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Gerd Bräuer

Schreibend lernen

 

 

ide-extra

Eine deutschdidaktische Publikationsreihe
herausgegeben von Werner Wintersteiner

Band 6

Gerd Bräuer

Schreibend lernen

Grundlagen einer theoretischen und praktischen Schreibpädagogik.

STUDIENVerlag
Innsbruck-Wien

 

 

ISBN 3-7065-5789-4

© 1998 by StudienVerlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Gemeinschaftsarbeit von Rachael (10 J.), Franziska (10 J.) und Florian (11 J.)

Satz und Umschlag: STUDIENVerlag/Bernhard Klammer

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

 

 

Dieses Buch sei jenen gewidmet, die das Risiko des Schreibens letztlich nicht scheuen.

Danksagung

Wie schon so oft, gilt mein erster Dank für vielfältige Hilfe und Unterstützung vor allem meiner Familie in Leipzig, hier besonders meinem Vater, Helmut Bräuer, für die umfassende inhaltliche Beratung.

Ein herzliches Dankeschön geht auch nach Zwickau zu meinen FreundInnen, Monika Hähnel und Harry Riedel, die mir weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus beistanden.

Mitgeholfen haben auch StudentInnen der Emory University, der Universität Innsbruck und der Fachhochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur Leipzig bzw. FortbildungsteilnehmerInnen in Georgia, South Carolina und Oregon, durch deren Hände die meisten Praxisteile dieses Buches gegangen sind.

Ganz besonders wichtig waren die Bemühungen von Jeannette Rißmann (Fürstenwalde), die dankenswerterweise erneut die Endredaktion des Manuskripts übernahm. Für das Erstellen von Sachregister und Bibliographie danke ich Joachim Mathieu (z.Z. Emory University).

Meinen KollegInnen, besonders aber Elizabeth Soilis, vom German Studies Department der Emory University bin ich für ihre Geduld beim Zuhören und für ihre vielfältige moralische Unterstützung des Projekts zu Dank verpflichtet.

Schließlich geht ein Dankeschön auch an Frau Mag. Simeaner, die das Manuskript beim Studienverlag aufmerksam betreute.

Meine wichtigste Verbündete war wieder einmal meine Tochter Franziska. Dafür sei ihr auch recht herzlich gedankt.

Inhalt

EINLEITUNG

Warum schreiben?

ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN

1. Was heißt Schreiben?

2. Wer schreibt?

3. Wie schreiben? Strategien der Schriftlichkeit

ZWEITER TEIL: METHODEN, FELDER, FORMEN

4. Methoden – Imitieren, Adaptieren, Improvisieren

5. Lernfeld Bildlichkeit

6. Lernfeld Mündlichkeit

7. Lernfeld Musikalität

8. Lernfeld Theatralität

9. Formen – poetisches, expressives und transaktionales Schreiben

DRITTER TEIL: ORGANISATION

10. Schreiben „mit und ohne“

Exkurs: Bewertung von Schreibleistungen

11. Journal

12. Schreibzentrum & Tutorien

13. Workshop & Schreibgruppe

14. Computer & Netze

15. Portfolio

16. Theorie-Praxis-Lernen

ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN

Schreibend lernen

ANHANG

Bibliographie

Sach- und Personenregister

Verzeichnis der Praxis-Teile

EINLEITUNG

Warum schreiben?

„Warum schreiben Sie?“,
wurde ich im Büro erstaunt gefragt,
als es darum ging, einer Kollegin
eine Nachricht zukommen zu lassen.

„Rufen Sie doch einfach an!“

***

Und warum schreibst du nicht?

Schreibe!

Schreiben ist für dich...

Ich weiß, du hast nicht geschrieben,
denn Schreiben ist zu hoch, zu groß für dich;
es ist reserviert für die
Großen -
das heißt, für die Großen Männer;

und das ist dumm...

Schreibe,
laß dich von niemandem zurückhalten,
von nichts aufhalten...

Hélène Cixous

Welchen Zweck erfüllt Schreiben in einer hochtechnisierten Lebenswelt, wo der Griff zur „Feder“ nicht schlechthin nostalgisch, sondern angesichts der heutigen Geschwindigkeit im Datenaustausch behindernd bzw. aufgrund der Kurzlebigkeit von Informationsinhalten überflüssig erscheint? Was motiviert zum Schreiben, wenn Mündlichkeit und Bildlichkeit Kommunikation in einem schwer zu übertreffenden Maße zu erleichtern vermögen? Können beispielsweise Gefühle nicht adäquater durch mündliche oder non-verbale Kommunikation mitgeteilt werden? Sind Bilder nicht geradezu ideal, um Sprachbarrieren auf dem Wege zu einer multikulturellen Gesellschaft zu durchbrechen und eine Atmosphäre globalen Lernens zu erzeugen? Schaffen eine Flut von Fernseh-, Computer- und Video-Images bzw. die zunehmende Dominanz von bildlichen Darstellungen in Zeitungen, Zeitschriften und Lehrbüchern nicht zwingende Bedingungen für das Verschwinden des Schreibens von der Bildfläche des kommunikativen Alltags?1 Ganz in der Ferne, eigentlich kaum noch sichtbar – weil vielleicht längst verdrängt von den aufgelisteten Aspekten – steht die Frage, wie es denen, die als (noch) Schreibwillige verblieben sind, gelingen kann, angesichts extensiver Lese- und Diskussionszeit in den Schulen bzw. rezeptiver Literaturstudien an den Universitäten an sich selbst als kreative Text-Schöpfer und -Schöpferinnen zu glauben. Aussichtslos mutet das Unterfangen an, die Entfremdung vom Schreiben als Produzieren aufzuhalten, einzudämmen oder gar umkehrbar zu machen.

Ich möchte im vorliegenden Buch die Gegebenheiten einer „Informationsgesellschaft“ als scheinbare Beschränkungen für das Schreiben theoretisch und praktisch hinterfragen. Ich möchte ausprobieren – und dies im wahrsten Sinne des Wortes –, wieviel Spielraum geblieben ist für Alternativen zu einem deutlich rezeptiv ausgerichteten Wissenstransfer an deutschsprachigen Bildungseinrichtungen. Mich interessiert die Beschaffenheit jenes Spielraums, der Stoff seiner Begrenzungen und die Frage, unter welchen individuellen bzw. sozialen Umständen diese Grenzmarkierungen verschoben werden können. Ich möchte nicht zuletzt die LeserInnen dieses Buches dazu einladen, für sich selbst die Tauglichkeit der hier angebotenen Alternativen innerhalb der von ihnen täglich erfahrenen Spielräume zu ermitteln.

