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Marlies Kemptner

Eisesruh

Kriminalerzählung

Satz & Gestaltung: Verena Kessel

ISBN E-Book EPUB

978-3-86476-631-2

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Verlag Waldkirch KG
Schützenstraße 18
68259 Mannheim
Telefon 0621-79 70 65
Fax 0621-79 50 25
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© Verlag Waldkirch Mannheim, 2015
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nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.

Marlies Kemptner

EISESRUH

Kriminalerzählung

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Inhalt

Nachwort

Warum tun Menschen einander Schreckliches an?

Niemand kann mir sagen, wie ich mit Verlust und Zorn umgehen soll.

Die, die fragen: „Bist du noch immer nicht darüber hinweg?“, haben keine Ahnung.

Was bleibt, ist ein stechender Schmerz.

Auch heute, Jahre nach den Ereignissen, überfällt mich, aus dem Nichts heraus, dieses Bild.

Zwei in steriles Weiß gekleidete Männer tragen eine Gefriertruhe in einen mit grauen Fliesen gekachelten Raum. Kaltes Neonlicht spiegelt sich auf einem Seziertisch aus blankem Edelstahl.

Einer der Männer öffnet den Deckel der Truhe. Er sieht auf eine Tote. Eine junge Frau, die etwas verkrümmt, mit starren, offenen Augen auf einem Rest Gefriergut liegt. Sie trägt eine hellblaue Sportbluse, Jeans, flache braune Schuhe und Ohrringe aus Perlmutt.

In ihren Haaren wachsen Eiskristalle. Der Körper ist starr, leicht angefroren. Einer der Männer schaut auf ein Formular.

Name: Regina Kattwig

Alter: 30 Jahre

Familienstand: verheiratet

Mutter einer sechsjährigen Tochter

Beruf: Arzthelferin

Vermutete Todesursache: Einwirkung von äußerer Gewalt im

Schläfenbereich

Datum: 15.10.2005

Einlieferungszeit: 22:45 Uhr

Gestern waren wir an Reginas Grab. Ich und das Kind. Tanja ließ auf dem Weg zum Friedhof meine Hand nicht los. Sie stolperte in ihren neuen Winterstiefeln neben mir her, den Mund fest zusammen gepresst, als wollte sie verhindern, dass Worte herauskamen.

Unsere Schritte knirschten im Kies. Unser Atem malte kleine Wölkchen in die Novemberluft. Ein frischer Wind wiegte die Birken an der Friedhofsmauer. Letzte Blätter trennten sich von den Ästen, tänzelten zu Boden und legten ein gelb-braunes Mosaik auf die Gräber. Auf Reginas Grab hatte jemand zwischen Efeu und verblühten Astern eine frische Erikapflanze gesetzt.

Tanja stellte sich vor mich und drückte sich gegen meinen Mantel. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern.

Auf dem hellen Marmorgrabstein vor uns stand in goldenen Buchstaben Reginas Name:

Regina Kattwig 21.4.1975 – 15.10.2005.

Darunter war der Spruch eingemeißelt.

Wir haben hier keine bleibende Stätte,

sondern wir suchen die Zukünftige.

Nachdem eine ganze Weile vergangen war und sich unser leises Schluchzen ein wenig beruhigt hatte, kniete sich das Kind hin und bohrte mit dem Daumen ein kleines Loch in die Erde. Sie sah zu mir auf. Die dunklen Augen schwammen in Traurigkeit. „Ich habe der Mama eine Murmel mitgebracht.“ Sie zog die kleine, blaue Kugel aus der Tasche ihres Anoraks. Ich beugte mich zu ihr, legte den Arm um sie und drückte einen Kuss auf ihre nassen Wangen.

„Claudi?“ „Ja, Tanja?“ „Wie ist es im Himmel? Es ist doch warm dort?“ Ich presste meinen Schal fest an meine Lippen. „Klar Kleines, da ist es warm.“ „Ich will nicht, dass sie friert“, flüsterte Tanja.

Eine Amsel flog von einem Tannenzweig und setzte sich neben die kleine Schale mit Herbstastern, die ich abgestellt hatte. Tanja drehte sich zu mir und legte einen Finger auf den Mund. Die kleinen Knopfaugen der Amsel sahen uns unverwandt an. Der Wind bewegte heftig die Zweige der Tanne. Es fing zu nieseln an. Die Amsel schlug mit den Flügeln, als wolle sie sich verabschieden. Dann flog sie weg.

„Komm, Tanja, wir gehen.“ Die Kleine zögerte, scharrte Streifen mit ihren Stiefeln in den Kies, dann sagte sie leise: „Tschüss Mama.“

Eilig schritten wir die Wege ab. Es war, als ob sich die Toten hinter uns zu einem Chor erhoben, zu einer einzigen Anklage, was das Leben ihnen schuldig geblieben war. Bei der letzten Grabstelle hielten wir kurz inne. Auf schwarzem Stein war ein Text eingraviert:

Sterben ist leicht,

glaub’ mir, es gleicht

glückhaftem Traum.

Weit wird der Raum,

du schenkst dich im

uferlos strömenden Glück

dem Urmeer zurück.

Wir verließen den Friedhof und schlossen das Eisentor, das mit einem hässlichen, schnarrenden Geräusch zufiel.

In der Nacht, als Tanja neben mir im Bett lag und ich den warmen Mädchenkörper spürte, ließ ich zu, dass mich die Bilder von damals wieder überwältigten.

Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.

Es stimmt nicht, dass man vergessen lernen kann.

Ich dachte an Regina in ihrem Grab. An ihren weichen Körper, der nun immer weiter der Erde entgegensank.

Tanjas Bein lag auf meinem Körper, als wolle sie mich im Schlaf noch festhalten.

Der Regen wurde stärker. Er trommelte gegen das Schlafzimmerfenster. Ich hörte die Glockenschläge von Heiliggeist. Zwei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr. Immer kurz danach folgten die gleichen Schläge der Jesuitenkirche.

