Über das Buch

Pe und Ona auf dem Weg zu sich selbst. Die Geschichte einer großen Liebe — intensiv erzählt von Sandra Hoffmann

Als Ona ihn zum ersten Mal sieht, weiß sie es schon. Da ist etwas in seinen Augen, das trifft sie mitten ins Herz. Unbedingt kennenlernen möchte Ona diesen schmalen, schweigsamen Jungen mit der Narbe am Kopf, der ganz anders ist als die übrigen Surfer-Typen am Strand. Als sie sich später wieder begegnen, werden Ona und Pe ein Paar. Es ist das erste Mal, dass sie sich einem anderen Menschen so anvertrauen, ihm von ihrem Schmerz und ihrem Verlust erzählen. Ona, die ihre Mutter verloren hat, und Pe, der im Gegensatz zu seinem Bruder den Autounfall überlebt hat. Sich öffnen macht verwundbar, bedeutet aber auch Heilung. Sandra Hoffmann schreibt mit beeindruckender erzählerischer Kraft von der ersten großen Liebe.

Sandra Hoffmann

Das

Leben

spielt hier

Carl Hanser Verlag

Für Tom und Nikolai

1

Wenn sie balzen, zeigen die Männchen ihre Füße her, sagt Ona. Und wer die blausten hat, gewinnt.

Wie gewinnt? Fragt Pe und schaut dabei seine eigentlich ziemlich braunen an und wie sie neben den etwas helleren von Ona von der Schlossmauer hinabbaumeln.

Den nimmt die Blaufußtölpelin dann eben. Sagt Ona.

Wegen der Füße? Fragt Pe.

Wegen der schönen Füße. Sagt Ona.

Sie streckt ihre Beine, und Pe mag, dass sie nicht so lang und dünn sind, sondern eher ein bisschen muskulös und kräftig. Und wie die sehr braunen Fesseln jetzt unter ihren weiten Hosen hervorschauen, das sieht gut aus.

Die Frauen entscheiden. Sagt Ona und lacht.

Wie bei uns. Sagt Pe. Er legt seine Hand auf Onas Oberschenkel, und Ona denkt, dass sie leicht ist, leichter, als man denkt, dass eine Hand ist.

Gar nicht. Sagt sie, weil einer alleine kann nicht entscheiden.

Doch, sagt Pe, du hast mich ausgesucht.

Und du hast mich nicht gewollt, sagt Ona.

Nein, ruft Pe so laut, dass Ona lachen muss, und Pe lacht auch und schüttelt so sehr seinen Kopf, dass der Ansatz der Narbe ein wenig hervorblitzt unter seinen blonden Haaren, aber nur einen kurzen Augenblick. Dann nimmt er seine Hand von Onas Bein und streicht sich das Haar mit dem Handballen wieder aus der Stirn. So, dass man nichts mehr von ihr sieht.

Ich hab dich nur gar nicht wahrgenommen, zuerst. Sagt Pe. Weil. Dann macht er eine Pause, und Ona versteht es und sie will nicht, dass Pe sich für etwas entschuldigt, wofür er sich nicht entschuldigen muss. Ich weiß doch, sagt sie. Und sie nickt, weil sie immer nickt, wenn Pe das sagt.

Es ist ein Spiel geworden. Wenn jemand sie beide fragt, wie sie zusammengekommen sind, dann erzählt Ona die Geschichte vom Surferjungen am Meer. Und Pe die von einem Jahr später aus dem Park. Und wie er Ona sah, die er schon einmal gesehen hatte, und dass er es plötzlich wusste: Sie ist es! The one and only. Ona.

Ich habe Hunger, sagt Ona.

Auf was? Fragt Pe.

Nudeln. Sagt Ona. Mit Löchern.

Penne? Fragt Pe.

Ja. Sagt Ona.

Mit Tomatensoße. Sagt Pe.

Oder Carbonara, sagt Ona.

Oder Tomatensoße mit Kapern, sagt Pe.

Oder Carbonara mit Zucchini anstelle von Speck. Sagt Ona.

Oder Tomatensoße mit Anchovis und Zucchini. Sagt Pe.

Oder ohne Tomatensoße, aber mit Zucchini und Anchovis. Sagt Ona. Und Parmesan.

Oke. Sagt Pe. So, wie nur Pe okay sagt, mit k und einem e, das länger ist als nötig, aber gut klingt. Und dann sagt er noch ›yeah!‹. Weil so ist es oft, dass sie zuerst ganz unterschiedliche Sachen essen wollen, aber am Ende doch irgendwie das Gleiche.

