Jennifer Bell

Izzy Sparrow

Die Geheimnisse von Lundinor

Aus dem Englischen von
Wieland Freund und Andrea Wandel

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Jennifer Bell
lebt in London und arbeitete als Buchhändlerin, bevor sie
anfing, selbst Bücher zu schreiben. Die Idee für »Izzy Sparrow
und die Geheimnisse von Lundinor« kam ihr, als sie für den Urlaub
packte und sich wünschte, einfach in ihren Koffer zu kriechen und
an ihrem Urlaubsziel wieder herauszukommen. Mit dem Schreiben
von Kinderbüchern kann sie sich in fremde Welten davonträumen
und muss nie erwachsen werden, ganz so wie
Peter Pan, dessen Geschichten sie am liebsten liest.

 

 

 

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1. Auflage 2017
Für die deutsche Ausgabe:
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017
Alle Rechte vorbehalten
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Uncommoners – The Crooked Sixpence«
Copyright © Jennifer Bell, 2016
erschienen bei: Corgi Books, London 2016
Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel
Umschlagillustration: Timo Grubing
ISBN 978-3-401-80678-5

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Für Mum und Beth, die Heldinnen meiner Geschichte

1

Izzy schwankte, als sich der Krankenwagen in die Kurve legte. Im Inneren klapperte es überall.

»Also gut«, sagte der Sanitäter und sah von seinem Klemmbrett auf. Er war ein kahlköpfiger Mann mit verblassten Tattoos, die sich seine Unterarme hinaufwanden. »Wie heißt du?«

»Isabelle Elizabeth Sparrow«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen und tappte mit ihren gelben Gummistiefeln auf den Boden. Es war so schwül; sie brauchte frische Luft. Sie blickte über die Schulter des Sanitäters und fragte sich, ob sie ihn vielleicht bitten könnte, eines dieser verdunkelten Fenster aufzumachen. In der spiegelnden Scheibe konnte sie ihre krausen braunen Locken wippen sehen, noch ungebändigter als sonst.

Der Sanitäter notierte ihren Namen auf dem Klemmbrett und wandte sich zum hinteren Teil des Fahrzeugs um. »Und du?«

Am anderen Ende der Bank saß, breitbeinig und nach vorn gebeugt, ein Junge in einem grauen Kapuzenpullover mit dem Bandlogo von The Ripz. Das blonde Haar hing ihm in die Augen, aber Izzy wusste, dass er sie anfunkelte.

»Seb«, antwortete der Junge knapp. »Ich bin ihr Bruder.«

Der Sanitäter grinste, als er den Namen aufschrieb.

Izzy versuchte, Seb aus ihren Gedanken zu drängen. Das war alles seine Schuld.

Sie beugte sich zur Trage vor und griff nach Grandma Sylvies Hand. Sie fühlte sich weicher an als sonst. Über die Brust ihrer Grandma waren Klettverschluss-Gurte geschlungen, eine Halskrause stützte ihren Hals und eine beschlagene Sauerstoffmaske bedeckte ihre Nase und ihren Mund. Noch nie hatte ihre Grandma so zerbrechlich gewirkt.

»Wie alt seid ihr?«, fragte der Sanitäter weiter.

»Elf«, antwortete Izzy und rutschte noch ein wenig näher an Grandma Sylvie heran.

»Ich bin sechzehn«, sagte Seb mit tiefer Stimme.

Izzy runzelte die Stirn und musterte ihn schräg von der Seite. Er war letzten Monat erst vierzehn geworden.

»Na gut.« Die Gesichtszüge des Sanitäters wurden weicher. »Ich verstehe, dass ihr beunruhigt seid – aber wenn ihr eurer Oma helfen wollt, ist es das Beste, Ruhe zu bewahren. Wenn wir ins Krankenhaus kommen, bringen wir sie in die Notaufnahme, damit der Doktor sie sich genau ansehen kann, und dann muss sie vielleicht operiert werden und für eine Weile im Krankenhaus bleiben.«

Izzy verzog das Gesicht.

Sie wusste nur von einem Mal, das Grandma Sylvie über Nacht im Krankenhaus geblieben war – alle wussten davon –, aber das war noch vor der Geburt von Izzys Vater gewesen. »Wissen Sie, was sie hat?«, fragte sie.