Ich lag bewegungslos da und horchte. Nicht einmal die Nacht tröstete mit Vergessen. Selbst wenn man schlief, schlich sich das Vergangene permanent in die Träume.

Wenn ich die Augen schloss, lief immer dieser Film ab. All die schrecklichen Bilder, die ein Schaudern produzierten, gegen das ich mich nicht wehren konnte.

Tanjas warmer, atmender Körper brachte mich in die Gegenwart zurück. Ich strich über ihre Wange. Wie ähnlich sie Regina sah. Die gleichen glatten, braunen Haare. Das Grübchen im Kinn. Die kleinen Ohrläppchen. Über der rechten Augenbraue hatte sie eine kleine Narbe und sie trug Ohrringe. Kleine Herzen aus Koralle. Über dem Stuhl lagen ihre Kleider. Eine lila Latzhose, ein weißer Pullover mit einem aufgestickten Hasen. Sachen, die Regina für sie ausgesucht hatte.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Vorsichtig löste ich mich von dem Kind.

Mir war kalt. In letzter Zeit war mir immer kalt. Es war, als wäre mit Reginas Tod auch alle Wärme aus meinem Körper geflossen. Ich rieb meine Arme über den Schlafanzugärmeln, dann ging ich in die Küche und stellte Wasser für Tee und eine Wärmflasche auf. Yvonne hatte mir indischen Tee geschenkt. Ich löste einen Beutel aus der Verpackung und nahm meine Lieblingstasse aus dem Glasschrank.

Die Gedanken hämmerten in meinem Kopf. Ein Satz, den ich irgendwo gelesen hatte, kam mir in den Sinn:

„Es gibt eine Verantwortung, aus der ich nicht entlassen werden kann. Es ist die Verantwortung für die Spur, die durch mich im anderen gelegt wird.“

Ich nahm das kleine Rähmchen mit Reginas Bild in die Hand. Ich stellte es auf das Tischchen neben dem Fenster. Mit Tee und Wärmflasche setzte ich mich in meinen Lieblingssessel. Die Stille war mächtig. Sie zauberte eine Stimme in mein Ohr, die erst flüsternd und dann immer lauter wurde. Ich wandte mich ab, ging ans Fenster und sah in den schwarzen Himmel. Die Stimme drängte.

Ich wandte mich dem Regal zu, wo die CD lag, die ich in letzter Zeit immer wieder hörte. Die Lieder von Alexandra. Der warme, samtige Gesang brachte eine Schwingung in das Zimmer, die mir gut tat. Viele Male hatten Regina und ich die wunderbar gesungenen Texte gehört: „Mein Freund, der Baum“, „Zigeunerjunge“, „Sehnsucht“.

Ich lehnte in meinem Sessel. Im Ablagefach unter meinem Tischchen lag der Schreibblock und ein Mäppchen mit Stiften.

Die Stimme in meinem Kopf forderte. Und diesmal beugte ich mich dem Drängen, dem Versprechen, das ich meiner toten Freundin in einer kleinen Kirche auf einer einsamen Insel gegeben hatte.

Ich nahm einen Stift und den Block, und fing zu schreiben an.

Meine Gedanken trugen mich zurück … zurück … zurück.

Wir waren kleine Mädchen und unzertrennliche Freundinnen, seit Regina sich in der ersten Schulklasse neben mich gesetzt hatte. Sie war klein, sehr zierlich und ziemlich schüchtern. Ihre glatten braunen Haare waren stets ordentlich unter einem Haarreif aufgehoben.

Ich war das, was man ein Pummelchen nennt, mit kräftigen Oberarmen und rotbraunen Haarwuscheln, die zu keiner rechten Frisur taugten.

Man sah uns ständig zusammen. Jeden Morgen trafen wir uns für den Schulweg. Ich klingelte bei Regina. Ihre Mutter brachte sie an die Haustür. Dann schob sie uns beide an das kleine Weihwasserkesselchen unter einer Marienfigur direkt am Eingang, tauchte ihre Hand in das winzige Becken und zeichnete uns das Kreuz auf die Stirn. Jede bekam einen Apfel für die Schulpause zugesteckt. Wir machten uns auf den Weg und Frau Beringer blieb vor der Haustür stehen, bis wir uns an der Straßenecke umdrehten und winkten.

In meiner Erinnerung aus dieser Zeit sehe ich Reginas Mutter immer in einer ihrer bunten Kittelschürzen mit aufgekrempelten Blusenärmeln, die breiten Arme vor der Brust verschränkt, die Haare an der Seite mit großen Kämmen zurückgesteckt, auf der Haustreppe stehen.

Als wir in die zweite Klasse wechselten, kam mein Vater eines Tages nicht mehr nach Hause. Meine Mutter verließ kaum mehr die Wohnung. Sie stapelte im Badezimmerschränkchen kleine weiße Schachteln mit hellblauen Pillen, die ihre einzige Mahlzeit am Tag waren und die dafür sorgten, dass sie mir hin und wieder ein Lächeln schenkte. Wenn sie von meinem Vater sprach, kamen schlimme Worte aus ihrem Mund. Worte, die meinem Vater galten und einer anderen Frau, dieser „Schnalle“, die ihn uns weggenommen hatte.

Mein eigentliches Zuhause in dieser Zeit war Reginas Familie. Fast täglich ging ich nach der Schule mit zu meiner Freundin. Ich machte mit ihr die Hausaufgaben. Ich blieb über den Nachmittag hinaus und hoffte, dass Frau Beringer mich fragte, ob ich nicht auch zum Abendessen bleiben wollte.

Im Beringerhaus war es heimelig. Hier tanzten die blauen Gasflämmchen am Herd, in den Töpfen schmorte und dampfte es und wunderbare Gerüche, die Appetit machten, entstanden.