Und also sagt Ona jetzt auch ›oke‹, und beim langen ›e‹ springt sie von der Mauer hinab zu ihren Turnschuhen, die neben den Espandrilles von Pe stehen. Blau neben Rosa. Und Pe springt ihr hinterher.

Bei Kriedel im Buchladen brennt auch am helllichten Tag Licht, und als Pe den Kopf zur Ladentür hineinstreckt, dingelt das Glöckchen. Kriedels Kopf erscheint im Rahmen zum grünen Zimmer. Ein hellgrauer kurzer Haarschopf über einer hohen Stirn. Hinter den Gläsern seiner Brille blitzen seine Augen, und als er Pe erkennt, fältelt sich die Haut um die Augen. Pe sieht, dass er sich freut. Und er freut sich, wenn Kriedel sich freut, weil Kriedel ist cool. Oder vielleicht auch das Gegenteil davon. Kriedel ist entspannt und schlau und so weiter. Und wenn Kriedel etwas gefällt, leuchten seine Augen, als seien es Edelsteine, sie glitzern ein bisschen, wie Weißwasserwellen in der Morgensonne, so ungefähr, aber Pe denkt, dass das vielleicht auch nur deshalb so ist, weil man die Zähne von Kriedel sehen kann, wenn er sich freut: sehr weiße Zähne für einen älteren Mann. So alt auch wieder nicht, aber fünfzig, fünfzig ist Kriedel sicher, nicht nur wegen der grauen Haare. Kriedel hat Falten, tiefe Gräben am Mund entlang, eine steile Furche zwischen den Augen und ziemlich viele von diesen Sonnenstrahlen rechts und links der Augenwinkel. Mehr als sein Vater, mehr als seine Mutter, viel mehr, das hat Pe schon mehrfach verglichen. Und die sind auch fast fünfzig. Also ist Kriedel vielleicht noch ein bisschen älter, aber gefragt hat Pe ihn nie. Trotzdem. Im Kopf ist Kriedel kein bisschen alt.

Hey, sagt Kriedel, jetzt schon? Und dann steht er bereits in der Tür zum grünen Zimmer und schließlich vor Pe, der immer noch in der Ladentür steht, weil Ona steht auf der Straße, und sie hat Hunger.

Nein, nein, sagt Pe, ich wollte nur fragen: Klappt das heute Abend?

Natürlich, sagt Kriedel. Und dann sieht er Ona. Da ist ja die Lady! Sagt Kriedel, und es ist nicht zu übersehen, dass Kriedel auch Ona gernhat. Manchmal ist Pe deshalb eifersüchtig. Kriedel will nichts von Ona. Kriedel ist wenigstens dreißig Jahre älter als sie. Trotzdem. Ona mag Kriedel auch. Eigentlich ist alles gut. Wichtig ist nur, dass Kriedel ihn, Pe, am liebsten mag. Keine Ahnung wieso.

Ona steht jetzt hinter Pe, und Pe dreht sich um, er legt ihr kurz den Arm um die Schulter.

Dann komm ich so um elf Uhr heute Abend?

Kannst auch schon um halb elf kommen. Sagt Kriedel.

Kommt noch wer? Fragt Pe.

Ich weiß es nicht. Sagt Kriedel. Basti vielleicht.

Basti wäre okay. Denkt Pe.

Dann können wir jetzt endlich kochen. Sagt Ona, und sie legt ihren Arm um Pes Oberkörper, und Pe spürt ihre Brust an seinem Rücken und Onas warmen Körper an seinem.

Kriedel winkt, als Ona Pe an der Hand nimmt und auf die Straße zieht.

Bis später, ruft Pe.

Und Ona winkt mit links.

Was ist denn das?, fragt Pe, als Ona das Fenster zum Garten öffnet und draußen auf der Fensterbank dieses merkwürdige Häufchen liegen sieht.

Gewölle, sagt Ona, von Feirefiz, manchmal kotzt er das aus. Ona atmet einmal kräftig ein, dann bläst sie den Knuddel mit einem Atemstoß vom Fensterbrett.

