Poesie


Philosophie Digital Nr. 5


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2019 andersseitig.de

ISBN: 9783961189601


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 Vorrede

Eine Geschichte der Griechischen Poesie in ihrem ganzen Umfange umfaßt auch die der Beredsamkeit und der historischen Kunst. Die wahrhafte Geschichte des Thucydides ist nach dem richtigen Urteil eines Griechischen Kenners zugleich ein schönes Gedicht; und in den Demosthenischen Reden, wie in den Sokratischen Gesprächen ist die dichtende Einbildungskraft zwar durch einen bestimmten Zweck des Verstandes beschränkt, aber doch nicht aller Freiheit beraubt, und also auch der Pflicht, schön zu spielen, nicht entbunden: denn das Schöne soll sein, und jede Rede, deren Hauptzweck oder Nebenzweck das Schöne ist, ist ganz oder zum Teil Poesie. – Sie umfaßt ferner die Geschichte der Römischen Poesie, deren Nachbildungen uns nur zu oft für den Verlust der ursprünglichen Werke schadlos halten müssen. – Die Geschichte der Griechischen Kritik und die Bruchstücke, welche sich etwa zu einer Geschichte der Griechischen Musik und Mimik finden möchten, sind ihr so unentbehrlich als die Kenntnisse der ganzen Griechischen Göttersage und Sprache in allen ihren Zweigen, und nach allen ihren Umbildungen. – In den verborgensten Tiefen der Sitten und Staatengeschichte muß dasjenige oft erst entdeckt werden, wodurch allein ein Widerspruch, eine Lücke der Kunstgeschichte aufgelöst, ergänzt, die zerstreuten Bruchstücke geordnet, die scheinbaren Rätsel erklärt werden können: denn Kunst Sitten und Staaten der Griechen sind so innigst verflochten, daß ihre Kenntnis sich nicht trennen läßt. Und überhaupt ist die Griechische Bildung ein Ganzes, in welchem es unmöglich ist, einen einzelnen Teil stückweise vollkommen richtig zu erkennen.

Wie unermeßlich die Schwierigkeiten einzelner vielleicht sehr kleiner Teile dieses großen Ganzen sind, darf ich mit Stillschweigen übergehn. Alle Kenner wissen, wie viel Zeit und Anstrengung es oft kostet, nur eine falsche Zeitangabe zu berichtigen, einen Nebenzweig der Göttersage prüfend zu reinigen, die vollständig gesammelten Bruchstücke auch nur eines einzigen Dichters bis zur Reife zu verarbeiten.

Eine vollendete Geschichte der Griechischen Poesie aber würde auch nicht etwa dem Gelehrten allein Gewinn bringen, und nur dem Geschichtsforscher allein eine bedeutende Lücke in der Geschichte der Menschheit ausfüllen. Sie scheint mir zugleich eine wesentliche Bedingung der Vervollkommnung des Deutschen Geschmacks und Kunst, welche in unserm Anteil an der Europäischen Bildung nicht die unbedeutendste Stelle einnimmt.

Vielleicht redet die erste Abhandlung mehr vom Modernen, als die Aufschrift dieser Sammlung erwarten läßt, oder zu erlauben scheint. Indessen war es doch nur nach einer nicht ganz unvollständigen Charakteristik der modernen Poesie möglich, das Verhältnis der antiken Poesie zur modernen, und den Zweck des Studiums der klassischen Poesie überhaupt und für unser Zeitalter insbesondre zu bestimmen.

Diese Abhandlung über das Studium der Griechischen Poesie ist nur eine Einladung, die alte Dichtkunst noch ernstlicher als bisher zu untersuchen; ein Versuch (die Mängel desselben kann niemand lebhafter empfinden als ich) den langen Streit der einseitigen Freunde der alten und der neuen Dichter zu schlichten, und im Gebiet des Schönen durch eine scharfe Gränzbestimmung die Eintracht zwischen der natürlichen und der künstlichen Bildung wieder herzustellen; ein Versuch, zu beweisen, daß das Studium der Griechischen Poesie nicht bloß eine verzeihliche Liebhaberei, sondern eine notwendige Pflicht aller Liebhaber, welche das Schöne mit ächter Liebe umfassen, aller Kenner, die allgemeingültig urteilen wollen, aller Denker, welche die reinen Gesetze der Schönheit, und die ewige Natur der Kunst vollständig zu bestimmen, versuchen, sei und immer bleiben werde.