Reginas Mutter kochte wunderbare Sachen. Gerichte, die bei uns daheim nie auf dem Speiseplan standen. Da gab es Ofenschlupfer, Pfitzauf und Vanilläpfel. Auch Spätzle mit Linsen mochte ich sehr gern. An Festtagen gab es Hasenbraten, von dem ich aus Loyalität zu Regina, die sich weigerte Fleisch zu essen, auch nichts anrührte.

Hinter dem Haus, in einem Teil des weiträumigen Gartens, betrieb Reginas Vater im sogenannten Schopfen seine Kaninchenzucht. Dass die Kaninchen irgendwann in einem Bräter landeten, war für meine zartbesaitete Freundin ganz ungeheuerlich und sie weigerte sich, auch nur etwas von der Soße zu nehmen.

In den Sommern bekamen wir in der Julihitze ein gelbes Plastikschwimmbad aufgestellt. Wir halfen im Garten Johannisbeeren ernten und sahen zu, wie daraus dicker roter Saft wurde, den uns Frau Beringer in einer Glaskaraffe mit Sprudel verdünnt auf den Gartentisch stellte.

Ich erinnere mich an den Geruch von faulen Äpfeln und an den eigentümlichen Duft der gelben Tagetesblumen, die überall im Garten wuchsen. Im Herbst höhlten wir Kürbisse aus. Wir drapierten sie draußen neben das Treppengeländer, stellten Teelichter hinein und freuten uns an der gespenstischen Kulisse.

Ich spüre noch das warme Gefühl im Bauch, wenn uns Reginas Mutter in der kalten Jahreszeit Tee gab. Heiße, würzige Kräutermischungen aus wilder Kamille, Thymian und Beifuß, die wir mit Lindenblütenhonig gesüßt trinken mussten. Wenn sich Anzeichen einer Krankheit meldeten, wurden uns zusätzlich Kopfdampfbäder und Einreibungen verordnet. Das alles war gespickt mit aufmunternden, tröstenden Worten, dass schon alles gut werden würde.

Ich war ein Einzelkind. Regina hatte einen Bruder. Jürgen war zwei Jahre älter als wir. Ein blonder, bulliger Junge, der stets auf uns, zwei alberne, kichernde Mädchen, herabsah. Er interessierte sich für alles, was laut war und Motoren hatte, er zog uns an den Haaren, gab mit seinem Taschenmesser an, das er ständig in seiner Hosentasche trug und mit dem er überall herumschnitzte.

Reginas Mutter erlaubte uns, im Garten ein eigenes Beet zu bestellen. Wir pflanzten Feuerbohnen und schauten jeden Tag nach, ob sich die vergrabenen Samen schon zu Pflänzchen entwickelten. Als dann die Pflanzen größer wurden, erst schöne, rote Blüten und später richtige Bohnen daran wuchsen, waren wir mächtig stolz. Während Frau Beringer uns die Gartenpflanzen erklärte, zeigte uns Reginas Vater bei Ausflügen in den Wald die verschiedenen Bäume. Wir beobachteten von einem Hochstand aus Hirsche und Rehe. Es wurde Holz für den Kachelofen geschlagen und dann das eingepackte Vesper mit Apfelmost genossen.

Diese stille Atmosphäre, wenn wir manchmal mit Reginas Vater auf dem Hochsitz saßen, wo wir den Schrei des Eichelhähers hörten, das feste Hämmern eines Spechtes, und hin und wieder das geheimnisvolle Rascheln von irgendeinem Tier im Laub, ohne dass man etwas sehen konnte - all das hinterließ bleibende Eindrücke bei mir.

Reginas Vater war gelernter Uhrmacher. Aber die Zeit überholte ihn und seine Fertigkeiten. So kam es, dass er eine Anstellung bei den Stadtwerken bekam und in den Haushalten Zähler und Wasseruhren überprüfte. Seine Leidenschaft galt jedoch nach wie vor den kleinen tickenden Teilen.

Ich wunderte mich oft, wie seine Hände, die auch gut mit der Axt umgehen konnten, in der Lage waren, die feinsten Schräubchen und Federn zu halten. In einem Abteil vom Schopfen hatte er seine kleine Werkstatt. An den Wänden hingen alte Kuckucksuhren. Antike Standuhren lehnten in einer Ecke und es gab Schubladen voller Taschenuhren. In winzigen Fächern lagen Zeiger und Zifferblätter, leere Gehäuse, Spiralfedern und Deckeluhren zum Aufklappen, in denen eingravierte Worte standen.

Manchmal, wenn wir vor seiner Werkstatt Ball spielten oder herumtobten, rief er uns herein. Dann stellte er die Musik leise, die aus einem uralten, ausrangierten Radio kam. Er hielt uns eine Uhr an das Ohr und wir lauschten andächtig dem Ticken. Manchmal standen wir neben seinem mit Schachteln übersäten Arbeitstisch und sahen neugierig zu, wie er sich über ein altes Uhrwerk beugte und mit feinen Geräten daran arbeitete.

Einmal im Jahr fuhr er in eine Stadt zu einer Uhrenbörse, verkaufte Uhren und brachte wieder andere mit nach Hause. Frau Beringer nannte sein Revier wohlwollend seinen Kramladen, betrat aber nur selten die kleine Werkstatt im Schopfen.

Als wir zehn waren, endeten die Schultage in der Fröbelschule in Wieblingen. Wir besuchten ab jetzt die Realschule in der Heidelberger Altstadt.

Höhepunkte in diesen Jahren waren die Tanzstunden in der Tanzschule Nutzinger, unser Abschlussball in der Stadthalle und lange Sommernachmittage im Tiergartenschwimmbad.

Regina und ich erzählten einander alle unsere Jungmädchenträume, unsere Wünsche an das Leben, unsere Vorstellungen von der Liebe.