Der Sanitäter runzelte die Stirn. »Ich glaube, sie könnte sich die Hüfte gebrochen haben und wahrscheinlich auch das Handgelenk, aber Gewissheit haben wir erst, wenn wir das Röntgenbild gesehen haben.«

Izzy streichelte Grandma Sylvies Hand und fragte sich, ob sie damals auch einen Knochenbruch gehabt hatte. Wahrscheinlich. Sie hatte in einem schweren Schneesturm einen Autounfall gehabt und war tagelang ohne Bewusstsein gewesen; als sie schließlich aufwachte, konnte sie sich weder an den Unfall noch an irgendetwas davor erinnern. Retrograde Amnesie nannten die Ärzte das. Die Polizei kannte nur deshalb ihren Namen, weil sie eine Halskette mit einem Anhänger trug, in dem Sylvie eingraviert war. Izzy kannte das genaue Datum des Unfalls, weil sie so oft darüber sprachen: 5. Januar 1969. Dreikönigstag.

»Bevor wir im Krankenhaus ankommen«, sagte der Sanitäter, »muss ich genau wissen, was passiert ist.« Er sah auf seine Uhr. »Es ist fast halb neun, also muss sich der Sturz ungefähr um Viertel vor acht ereignet haben. Kommt das hin? Und ihr sagt, sie ist in der Küche ausgerutscht, während ihr beide nebenan wart …?«

Izzy stellte sich vor, wie Grandma Sylvie das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken fiel, die Beine in der Luft wie ein umgedrehter Käfer. Wenn sie nur da gewesen wäre, um zu helfen.

Seb schluckte. »Sie hat Minzpasteten gebacken. Wir haben sie schreien gehört.«

Weil sie noch lauter geschrien hat als wir, dachte Izzy. Sie schaute ihren Bruder zerknirscht an. Sie hatten sich wegen des dämlichen Posters von The Ripz gestritten, das er zu Weihnachten bekommen hatte – Izzy hatte aus Versehen Orangensaft darüber verschüttet. Wenn er sie nicht angebrüllt hätte, wären sie vielleicht früher bei Grandma Sylvie gewesen.

Der Sanitäter legte seinen Kuli auf das Klemmbrett. »Okay, das wird reichen. Könnt ihr eure Mum und euren Dad erreichen?«

Izzy seufzte. Schön wär’s. Sie wünschte sich mehr als alles andere, ihre Eltern wären jetzt da.

»Ich hab ihnen eine SMS geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen«, sagte Seb. »Ich versuche, sie anzurufen, sobald wir im Krankenhaus sind. Vielleicht erwischen wir Mum, bevor ihre Schicht anfängt.«

Izzy hatte sich gestern Morgen von ihrer Mum verabschiedet. Wenn sie jetzt da wäre, hätte sie in die Hände geklatscht und dieses Chaos im Nu im Griff gehabt. Izzy und Seb hatten nichts getan, bloß den Krankenwagen gerufen.

»Unser Dad ist in Paris«, ergänzte Izzy leise. »Er arbeitet auch.«

Ihr Dad war Gutachter für das berühmte Victoria & Albert Museum in London, was bedeutete, dass er Experte für alles Alte war und von aller Welt um Rat gefragt wurde.

Der Sanitäter zog die Augenbrauen hoch. »Deshalb lebt ihr also bei eurer Großmutter?«

»Mum und Dad waren Weihnachten da«, erklärte Izzy. Sie hatte das Gefühl, sie verteidigen zu müssen. »Sie mussten nur früh wieder arbeiten.«

Es hatte ihr eigentlich nie etwas ausgemacht – dass Mum und Dad in London lebten und sie und Seb bei ihrer Grandma im sechs Stunden entfernten Bletchy Scrubb ließen –, andererseits hatte es aber auch noch nie einen Notfall gegeben.

Der Sanitäter legte sein Klemmbrett weg und wandte sich Grandma Sylvie zu, die sich trotz Schmerzen ein Lächeln abrang. Izzy bezweifelte, dass sie überhaupt irgendetwas davon mitbekam, was gesagt wurde – sie hatte Sebs Alter nicht korrigiert.