Die kurze Charakteristik der Griechischen Poesie, in diesem Aufsatze bitte ich nicht zu prüfen, ohne den Grundriß einer Geschichte der Griechischen Poesie, welcher den zweiten Band dieser Sammlung ausmachen wird, damit zu vergleichen. Er enthält die Belege, die nähere Bestimmung, und die weitere Ausführung der hier gefällten Urteile.

Die Freunde der modernen Poesie werden die Einleitung der Abhandlung über das Studium der Gr. P. nicht als mein Endurteil über die moderne Poesie mißdeuten, und sich mit der Entscheidung, daß mein Geschmack einseitig sei, wenigstens nicht übereilen. Ich meine es ehrlich mit der modernen Poesie, ich habe mehrere moderne Dichter von Jugend auf geliebt, viele studiert und ich glaube einige zu kennen. –

Geübte Denker werden leicht erraten, warum ich diesen Standpunkt wählen mußte. – Gibt es reine Gesetze der Schönheit und der Kunst, so müssen sie ohne Ausnahme gelten. Nimmt man aber diese reinen Gesetze, ohne nähere Bestimmung und Richtschnur der Anwendung zum Maßstab der Würdigung der modernen Poesie: so kann das Urteil nicht anders ausfallen, als daß die moderne Poesie, die jenen reinen Gesetzen fast durchgängig widerspricht, durchaus gar keinen Wert hat. Sie macht nicht einmal Ansprüche auf Objektivität, welches doch die erste Bedingung des reinen und unbedingten ästhetischen Werts ist, und ihr Ideal ist das Interessante d.h. subjektive ästhetische Kraft. – Ein Urteil, dem das Gefühl laut widerspricht! Man hat schon viel gewonnen, wenn man sich diesen Widerspruch nicht läugnet. Dies ist der kürzeste Weg, den eigentlichen Charakter der modernen Poesie zu entdecken das Bedürfnis einer klassischen Poesie zu erklären, und endlich durch eine sehr glänzende Rechtfertigung der Modernen überrascht und belohnt zu werden.

Wenn irgend etwas die Unvollkommenheit dieses Versuchs entschuldigen kann, so ist es die innige Wechselwirkung der Geschichte der Menschheit und der praktischen Philosophie, im Ganzen sowohl als in einzelnen Teilen. In beiden Wissenschaften sind noch unermeßliche Strecken Land urbar zu machen. Man mag ausgehn von welcher Seite man will, so müssen Lücken bleiben, welche nur von der andern Seite her ergänzt werden können. Auch ist die Sphäre der antiken und modernen Poesie zusammengenommen so groß, daß man schwerlich in jedem Felde derselben gleich einheimisch sein kann, man müßte denn etwa nirgends recht zu Hause sein. Sind die ersten Grundlinien und äußersten Umrisse nur richtig angelegt: so kann jeder Kunstkenner, der zur Übersicht des großen Ganzen nicht unfähig, und auch nur in einem kleinen Teile des ganzen Bezirks recht bekannt ist, von seiner Seite zur näheren Bestimmung und zur weiteren Ausführung beitragen.

Schillers Abhandlung über die sentimentalen Dichter1

hat außer, daß sie meine Einsicht in den Charakter der interessanten Poesie erweiterte, mir selbst über die Gränzen des Gebiets der klassischen Poesie ein neues Licht gegeben. Hätte ich sie eher gelesen, als diese Schrift dem Druck übergeben war, so würde besonders der Abschnitt von dem Ursprunge, und der ursprünglichen Künstlichkeit der modernen Poesie ungleich weniger unvollkommen geworden sein. – Man urteilt einseitig und ungerecht, wenn man die letzten Dichter der alten Kunst bisher nur nach den Grundsätzen der objektiven Poesie würdigt. Die natürliche und die künstliche ästhetische Bildung greifen ineinander, und die Spätlinge der antiken Poesie sind zugleich die Vorläufer der modernen. – So treu auch die bukolischen Dichter der Sizilischen Schule die rohe Natur nachahmen, so ist doch die Rückkehr von verderbter Kunst zur verlornen Natur der erste Keim der sentimentalen Poesie. Auch wird in den Griechischen Idyllen nicht immer das Natürliche, sondern oft schon das Naive d.h. das Natürliche im Kontrast mit dem Künstlichen dargestellt, welches nur der sentimentale Dichter darstellt. Je mehr sich die idyllischen Dichter der Römer von der treuen Nachahmung roher