Pe kennt sich nicht aus mit Katzen. Onas Kater ist die erste Katze, die Pe näher kennenlernt. Er sieht so buntscheckig und wild aus, als sei er eine Mischung aus allen nur möglichen Katzen dieser Welt. Eigentlich war er der Kater von Onas Mama. Und er heißt Feirefiz, wie der Halbbruder von Parzifal aus so einem alten Roman, weil sie den sehr geliebt hat. Wenn Ona nach Hause kommt, kommt auch Feirefiz nach Hause, und das hört man schon lange davor. Irgendwo draußen im Garten maunzt oder ruft oder schreit der Kater so laut, dass ihn keiner überhören kann. Dann springt er mit einem Satz auf die Fensterbank. Er ignoriert Pe, wirft sich mit den Flanken gegen Ona, die sich zu ihm hinabbeugt und ihn so sehr wuschelt, dass der Kater sich sofort auf den Rücken schmeißt und schnurrt. Für Pe interessiert sich der Kater erst später am Abend. Erst dann, wenn er bemerkt, dass Pe bei Ona bleiben wird, dass Ona nicht alleine schlafen wird. Dann wirft sich Feirefiz aufs Bett. Wenn Pe sich neben ihn legt, streckt sich der Kater lang aus und seine Krallen tun das auch. Wenn Ona sich ihm nähert, schnurrt er wie ein kleiner Motor.

Ona stellt einen Wassertopf auf den Herd, erst danach holt sie das Futter für Feirefiz aus dem Kühlschrank. Seit er hereingekommen ist, streicht er um Onas Beine, und dabei reden Ona und der Kater, als sei Pe gar nicht da. Und Pe mag das.

Feire, alles gut? Fragt Ona, und Feirefiz macht ein Geräusch, das nur ›ja‹ heißen kann.

Und Ona sagt: Dann ist gut! Aber musst noch warten, sagt Ona, und der Kater guckt an ihr hoch, und Pe denkt, jetzt nickt er, aber das kann auch Interpretation sein. Und dann mischt Ona ihm gekochte Erbsen unters Futter und sagt: Das sieht nicht nur schön aus, es ist auch gesund.

Und der Kater macht wieder so einen Maunzton.

Und so geht es weiter, bis Feirefiz seine Schüssel hingestellt bekommt und Ona ›guten Appetit‹ sagt und der Kater ein Geräusch macht, das hundertprozentig ›danke‹ heißt.

Und Pe lachen muss.

Und Ona muss auch lachen, obwohl sie nicht recht weiß, warum Pe jetzt lacht, aber es ist ein schönes Lachen, das von Pe, und deshalb ist es gut.

Sie holt ihr Smartphone und verbindet es mit dem Lautsprecher, weil es gut ist, wenn Musik läuft beim Kochen. Weil sie das an Mama erinnert und an Papa auch, an zu Hause also, und auch daran, wie es war, bevor Mama nicht mehr da war. Und sie mag es, dass Pe ihre Playlisten liebt, oder genauer, dass er mag, dass sie Playlisten hat für zum Duschen, für zum Frühstück, für wenn’s cool sein soll und für das Gegenteil, für zum Putzen auch und für zum Nachdenken und für zum Nichtsdenken und so weiter. Während Pe vollkommen manisch wochenlang ein Album hören kann, bis er es so über hat, dass er eine Pause braucht und deshalb ein neues hören mochte, das er dann wieder hört, bis er es nicht mehr hören kann. Und so weiter.

Ich hacke eine Chili, sagt Ona, und Anchovis, und du schneidest Zucchini.

Und weil Pe erst kocht, seit es Ona gibt in seinem Leben, also ziemlich ungenau seit drei Monaten, macht er alles, was Ona ihm aufträgt.

Genau deshalb, genau weil alles so einfach war und weil die Penne so gut geschmeckt haben, dass sie zusammen fünfhundert Gramm aufgegessen haben, hat Pe gedacht: Jetzt erzähl ich’s! Dann hat er ihr die Sache mit Dani erzählt.

Und danach war nichts mehr einfach. Nicht das Sprechen und nicht das Sich-Angucken, und nicht das Zusammensitzen und nicht das Zusammenstehen, und nicht das Aufräumen von Tellern und Tassen und Gläsern, und nicht, dass die Musik schön war, die Ona laufen ließ. Im Gegenteil, die schöne Musik war zu schön.

Weil Ona gesagt hat: Warum bist du nicht wütend auf deinen Bruder?

Und Pe hat gesagt: Warum bist du nicht wütend auf deine Mutter?

Weil man das nicht vergleichen kann, hat Ona gesagt, weil Mama ist doch nicht mit Absicht gestorben.

Dani ist auch nicht mit Absicht gestorben, hat Pe gesagt.