»Also, Mrs Sparrow, ich schaue nur mal nach, wie es Ihnen geht«, erklärte er und schob Grandma Sylvies Decke zur Seite, bis ihr Arm offen dalag. Er steckte in einer dünnen Baumwollschlinge, die in ihrem Nacken verknotet war. Vorsichtig löste der Sanitäter den Knoten und zog die Schlinge unter ihrem Körper hervor. Grandma Sylvie wimmerte.

Als die Schlinge ab war, hielt Izzy die Luft an. Der ganze Arm war lila und dick wie eine riesige Aubergine.

Der Sanitäter hielt das verletzte Handgelenk vorsichtig fest. »Hmm, sieht so aus, als würde die Schwellung schlimmer werden. Das muss schmerzhaft sein.« Er begutachtete das Handgelenk aus jedem Winkel. Izzy sah auf der Haut ihrer Grandma etwas Goldenes aufblitzen. »Ich kann keinen Verschluss an Ihrem Armreif entdecken. Wir werden ihn aufschneiden müssen, damit es angenehmer für Sie ist. Ist das in Ordnung?«

Izzys Brust zog sich zusammen und sie vermutete, dass Grandma Sylvies wahrscheinlich gerade das Gleiche tat. Der goldene Armreif gehörte zu den wenigen Gegenständen aus Grandmas Leben vor der Amnesie. Sie hatte ihn zum Zeitpunkt des Unfalls getragen und Izzy konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals abgenommen hätte. Der Armreif war etwas Besonderes für sie, alle wussten das.

Grandma Sylvie kniff die Augen fest zusammen. Izzy hörte ein heiseres »Tun Sie’s«.

Der Sanitäter griff nach einer kleinen silbernen Zange. Izzy erschauderte, als zwei Schnipps die Luft durchschnitten und der Armreif in zwei Hälften zerfiel.

»Izzy, meine Tasche …« Grandma Sylvie hob die unverletzte Hand und deutete zitternd auf ihre Handtasche.

Izzy bückte sich danach und hielt sie auf. Der Sanitäter legte beide Teile des Armreifs vorsichtig hinein.

»Passt du für mich darauf auf?«, fragte Grandma Sylvie.

Izzy nickte, rang sich ein Lächeln ab und lugte in die Tasche, um zu überprüfen, ob der Armreif auch sicher in der Seitentasche verstaut war.

»Sei vorsichtig«, warnte der Sanitäter, »die Enden sind scharf.«

Izzy passte auf, dass sie sie nicht berührte und zog den Reißverschluss der Tasche zu.

»Hier«, brummte Seb und hob etwas vom Boden auf. »Das hast du fallen lassen.« Er reichte Izzy ein Schwarz-Weiß-Foto von der Größe einer Postkarte.

Izzy hatte es viele Male zuvor gesehen, weil Grandma Sylvie es in ihrer Handtasche aufbewahrte. Es war das einzige Foto von ihr, das sie vor dem Unfall zeigte. Ein Polizist hatte es nach dem Unfall im Handschuhfach ihres Wagens gefunden.

»Komisch«, sagte Seb und hob die Augenbrauen. »Das hab ich nicht mehr gesehen, seit ich klein war.«

Wir haben es ständig angeguckt, dachte Izzy. Aber sie sagte nichts.

»Grandma weiß immer noch nicht, wer die andere Frau ist, oder?«

Izzy schüttelte den Kopf. Auf dem Foto war noch eine Frau zu sehen, die neben Grandma Sylvie stand. Sie war klein, hatte durchdringende dunkle Augen und widerspenstiges Haar, das unter einem schwarzen Hut hervorragte. Sie trug ein kariertes Kleid und Cowboystiefel. Grandma Sylvie hatte eine Jeanslatzhose an und glänzende Ballerinas aus Satin.

»Was sind das bloß für Klamotten«, sagte Seb. »Sieht nach echt schlechten Kostümen aus.«

Izzy zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war so was gerade in Mode?« Eigentlich glaubte sie das selber nicht; sie wollte ihrem Bruder bloß nicht recht geben.