Ich bin der Ansicht, daß die Vorstellungen, was Schreiben bedeutet, in der deutschsprachigen Kultur- und Bildungslandschaft oft mit mehreren grundsätzlichen Irrtümern belastet sind:

1.   Seinem Charakter nach ist Schreiben entweder persönlich, akademisch oder literarisch-künstlerisch;

2.   Schreiben ist in seinen spezifischen Ausprägungungen institutionell gebunden. Das heißt:

a)  Persönliches Schreiben hat seine Berechtigung teilweise im Aufsatzunterricht der frühen Schuljahre, in der Therapie und im privaten Gebrauch;

b)  Akademisches Schreiben setzt sich endgültig in den späten Schuljahren durch und dominiert an der Universität;

c)  Literarisch-künstlerisches Schreiben ist professionellen Schriftstellern vorbehalten bzw. wird in Interessengruppen als sogenanntes kreatives Schreiben manchmal am Rande, zumeist jedoch außerhalb der Bildungsinstitutionen betrieben;

3.   Schreiben kann als technische Fertigkeit, nicht als ästhetische Fähigkeit, gelehrt und gelernt werden. Im Sinne der Anwendung objektiver Bewertungskriterien kann es eigentlich nur in normierter Produktform (als Diktat, Aufsatz, Klausur- oder Abschlußarbeit etc.) zensiert werden.

Diese Auflistung ist so wenig vollständig wie sie aktuell ist. Werte wandeln sich ständig. Noch Mitte der achtziger Jahre haben angesichts einer erdrückenden Dominanz der Bild-Medien wohl die wenigsten daran geglaubt, daß das Schreiben in seiner Bedeutsamkeit noch einmal an Boden gewinnen würde. Die Herausbildung eines World Wide Web des Internet – als elektronische Unterlage sozusagen – läutete eine zumindest vorläufige Renaissance des Schreibens ein.

Ein zweites Defizit, das ich für meine Darstellungen eingestehen möchte, hängt mit der Ursachenergründung dessen zusammen, warum lust- und einfallslos scheinende Kinder im Sprach- und Literaturunterricht keine Ausnahmen sind, warum viele von ihnen Angst haben zu schreiben und der zähe Kampf um interessante Schreibthemen oft zum zentralen Unterrichtsgegenstand degeneriert. Ich weiß nicht genau, warum Studentinnen und Studenten oft mehr als eine gewisse natürliche Scheu vor schriftlichen Examen und Abschlußarbeiten empfinden und dieser Zustand in manchen Fällen dahin auswächst, der Universität noch vor dem eigentlichen Abschluß den Rücken zu kehren. Es entzieht sich auch meiner Kenntnis, warum viele Menschen buchstäblich aufhören zu schreiben, sobald sie ihre Ausbildung formal hinter sich gebracht haben und ins Berufsleben treten. Was dann als schriftliche Herausforderung übrigzubleiben scheint, sind Geschäftsbriefe, Memos, Einkaufszettel, Urlaubs- und Glückwunschkarten.

Ich könnte Vermutungen für die Ursachen jener Beispiele anstellen: daß Fernsehen in der dominanten Qualität die Kreativität der Kinder (und nicht nur dieser) in Mitleidenschaft zieht, daß inhaltliche und methodische Einseitigkeit im Unterricht alltäglichen Spieltrieb und die Phantasie unterdrücken, daß Schreiben hauptsächlich als Ausdruck von Wissen vermittelt und kennengelernt wird, daß das einzige, was vor den Augen von AutorInnen und JurorInnen zählt, die beschriebene Seite ist...2

Womit ich an einer dritten Leerstelle angelangt wäre: Ich möchte dieses Buch nur in einem solchen beschränkten Maße zum Anlaß nehmen, soziale Bedingungen für das Schreiben zu analysieren, wie sie direkt mit inhaltlichen, didaktischen und organisatorischen Aspekten des Gegenstands zu tun haben. Die tieferführende Ergründung sozialer Kontexte von komplexen Bildungsbereichen braucht den historisierenden Blick auf das Gesellschaftssystem.3 Insofern verschreibt sich das vorliegende Buch einer Utopie im Kleinen unmittelbarer Ausbildung innerhalb einer Schulklasse, eines Universitätsseminars oder einer Interessentengruppe. Es möchte Ansammlung, Systematisierung und Diskussion von Ideen und Vorschlägen für Schreiben und Lernen sein, deren Realisierung – und davor sei an dieser Stelle ausdrücklich gewarnt – manchmal schwierig werden könnte; dies nicht so sehr praktischer Sprödheit wegen, sondern auf Grund vorhandener individueller und gesellschaftlicher Ressentiments. Dazu möchte ich einiges für den deutschen Kontext anmerken.

Der Umgang mit Schreiben im deutschen Bildungssystem ist seit dem 18. Jahrhundert von der Vorstellung des Schreibenden als Genie befangen: Schreiben kann in seinen technischen Erscheinungsformen vermittelt und angeeignet werden, nicht jedoch in seinem kreativen Potential. Ein heute kaum noch bewußt reflektierter, aber trotzdem immer noch wirkungsvoller Ausgangspunkt für diese Position ist die Definition des Schreibens durch den literarischen Sturm und Drang als imaginären Schöpfungsakt. Unmittelbarer Ausdruck dieser Konstellation ist eine hauptsächlich rezeptive Germanistik an den Universitäten und eine mehr oder weniger inhaltlich und methodisch getrennte Ausbildung im Lesen und Schreiben an den Schulen.

Mit dieser Feststellung will ich jedoch nicht die Anstrengungen einer ganzen Reihe von DeutschlehrerInnen und GermanistInnen um das sogenannte kreative Schreiben seit Beginn der siebziger Jahre an Schule und Universität vergessen machen. Diese Bemühungen setzen schreibpädagogische Ideen der humanistischen Bildung des 16. und 17. Jahrhunderts (z.B. die lyrische Imitation), des literarischen Salons bzw. der literarischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts (das produktive Streitgespräch um den literarischen Text), des Dada, Surrealismus und Expressionismus (die kollektive künstlerische Arbeit, der spielerische bzw. experimentelle Umgang mit Sprache) sowie die inhaltlich-methodischen Überlegungen der Arbeitsschul- & Kunsterziehungsbewegung des frühen 20. Jahrhunderts (das Schreiben als persönliches Erlebnis) fort.

Ich möchte mit meiner Arbeit an die oben beschriebenen Ansätze einer deutschen Schreibpädagogik anknüpfen und diese kritisch fortsetzen. Sie sollen in folgenden Richtungen ausgebaut werden:

1.   Schreiben muß in seinen Verlaufsqualitäten theoretisch näher bestimmt werden. Dabei wird zutagetreten, daß – im Gegensatz zur Definition des „Sturm und Drang“ – Schreiben kein genialer Akt des Hervorbringens eines ästhetischen Produkts ist, sondern ein Erkenntnisprozeß, der im Spannungsfeld von schreibendem Individuum, Welt und RezipientIn stattfindet.