Aber er hätte dich fast umgebracht. Hat Ona dann gesagt, und dann ist sie auf der Toilette verschwunden. Und Pe hat es nicht mehr ausgehalten. Da. In Onas Wohnung.

Als Pe zu Kriedel kommt, brennt kein Licht. Aber Pe ist sicher, er hat eine Bewegung gesehen, hinten im Laden, als schaue jemand schnell um die Ecke. Er geht einen Schritt zurück, wischt mit dem Hemdsärmel über den Abdruck seiner Handkanten, die sich auf dem Fensterglas abbilden, aber es wird nur schlimmer. Er schnippt noch einmal mit dem Zeigefinger gegen die Scheibe, zweimal hintereinander, dann schlägt er den Takt. Etwas rührt sich im Laden. Auf dem Fenster sieht man den Abdruck seiner Nase, er versucht ihn mit der Elle auszuradieren, aber er verwischt nur. Ganz sicher ist Kriedel da, ganz sicher schläft er in dieser Nacht unten vorm Fernseher. Oder er schläft nicht. Alles, was wichtig ist, tut Kriedel im Laden, und sie hatten doch immer wieder davon gesprochen. Wer schläft denn heute?

Im Laden knarzt der Boden, ein kleines Licht erleuchtet nun indirekt die Philosophie. Ein weiteres Licht scheint vom grünen Zimmer aus in den Laden, Kriedel hat es sich wahrscheinlich schon bequem gemacht. Pe schlägt den Takt noch einmal. Dann, endlich, hört er Kriedels Stimme, leise, nur den bekannten ruhigen Sound; er versteht keine Wörter, aber es ist klar, was er gesagt hat: Ich komm schon! Ganz klar. Pe sieht ihn zur Tür schreiten, vorbei an der Zeitgeschichte, sehr aufrecht, wie immer, aber etwas schwerfälliger als sonst, die Glieder sind vielleicht noch ein wenig im Schlaf. Der Schlüssel dreht sich im Schloss.

Hey, sagt Pe durch die Gitterstäbe hindurch.

Ich öffne, sagt Kriedel.

Ist doch oke, oder? Fragt Pe.

Natürlich, sagt Kriedel.

Ich dachte, zu zweit ist besser.

Zu zweit ist besser, sagt Kriedel.

Gut. Pe spürt seine Freude. Außerdem ist er froh, dass er nicht alleine sein muss nach dem Streit mit Ona. Oder was das war. Er will jetzt nicht daran denken.

Das Laptop wieder ganz, oder?, fragt Pe.

Völlig intakt, antwortet Kriedel.

Klar, sagt Pe, hättest du mir ja sonst gesagt.

Kriedel lächelt, er nickt. Er zieht das Stahlgitter zur Seite. Komm rein, sagt er.

Zum ersten Mal hat Pe zu Kriedel ›du‹ gesagt, ohne nachzudenken. Wieder trägt Kriedel die merkwürdige Hose, die keine Pyjama-Hose ist, aber vielleicht eben doch, und das T-Shirt, das aussieht, als habe er es seinem Sohn abgenommen, aber Kriedel hat keinen Sohn, jedenfalls soweit Pe das weiß.

Pe hat ihm gesagt, das T-Shirt sei so ein Insider-Ding unter Skatern und Surfern, aber das hat Kriedel schon gewusst. Natürlich. Kriedel weiß darüber nahezu alles.

Bin ein bisschen früh, sagt Pe.

Ich habe geschlafen.

Tut mir leid, sagt Pe.

Ist schon gut. Vorgeschlafen, sagt Kriedel.

Pe lacht.

Hinter ihm zieht Kriedel das Gitter ins Schloss und macht die Ladentür wieder richtig zu. Geh ruhig, sagt er.

Ich lass dich vorbei, sagt Pe.

Da ist niemand sonst, antwortet Kriedel.

Auf dem Ledersofa liegen eine Wolldecke und das weiße Kopfkissen. Pe bleibt stehen.

Magst du ein Wasser?, fragt Kriedel.

Nee, hab uns ein Bier mitgebracht. Pe öffnet den Rucksack. Weil, daran hat er noch gedacht, nachdem er von Ona weg ist. Er ist zum Kiosk gelaufen, ein bisschen wie in Trance, und hat zwei Flaschen Bier geholt, kalte, dann ist er wieder zurück.

Kriedel faltet die Decke zusammen, fein säuberlich legt er Kanten und Ecken aufeinander und die Wolldecke ans Sofaende.