»Pass gut darauf auf.« Ein heiseres Krächzen. Grandma Sylvie gestikulierte mit ihrem gesunden Arm.

»Werde ich.« Hastig stopfte Izzy das Foto zurück in die Handtasche und machte sie zu.

Seb zog sich wieder zurück, bevor sie ihn wegschieben musste.

2

»Dad?« Izzy kniff die Augen zusammen. Das geteilte Bild auf Sebs Handy war verzerrt und bewegte sich in Zeitlupe. Sie drückte Seb den Ellbogen in die Rippen. »Ich hab dir doch gesagt, dass ein Videoanruf eine blöde Idee ist. Warum haben wir nicht einfach so angerufen?«

Seb murmelte etwas von schlechtem Empfang und schob das Handy ein Stück weiter seine Beine hinauf. »Wenn du wie alle normalen Menschen ein Handy hättest, wüsstest du, dass ein Dreiergespräch mit Video-Chat einfacher ist. Aber du hast ja keins. Weil du komisch bist.«

Izzy rollte mit den Augen. Wenn du meinst.

»Mum? Dad? Könnt ihr uns jetzt sehen?« Das Display flackerte. Izzy rutschte auf ihrem Stuhl herum. In der Notaufnahme des Krankenhauses von Bletchy Scrubb wimmelte es von Menschen: Ärzte in weißen Kitteln mit Stethoskopen um den Hals; Angehörige mit ernsten Gesichtern; Krankenschwestern mit Klemmbrettern; Patienten, die sich verletzte Gliedmaßen hielten. Izzys Blick wanderte über den Linoleumboden und die weißen Wände. Da war nirgendwo auch nur eine Spur von Lametta oder Glitzer zu sehen. Drei Tage nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag und Weihnachten war einfach so vergessen. Grandma Sylvie würde es hassen.

»Izzy? Seid ihr da?«

»Dad!« Endlich. Das Bild wurde schärfer und Izzy verzog das Gesicht. Ihr Dad war viel zu nah an der Kamera – sein blasses sommersprossiges Gesicht nahm den größten Teil der linken Displayhälfte ein. Rechts konnte man Izzys Mum an einem Tisch in der Kantine des Krankenhauses sitzen sehen, in dem sie arbeitete. Sie trug eine hellblaue Krankenschwestertracht mit einer silbernen Taschenuhr, die an der Brusttasche hing.

Ihre Mum schob sich eine verirrte braune Haarsträhne hinters Ohr und beugte sich stirnrunzelnd vor. »Ihr seid wieder da, aber immer noch ganz unscharf.«

»Ich sitze im Zug nach Paris«, rief Izzys Dad. »Der Empfang ist schlecht. Könnt ihr mich alle sehen?«

»Wir können euch jetzt beide sehen«, sagte Izzy. »Habt ihr verstanden, was ich euch gerade über Grandma erzählt habe?«

Ihr Dad runzelte die Stirn. »Ja, halbwegs. Ich fasse es nicht. Geht es ihr gut? Geht es euch beiden gut?«

Izzy zuckte mit den Schultern. »Uns geht’s gut.«

»Seb«, sagte ihre Mum ernst, »passt du auch gut auf deine Schwester auf?«

Seb lümmelte auf dem Stuhl neben Izzy, seine abgewetzten weißen Turnschuhe ruhten auf einem Beistelltisch aus Plastik, das Handy klemmte zwischen seinen Knien. Seine Kopfhörer lagen in seinem Schoß.

»Ja«, brummte er. »Mach dir keine Sorgen.«

Izzy zögerte kurz. »Seb hat gelogen. Er hat gesagt, er sei sechzehn.«

Seb funkelte sie aus schmalen Augen an. »Mit sechzehn kannst du für dich selber sorgen. Das steht so im Gesetz.«

Izzy schnitt eine Grimasse.

»Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte ihr Dad. »Solange ihr zusammenbleibt. Wie geht es Grandma?«

Izzy schaute zu dem blauen Vorhang, ein paar Meter hinter Seb. Er verbarg einen kleinen Raum, in dem Grandma Sylvie auf einer Liege lag. Izzy wartete einen Moment mit ihrer Antwort, um sich nicht schon wieder aufzuregen. »Gerade schläft sie. Wir sind in der Notaufnahme. Der Arzt sagt, dass sie später geröntgt wird. Was sollen wir jetzt machen?«

Ihr Dad zögerte. Im Hintergrund konnte Izzy den Zug rattern hören.

»Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit«, erklärte ihre Mum und presste die Lippen aufeinander. »Ihr zwei geht nach Hause zu Grandma und bleibt dort, bis wir da sind. Selbst wenn ich gleich losfahre, dauert es ein paar Stunden, bis ich in Bletchy Scrubb bin.«

Ihr Dad nickte. »Einverstanden. Seb, von dem Geld, das ich dir gestern gegeben habe, kannst du den Bus bezahlen.«

Izzys Herz machte einen Satz. »Ihr kommt also zurück? Ihr beide?«

Ihre Mutter fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Natürlich. Ihr habt euch wacker geschlagen. Wir kümmern uns um alles Weitere, sobald wir da sind.«

»Wahrscheinlich bin ich nicht vor dem späten Abend da«, sagte ihr Dad. »Aber ihr schafft das schon, oder? Seht zu, dass ihr was esst – und passt aufeinander auf.« Er machte eine Pause und senkte die Stimme. »Versucht es wenigstens, ja?«

Izzy sah zu Seb hinüber, der durch die Playlist seines iPods scrollte und sich nur mäßig für das Gespräch interessierte. »Ich versuch’s.«

Dad winkte ihnen zum Abschied, Mum warf ihnen eine Kusshand zu und legte auf. Ohne ein weiteres Wort packte Seb das Handy weg und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren. Izzy sank in ihrem Stuhl zurück, ihr dicker blauer Mantel bauschte sich um sie. Sie wünschte sich, Mum und Dad wären schon da. Dieser Ort war schrecklich.

Sie verschränkte die Arme und ließ den Blick ziellos durch das Wartezimmer schweifen. Ein Mann in grauem Trenchcoat kam durch den Haupteingang. Er trug spitze schwarze Schuhe und einen breitkrempigen Hut, der sein Gesicht verdeckte. Izzy beobachtete ihn, wie er um das Personal und die Patienten an der Anmeldung herumging und dann an zwei Sicherheitsleuten vorbeihuschte. Er lief in ihre Richtung, direkt auf die abgetrennten Kabinen zu, in die man die Patienten aus den Krankenwagen brachte.

Je länger Izzy den Mann beobachtete, desto sicherer war sie sich, dass er nicht auffallen wollte. Sich immer wieder aufmerksam umsehend, schwamm er gekonnt mit dem Strom, um in der Menge unterzugehen.

Als er näher kam, sah Izzy etwas Wulstiges, Gelbes aus seinen Manteltaschen ragen. Sie zuckte zusammen, als sie erkannte, was es war.

Seine Hände!

Die Handflächen waren mit Pusteln bedeckt und verschrumpelt, seine Finger sahen wie kranke, faulende Zweige aus.

Als er an ihnen vorbeiging, senkte Izzy den Blick. Sie fragte sich, was ihm passiert war. Vielleicht hatte er einen schrecklichen Chemieunfall gehabt. Normal war das jedenfalls ganz bestimmt nicht – sie hatte so was noch nie gesehen, nicht mal in Filmen. Als sie wieder aufsah, stand er am Ende einer langen Reihe von Kabinen – der Reihe, in der auch Grandma Sylvie lag. Er spähte hinter den nächstgelegenen Vorhang, wartete kurz, drehte sich um und versuchte es dann einen Vorhang weiter. Das machte er immer wieder. Er schien etwas zu suchen.

Oder jemanden, dachte Izzy. Sie erstarrte, als ihr klar wurde, dass er auf Grandma Sylvies Kabine zusteuerte.

Seb nickte mit dem Kopf zu einem Beat, der aus seinen Kopfhörern hämmerte.