2.   DAS Schreiben gibt es genauso wenig wie es persönliches, akademisches und literarisch-künstlerisches Schreiben an sich gibt. Bestimmte Erscheinungsformen des Schreibens, wie zum Beispiel die soeben ausgewiesenen, verfügen über spezifische Verläufe, die sich in der Person des schreibenden/lesenden Individuums gegenseitig beeinflussen und sich im Kontext ihrer Unterschiede weiterentwickeln.

3.   Schreiben muß pädagogisch (durch Grundsätze, Prinzipien) und unterrichtsspezifisch (durch Inhalte, Methoden) in seinem Potential für individuelles, kollaboratives und gesellschaftliches Lernen neu definiert werden. Dabei wird deutlich werden, daß hervorbringendes, „kreatives“ Schreiben keine Domäne des Literaturunterrichts, der Germanistik bzw. der dort im Brennpunkt stehenden literarischen Genres ist, sondern ein cross-curriculares Phänomen, das viele Diskurse und Textsorten erfaßt.

4.   Schreiben als Medium und Mittel kreativen Lehrens und Lernens braucht soziale Anerkennung in Form von institutioneller Anbindung und Förderung. Dafür schlägt das vorliegende Buch Inhalte, Formen und Methoden vor, die sich vom Entwurf curricularer Strukturen bis hin zu konkreten Organisationsformen erstrecken.

Schreiben am Ende des 20. Jahrhunderts braucht eine neue Definition sowohl seines Begriffs als auch seiner praktischen Umsetzung, um als bedeutende Form menschlicher Kommunikation bestehen zu können.4 Wer nicht schreibt, büßt Lese- und Sprechfähigkeit ein und reduziert die Qualität des eigenen kritischen Denkens und kreativen Handelns. Wer nicht schreibt, dem ist die Mär von genialen Dichtern und Texten leicht weiszumachen. Wer nicht schreibt, verliert schnell den Glauben an einen wichtigen Teil individueller Schöpferkraft.

Die vorliegende Publikation, die ich als Einführung in allgemeine Probleme einer theoretischen und praktischen Schreibpädagogik verstehe, ist ein Angebot an Lehrende und Lernende aller Bereiche und Stufen von Aus- und Fortbildung, die sich das Schreiben als Mittel und Medium vieldimensionaler Lehr- und Lernprozesse näher erschließen wollen. Dazu beziehe ich mich auf die wesentlichen Ergebnisse US-amerikanischer und europäischer Schreibforschung, und stelle sie in ihrer individuellen bzw. institutionellen Praktizierbarkeit dar. Allen denjenigen LeserInnen, die sich auf die textbegleitenden Schreibaufgaben einlassen werden, wird es möglich sein, den Grad persönlicher Brauchbarkeit meiner trotz aller Konkretisierung doch modellhaft bleibenden Vorstellungen zum Schreiben selbst zu ermitteln.

Das Format eines Arbeitsbuches, in dem sich theoretische und praktische Aspekte gegenseitig ergänzen, habe ich bewußt gewählt, u.a. aufgrund eines bisher beschränkt gebliebenen Angebots von Publikationen zu solchen allgemeinen pädagogischen Potenzen des Schreibens, die weit über den Rahmen des schulischen Aufsatzunterrichts hinausreichen. Durch die Bereitstellung einer umfangreichen Sammlung methodischdidaktischer Hinweise möchte ich zur Weitergabe der gewonnenen Kenntnisse anregen und ermutigen.

Schreibend lernen gliedert sich in drei Hauptteile: Grundlagen, Methoden/Felder/Formen und Organisation.

In der Einleitung bin ich unter der Frage Warum Schreiben? bereits einigen Aspekten der individuellen und gesellschaftlichen Bedeutsamkeit schriftlicher Kommunikation nachgegangen.

Der erste Teil des Buches dient dazu, die theoretischen und praktischen GRUNDLAGEN der Schreibpädagogik zu umreißen und die Eckpfeiler dieser Publikation als Ganzes zu positionieren. Sich eines Ausdrucksmediums effektiv bedienen zu wollen, erfordert Klarheit über seine Potenzen: Dafür müssen Wesen und Charakter des Schreibens beleuchtet (Was heißt Schreiben?) und die Individualität der Tätigkeit (Wer schreibt?) ergründet werden. Beide Schritte helfen bei der Diskussion von Strategien der Schriftlichkeit (Wie schreiben?).

Der zweite Teil des Buches macht mit ausgewählten METHODEN, FELDERN UND FORMEN der Schreibpädagogik vertraut, die gleichzeitig meine persönlichen Vorstellungen von einem schriftlich-kreativen Schaffen verkörpern. Die Einführung in allgemeine Arbeitsmethoden (Imitieren, Adaptieren, Improvisieren) soll den Blick auf die Potenzen des Schreibens über die Grenzen seines direkten Tätigkeitsbereiches hinaus erweitern. Dazu tragen auch die Lernfelder Bildlichkeit, Mündlichkeit, Musikalität und Theatralität bei, die als Multiplikatoren eines Lernens durch Schreiben in das pädagogische Repertoire von Lehrenden und Studierenden eingereiht werden sollten. Aus einer Vielzahl von Formen schriftlicher Kommunikation möchte ich mit dem poetischen, expressiven und transaktionalen Schreiben drei näher vorstellen, von denen ich meine, daß sie das Gerüst für ein Schreiben abgeben, das durch seine organische Verbindung von intuitivem und kognitivem Lernen einen hohen Grad an persönlicher Bedeutsamkeit entfalten kann und sich damit deutlich als Alternative zu herkömmlichen, vorwiegend kognitiv orientierten und gegenstandszentrierten Schreibmodellen präsentiert.

Der dritte Teil des Buches, ORGANISATION, verkörpert praktische Konsequenzen der vorangegangenen Aussagen. Mit der Vorstellung verschiedener Lehr- und Lernformate beziehe ich mich auch hier nicht ausschließlich auf das Schreiben in Schule oder Universität: Die Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit eines institutionellen Rahmens (Schreiben „mit“ und „ohne“) zeigt sich als ambivalent angesichts der angestrebten Liste, die von Journal, Workshop & Schreibgruppe, Schreibbüro & Tutorien über Computernetz und Portfolio bis hin zum Projekt des Theorie-Praxis-Lernens reicht.

Die abschließenden Bemerkungen fassen die Hauptaussagen des Buches auf dieselbe interaktive Weise zusammen, die auch den vorangegangenen Kapiteln eigen ist. Die LeserInnen werden aufgefordert, ihren, während der Arbeit mit dem Buch erlebten Schreibprozeß mit früheren Erfahrungen zu vergleichen. Ein zweiter Komplex geht über die Fragen des individuellen Schreibens hinaus. Er richtet sich an die gesellschaftliche Praktizierbarkeit der im Buch vorgestellten schreibpädagogischen Wege und stellt am Beispiel der Lehrerfortbildung sowohl curriculare als auch institutionelle Veränderungen zur Diskussion.