Wir lasen die „Bravo“ zusammen und beobachteten mit Verwunderung, welche Veränderungen mit unseren Körpern vorging. Was Jungen betraf, waren wir beide sehr zurückhaltend. Doch irgendwann tuschelten wir doch über die ersten intimen Erlebnisse, über heimliche Berührungen in der Schulturnhalle und später über die ersten Küsse in der „Tangente“, unserer Lieblingsdisco.

Nach dem Realschulabschluss gingen wir verschiedene Wege. Ich lernte den Beruf der Hotelkauffrau. Regina wollte Krankenschwester oder Arzthelferin werden.

Ich war neugierig auf die Welt und spielte mit dem Gedanken, nach meiner Ausbildung ein paar Jahre ins Ausland zu gehen. Ein Angebot lockte mich dann nach Interlaken. Dort, im „Bellevue“, einem der besten Hotels, das in der Mitte der Stadt direkt am Ufer der Aare lag, bekam ich die Chance, mich beruflich weiterzuentwickeln.

Regina wollte nicht weg, sie würde nur Heimweh bekommen. Nein, eine fremde Stadt und dann noch Ausland, das war nichts für sie.

Eines ihrer Lieblingskinderspiele war Krankenschwester gewesen. Sämtliche Puppen und Bären wurden in Reih und Glied gelegt und in Verbände gehüllt. Oft musste ich selber dran glauben und wurde an Armen und Beinen mit Binden und Klopapier umwickelt, bis es mir zuviel wurde und ich auf schnelle Genesung drängte.

Zu Regina passte ein Helferberuf. Sie war mitfühlend und konnte gut mit Kindern umgehen. In einer Kinderarztpraxis fand sie dann einen Ausbildungsplatz. Es war genau das, was sie gewollt hatte.

Bevor ich nach Interlaken aufbrach, versprachen wir einander, uns nicht aus den Augen zu verlieren. In einem kleinen Mineraliengeschäft in der Märzgasse kauften wir uns Anhänger aus Mondstein. Sie sollten symbolisch etwas besiegeln und sie sollten uns stets an unseren Schwur erinnern: An unsere Freundschaft für’s ganze Leben.

Als ich in Interlaken war, hielten wir uns regelmäßig auf dem Laufenden. Wir hatten die altmodische Leidenschaft, uns über viele Jahre Briefe und Gedichte zu schreiben. Manchmal telefonierten wir auch. Aus den Briefen erfuhr ich davon, wie Regina Martin kennenlernte:

„Ich habe wirklich mein Herz verloren. Er ist der netteste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Ich glaube, ich werde ihn heiraten. Wenn er mich will?“

Ein Jahr später war ich Reginas Trauzeugin. Die Trauung fand in einer kleinen Bergkirche in Schlierbach statt. Ich erinnere mich an die gelungene Ansprache des Pfarrers und an die tragenden Orgelklänge - diese schweren Resonanzen, die den Körper tief durchwühlten. Nach der Hochzeitsmesse gab es einen Fototermin und danach eine gemütliche Feier im damaligen Penta-Hotel.

Als ich Martin kennenlernte, war er mir gleich sympathisch. Ich verstand, dass Regina ihn anhimmelte. Er war groß, mit einem blonden Bürstenhaarschnitt. Auf seiner hellen Haut wimmelte es von Sommersprossen. Regina reichte ihm gerade bis zu den Schulten. Er wirkte wie jemand, der einem, egal in welch einer schwierigen Situation man war, aus der Patsche helfen würde.

Als Regina mich ihm vorstellte, nahm er mich spontan in den Arm und sagte:„Ich weiß, dass Regina mich liebt, aber einen Teil der Gefühle werde ich immer an dich abtreten müssen. Du bedeutest Regina sehr viel."

Nach der Trauung waren wir kurz in Reginas Haus. Es hatte sich so ergeben, dass das Nachbarhaus neben Beringers verkauft wurde. Martin und Regina hatten es zu einem günstigen Preis erstanden.

Zwei Jahre nach der Trauung hatten Regina und ich uns noch einmal in Basel getroffen. Martin, der leidenschaftlich Rennrad fuhr, besuchte dort eine Fahrradmesse. So hatten Regina und ich einen ganzen Tag Zeit füreinander.

Wir bummelten durch die Baseler Altstadt, saßen im Café und erzählten einander von unserem Alltag. Von Martin sprach Regina nur positiv. Ihre Augen strahlten, wenn sie ihn erwähnte. Ihr Leben verlief in ruhigen Bahnen und sie wünschte sich ein Kind. Bald darauf erfuhr ich von ihrer Schwangerschaft.

Eines Tages schickte sie mir eine Seite aus der Rhein-Neckar-Zeitung. Unter der Rubrik „Das Baby der Woche“ war Tanja abgebildet. Ein niedliches kleines Mädchen, das ein weißes Frotteejäckchen trug und eine bunte Rassel in der Hand hielt.

Nun hatte mir meine Freundin zwei Erfahrungen voraus, bei denen ich nicht so recht mitreden konnte: Die Ehe und die Mutterschaft.

Meine Arbeit im Hotel bot mir Gelegenheit, viele Menschen kennenzulernen. Wenn ich Nachtdienst an der Rezeption hatte, und der eine oder andere Typ alkoholisiert aus dem Nachtleben der Stadt zurückkam, gab es gelegentlich ziemlich vertrauliche Gespräche, in denen mir Menschen Dinge aus ihrem Leben mitteilten, die sie mir im nüchternen Zustand niemals anvertraut hätten.

Als ich ins „Excelsior“ wechselte, lernte ich Yvonne kennen, die im Hotel in der Kosmetikabteilung arbeitete. Wir freundeten uns an und hatten viel Spaß daran, uns über Gäste und ihre Marotten auszutauschen.