Ich mach mich mal zurecht, sagt Kriedel, setz dich. Ich hab das Laptop schon angeschlossen, musst nur noch den Kanal wählen, sagt er.

Pe kennt keinen Menschen, der so alt ist wie Kriedel und sein Laptop an den Fernseher anschließt, geschweige denn, das überhaupt kann oder es tut, um in der Nacht World Surf League zu schauen.

Kriedels Augen schauen hellwach.

Pe stellt die beiden Bierflaschen in den Minikühlschrank in der Miniküche. Es riecht gut darin.

Eigentlich hat Ona an allem Schuld. Nein, Schuld ist Quatsch. Also eigentlich kennt Pe Kriedel nur, weil Ona von Kriedel aus sieben Häuser weiter wohnt. Weil Kriedel gesehen hat, wie Ona ihn küsste, zum ersten Mal küsste, was Kriedel ja nicht wissen konnte, aber er, Pe, trug dabei dieses Shirt. Und Kriedel stürzte aus der Buchhandlung und sagte: Junge, woher hast du das? Dabei zog er an seinem Ärmel.

Und außerdem war Pe verdattert, weil er das nicht erwartet hatte, dass Ona ihn, also Pe, genauer Peer Mensing, wirklich mochte. Obwohl, es hatte Anzeichen gegeben. Warum sonst wollte ein Mädchen einen treffen? Oder warum küsste einen so ein hübsches Mädchen auf der Straße? Nicht im Dunkeln, sondern bei absoluter Helligkeit, mitten am Tag, in der Sonne vor dem Schaufenster einer Buchhandlung, in der doch bestimmt Leute standen. Und dann kam da so ein Mann mit superkurz geschorenem Haar heraus, Sakko an, schwarze Brille auf, groß, riesig eigentlich, und fragte nach seinem Shirt: Woher hast du das?

Keine Ahnung, hat Pe geantwortet, dann aber: Frankreich, Atlantik, Vieux, steht doch drauf.

Machst du es auch selbst?, hat Kriedel gefragt.

Klar, hat er gesagt, ja klar.

Kriedels Augen haben gestrahlt, hell, heller ging’s nicht mehr.

Komm mal vorbei, bitte, hat Kriedel gesagt, eher ein wenig gefleht, hat gewartet, ihn angeschaut und plötzlich Ona bemerkt, die einen Schritt zurückgegangen ist und vielleicht auch staunte.

Entschuldigung, sagte Kriedel, ich kann dann nicht anders. Ich hab die Sache einfach zu spät entdeckt. Ist meine Leidenschaft, das Surfen, meine absolute Leidenschaft. Ich habe alles drüber. Literatur. Fügte er hinzu. Alle Literatur.

Ona hat gelacht, sehr süß und gar nicht blöd gelacht, und okay gesagt, etwas fragend, und dann: ist ja cool.

Pe hat auch lachen müssen, ist ja cool, hat er gesagt, weil ihm nichts anderes eingefallen ist, und dann, oke, so wie eben nur Pe oke sagt. Auch weil ihm nichts anderes eingefallen ist.

Und Kriedel, von dem er noch nicht wusste, dass er Kriedel heißt, hat sich nicht von der Stelle gerührt.

Also?, hat Kriedel gesagt.

Und Pe hat das zuerst nicht richtig kapiert, und Ona hat nachgeholfen: Ob du mal vorbeikommst?

Ach klar, hat Pe gesagt, und nicht aus Höflichkeit, sondern weil er es wirklich wissen wollte. Also, was der Typ da stehen hat, wollte er wissen. Surfer-Literatur?

Auf Wiedersehen, hat Kriedel gesagt und ist rückwärts, strahlend, Richtung Laden gegangen.

Tschüss, hat Ona gesagt

Und Pe wieder ihr nach: Tschüss. Wahnsinn, hat er gedacht, ich kann nicht mehr reden. Er war stehen geblieben. Soll er nun Onas Hand nehmen? Und aus welcher Richtung sind sie überhaupt gekommen, und in welche würden sie nun gehen? Sie kamen doch von Ona, sie konnten doch jetzt nicht wieder zu Ona gehen.

Komm, hat Ona gesagt, ich muss los.

Pe hat sie an der Hand genommen.