Das Buch entstand u.a. auf der Grundlage von eigenen Unterrichtserfahrungen auf dem Gebiet des Schreibens und von Ergebnissen eines Forschungsprojekts zur US-amerikanischen Schreibpädagogik, das zwischen 1993 und 1995 von der DFG gefördert wurde und dessen theoretische Resultate ich in einer Monographie unter dem Titel Warum Schreiben? Schreiben in den USA: Aspekte, Verbindungen, Tendenzen. (Frankfurt: Lang, 1996) vorgestellt habe.

Weiterführende Lektüre

(Unter dieser Rubrik liste ich Arbeiten auf, die mich im Umgang mit dem Schreiben als Forschungsgegenstand begleiten und die mir persönlich helfen, das Wesen dieser komplexen Tätigkeit besser zu verstehen.)

Bohn, Ralf, Warum Schreiben? Psychosemiologische Vorlesungen über Semiologie, Psychoanalyse und Technik, Wien: Passagen-Verlag, 1993.

Kuhnert, Günter, Warum schreiben? Notizen zur Literatur, München; Wien: Carl Hanser Verlag, 1976.

Kittler, Friedrich A., Aufschreibesysteme 1800-1900, München: Wilhelm Fink Verlag, 1995.

Kress, Gunther, Writing the Future, Sheffield (UK): National Association for the Teaching of English, 1995.

Wermke, Jutta, „Hab a Talent, sei a Genie!“: Kreativität als paradoxe Aufgabe, (2 Bde.), Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1989.

Anmerkungen

1    Gunther Kress hat das Phänomen der Verdrängung der Schrift durch das Bild in der Bildung und die Konsequenzen daraus u.a. im folgenden Titel dargestellt: Writing the Future: English and the making of a culture of innovation, Sheffield (UK): National Association for the Teaching of English, 1995. Inzwischen reagiert auch die Publizistik immer wieder auf den hier angeführten Sachverhalt. Die verschiedenen Beträger verweisen besonders häufig darauf, daß die Arbeitspraxis moderner Medizin, Hirnforschung oder Geophysik (via Computer) inzwischen ausschließlich auf der bildlichen Darstellung von Problemen basiere, und die visuelle Wende in den Naturwissenschaften bereits zur Etablierung ihrer eigenen Wissenschaft, der Visualistik (imaging science), geführt habe.

2    Jutta Wermke hat einige der o.g. Ursachen im Zusammenhang mit empirischen Ermittlungen zu Kreativitätsparametern genauer erfaßt. Vgl. dies., „Hab a Talent, sei a Genie!“: Kreativität als paradoxe Aufgabe, (2 Bde.), Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1989.

3    Für eine solche Darstellung möchte ich unbedingt auf das folgende Buch verweisen: Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800-1900, München: Wilhelm Fink Verlag, 1995.

4    Ich sehe den Anfang einer derartigen Neudefinierung u.a. im X. Symposion Deutschdidaktik gemacht. Vgl. dazu Harro Müller-Michaels und Gerhard Rupp (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschdidaktik 1994, Tübingen: Narr, 1995; Kaspar Spinner (Hrsg.), Imaginative und emotionale Lernprozesse im Deutschunterricht, Frankfurt: Lang, 1995 und Bodo Lecke (Hrsg.), Literaturstudium und Deutschunterricht auf neuen Wegen, Frankfurt am Main: Lang, 1996.

ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN

1. Kapitel: Was heißt Schreiben?

So viel im Prozeß meines Schreibens
ist mir unerklärbar. Aber das eine
weiß ich: Schreiben erzeugt Schreiben.

Dorianne Laux

Zusammenfassung

Aus der kritischen Betrachtung dessen, was herkömmlich Schreiben heißt, wird die Tätigkeit als prozeßimmanent und produktorientiert bestimmt bzw. als Entfaltungsraum für individuelle Bedürfnisbefriedigung und soziale Anerkennung definiert. Um dem entworfenen Schreibbegriff Praxisrelevanz abzugewinnen, macht sich eine Annäherung an ihn durch Schreiberfahrung nötig: Anhand eines Beispieltextes analysiere ich meinen Arbeitsprozeß und bestimme Bildliches Vorstellen, Geschichtenerzählen, Sinnstiften und Spiel als die prägenden Bestandteile. Traumarbeit erscheint in einer grundlegenden und verbindenden Funktion. Für sämtliche Aspekte werden Formen der eigenen Erprobung vorgeschlagen.

Schreiben ist, neben dem Sprechen und der Körpersprache, eines der Hauptmedien menschlicher Kommunikation. Es bewegt sich, im engeren Rahmen gesehen, im Span-nungsfeld von Schreibanlaß und AdressatIn und korrespondiert, im weiteren Rahmen, mit dem Verhältnis von Schreibenden, Verteilungsapparat,1 Aufbewahrungssystem2 und Lesenden. (Abb.1) Aus dem Schnittpunkt von Textproduktion, -distribution/-aufbewahrung und -rezeption erwachsen Schreibmotivationen.

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Aufgrund der Einmaligkeit und des individuellen Charakters eines jeden Schreibprozesses ist das Maß der Einflußnahme der aufgezeigten Elemente schwerlich allgemein definierbar. Einer der Anlässe für das Entstehen dieses Buches bestand zum Beispiel darin, meine eigenen Vorstellungen vom Schreiben weiterzuentwickeln. Eine wichtige Motivation, mein Lernen anderen mitzuteilen, ergab sich aus einer Marktlücke, die ich bei schreibpädagogischen Publikationen vor einigen Jahren in Deutschland erkannt geglaubt hatte. Während ich am Manuskript saß, entdeckte ich jedoch immer wieder neue deutschsprachige Titel zum Gegenstand, die mich vor allem ob ihrer hohen Qualität sehr beeindruckten und meine anfänglich euphorische Motivation drastisch dämpften. KollegInnen, Freunde und auch mir persönlich unbekannte LeserInnen meines ersten Buches zum Thema3 haben nicht wenig dazu beigetragen, daß sich meine Lust am Schreiben schließlich wieder stabilisierte.

Vorgänge solcher Art wiederholen sich für alle, die schöpferisch tätig sind. Sie ähneln einander in ihren Verlaufsqualitäten, auch wenn sie individuell verschieden erlebt werden und nicht immer zur Weiterführung des eigenen Projekts motivieren. Beobachtungen und Untersuchungen dazu haben schließlich zu einigen verallgemeinerbaren Aussagen geführt, aus denen sich grundlegende Erkenntnisse der Schreibpädagogik speisen. Diese sollen, wie in der Einleitung bereits angedeutet, in den folgenden Kapiteln theoretisch und praktisch vorgestellt werden.