Eines Tages betrat ein Mann das Foyer, der mir sofort auffiel, weil er Ähnlichkeit mit meinem Lieblingsschauspieler Omar Sharif hatte. Ein paar Wochen vorher hatte ich mir erst den Film „Die Blumen des Koran“ angesehen, wo Sharif, den ich seit seiner legendären Dr. Schiwago-Verfilmung bewunderte, die Hauptrolle spielte.

Dieser Omar-Sharif-Typ lehnte sich an meinen Tresen, wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und sagte: „Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Und ich fuhr fort: „Leg’ deinen Schatten auf die Sonnenuhren.“ Und er sagte: „Und auf den Fluren lass’ die Winde los.“

Diese drei Sätze waren es, Anfänge von einem Rilke-Gedicht, die uns in ein Gespräch führten, das wir am gleichen Abend in einer Bar, vier Straßen weiter, fortführten.

Es war streng verboten, sich mit Gästen einzulassen. Trotzdem konnte ich mich dem Charme dieses Mannes nicht entziehen. Ich fand ihn sehr ungewöhnlich und sehr direkt. Er war Pharmavertreter, und da ich immer wieder unter heftigen Migräneattacken litt, versorgte er mich bald mit entsprechenden Tabletten und empfahl mir Ärzte. Sein Vertretungsbereich war die Region Basel - Interlaken. Auf seinen Geschäftsreisen quartierte er sich regelmäßig bei uns ein.

Max, so hieß er, war verheiratet und würde diese Bindung niemals aufgeben, das gab er mir bald zu verstehen. Gegen alle Vernunft verliebte ich mich heftig in ihn. Dieser Mann war neugierig auf mich und meine Ansichten. Ich glaube, er interessierte sich mehr für meine Gedanken als für meinen Körper. Und gerade deshalb hatten wir eine wunderbare Nähe. Max gab mir alles an Gefühlen, was ich brauchte: Zuwendung, Bewunderung und eine große Portion Beschützergeist.

„Warum sollte ich nicht zwei Frauen lieben können?“, war sein Credo.

Mein Verhältnis machte mich einerseits sehr glücklich und andererseits ratlos. Ich wollte es Regina nachmachen. Heiraten, Kinder bekommen. Mit Max schienen diese Zukunftsträume ein unerfüllbares Wunschdenken.

Meine leidigen Kopfschmerzen wuchsen sich zu einer richtig schlimmen Migräne aus, die mich immer öfter heimsuchte. Mein Job und meine Beziehung zu Max, die keine rechte Zukunft hatte, das alles schien mir auf einmal über den Kopf zu wachsen. Ich sehnte mich wieder nach mehr Freiraum und nach langen, klaren Tagen.

Vieles spukte mir im Kopf herum. Vor einer Weile hatte ich angefangen, Gedichte zu schreiben. Ein kleiner Verlag hatte einen Band mit meiner Lyrik unter dem Titel: „Was mich glücklich macht“ herausgebracht. Ich hatte Lust, da dranzubleiben, mich weiter in Wortmalerei zu üben, vielleicht sogar mal ein Buch zu schreiben. Und… ich sehnte mich nach meiner Heimatstadt Heidelberg und meiner Freundin Regina zurück.

So wagte ich den Sprung in ein neues Leben und kündigte meinen Job. Yvonne und mich verband in der Zwischenzeit eine echte Freundschaft. Auch sie wollte sich verändern, etwas Neues entdecken und trug sich mit dem Gedanken, ein eigenes Kosmetikgeschäft zu eröffnen. Ich schwärmte ihr von Heidelberg vor, bis ich sie soweit hatte, dass sie an mehrere Hotels, Kosmetikinstitute und Parfümerien eine Bewerbung schickte. Und wie durch ein Wunder klappte es sofort mit einem Angebot, einen kleinen Laden in der „Plöck“ in Heidelberg zu übernehmen.

Anfang Oktober kam ich zurück in die Stadt meiner Kindheit und Jugend, die nichts von ihrem Mythos eingebüßt hatte.

Yvonne und ich mieteten uns zunächst in einer kleinen Pension ein und gingen auf Wohnungssuche. Mit Hilfe eines Maklers fanden wir schnell etwas Passendes. Yvonne eine Wohnung in der Weststadt und ich hatte viel Glück mit einem kleinen Appartement, mitten unter den Dächern der Altstadt.

Nachdem ich in meiner Wohnung das Nötigste arrangiert und abgestellt hatte, verabredete ich mich mit Regina.

Wir trafen uns in unserem Lieblingscafé, dem „Schafheutle“. Wir bestellten Milchkaffee, unsere „Spezial-Torte“ und Zigaretten. Eigentlich rauchten wir beide nicht, aber es war so ein Ritual von uns, wenn wir ausgingen, Zigaretten zu paffen.

Ich war nicht überrascht, wie schnell wir wieder einen Draht zueinander hatten. So, als ob ich nicht die vielen Jahre weg gewesen wäre.

Regina erzählte mir von ihrem neuen Arbeitsplatz bei einem Internisten in Handschuhsheim, wo sie halbtags beschäftigt war. Und sie berichtete von Tanja. Wie es mit ihr in der ersten Schulklasse lief und dass die Lehrerin beim Elterngespräch gemeint habe, dass Tanja gut mit dem Stoff mitkomme, dass sie aufmerksam, aber sehr verschlossen sei.

Ich machte meiner Freundin Komplimente. Sie trug die Haare etwas länger als früher, war noch immer sehr schlank und grazil. Aus dem hellen Gesicht leuchteten ihre dunklen Augen wie reife, glänzende Kastanien. Immer wieder berührten und umarmten wir uns aus Freude, einander wiederzuhaben.

Ich erzählte ein wenig von Max. Dass ich nicht die ewige Geliebte sein wollte und mir anderes wünschte.

