Luise Göbl

DIE SCHNEEKUGEL

Mit Illustrationen

von

Luise Göbl

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 1

Vor Kurzem begann es –heute wendet sich das Interesse jedes einzelnen Menschen dem Wetter zu.

Es ist schrecklich. Man könnte es sogar fast als Naturkatastrophe bezeichnen. Tausende von Menschen erblindeten qualvoll in den Gletschern, was den Grund hat, dass mit einem Mal rund um die Uhr ein plötzlicher Wechsel zwischen Ultraviolett und Infrarot stattfindet. Ich frage mich selbst, wie so etwas bloß passieren kann. Nicht, dass viele Menschen in den Gletschern erblinden, sondern, dass Infrarot und Ultraviolett sich ständig abwechseln! Wie kann das möglich sein? Ich wette, so ein Ereignis hat es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben!

Um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht genau, ob es stimmt, dass sich Infrarot und Ultraviolett ständig abwechseln, aber viele Wissenschaftler haben Forschungen angestellt, und obwohl sie nicht zusammengearbeitet haben, sind sie alle zum gleichen Ergebnis gekommen! Fast unglaublich! Man könnte natürlich sagen, dass das reiner Zufall ist, so wie es Zufall sein kann, dass jeder Schüler die Matheschularbeit alleine schreibt, trotzdem aber alle zum gleichen – falschen – Ergebnis kommen. Ich vergleiche diese Vorgänge deshalb mit einer Matheschularbeit, weil man auch hier viel rechnen muss, wenn man zum Beispiel wissen will, mit welchem Wetter man zu rechnen hat.

Ich glaube, dass für ein solches Forschungsergebnis aber auch exakte Beobachtung vonnöten ist. Man kann bei der Schularbeit zum Beispiel nie gewissenhaft zum richtigen Ergebnis kommen, wenn man die Angabe falsch liest oder wenn man nicht weiß, was man mit Zahlen anfangen kann oder was Zahlen überhaupt sind. Es ist also ein Muss, zu beobachten, was sich abspielt, um zu einem Ergebnis, und noch dazu dem richtigen Ergebnis, zu kommen. Es gehört eben auch ein bestimmtes Wissen dazu, um mit den Beobachtungen etwas anfangen zu können – genauso, wie ich Rechenzeichen kennen muss, wie ich verstehen muss, wie man mit ihnen umgeht, wenn ich Zahlen vor mir geschrieben sehe. Es ist aber trotzdem einfacher zu begreifen, wie man mit Rechenzeichen umgeht als wie man mit Beobachtungen des Wetters und des Klimas umgeht. Mathe ist eben Allgemeinbildung; das Wetter richtig zu berechnen und daraus Schlüsse zu ziehen, ist eher nicht „allgemein“, sondern bezieht sich auf ein Fachgebiet.

Ohne zu wissen wieso, stehe ich in einer Schicht Schnee, die mir sogar bis zu den Knien reicht, obwohl sich vor einer Sekunde dort gerade noch warme Luft befunden hat! Hört sich für des Menschen Ohr zwar vielleicht komisch und unrealistisch an, ist aber realistisch und anscheinend tatsächlich Realität geworden. Das ist einer der Gründe, wieso zum Beispiel die Wetternachrichten aufgelassen worden sind. Das Wissen der Forscher und Wissenschaftler reicht nicht über solche Naturereignisse hinaus. Logik ist seit Kurzem nicht mehr gefragt, sondern das, was sich hier abspielt, steht nun im Mittelpunkt. Kein anderes Thema konkurriert zurzeit mit diesem. Niemand weiß mehr über das Wetter der nächsten Minute Bescheid. Das Einzige, was jeder weiß, ist, dass der jeweilige Wetterstand nur immer ungefähr eine Minute aktuell bleibt.

Seltsam: Es schien, als ob das Wetter einmal versehentlich seine zeitliche Begrenzung missachtet hätte, denn einmal blieb der Wetterstand eine ganze Stunde über derselbe! Aber dieser war auch nicht besonders schön, da sich unter dem Hauch Schnee, den man erblicken konnte, eine polarisch-eiskalte und noch dazu extra harte und rutschige Eisschicht verbarg. Währenddessen wehte ein starker Wind, der zwar nur halb so eisig war wie die Eisschicht selbst, doch aber die Macht besaß, sämtliche Gegenstände, und ebenso auch Lebewesen, vom Erdboden zu heben und sie an einem anderen Ort wieder abzusetzen. Und trotz dieser wilden Wetterkapriolen schien die Sonne.