Ich empfinde es für eine Gegenstandsbestimmung wichtig, zuerst den gewählten Blickwinkel anzudeuten: Mein Standort ist der eines Schreibenden und damit naturgemäß zwiespältig. Er zwingt mich, sowohl das Verfertigen eines Textes als auch den Text als Produkt ins Auge zu fassen. Während der eine Teil (Schreiben als Prozeß), wie später noch deutlicher werden wird, mein schreibpädagogisches Interesse besonders stark dominiert, verkörpert der andere Aspekt (Schreiben als Produkt) eine Größe, die, was ihre Bedeutsamkeit betrifft, im Wandel begriffen ist.

Meine Betrachtung dessen, was Schreiben ist, vollziehe ich durch die Linse des jeweiligen Schreibprodukts. Ich frage: Welcher Arbeitsprozeß hat zum vorliegenden Ergebnis geführt? Dieser rückwärts gewandte Blick erscheint unlogisch, da er sich der natürlichen Dynamik des Schreibens entgegenzustemmen versucht, ist aber in meinem Falle folgerichtig und zwar aus zwei Gründen: Ich verfüge (noch) nicht über Begriffe für eine effektive Kategorisierung von Schreibanlässen und -motivationen, die zu bestimmten Textsorten führen. Es existiert jedoch eine historisch gewachsene Terminologie zur Beschreibung von Gattungen und Genres. Jenes begriffliche Dilemma spiegelt gleichzeitig die hinlänglich bekannte Produktorientiertheit jahrhundertelanger Betrachtungen zu Literatur und Schreiben wider. Einer solchen Tradition kann und will ich mich nicht entziehen, ich möchte, von ihr ausgehend, den Bogen spannen zum Schreibprozeß – dem lange unterbelichtet gebliebenen Teil –, um letztlich die Vorteile beider Pole moderner Schreibpädagogik füreinander nutzbar zu machen.

Ein erster produktiver Kompromiß in dieser Richtung besteht meiner Auffassung nach darin, daß ich für einen Gesamtüberblick über das Terrain in Anlehnung an Wendy Bishops categories of written discourse’4 grundlegende Schreibweisen (prozeßorientiert) und deren Existenzformen (produktorientiert) zusammenführe: (Abb. 2)

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Die drei Schreibweisen leiten sich jeweils von einer dominierenden Befindlichkeit der Schreibenden ab und bestimmen schließlich Form und Funktion des Textes: Instrumentales Schreiben resultiert aus einem vordergründig rationalen Bedürfnis, Fakten mitzuteilen, über die äußeren Parameter eines Ereignisses, einer Tätigkeit etc. zu berichten. Imaginatives Schreiben speist sich mehr aus emotionalen Anlässen, sich zu äußern, was zu Darstellungen der Innerlichkeit des schaffenden Subjekts führt. Expressives Schreiben kommt von einem starken Ent- und Aufdeckungsbedürfnis, das sowohl rational als auch emotional begründet ist und in dieser Kombination das Erfahrene in seinen Zusammenhängen tiefer ergründen möchte. Selbstverständlich existieren alle drei Schreibweisen im Kontext äußerer Erfordernisse, die das schaffende Subjekt in seiner Eigenschaft als Zugehöriger eines Berufes, sozialen Gruppierung oder einer Hierarchie beeinflussen: Der Unterschied zwischen einer Zeitungsreporterin, die einen Artikel für die Morgenausgabe zu liefern hat und einem Mitglied einer Laienschreibgruppe ist offensichtlich.

Wenn ich sage, daß expressives Schreiben in seinem Verlauf zwischen Emotionalität und Rationalität pendelt, so soll dies keine Hervorhebung gegenüber den beiden anderen Grundformen signalisieren. Schreiben als eine komplexe Fähigkeit und Fertigkeit gründet sich sowohl auf das Zusammenspiel der drei Grundformen als auch auf deren spezifische Charaktere, welche nicht zuletzt spezielle Funktionen für die Entwicklung des Schreibens in sich tragen.

An diesem Punkt schlage ich vor, das bisher Gesagte auf seine Gültigkeit für einen selbst zu befragen. Es erscheint mir für die eigene Positionierung als Schreibender wichtig, daß sowohl der allgemeine als auch der persönliche Aktionsradius der Tätigkeit Schreiben näher ergründet wird.

Schreib- und Lesemotivation

1.   In welchen Genres/Textsorten (journalistische oder akademische Texte, Prosa, Lyrik oder Dramatik, Tagebucheintragungen, Alltagsnotizen, Skizzen, Impressionen etc.) fühlen Sie sich am wohlsten zu schreiben? Machen Sie auch eine Liste mit den Bereichen, die Sie gewöhnlich vermeiden.

2.   Schauen Sie auf jeden einzelnen Posten ihrer beiden Listen und notieren Sie rasch einige mögliche Gründe.

3.   Legen Sie zu den folgenden Fragen Listen an: Wann (unter welchen inneren und äußeren Umständen) greifen Sie besonders oft zur „Feder“ und wann seltener oder überhaupt nicht? Antworten Sie so schnell wie möglich.

4.   Von welchen Genres/Textsorten fühlen Sie sich als LeserIn besonders angezogen? Listen Sie auch hier wiederum gegenteilig wirkende Bereiche auf.

5.   Wiederholen Sie nun auch die anderen Aufgaben zum Schreiben für das Lesen. Vergleichen Sie dann Ihre Eindrücke zum Schreiben und Lesen, und versuchen Sie, Ihren derzeitigen individuellen Standort im Umgang mit Texten auf der Abbildung 2 zu lokalisieren. Vielleicht können Sie ihn sogar farbig sichtbar machen.

So wie die individuelle Positionierung gegenüber den drei Grundformen des Schreibens wohl kaum eindeutig ausfallen wird, gerät auch die eigene Zuordnung zu bestimmten Genres/Textsorten zum Drahtseilakt. Mit Blick auf Abbildung 2 wird nämlich deutlich, daß Genres und Textsorten ein und denselben Bedürfnisstrukturen erwachsen, die auch dem Schreiben zugrunde liegen. Daher ist nicht verwunderlich, daß zum Beispiel auch die Erscheinungsformen Imaginativen Schreibens – Lyrik, Epik und Dramatik – einander ergänzen bzw. in ihren Grenzen überlappen (vgl. Abb. 3).5

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Das Gedicht, die Kurzgeschichte oder die dramatische Szene sind letztlich nichts anderes als Produkte ursprünglichen Schreibwillens bzw. darunter liegender Mitteilungsbedürfnisse. Der Schein trügt, wenn diese literarischen Gebilde im Kontext von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Text und Sprache die Vorstellung aufbauen, sie benötigten ein gewisses Arbeitsmaterial und bestimmte Darstellungstechniken, um das zu sein, was sie sind. Es ist der konventionelle Fokus auf das Produkt, der diesen An-schein erweckt und literaturwissenschaftliche Genre-Definitionen genauso deutlich bestimmt wie die Vorstellung vom Schreiben als geniales Texten. Auch ohne die Kenntnis davon, seit wann genau sich diese Schwerpunktlegung entwickelt (seit dem Buchdruck als technische Fetischisierung des fertigen Textes vielleicht?), ist die starke Verinnerlichung des Produktglaubens offensichtlich. Sie wird zum Beispiel in manchen Bemühungen der jüngeren Deutschdidaktik um effektivere (kreativere?) Wege der Text-verfertigung6 deutlich. Hier geht es – zugespitzt formuliert – nicht selten um Produktveredlung, denn der fertige Text als dominierende Bezugs- und Zielgröße wird nicht wirklich aufgegeben. Er bleibt, trotz vielfältiger Bemäntelungsversuche, im Mittelpunkt äußerer und verinnerlichter Wertesysteme und Bewertungsmechanismen.