Regina berichtete von Martin, dass er Tanja liebevoll umsorgte, dass er mit seinem Job zufrieden war, vielleicht etwas zu viel geschäftlich unterwegs, aber da könne man eben nichts machen. Sie nutze die Zeit, um viel zu lesen, außerdem habe sie das Programm der Volkshochschule entdeckt und dort schon mehrere Kursangebote wahrgenommen.

Sie erzählte von einem Seminar im Elsass zum Thema „Mut zur eigenen Persönlichkeit“, an dem sie teilgenommen hatte. Und von einem Kochkurs bei einem ganz sympathischen Iraner. Ob wir uns nicht mal gemeinsam zu einem Kochkurs einschreiben wollten, schlug sie vor.

„Weißt du“, sagte sie und stützte ihr Kinn auf die Hand. „Vor einem Monat hab’ ich mich für was Neues eingeschrieben. So was mit Familienaufstellung, das ist total tiefgreifend. Aber das muss ich dir mal ganz in Ruhe und ausführlich erzählen.“

Als wir im Café bezahlten und sie ihren Geldbeutel aus ihrer Umhängetasche nahm, da steckte sie mir einen kleinen Zettel zu. „Guck’ mal, du liebst doch so was. Das hat mir Martin mal gegeben. Ich trage es seitdem immer bei mir. Er hat es aus einem Buch rausgeschrieben. Ich finde es so schön.“

Ich nahm den Zettel und las. Es war ein Gedicht von Matthias Claudius.

Die Liebe hemmet nicht.

Sie kennt nicht Tür noch Riegel.

Und dringt durch alles sich.

Sie ist ohn Anbeginn,

schlug ewig ihre Flügel.

Und schlägt sie ewiglich.

Anschließend gingen wir noch ins „Bistro Café“ und tranken ein Glas Sekt auf unser Wiedersehen. Wir betrachteten miteinander die ausgehängten Filmplakate. Regina schlug vor, beim nächsten Treffen zusammen ins Kino zu gehen.

Wir verabschiedeten uns. Ich umarmte sie. Ich roch flüchtig ihr Parfum. Der vertraute Duft von „Nonchalance“, das sie schon immer genommen hatte. Regina ging zum Bismarckplatz. Ich in Richtung Heiliggeistkirche. Ich sah ihr nach. Eine Frau in weißen Leinenhosen, offenen Sandalen, in einer mit kleinen Blüten bedruckten Bluse. Mit beschwingten Schritten, ihre Tasche über der Schulter, ging sie davon.

Auf Höhe des Kurpfälzischen Museums sah sie sich noch einmal um und warf mir eine Kusshand zu.

Ich war beschäftigt. Ich richtete meine kleine Wohnung ein. Es gab eine winzige Küche, und einen großzügigen Wohnraum mit Essecke. Mir gefiel die Aussicht auf eine Altstadtgasse und ich war begeistert, dass im Badezimmer eine Wanne stand.

Ein wenig gebrauchtes Mobiliar, ein paar neu erstandene Ikea-Regale, eine bequeme Polsterlandschaft und ein Kragensessel waren die Grundelemente meiner Einrichtung. Auf dem Boden lag ein handgewebter Schafwollteppich.

Über dem Esstisch hatte ich zwei Leuchten mit einem Scherengitter angebracht, sodass man sie, je nach Bedarf, auseinander ziehen konnte.

An den Fenstern leuchteten bunte Raffrollos. Ich legte keinen Wert auf Exklusivität. Es war ein gewagter Mix aus Holz, Bambus und hellem Lack. Durch einen aprikotfarbigen Anstrich bekam der Wohnraum eine sonnig getönte Struktur und eine behagliche Ausstrahlung. Hier hatte ich mir auch eine kleine Schreibecke eingerichtet.

In meinem kleinen Schlafrefugium stand ein rustikales Eisenbett mit einer wunderschönen Patchworkdecke, eine Kommode, die durch verschiedenfarbige Schubladen bestach und eine Schrankwand, deren Türen wie mit Grastapete bespannt aussahen.

Eine Menge Grünpflanzen und meine geliebten Orchideen vervollständigten das Ambiente. An den Wänden hatte ich eine Galerie von Schnappschüssen und Monet-Drucken drapiert.

Von zwei Fenstern aus sah ich auf ein Spitzdach und einen riesigen Ahornbaum. Grün mit ersten goldenen Akzenten reckte er sich in die Höhe. Sein ausladendes Blätterdach assoziierte ich irgendwie mit Schutz, seinen festen, geraden Stamm mit Beständigkeit und Kraft.

Damit ich mich nicht so allein fühlte, erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch. Ich wollte schon immer gerne eine Katze haben. So beschloss ich, einem Kätzchen aus dem Tierheim ein Zuhause zu bieten. Ich verliebte mich in ein Katerchen. Klein, sehr anschmiegsam, unauffällig grau gemustert.

Ich ging mit meinem Schatz nach Hause und überlegte mir einen Namen. Am Abend, als wir miteinander im Sessel saßen und einander kennenlernten, lief ein Film mit einem meiner Lieblingsschauspieler, Jean Paul Belmondo. So taufte ich den Kater kurzerhand auf den Namen Belmondo.

Am nächsten Tag rief ich bei Regina an. Ich wollte ihr einfach sagen, wie froh ich war, dass wir gleich wieder so einen Draht zueinander hatten. Das Telefon nahm Tanja ab. Nein, die Mama sei nicht da, sagte das Stimmchen. „Mama ist in einem Seminar.“

„Ich bin die Claudia“, stellte ich mich vor. „Weißt du denn, wer ich bin?“

„Ja, du bist die Freundin von der Mama, die weg war.“ „Ja, ich bin Mamas beste Freundin. Dann werden wir uns bestimmt bald sehen.“ „Hm“, sagte sie und nach einem Zögern. „Ich geh’ jetzt aber ins Krankenhaus.“ „Bist du krank, was hast du denn?“, fragte ich. „Mandelentzündung und Dr. Wendt hat gesagt, die müssen jetzt raus.“ „Puh, das hatte ich auch mal, als ich klein war.“ „Mama hat gesagt, danach gibt es viel Eis.“ „Du, das stimmt, das kühlt und tut gut. Also Tanja, ich drück’ dir den Daumen.“ „Gut“, meinte das Stimmchen. Ich erinnere mich, dass ich danach noch lange am Fenster stand. Tanjas Stimme hatte so etwas Zaghaftes.