Diese Stunde war, was das Wetter betrifft, die ärgste Stunde, die ich bisher erlebt habe. Dieses Datum werde ich nie vergessen! Ich werde zwar auch diese lange Zeitspanne des Geschehens nicht vergessen, aber der 18. Mai ruft ganz besondere Erinnerungen in meinem Kopf wach. Nicht unbedingt wirklich positive, sondern solche, die mich etwas schrecken, aber auch gleichzeitig faszinieren. Vielleicht ist es eine Strafe oder auch ein Geschenk, dass ich zu dieser Zeit lebe beziehungsweise zu dieser Zeit leben darf. Es ist zwar eine Katastrophe, aber auch ein Ereignis – viele Erlebnisse werden in die Geschichte eingehen. Es wird nicht jeder Name in einem Buch genannt werden, aber dadurch, dass diese Phase in die Geschichte eingeht, werden sich viele daran erinnern, und an sie zurückdenken. Sie kennen uns zwar nicht namentlich, aber später wird man vielleicht wissen, was genau es mit diesem Ereignis auf sich hatte, wenn es überhaupt ein Später gibt. Und selbst wenn man sich nicht mehr in diese Lage einfühlen wird können, so kann man doch sagen und so wird auch jeder wissen, wie es uns, den Menschen, die derzeit auf der Welt sind, ergangen ist. Und somit wird jeder wissen, auch wenn keiner eine genaue Zahl nennen kann, dass wir Menschen existiert haben und manche es vielleicht auch noch weiter tun werden.

Als mich meine Gedanken wieder in die damalige Gegenwart zurückführten, erkannte ich sofort den ehemals aktuellen Wetterstand. Dabei handelte es sich, nicht sehr erfreulich anzusehen, um einen Wechsel von Nebel zu… anscheinend zu einem Hagelsturm. Ich ging ins Haus, denn ich wollte nicht ganz mit blauen Flecken übersät sein, wo dieses Grauen doch erst vor Kurzem begonnen hatte. In solchen Fällen hoffte ich, dass das Wetter sofort wieder wechseln würde, aber das war, wie jetzt auch, eindeutig nicht zu erwarten.

Die lange Liste der Nachteilelässt sich noch ein bisschen ergänzen, so hat man absolut keine Ahnung, wie man sich kleiden soll. Zieht man sich zum Beispiel für den kältesten Wintertag mit -50°C an, stirbt man in der nächsten Minute an einem Hitzeschlag, wie er einen sonst nur in der Wüste trifft, und umgekehrt. Die einzig vernünftige Möglichkeit, die auch nicht besonders gut und schlau ist, ist also, ein langärmliges T-Shirt, lange Jeans, Unterhose und Socken zu tragen. Viele weitere Kleidungsstücke bringen es nicht wirklich.

Ich wollte immer schon einmal ein Abenteuer erleben, doch da es nun nach lang ersehnter Zeit da ist, ist es schon fast wieder uninteressant. Meine Schuld. Aber damit ich einst nicht in Traurigkeit versinken muss, weil ich mich nicht ins Abenteuer hineingestürzt habe, werde ich es wohl tun. So eine Möglichkeit kommt sicher nicht so schnell noch einmal.

Kapitel 2

Gleich in der Früh, am nächsten Tag, aß und trank ich so viel ich konnte, denn ich wollte mich gleich auf die Reise begeben. Ich stand schon auf, bevor alle anderen meiner Familie wach waren, denn sonst hätte ich nie so viel zu essen bekommen. Damit ich aber so früh am Morgen aufstehen konnte, musste ich mir einen Wecker stellen. Ich hatte also am Vortag Mamas Wecker geklaut und war zeitig schlafen gegangen. Das Geläute hätte so und so niemanden aufgeweckt, da ich ein gut verschlossenes Zimmer für mich alleinhabe, damit ich ja niemanden stören kann. Dass ich ein eigenes Zimmer habe, ist ganz schön cool, denn meine Familie findet es ohnehin nur verschwendete Zeit, in mein Zimmer zu kommen und mich zu stören.