Schreiben, wie ich es hier diskutieren möchte, entbehrt dieser Produktorientiertheit genausowenig wie es der dominierende Faktor meiner definitorischen Überlegungen ist. Schreiben braucht natürlich die Kenntnis über fertige Texte, den Glauben an das Fertigstellen des eigenen Texts und nicht zuletzt daran, daß dieser zur Kenntnis genommen wird. Schreiben ist jedoch in einem ebenbürtigen Maße aus seinem Prozeßcharakter heraus motiviert. Bevor ich jenen Dualismus von Prozeß und Produkt im folgenden anhand einiger Modellvorstellungen vom Schreiben weiter aufdecke, möchte ich zu einigen persönlichen Überlegungen anregen.

Fragebogen: Schreibprozeß

1.   Worin (in welcher Tätigkeit) würden Sie den Beginn Ihres persönlichen Schreibprozesses sehen?

2.   Welche Bezüge sehen Sie in Ihrer Art zu schreiben, zu den Tätigkeiten Lesen, Hören und Sprechen?

3.   Überarbeiten Sie Ihre Texte? Wenn ja, warum?

4.   Wie überarbeiten Sie gewöhnlich (neue Textfassung, Korrekturen im Originaltext, „Schneiden“ und „Kleben“ am Computer etc.)?

5.   Wann und warum zeigen Sie Ihr Geschriebenes anderen Menschen?

6.   Welche Rolle spielt für Sie fremde Textkritik?

7.   Inwiefern beeinflußt fremde Textkritik Ihre Textüberarbeitung?

8.   Wann sind Sie mit dem Schreiben eines Textes fertig?

Eine Vorstellung vom Schreiben, deren (Unterrichts-)Praxis sich bis in die Gegenwart hält, sieht folgendermaßen aus:

Traditionelles Schreibprozeß-Modell

Schreibanlaß

Themenfindung-Planung-Materialsammlung-Erstentwurf-Überarbeitung

Endfassung

Fremdbestimmter Schreibanlaß (vorgegeben durch eine „Autorität“ wie LehrerIn, Curriculum, Mustertext etc.) und antizipiertes Arbeitsergebnis (Vorgabe von Arbeitsschritten und angezielter Textsorte) konservieren die Auffassung vom Schreiben als produktgesteuerte Handlung.

Zu Beginn der siebziger Jahre haben britische und amerikanische PädagogInnen anhand empirischer Untersuchungen von Textentwürfen und Endfassungen festgestellt, daß es sich beim Schreiben keineswegs um einen linearen Handlungsablauf zwischen den Polen „Schreibanlaß“ und „Endprodukt“ handelt.7 Besonders die Forschungen von Janet Emig auf der Grundlage von Beobachtungen an SchülerInnen, die aufgefordert waren, ihre Arbeit am Text mündlich zu kommentieren,8 bringen Einblicke in den Schaffensverlauf, die von den herkömmlichen Vorstellungen stark abweichen (Abb. 4).

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Anstatt eines linearen Verlaufs zwischen vorweggenommenem Anfangs- und Endpunkt, präsentiert dieses Modell einen fortlaufenden Schreibprozeß, auf dessen Schleife die im herkömmlichen Modell aufgeführten Arbeitsetappen in vielfältiger Gestalt auf den Ebenen von Gedanklichkeit und Gefühl, Mündlichkeit und Schriftlichkeit durchlaufen werden. Schreiben präsentiert sich hier als eine Aktivität, die sich schon allein wegen ihrer Komplexität einer Vorprogrammierung erfolgreich versperrt. Hinzu kommt die persönlich unterschiedliche Ausprägung des Schreibens, die – zusammen mit einer ganzen Palette von kontextuellen Gegebenheiten (unter welchen Umständen wird geschrieben, auf welche Adressatengruppe wird sich bezogen etc.) – eine modellhafte Darstellung des Gegenstandes als schier unmöglich erscheinen läßt.

Soll die Fixierung des Schreibbegriffs Praxisrelevanz gewinnen, so macht sich aufgrund des individuell ausgeprägten Tätigkeitscharakters eine Annäherung durch Schreiberfahrung nötig. Ich werde im folgenden Abschnitt anhand eines Beispieltextes andeuten, zu welchen begrifflichen Einsichten meine Schreibarbeit geführt hat und immer wieder Aufgaben für eine eigene Entdeckungsreise vorschlagen.9

Schreiben beginnt lange vor dem eigentlichen Texten. Seinen tatsächlichen Beginn festzustellen, scheint mir, ob seiner Beschaffenheit aus vor-, un- und unterbewußten Vorgängen, nur vage möglich: Manchmal stellt sich nur ein diffuses Gefühl ein, das sich später verdichtet, an Stoßkraft und Gerichtetheit zunimmt und sich, vielleicht nach Tagen oder Wochen, als starkes Ausdrucksbedürfnis manifestiert. Es kann aber auch ein Wort sein, von irgendwoher aufgenommen, das mir für eine Weile im Kopf herumgeht und schließlich ein Ausdrucksbedürfnis initiiert.

Besonders stark wirken in meinem Falle sprachliche Metaphern, Bilder oder Klänge als mögliche Resultate ursprünglich unbestimmter Gefühle, die zu einer Ausdrucksform drängen. Ich werde ihrer habhaft, nachdem sie lange genug meine alltäglichen Gedankengänge „gestört“ haben und ich mich endlich entschließe, sie festzuhalten.

Aufspüren von persönlich bedeutungsvollen Schreibanlässen

1.   Nehmen Sie sich vor, alle Schreibanregungen, die während eines Tages aus Ihrer unmittelbaren Umgebung auf Sie einströmen, in einem Notizbuch festzuhalten. Beschränken Sie sich auf einzelne Begriffe oder Wortgruppen.

2.   Prüfen Sie dieses Material am darauffolgenden Tag auf Anregungen, die Sie ganz besonders interessieren. Entscheiden Sie sich für einige wenige, und schreiben Sie darüber. Ergründen Sie den metaphorischen Gehalt des ausgewählten Materials, indem Sie kleine Wortsammlungen zur Bedeutung ausgewählter Begriffe anlegen.