Darüber dachte ich nach.

Meine neuen Räume waren wohnlich gemacht, das Nest hergerichtet. Jetzt wollte ich mich dem Schreiben widmen und mein neues Leben mit einer größeren Freiheit beginnen. Meine Mutter, die vor drei Jahren gestorben war, hatte mir ein wenig Geld hinterlassen, dazu hatte ich selbst einiges gespart. Es musste genügen, um mir ein Jahr Auszeit zu garantieren. Falls es nicht so laufen sollte, hatte ich die Option, im „Nassauer Hof“ zu jobben. Irgendwie würde ich mich schon über Wasser halten.

Mit euphorischen Gefühlen machte ich einen ersten langen Spaziergang über die Hirschgasse in den Wald hinauf und dann den Philosophenweg entlang. Dort oben setzte ich mich auf meine Lieblingsbank und genoss den Blick auf die Stadt, die im Glanz der Oktobersonne vor mir lag. Ich war angekommen und war kribbelig und voller Neugier, wie sich die nächsten Monate gestalten würden.

Über den Schlangenweg lief ich abwärts zur „Alten Brücke“. Inmitten eines Pulks japanischer Touristen stand eine Braut in cremefarbener Robe aus Taft und posierte für den Fotografen. Ja, das war meine Stadt.

Neugierig schlenderte ich umher und betrachtete alles so, als erlebte ich es zum ersten Mal. Die Jahre hatten weder das Schloss, noch den Fluss, noch die Plätze verändert. Was ich vermisste, waren die altvertrauten Läden und Geschäfte.

Jetzt lockten in der Hauptstraße Warenhausketten und Billigangebote, Fast Food und die vielen Coffeeshops und Handy-Läden.

Drüben, auf der anderen Seite des Neckars, war alles beim Alten. Das grüne Neckarvorland, die Schwäne an der Wasserschachtel, das Restaurantschiff, das nachts mit einer Galerie von blauen Lämpchen Gäste anlockte.

Ich blieb auf einer Bank sitzen, bis die Dämmerung hereinbrach, erfüllt von einem ruhigen Glück und einer heftigen Vorfreude auf die Zukunft.

Während ich mich in dem Wohlgefühl räkelte, meinem Leben eine neue Wendung gegeben zu haben, geschah mit Regina so Schreckliches, dass es mich und eine ganze Stadt erschüttern sollte.

An diesem Dienstag stand ich erst gegen neun unter der Dusche.

Als ich meinen Tee überbrühte und Toastscheiben mit Orangenmarmelade auf einen Teller stapelte, liefen im Radio gerade die Regionalnachrichten. Ich verließ den Raum, um in der Zeit, bis der Tee gezogen war, im Schlafzimmer ein paar Kleidungsstücke aufzuräumen.

Diese wenigen Minuten waren eine besondere Zeit. Eine kleine Frist vor dem Einschlag eines Meteroiten in meinen ruhigen Tagesablauf. Die Wirklichkeit, die sich schon längst verändert hatte, fühlte sich für mich noch leicht und gestaltbar an.

Ich drückte mein Gesicht in einen gelben Kaschmirpullover, den mir Max einmal geschenkt hatte, und vor mir stand das Bild dieses Abends.

Eine heftige Sehnsucht nach Max ergriff mich, ein Gefühl der Wehmut und Melancholie. Ich meinte, die Haut meines Geliebten zu fühlen, seine Stimme zu hören, die Zärtlichkeiten flüsterte. Das zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich sah dieses Lächeln noch im Spiegel, den meine Augen streiften, als ich zum Telefon ging, weil es läutete.

Yvonne war dran. Sie wollte sich mit mir treffen. Unser Gespräch war so gut wie beendet, meine Hand schon auf halbem Weg den Hörer aufzulegen, da sagte sie: „Ach, Claudia, hast du das gehört? Gerade in den Radiomeldungen? Da ist ein Mord passiert. Ganz seltsame Geschichte. Die Leiche hat man in einer Kühltruhe gefunden. Makaber, hm?“

Ich kann mich an meine Antwort nicht mehr genau erinnern, aber sie hörte sich etwa so an: „Selbst hier gibt es Verbrechen, romantische Stadt hin oder her.“

Ich fragte noch, wie Yvonne in ihrer Wohnung vorankomme. Sie hatte einen Maler bestellt, der die Wände in kräftigen Farben lasierte und sie schwärmte davon, wie schön alles werde. Wir beendeten das Gespräch und ich kehrte zu meinem Tee zurück. Belmondo kam auf meinen Schoß und ich kraulte ihn zwischen den kleinen Ohren, was er ganz besonders genoss.

Die Regionalnachrichten wurden wiederholt. Zu der toten Frau in der Tiefkühltruhe eine Straße benannt. Ich stellte meine Tasse abrupt auf den Unterteller, sodass Bemondo erschrocken heruntersprang. Diese Straße, das war die Straße, in der Regina wohnte.

Mich beschlich ein unsägliches Gefühl, das sich langsam von der Peripherie mitten in mein Herz schob.

Ich rannte die Treppe hinunter, um aus dem Briefkasten die Tageszeitung zu holen. Und in diesen wenigen Minuten, in denen alles noch möglich war, wo ein winziges Detail einem erleichterten Aufseufzen hätte Platz machen können, in dieser Zeit, als mein Verstand noch nichts wusste, stiegen schon Tränen in meine Augen. Allein die Möglichkeit, dass…, konnte einen verrückt machen.