Als der Wecker mich geweckt hatte, machte ich mich abmarschbereit. Als ich endgültig fertig war, stellte ich ihn so ein, dass ich genügend Zeit hatte, um von hier ein paar Häuser weiter weg zu kommen. Dann gab ich ihn in Mamas Zimmer und verließ das Haus, natürlich mit einer gut gepackten Tasche.

Darin befanden sich: viel zu essen, frische Anziehsachen, ein Schlafsack und ein Erste-Hilfe-Paket mit allem Nötigen, in das ich auch andere „Überlebenshilfen“ hineingegeben hatte. Und damit ich auf Nummer sicher gehen konnte, dass die Reise nicht zur schlimmsten in meinem Leben würde, zog ich meine Lieblingsjeans und mein Lieblingsleibchen an. Was sich außerdem in meiner Tasche befand, was natürlich auch sehr wichtig war, da ich nicht schon beim ersten Gletscher mein Augenlicht verlieren wollte, das ich selbstverständlich mein ganzes Leben behalten wollte, war Mamas alte Gletscherbrille, die ich im Gerümpelhaufen ihres Zimmers – oder besser: im Gerümpelhaufen, der ihr Zimmer ist, gefunden hatte. Ich hatte darin schon am Vortag gekramt, denn sonst wäre sie aufgewacht und hätte mich gefragt, wohin des Weges ich denn ginge, was ich in ihrem Zimmer zu suchen hatte, warum ihr Wecker nicht da war, und hätte das Gespräch mit dem Satz: „Scher dich raus hier“ beendet.

Mama würde es wahrscheinlich nicht stören, dass ich ihre Brille genommen hatte, da man in ihrem Zimmer, aufgrund der tollen Ordnung, nicht erkennen konnte, ob etwas fehlte. Sie hatte die Gletscherbrille eh nie benutzt. Und es würde sie am allerwahrscheinlichsten auch nicht stören, dass ich jetzt fortging, denn sie war alles andere als eine Mutter, die so fürsorglich und lieb ist, dass man auch nie nur einen Kratzer abbekam. Nein! Ich hatte das Gefühl, dass sie mich sowieso am liebsten losgeworden wäre. Und heute war der Tag, an dem ich ihr den Gefallen erwies. Heute war der Tag, ab dem sie für ein Kind weniger zahlen musste, was für sie pro Woche hin oder her nur 1-2 € ausmachte, also war ich schon immer ziemlich auf mich allein gestellt gewesen. Es gab allerdings eine Person, ohne die ich schon lange nicht mehr am Leben wäre. Sie hieß Lucy.

Ich ging nun durch die Stadt und hielt Ausschau nach Häusern, die schon von innen beleuchtet waren. Ich mochte es nämlich nicht besonders, alleine zu reisen, und mein erstes Ziel war, jemanden zu finden, der auf meine Reise mitkommen wollte. Dann noch motiviert zu bleiben, war nicht einfach, denn eine weitere halbe Stunde später hatten alle, die ich genauestens darüber informiert hatte, was mein Plan war, abgelehnt. Man muss ja aber auch leider dazusagen, dass ich nicht den allerbesten Ruf in der Stadt besaß.

Ich hatte wie schon erwartet ein wenig das Gefühl, dass alle lieber hierbleiben als versuchen wollten, den Wetterwechsel zu stoppen. In unserer Stadt meinten anscheinend immer noch alle, dass sie sich faul in den Lehnstuhl vor den Kamin setzen konnten und dass, während sie noch einen heißen Kakao genossen, irgendjemand den Grund herausfinden würde und sie sich nicht darum zu kümmern brauchten, das Unheil wieder in Ordnung zu bringen. Doch diesen Gedanken riefen sie sich in ihrer Angst nur herbei, damit sie ruhig bleiben konnten. So dachte ich zumindest damals. Ich machte mir viele Gedanken. Über alles. Damit ich mehr wusste als die anderen Leute und endlich einmal auf gleiche Ebene mit den anderen gestellt würde. Doch es war so gut wie klar, dass ich davon nur träumen konnte.