3.   Nutzen Sie eine weitere Möglichkeit, um herauszufinden, welcher der bearbeiteten Gegenstände Ihnen am meisten am Herzen liegt. Schreiben Sie dazu mehrere kleine Skizzen. Wenn Sie fertig sind, stellen Sie fest, ob und inwieweit sich Ihr Blick vom Vortage auf den metaphorischen Gehalt des Materials verändert hat.

Ein Beispiel für solcherart „Vorgeplänkel“: Den Radrennfahrer, für einige Jahre Hauptmotiv meines Schreibens, bemerkte ich zuerst als bildliche Vorstellung. Ein Mann keucht, tief über den Lenker gebeugt, eine endlose Landstraße entlang. Da das Bild blieb, begann es mich zu beschäftigen. Ich fand heraus, daß es zu einem aktuellen Lebensgefühl von mir paßte. Später suchte ich nach Gründen für dieses Gefühl, genauer gesagt, wollte ich herausfinden, welche Details das Bild noch offenbaren würde. Ich erkannte inzwischen weiter, daß sich die Strecke des Fahrers durch ein Gebirge schlängelte. Die Straßenränder waren von einer johlenden und tobenden Menge gesäumt, aber, obwohl es sich ganz offensichtlich um einen sportlichen Wettkampf handelte, konnte ich keine Mitbewerber um den Sieg ausmachen. Nachdem ich begriffen hatte, daß der Fahrer allein auf der Piste war, hielt ich diese Vorstellungen zum ersten Mal schriftlich fest.

Donald M. Murray, einer der anerkanntesten SchreibpädagogInnen in den USA, nennt die Antizipation dessen, was aufgeschrieben werden will, rehearsing.10 Der Begriff des Ausprobierens/Erprobens bezeichnet hier zuerst den Vorgang eines Auf-die-Spur-Kommens von Gefühlen, Gegenständen oder Zusammenhängen, die zur Artikulation drängen. Er beinhaltet aber auch ein Abwägen des vorhandenen Materials im Hinblick auf seine Gewichtigkeit: Wie sehr drängt es mich, über dieses oder jenes zu schreiben? Was habe ich mitzuteilen?

Die Möglichkeiten, wie jenes Ausprobieren des Materials ausgetragen wird, sind vielfältig. Die amerikanische Schreibpädagogik in ihrem mainstream plädiert für einen frühen Start des Schreibens (think on paper). Alternative Ansätze setzen auf mündliche Vorstufen. Ich selbst habe auch schon gemalt oder Muscheln gesammelt. Wichtig erscheint mir, daß die eigenen Mitteilungsbedürfnisse als solche überhaupt erlebt und identifiziert werden und schließlich, in welcher Form auch immer, vorläufige Gestalt annehmen.

Journal/Schreibanregungen

1.   Versuchen Sie sich anzugewöhnen, ein kleines Notizbuch dabeizuhaben, in dem Sie bei Bedarf Schreibanregungen festhalten. Erlauben Sie sich bei der Auswahl des Notizwürdigen größtmögliche Breite: Auch ein Stein, an dessen rauher Oberfläche Sie sich gekratzt haben, kann eine solche Anregung sein.

2.   Beobachten Sie, ob sich im Verlaufe der Zeit bestimmte Schreibanlässe häufen und Themen herauskristallisieren. Erkunden Sie solche Anregungen durch skizzenhafte Darstellungen.

3.   Wenn Sie bemerken, daß Sie immer wieder auf ähnliche Weise Ihre Umgebung beschreiben, versuchen Sie in der Folgezeit besonders das in Ihrem Notizbuch festzuhalten, was Sie bisher für nicht besonders beachtenswert hielten.

Dieser ersten Phase meines Arbeitsprozesses am Radrennfahrer folgte etwas, das viel mit Geschichtenerzählen zu tun hat, aber nicht unbedingt zu literarischer Prosa führen muß. Ich glaube, ich mache Freunde, Bekannte und KollegInnen auf ähnliche Art und Weise mit dem Ausgangsmaterial für Kurzgeschichten, Zeitungsartikel oder Vorträge bekannt, wie ich es mit meinen Vorstellungen für dieses Buch getan habe. Ich erzähle die Geschichte einer Idee; wo sie herkommt, über welche Kontexte sie verfügt, wohin sich die Idee momentan bewegt, und auf welche Wege ich sie gerne führen möchte. Mir ist dabei mehrmals aufgefallen, daß meine Ausführungen von einem Gesprächspartner zum anderen variieren. Inzwischen setze ich dieses Mittel bewußt ein, um meinen Ideen zuzuhören, zu lauschen, wie sie in den verschiedenen Darstellungsweisen klingen und welche Reaktionen sie beim Gegenüber hervorrufen. Ich sehe darin eine Möglichkeit, mein Material im Kontext anderer Materialien weiterzuentwickeln. Zu besonders wertvollen Erkenntnissen komme ich dabei oftmals dann, wenn ich das Risiko eingehe, meine Vorstellungen einer Umgebung auszusetzen, die so wenig wie möglich vom Gegenstand des Geschriebenen weiß.

Viele amerikanische SchreiblehrerInnen würden sicherlich auch für diese Phase den schriftlichen Vollzug raten. Ihnen geht es darum, Veränderungen am Material auf Papier zu erleben, u.a. mit der Begründung, daß daraus gelernt werden kann, also in-haltliche, methodische bzw. strategische Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Schreibens erwachsen. Dieses Lernen trifft auch auf meine mündliche Erzähltätigkeit zu, jedoch mit einem Abstrich: Materialveränderungen treten oft nicht sofort in mein Bewußtsein, sie „erschleichen“ sich erst nach und nach meine Aufmerksamkeit. Das ist einerseits zeit- und arbeitsintensiv, denn zwischen unbewußt eingeleiteter Materialveränderung und bewußt vollzogener Konsequenz im Schreiben können durchaus mehrere Entwürfe liegen. Andererseits baut dieses Vorgehen Filter auf, durch die nur das hindurchgelangt, was für die weitere Auseinandersetzung tatsächlich von Bedeutung ist.

Betätigen Sie sich als SchreibpädagogIn,

und entwickeln Sie aus meinen Ausführungen zum Geschichtenerzählen konkrete Aufgabenstellungen für sich selbst und/oder Ihre SchülerInnen bzw. StudentInnen.

Eine nächste Phase, die mir in meiner Art, am Radrennfahrer zu schreiben, aufgefallen ist, möchte ich mit dem Begriff der Sinnstiftung umreißen. Um herauszubekommen, welche Kräfte im Bild von Fahrer, bergiger Rennstrecke und johlender Menge ein Gefühl des Getriebenseins erzeugten, mußte ich den optischen Eindruck in Szene setzen, die Kerngeschichte auf- und weiterschreiben. Mit jedem Einschnitt in die Handlungsabfolge wurde mir das Zusammenspiel vieler Faktoren für jenes Lebensgefühl bewußter. Aus dieser Arbeit entwickelten sich aber auch neue Vorstellungen, denen ich wiederum erst auf einer mehr sinnlichen (intuitiven) Ebene gewahr wurde. Beim Graben in den Schichten des metaphorischen Rennfahrers stieß ich immer wieder auf weiterführendes Material. Ich entdeckte sozusagen Geschichten innerhalb der Geschichte. Diesem endlos scheinenden Vorgang sind durch eine bedingte Aufnahmeund Verarbeitungsfähigkeit bzw. starke Gerichtetheit der Schreibmotivation („Ich schreibe nur über das, was mich interessiert!“) von vornherein natürliche Grenzen gesetzt. Den Rest „besorgen“ Schreib- und Leseerfahrungen und die darin eingeschlossenen intuitiven und kognitiven Anteile effektiver Textorganisation.