Zwei Tage danach hat er zum ersten Mal mit ihr geschlafen. Und am Tag später ist er in den Laden gegangen, irgendwie glücklich, weil er die Nase noch voll Onaduft hatte und auch am Körper noch Ona spürte, nur im Mund den Kaffeegeschmack, weil er sich nicht getraut hat, Ona zu fragen, ob er ihre Zahnbürste benutzen durfte. Er hatte noch nie die Zahnbürste von jemandem benutzt, bis dahin. Er hat noch nie mit einem Mädchen geschlafen, bis dahin.

Da bist du ja, hat Kriedel gesagt.

Und Pe so: Da bin ich!

Dann haben sie einen Augenblick geschwiegen und wahrscheinlich auf ihre Füße geschaut. Weil, das weiß Pe noch, dass Kriedel da Desert Boots trug, die er auch gut findet.

Ich habe das erst spät entdeckt mit dem Surfen, hat Kriedel einmal erzählt, das war im einzigen Sommer, in dem ich meine Buchhandlung für drei Wochen schloss, ausnahmsweise, weil Matilda unbedingt mit mir ans Meer wollte. Matilda. Dann sein trauriger Blick, kurz nur, bis sie wieder da war, die Helligkeit der Begeisterung in seinen Augen. Und dass er das noch wisse, wie heute, wie das war, als sie am späten Nachmittag bei stechender Sonne in Mimizan Plage standen, die Flut kam, nein, die Flut brach sich ins Land, und da war so ein Swell, sagte Kriedel. Und Pe hat fast lachen müssen, als Kriedel mit seinem tadellosen Deutsch das so sagte, weil er eben nicht Dünung sagte.

Kriedel kommt in Unterwäsche aus der Toilette und biegt sofort in die Kammer nebenan ein.

Ist das das Surfbrett von dem Schriftsteller, da auf dem Buch? Fragt Pe laut. Er sitzt auf dem Sofa im grünen Zimmer und schaut sich Umschläge von Büchern an.

Kriedel lacht im Nebenraum: Sehr wahrscheinlich nicht.

Aber der muss sich mit Surfen auskennen, oder?

Wer?

Dieser Schriftsteller.

Ausgezeichnet kennt der sich mit Surfen aus, er hat das erlebt, sicher, er ist damit groß geworden, er ist durch die ganz harte Schule gegangen. Ein vollkommener Autodidakt.

Pe weiß nicht, ob das gut ist, wenn man Autodidakt ist. Sein Smartphone macht ein Geräusch. Ona. Er zieht es aus der Hosentasche und spürt dabei, wie sein Herz klopft.

Ich bin doch nicht sauer AUF DICH. Schreibt Ona.

Keine Ahnung, was er denken soll. Ona soll ihn verstehen. Bisher hat Ona ihn immer verstanden. Das war ja das Gute. Aber wenn er jetzt schreibt, dass er traurig ist, ist Ona auch traurig. Und wenn er jetzt nichts schreibt?

Schon oke. Schreibt er. Er schreibt es genau so. Obwohl er merkt, dass das nicht stimmt. Dann steckt er das Telefon wieder ein.

Kommt noch jemand heute? Fragt er.

Bastian vielleicht. Sagt Kriedel aus dem anderen Zimmer.

Pe kann Bastian noch am besten leiden von allen, die hier manchmal am Abend zu Kriedel kommen. Am liebsten ist er aber mit Kriedel alleine, weil man mit Kriedel dann über alles sprechen kann. Mit Kriedel sprechen ist besser und schöner als mit den Erwachsenen, die er bisher kennengelernt hat. Vielleicht außer Potasche. So einer wie Kriedel will man werden.

Er fischt das Smartphone wieder aus der Tasche seiner Jeans. Er wischt den Punkt ins Grün: Flugmodus.

Wenn Bastian käme, dann wäre er schon längst da. Pe ist sich sicher, der kommt nicht mehr. Er lässt sich aufs Sofa fallen und macht sich etwas breiter als nötig. Wenn Kriedel sich zu ihm setzte, stießen ihre Schultern an. Irgendwie mag Pe das.

Ist noch eine halbe Stunde Zeit, sagt Pe, als Kriedel ins Zimmer kommt.

Soll ich dir noch etwas vorlesen?, fragt Kriedel.