Natur entfernen, und der Darstellung eines goldnen Zeitalters der Unschuld nähern, um so weniger sind sie antik, um so mehr sind sie modern. Die Satiren des Horaz sind zwar noch, was die des Lucilius: poetische Ansichten, und poetische Äußerungen Römischer Urbanität; wie die Dorischen Mimen und die Sokratischen Dialogen, der Dorischen und der Sokratischen Urbanität. Aber einige ursprünglich Römische Oden und Epoden des Horaz (und nicht die schlechtesten!) sind sentimentale Satiren, welche den Kontrast der Wirklichkeit und des Ideals darstellen. Der sentimentale Ton der spätern, von ihrem ursprünglichen Charakter ausgearteten Römischen Satire, wie auch nach Schillers treffender Bemerkung des Tacitus und Luzian ist unverkennbar.

Die Elegien der Römischen Triumvirn aber sind lyrisch und nicht sentimental. Selbst in denjenigen hinreißenden Gedichten des Properz, wo Stoff und Geist ursprünglich Römisch ist, findet sich keine Spur von einer Beziehung auf das Verhältnis des Realen und des Idealen, welche das charakteristische Merkmal der sentimentalen Poesie ist. Doch findet sich in allen, vorzüglich im Tibull, wie in den Griechischen Idyllen eine Sehnsucht nach einfacher ländlicher Natur aus Überdruß an der ausgearteten städtischen Bildung. – Äußerst überraschend ist es, daß die Griechischen Erotiker in der Anordnung des Ganzen, im Kolorit der Darstellung, in der Manier der Gleichnisse, und selbst im Periodenbau durchaus modern sind. Ihr Prinzip ist nicht Streben nach unbestimmtem Stoff und bloßem Leben überhaupt, sondern wie auch im Oppian und noch viel früher in den Sotadischen Gedichten, ein subjektives Interesse an einer bestimmten Art von Leben, an einem individuellen Stoff. Man vergleiche den Achilles Tatius zum Beispiel mit einer äußerst mittelmäßigen Italiänischen oder Spanischen Novelle. Nach Absondrung des Nationalen und Zufälligen wird man durch die vollkommenste Gleichheit überrascht werden.

Merkwürdig und bestätigend war es mir, daß in Schillers treffender Charakteristik der drei sentimentalen Dichtarten das Merkmal eines Interesse an der Realität des Idealen in dem Begriff einer jeden derselben stillschweigends vorausgesetzt, oder sichtbar angedeutet wird. Die objektive Poesie aber weiß von keinem Interesse, und macht keine Ansprüche auf Realität. Sie strebt nur nach einem Spiel, das so würdig sei, als der heiligste Ernst, nach einem Schein, der so allgemeingültig und gesetzgebend sei, als die unbedingteste Wahrheit. Eben daher ist auch die Täuschung, deren die interessante Poesie bedarf, und die technische Wahrheit, die ein Gesetz der schönen Poesie ist, so durchaus verschieden. Du mußt an das goldne Zeitalter, an den Himmel auf Erden wenigstens vorübergehend ernstlich glauben, wenn die sentimentale Idylle dich entzücken soll. Sobald du wahrnimmst, daß der sentimentale Satiriker nur finster träume, oder verläumde: mag er noch so viel poetischen Schwung haben, er kann dich nur unterhalten, aber nicht mehr fassen, und begeistern.