Ganz im Sinne meiner Auffassung vom fortlaufenden Schreiben möchte ich Spiel nicht schlechthin als abschließende Phase meines persönlichen Arbeitsprozesses zum Radrennfahrer definieren. Ich verstehe es vielmehr als offenes Ende und Sprungbrett für nachfolgendes Schreiben. Was landläufig als Textüberarbeitung (auch die AmerikanerInnen sprechen übrigens von revising) von den Schreibenden erwartet wird, ist ein Basteln am Satz, ein oftmals kosmetisches Verschönern des schon festgeschriebenen Produkts – was oftmals nur unter dem Einfluß eines Regelkanons geschieht. Schreiben ist wohl in keiner Phase seines traditionellen Modells so autoritätsabhängig wie in dieser. Im Endspurt um Lehrergunst und andere Formen öffentlicher Anerkennung werden die Spuren persönlicher Mitteilungsbedürfnisse säuberlich getilgt, sofern sie nicht gerade zum Erreichen des Anerkennungsziels nützlich gemacht werden können.

Meine eigenen, oft schmerzhaften Erfahrungen mit der Umfunktionierung kreativen Handelns zu einer Krücke auf dem Weg zum „Erfolg“, haben mich mehr und mehr dahin geführt, meine Arbeit an einem Text nur theoretisch zu Ende gehen zu sehen. Was tatsächlich passiert, ist kontinuierliches Lernen, das über die Fertigstellung eines individuellen Texts hinausführt.11 Die Grundlage dafür sehe ich im spielerischen Umgang mit dem Material, das ich aus der Phase der Sinnstiftung (immer weiter) gewinne: mit der Stimme eines Textes (die Materialisierung des Schreibwillens); mit dem Kontext (Summe der Diskurse, die das Terrain des jeweiligen Schreibvorgangs bestimmen) und schließlich mit den antizipierten LeserInnen. In meinem Verständnis kreiert dieser Reigen aus Sinnschöpfungsmaterial, Stimme, Kontext und Publikum die innere und äußere Struktur eines Textes. Erst auf diesem Spielfeld definieren sich Textsorte und Genre.

Zum letzten Mal möchte ich auf das Beispiel des Radrennfahrers verweisen: Durch das Schreiben verschiedener Fassungen hatte ich herausbekommen, welche Kräfte im Eingangsbild mein Gefühl vom Gehetztsein am deutlichsten prägten: Es war nicht die Konkurrenz anderer Fahrer, auch nicht die Faszination moderner (Rad-)Technik und nur in einem geringen Maße der Reiz des Bezwingens steiler Berge. Der Druck kam vom Straßenrand, von jener johlenden und tobenden Menge, die als gesichtslose, graue Masse den Radrennfahrer zum Sieg treibt. Jenes von mir Stück für Stück entdeckte Spannungsfeld schuf schließlich den Kern der Geschichte in Form der Schilderung eines Rennverlaufs als auch ihr Ende: die absichtliche Preisgabe des Sieges durch den Fahrer. Hierbei möchte ich auf eine Veränderung verweisen, die noch einmal den offenen Charakter des Schreibens verdeutlicht. In der ursprünglich publizierten Fassung steigt der Fahrer wenige Meter vor Ziellinie und Triumph vom Rad und verschwindet in der Menge. Er leistet Widerstand gegen den Willen der Masse, indem er ihnen das Spektakel des Sieges und den Sieger vorenthält.12 Später, in einer anderen Fassung, vertraue ich dem Mut des Radrennfahrers nicht mehr, sich gegen die Menge zu entscheiden. Er überquert brav die Ziellinie und taucht erst dann in der Anonymität unter.13

Was ich hier anhand meines Spiels mit dem Text geschildert habe, ist ebenso ein Hineinlauschen in das vorhandene Material, um dessen Botschaften weiter zu ergründen. Spiel bleibt somit auch dem Sinnschöpfen nahe und ist, wie bereits einmal angedeutet, gleichzeitig fester Ausgangs- und Bezugspunkt für neues Materialerproben und Geschichtenerzählen.

Träumen hat auf sämtliche Phasen des Schreibens einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. Leider gibt es zum Ausmaß dessen bislang kaum detaillierte Untersuchungen, die vor allem auch den pädagogischen Wert14 dieser schöpferischen Tätigkeit unbewußter Verarbeitung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Material näher ergründen würden.15 Träumen bedeutet nicht Stillstand der Schreibarbeit, sondern Übergang des Schreibens in eine andere Erscheinungsform. Es verkörpert eine aktive Pause von Einschränkungen und Zwängen, die in anderen Momenten des Schaffens bewußt erlebt werden. In einem gewissen Sinne öffnet dieser Zustand Tür und Tor für ungezügeltes recycling des bisher Formulierten und Nicht-Formulierten. Materialerproben, Geschichtenerzählen und Spiel werden sozusagen auf einer qualitativ anderen Ebene fortgeführt.

Leider wird das, was ich hier einmal als Traumschreiben bezeichnen möchte, von vielen Menschen entweder nicht als Tätigkeit wahrgenommen oder in ihrem Charakter als unseriös verstanden. Nicht erst seit Freud ist jedoch bekannt, daß Träume, ganz gleich wie ihnen nach dem Schlaf begegnet wird, das Wachsein – und somit eben auch jede weitere Schreibarbeit – ganz entscheidend beeinflussen. Ihre schöpferischen Potenzen könnten jedoch wesentlich stärker zum Tragen kommen, wenn Träumen sowohl von den Schreibenden als auch von der Gesellschaft als gleichwertiger und wichtiger Teil menschlichen Schaffens und Lernens anerkannt werden würde.

Nachfolgend einige persönliche Beobachtungen zum Zusammenhang von Schreiben und Träumen. Es gab eine Zeit, da war ich mit mir selbst unzufrieden, wenn ich inmitten konzentrierter Manuskriptarbeit plötzlich müde wurde. Gewöhnlich versuchte ich die Müdigkeit schnell mit einer Tasse Kaffee zu überwinden, um den Schreibfluß nicht zu stören. Meine größte Angst war dabei stets, daß ich Gedanken, die dem Aufschreiben vorausgeeilt waren, verlieren könnte.

Überschlafen