Sehr gerne, sagt Pe, weil Kriedel fantastisch vorliest, weil dann im grünen Zimmer alles noch grüner wird von der Dünung, dem Rollen, dem Stampfen der Wellen, den Walzen und ihren Höhlen, den Regenbögen in der Gischt über den Wellenkämmen, überhaupt den ganzen Geräuschen des Wassers und dem dumpfen Klang der manchmal bedrohlichen Tiefe, in die einen die Strudel reißen konnten. Und immer befindet sich Pe dann auf seinem Board mittendrin, und wie fabelhaft die Storys sind, in denen so etwas wie echte Hingabe zu spüren ist, dann liest Kriedel mit solch einer Inbrunst, mit so einer Kraft, dass Pe manchmal fühlt, dass es ihn zerreißen könnte vor Freude am Leben. Und Kriedels Stimme wird wie das Meer, so rauschend, so strömend, so stark. Kriedel liest, als erlebte er all das durch die Wörter, die sich ihm auftun wie eine lebendige Welt, all das, was er noch nie wirklich erlebt hat. Nur weil er immer dachte, er sei zu alt, zu unsportlich, zu untrainiert. Was ja irgendwie schon stimmt. Kriedel ist lang und dünn, und die einzigen echt brauchbaren Muskeln hat er vielleicht in den Armen. In den Händen auch noch, vom Büchertragen und -halten und so.

Pe spürt Kriedels Schulter an seiner, und es kommt ihm vor, als übertrage sich Kriedels Begeisterung über den einen Punkt, an dem sich ihre Körper berührten, auf ihn. Seit zwei Monaten las Kriedel ihm, und manchmal auch Bastian und den anderen, aus dem Buch vor, und als Pe nun hinüberschielt auf Kriedels Hände, sieht er, dass sie schon bei der Hälfte angekommen sind.

Ist was? Fragt Kriedel.

Ich will nur nicht, dass das Buch bald zu Ende ist, sagt Pe.

Ich lese nur noch den Abschnitt zu Ende. Sagt Kriedel, und dann: Matilda wollte das auch nie.

Matilda. Vielleicht hätte Matilda es schaffen können, dass ich es versuche, hat Kriedel Pe vor Kurzem erzählt, da war er todunglücklich gewesen, weil Matilda sich einfach nicht mehr meldete. Seit vielen Wochen nicht mehr.

Versuch’s doch einfach mal, trau dich doch einfach mal, hat Matilda zu Kriedel gesagt, als er tagelang den Surfern zuschaute, die mit ihren Neoprenanzügen und Brettern immer ein wenig aussahen wie ein dümpelndes Rudel von Haien auf der Lauer, wenn sie draußen am Line Up auf die richtige Welle warteten. So hat es Kriedel erzählt. Und wie er die jungen Kerle und auch die Mädchen anschaute, wie sie lässig ihre Funboards und alle anderen möglichen Arten von Surfbrettern unterm Arm am Strand entlangtrugen, als seien es Bücher oder auch Badehandtücher, und Kriedel dachte, er bekäme schon vom Zuschauen Schlagseite, und es wäre eine peinliche Attraktion, wenn so ein langer, magerer, schlaffer, blasser Kerl da am Strand entlangzöge, mit so einem wunderbar geformten Flitze-Brett unterm Arm, da würde sogar Matilda lachen müssen. Und Matilda gab zu, dass sie vielleicht lachen würde dann, aber ihn sicher nicht auslachen, niemals für etwas, was ihn so anzog, so magisch, und was er bitte, bitte doch einfach ausprobieren solle. Aber Kriedel blieb liegen, mit Matilda unterm Schirm, weil es schön war da und weil er lange nicht mehr so gerne neben einer Frau gelegen hatte und weil Matilda auch still sein konnte und weil Matilda sich freute, wenn er ihr vorlas und sich freute, wenn er ihr die Surfer vom Wasser heruntererzählte. Und wenn er so erzählte, wie das Wasser plötzlich durch den sich verändernden Wind und die Strömung die Farben wechselte, von Dunkelblau in Türkis oder ein saftiges Grün, ein dunkles Grün, ein Blaugrün, wie viele Farben das Meer haben konnte; wenn er darüber schwärmte, dann lächelte Matilda mit geschlossenen Augen. Und manchmal las sie ihm vor, aus der Zeitung, komische Dinge und brillant geschriebene Artikel, politische und übers Leben, aber auch Kochkolumnen und Stilkolumnen und so was, und er liebte ihre Auswahl, die war so anders als seine, und eine neue Welt tat sich auf mit Matilda. Und Kriedel hat sich gewünscht, sie bliebe für immer. Und diese Matilda hatte ihn verlassen, oder jedenfalls meldet sie sich nicht mehr. Sagt Kriedel.

Warum?, hat Pe gefragt.