Es ist äußerst wichtig, dieses charakteristische Merkmal der interessanten Poesie nicht zu übersehn, weil man sonst in Gefahr gerät, das Sentimentale mit dem Lyrischen zu verwechseln. Nicht jede poetische Äußerung des Strebens nach dem Unendlichen ist sentimental: sondern nur eine solche, die mit einer Reflexion über das Verhältnis des Idealen und des Realen verknüpft ist. Wenn das reine, unbestimmte, an keinen einzelnen Gegenstand gefesselte Streben nach dem Unendlichen nicht unter allem Wechsel der Gefühle herrschende Stimmung des Gemüts bleibt, wie in den Bruchstücken der Sappho, des Alcäus, Bacchylides und Simonides, den Pindarischen Gedichten, und dem größten Teil der nach dem Griechischen gebildeten Horazischen Oden, die nicht sentimental, sondern lyrisch sind: so ist keine vollendete lyrische Schönheit möglich. Das allgemeine Streben nach innrer und äußrer Begränzung, welches das Zeitalter des Ursprungs des Griechischen Republikanismus und der lyrischen Poesie der Griechen so charakteristisch unterscheidet, war die erste Äußerung des erwachten Vermögens des Unendlichen. Nur dadurch ward lyrische Anlage zur lyrischen Kunst, die man dem Kallinus, Tyrtäus, Archilochus, Mimnermus, und Solon nicht absprechen kann, wenn sich gleich jene erhabene Stimmung und hohe Schönheit in ihren Bruchstücken nicht findet. – Nicht jede poetische Darstellung des Absoluten ist sentimental. Im ganzen Gebiet der Klassischen Poesie ist die Darstellung des einzigen Sophokles absolut. Das Absolute wird aber auch z.B. im Äschylus und Aristophanes dargestellt. Jener, wiewohl er sein Ideal nicht erreicht, gewährt eine lebendige Erscheinung unendlicher Einheit; dieser eine lebendige Erscheinung unendlicher Fülle. Die charakteristischen Merkmale der sentimentalen Poesie sind das Interesse an der Realität des Ideals, die Reflexion über das Verhältnis des Idealen und Realen, und die Beziehung auf ein individuelles Objekt der idealisierenden Einbildungskraft des dichtenden Subjekts. Nur durch das Charakteristische d.h. die Darstellung des Individuellen wird die sentimentale Stimmung zur Poesie. Die Sphäre der interessanten Poesie wird durch die drei Arten der sentimentalen bei weitem nicht erschöpft; und nach dem Verhältnis des Sentimentalen und Charakteristischen dürfte wohl auch in der interessanten Poesie ein Analogon von Stil stattfinden.

Nun ist es aber selbst nach der Meinung der Majorität der Philosophen ein charakteristisches Merkmal des Schönen, daß das Wohlgefallen an demselben uninteressiert sei; und wer nur zugibt, daß der Begriff des Schönen praktisch, und spezifisch verschieden sei, wenn er ihn auch nur problematisch aufstellt, und seine Gültigkeit und Anwendbarkeit unentschieden läßt, der kann dies nicht läugnen. Das Schöne ist also nicht das Ideal der modernen Poesie und von dem Interessanten wesentlich verschieden.

Im ganzen Gebiet der ästhetischen Wissenschaften ist die Deduktion des Interessanten vielleicht die schwerste und verwickeltste Aufgabe. Der Rechtfertigung des Interessanten muß die Erklärung der Entstehung und Veranlassung vorangehen. Nachdem die vollendete natürliche Bildung der Alten entschieden gesunken, und ohne Rettung ausgeartet war, ward durch den Verlust der endlichen Realität, und die Zerrüttung vollendeter Form ein Streben nach unendlicher Realität veranlaßt, welches bald allgemeiner Ton des Zeitalters wurde. Ein und dasselbe Prinzip erzeugte die kolossalen Ausschweifungen der Römer, und nachdem es in der Sinnenwelt seine Hoffnung getäuscht sah, das seltsame Phänomen der Neuplatonischen Philosophie, und die allgemeine Tendenz jener merkwürdigen Periode, wo der menschliche Geist zu schwindeln schien, nach einer universellen und metaphysischen Religion. Der entscheidende Moment der Römischen Sittengeschichte, da der Sinn für schönen Schein und sittliche Spiele ganz verloren ging, und das menschliche Geschlecht zur nackten Realität herabsank, ist scharfsinnigen Geschichtsforschern nicht unbemerkt geblieben.