Noch auf der Treppe blätterte ich, las ein paar Überschriften, stolperte, riss fast einen Mann um, der mir entgegenkam. Dann breitete ich die Zeitung auf meinem Esstisch aus. Die Buchstaben verschwammen hinter einem Wasserschleier. Als große Überschrift stand da: „Gewaltverbrechen in Heidelberg.“ Ein Haus war abgebildet, von einer dreißigjährigen Frau wurde geschrieben, von einem dreiunddreißigjährigen Mann.

Ein Film entwickelte sich in meinem Kopf, eine Reihe gelebter Bilder, die im Zeitraffertempo vorbeizogen.

Ich setzte mich auf einen Stuhl, die Zeitungsblätter sanken auf meinen Schoß. Hastig, mit anwachsendem Herzklopfen überflog ich die Seite. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich trank einen Schluck lauwarmen Tee und las den Artikel weiter. Das Katerchen maunzte und wollte wieder zurück auf seinen Platz auf meinem Schoß. Ich nahm ihn hoch und wandte mich erneut dem Bericht zu.

Da stand, dass bei der Polizei am Freitagabend gegen 22 Uhr ein Anruf eingegangen war, wobei ein Mann mitteilte, er habe soeben die Leiche seiner Frau in der eigenen Tiefkühltruhe entdeckt. Ich schluckte. Ich steckte meinen Kopf in Belmondos Fell und stellte mir das vor. Ein menschlicher Körper zwischen Eingefrorenem. Welch ein Horror!

Dieses Bild brannte sich in meinem Kopf ein. Die Hand vor der Brust, als müsse ich mich vor weiteren Details schützen, flogen meine Augen über die folgenden Sätze.

„Als die Polizei eintraf, stand der Mann der Toten, der völlig aufgelöste M. K., auf der Straße und führte die Polizei in die Wohnung. Dort, im Hauswirtschaftsraum, fand die Polizei in der geöffneten Kühltruhe die tote R. K. Ihr Mann, M. K., wurde wegen Mordverdachts festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht.“

Ich ließ die Zeitung los und starrte vor mich hin. Wie lange ich so wie in Trance saß, kann ich nicht sagen. Schließlich wurde Belmondo ungeduldig und löste sich aus meinen Armen. Als ich so weit war, um reden zu können, rief ich Yvonne wieder an. Meine Worte überschlugen sich förmlich, so schnell erzählte ich ihr unter Schluchzen, dass alles darauf hindeute, dass die Tote meine Freundin Regina sei.

„Das erklärt sich vielleicht ganz anders Claudia. Jetzt mach mal langsam.“ „Yvonne, das ist die Straße. Da ist das Haus. Da stimmen die Anfangsbuchstaben vom Namen. Da ist das Alter. Es ist Regina“, beharrte ich.

In der Stille nach meinem Ausbruch hörte ich Yvonne atmen. Sie bot sich an, vorbei zu kommen. Ich redete ihr das aus. Ich wollte erst einmal allein sein.

Ich lief in der Wohnung hin und her. Hin und her. Die Vorstellung war nicht zu ertragen, dass Regina tot sein sollte. Dass jemand sie umgebracht hatte. Auf welch makabere Weise man sie gefunden hatte.

Von einem Moment zum anderen hatte das Leben seinen Geschmack verloren. Alles war anders und würde nie wieder umkehrbar sein.

Das Aufleuchten neuer Tage war nun mit Bitterkeit verdorben. Mein Verstand weigerte sich anzuerkennen, dass unter dem normalen Alltag so etwas Zerstörerisches wie dieses Verbrechen lauern konnte.

Die Beringers einfach anzurufen, um Näheres zu erfragen, erschien mir in diesem Moment ganz unmöglich. Ich erinnerte mich an eine Nachbarin, Frau Kosanke. Jemand, der stets über alles Geschehen in der Straße auf dem Laufenden war. Ich wählte ihre Nummer und stellte mich kurz vor. „Ja, ich erinnere mich an dich. Du bist die kleine Rote. Ich kann mir denken, warum du anrufst.“

Ich hörte, wie sie sich die Nase schneuzte. „Entschuldige Claudia, nicht wahr, so heißt du doch? Aber das, was hier passiert ist, das bringt einen ja nun wirklich aus der Fassung. Claudia, bist du noch dran? Die Leute bleiben auf der Straße stehen und reden. Man ist einfach fertig. Glaub’ nicht, dass wir viel mehr wissen als das, was in der Zeitung steht. Aber die Leute zerreißen sich das Maul. Du weißt ja, wie das ist. Gerade weil man nichts weiß, gibt es die haarsträubendsten Spekulationen.“

Ich hörte die Kosanke reden und mir war, als würde mein Herz in einen tiefen Schacht fallen. Ich atmete. Regina war tot.

„Du wirst doch sicher mal rauskommen, Claudia, zu den Beringers? Ich meine, du warst doch immer mit dabei.“

Ich weiß nicht mehr, wie ich das Gespräch beendete; danach setze ich mich vor dem Telefon auf den Boden.

Durch das Fensterglas drang helles Sonnenlicht herein. Ich saß da und wartete, als müsste doch jetzt endlich klar werden, dass das alles ein blöder Alptraum war. Aber es gab einfach kein erlösendes Aufwachen.

Irgendwann brachte ich es fertig, mich wieder zu erheben.

Ich trinke selten Alkohol. Aber als es dunkel wurde, entkorkte ich eine Flasche Rotwein. Ich öffnete das Fenster und stellte eine Kerze auf die Fensterbank. Die Flamme zuckte und tanzte in der Zugluft. Ich sah, wie sie darum kämpfte, vom Wind nicht ausgelöscht zu werden

Ich blieb sitzen, bis die Kerze heruntergebrannt und die Rotweinflasche leer war.