Es gibt verschiedene Gründe, hat Kriedel gesagt, aber vielleicht auch, weil sie denkt, mit so einem wie mir wird das nichts, mit so einem, der drei Jahre und drei Sommer lang nicht versucht, irgendetwas an seinem Leben zu ändern. Aber vielleicht auch, weil sie es nicht verkraftet hat … Dann unterbrach sich Kriedel und sagte nichts mehr.

Pe hat nichts mehr sagen können zuerst. Es war das erste Mal, dass ihm ein erwachsener Mann von seinen Nöten mit dem Leben erzählte. Nichts ist bei ihm so klar wie bei seinen Eltern, aber deshalb ist das Leben von Kriedel auch nicht trauriger, und langweiliger erst recht nicht. Und er, Pe, hat zu Kriedel gesagt, dass es da draußen bestimmt noch gute Frauen gibt für so einen guten Typen, wie Kriedel einer ist. Weil er das wirklich denkt.

Kriedel hat ihm die Hand auf die Schulter gelegt, mehr nicht, aber das reichte schon, um rot zu werden. Lieber Kapitän, hat er gedacht, was rede ich.

Und jetzt denkt er, dass Kriedel wahrscheinlich gar keine andere Frau haben möchte, sondern eben Matilda. So wie er selbst nur Ona will. Ona. Die eine. Und wenn er etwas tun könnte, um Kriedel Matilda zurückzubringen, er täte alles.

Wo ist sie, diese Matilda?, hat er gefragt.

Für gewöhnlich gar nicht weit weg, hat Kriedel geantwortet und nannte den Namen eines Dorfes, den Pe schon einmal gehört hat, aber jetzt wahrscheinlich schon, weil sie ein Haus geerbt hat. In Nordspanien. Dann hat Kriedel wieder geschwiegen.

Wenn ich noch einmal entscheiden könnte …, hat Kriedel nach einer Weile gesagt.

Und Pe so: Das mit dem Surfen?

Ja, hat Kriedel geantwortet, auch. Ich würd’s probieren.

Oke, hat Pe gesagt. Ich kann dich mal mitnehmen.

Versprochen? Hat Kriedel gefragt. Und gelacht. Und dann: Ach Unsinn!

Kriedel legt das Buch zur Seite, nun ist Schluss, sagt er, weil es gleich losgeht. Hast du noch Hunger?

Nee, ich habe gegessen, sagt Pe, und dann unterbricht er sich fast, weil es stimmt gar nicht. Sie hatten zusammen essen wollen, Ona und er. Aber dazu war es nicht mehr gekommen.

Dann bist du ja bereit, sagt Kriedel.

Kurz überlegt Pe, ob er Kriedel sagen soll, dass er und Ona gestritten haben oder wenigstens so was Ähnliches, aber er lässt es sein, weil sonst müsste er ja von Dani erzählen und alles. Alles war aber sehr viel.

Kriedel erhebt sich, und immer wenn Pe sitzt und Kriedel so ganz nah vor ihm aufsteht, muss er staunen über die Länge dieses Mannes und wie aufrecht er steht, wie kerzengerade.

Ich komme gleich, sagt Kriedel.

Pe nimmt das Buch vom Tisch. Er versucht die Länge der Boards zu schätzen, die darauf nur so halb abgebildet sind. Keine Shortboards. Als er das Foto des Schriftstellers anschaut, fällt ihm ein, dass Kriedel, als sie es anfingen zu lesen, gesagt hatte: Es geht um alles!

Und dass er gefragt hatte: Wie, um alles?

Um alles, hatte Kriedel geantwortet: wie Dinge anfangen, aufhören, wie Neues passiert. Um manches, was schmerzt und was Freude bereitet, was Liebe ist und Begehren und wie die Kindheit endet.

Pe hatte fast weinen müssen. Auch wieder wegen Dani.

Er legt das Buch auf den Tisch. Vielleicht liegt in der Küche noch ein Apfel. Er steht auf. Und dann hört er es. Es klopft, oder?

Pe hält den Atem an.

Es klopft noch einmal, derselbe Takt wie der seine. Bastian klingt anders.

Er verharrt.

Nichts mehr.

Dann noch einmal der Takt.

Er macht kehrt und geht hinten um das Bücherregal herum, damit er keinen Schatten verursacht, er drückt sich am Regal vorbei, hinein in die kleine Nische mit der Miniküche. Man kann auch einfach nichts hören. War das in Ordnung?