Läßt sich nun erweisen, daß auch durch die glücklichste natürliche Bildung, welche der Vervollkommnungsfähigkeit wie der Dauer nach notwendig beschränkt sein muß, der ästhetische Imperativ nicht vollkommen befriedigt werden kann; und daß die künstliche ästhetische Bildung, welche nur auf die völlig aufgelöste natürliche Bildung folgen kann, und da anfangen muß, wo jene aufgehört hat, nämlich mit dem Interessanten, manche Stufen durchgehn müsse, ehe sie nach den Gesetzen einer objektiven Theorie und dem Beispiel der klassischen Poesie zum Objektiven und Schönen gelangen könne: so ist eben damit auch bewiesen, daß das Interessante, als die notwendige Vorbereitung zur unendlichen Perfektibilität der ästhetischen Anlage, ästhetisch erlaubt sei. Denn der ästhetische Imperativ ist absolut, und da er nie vollkommen erfüllt werden kann, so muß er wenigstens durch die endlose Annäherung der künstlichen Bildung immer mehr erreicht werden. Nach dieser Deduktion, welche eine eigne Wissenschaft, die angewandte Poetik begründet, ist das Interessante dasjenige, was provisorischen ästhetischen Wert hat. Zwar hat das Interessante notwendig auch intellektuellen oder moralischen Gehalt: ob aber auch Wert, daran zweifle ich. Das Gute, das Wahre soll getan, erkannt, nicht dargestellt und empfunden werden. Für eine Menschenkenntnis, die aus dem Shakespeare, für eine Tugend, die aus der Heloise geschöpft sein soll, gebe ich nicht viel; so viel Rühmens auch diejenigen davon machen, welche gern recht viel Empfehlungsgründe für die Poesie anhäufen. – Immer aber hat das Interessante in der Poesie nur eine provisorische Gültigkeit, wie die despotische Regierung.

So gefährlich es ist, neue Kunstwörter zu prägen, so schien es mir doch, und scheint mir auch noch jetzt durchaus notwendig, die Tragödie des Sophokles und des Shakespeare, Dichtarten, welche sich fast durch alle Merkmale entgegengesetzt sind, durch ein bedeutendes Beiwort zu unterscheiden. Doch scheint mir die Benennung einer philosophischen Tragödie selbst nicht mehr die schicklichste zu sein. Besser wäre es vielleicht, die Tragödie, deren Begriff in der reinen Poetik (nach Anleitung der Kategorien) a priori deduziert wird, und deren Beispiel die Griechische Dichtart liefert, die objektive; die Shakespearsche Dichtart hingegen, welche aus sentimentalen und charakteristischen Bestandteilen ein absolutes interessantes Ganzes organisiert, die interessante Tragödie zu nennen. Will man fernerhin auch die Dichtart des Corneille, Racine und Voltaire, aus übertriebner Schonung selbst gegen den Eigensinn des Sprachgebrauchs, Tragödie nennen: so könnte man sie durch das Beiwort der französischen unterscheiden, um gleich daran zu erinnern, daß dies nur eine nationelle Anmaßung sei.

Auf den Grundriß einer Geschichte der Griechischen Poesie soll, sobald als möglich eine Geschichte der Attischen Tragödie folgen. Sie wird nicht allein den höchsten Gipfel, welchen die klassische Poesie erreicht hat, genau bestimmen müssen, sondern auch die Bildungsstufen ihrer Geschichte am deutlichsten erklären können. Denn wie nach der Meinung des Platonischen Sokrates, was sittliche Vollkommenheit eigentlich sei, in der größern Masse des Staats sichtbarer ist, als im einzelnen Menschen: so sind die Bildungsgesetze der Griechischen Kunstgeschichte in der Attischen Tragödie, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit größerer Schrift ausgeprägt. Sind die Verhältnisse der Griechischen Poesie zur modernen und zur Griechischen Bildung überhaupt, ihre Bildungsstufen und Arten, ihre Gränzen und Bildungsgesetze bestimmt: so sind die Umrisse und der Entwurf des Ganzen vollständig verzeichnet.

Diese Sammlung wird in der Folge auch die politische Bildung der klassischen Völker umfassen.