Izzy sprang auf und rüttelte ihn an der Schulter. »Seb!«

Er schüttelte ihre Hand mit einem Achselzucken ab und zog sich einen Knopf aus dem Ohr. »Izzy, was …«

»Dieser Mann da …« Sie drehte sich um. Er war nur noch drei Vorhänge von Grandma Sylvie entfernt. »Schnell!«

Sie kletterte über Sebs Beine und flitzte die Stuhlreihe entlang, ihre Gummistiefel quietschten auf dem Linoleum.

Seb lief mit genervtem Blick hinter ihr her. »Was ist denn los mit dir?«

Ihr Herz schlug schneller. Izzy riss den Vorhang zu Grandma Sylvies Kabine beiseite. »Grandma, bist du …? Oh.«

Ihre Grandma sah so friedlich aus. Sie hatte die Augen geschlossen und die Hände über dem Bauch gefaltet – genauso, wie Izzy sie zuletzt gesehen hatte.

Izzy spähte in den Flur und suchte den Mann in Grau. Der Flur war leer; aber der Mann hatte unmöglich genug Zeit gehabt, um zu verschwinden. Sie hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde nicht hingesehen.

Seb baute sich neben ihr auf. »Du hast besser einen guten Grund für dein seltsames Verhalten.«

»Du verstehst das nicht«, flüsterte sie. »Hier war ein komischer Mann. Ich dachte, er wollte Grandma etwas antun.«

»Bitte was?« Seb presste die Kiefer zusammen. »Warum kannst du nicht einfach normal sein? Nur ein einziges Mal …?«

Es fing gerade an zu regen, als sie nach einer einstündigen Busfahrt Grandma Sylvies Haus erreichten. Dicke Tropfen trommelten auf Izzys Kapuze und liefen in das krause Haar, das darunter hervorschaute. Sie sah zu dem vertrauten verwinkelten Haus auf, mit dem Schornstein aus Lehm und den Wänden, von denen der Putz abbröckelte. Es war einmal ein Bauernhaus gewesen, das jedenfalls hatte ihr Dad ihr mal erzählt, was erklärte, warum es mitten im Nirgendwo stand.

»Du bist total paranoid«, sagte Seb, als er sie überholte. »Das ist dir doch klar, oder? Die ganzen Bücher, die du gelesen hast, haben etwas mit deinem Kopf gemacht.«

Izzy schloss zu ihm auf. »Ich hab mir das nicht ausgedacht«, beharrte sie. »Dadrin war ein Mann mit ganz schrecklichen Händen, und als wir gegangen sind, habe ich eine Krankenschwester sagen hören, dass Grandmas Unterlagen verschwunden sind. Was, wenn der Mann sie mitgenommen hat?«

Seb seufzte. »Izzy, dieser Typ war ein Patient oder so was. Vielleicht hatte er Verbrennungen. Vielleicht war er auch nur verrückt wie du. Egal – ich will bloß ins Trockene und was essen.«

Izzy stampfte wütend an Seb vorbei zur Haustür. Wenn Bücher etwas »mit ihrem Kopf gemacht« hatten, dann hatte Schlagzeug spielen ihren Bruder taub gegen alle Vernunft gemacht. Er hörte ihr nie zu. Nie.

»Izzy …« Sebs Stimme klang plötzlich komisch.

»Was?«, fauchte sie und drehte sich zu ihm um. Er zeigte mit einem zitternden Finger auf das Haus. Izzy schaute in die Richtung, in die er deutete, und wäre beinahe gestolpert. Sie verstand nicht, wie ihr das hatte entgehen können …

Die Haustür stand offen. Der Rahmen war zersplittert und rund um das Schloss waren tiefe Kratzspuren zu sehen.

Seb ließ die ausgestreckte Hand sinken und starrte zum Haus, als wüsste er nicht, ob er bleiben oder weglaufen sollte. Schließlich flüsterte er: »Polizei.«

Er fischte sein Handy aus der Hosentasche. Izzy war nah genug, um das Display zu sehen. Kein Netz, stand da. Na toll.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte sie.

Seb schlich auf Zehenspitzen über den Kies zum Haus und spähte durch eins der vorderen Fenster. »Die Vorhänge sind zugezogen«, raunte er. »Ich muss rein und das Festnetz benutzen.«

Izzy nickte. Richtig. Gute Idee. »Und ich?«

Seb warf einen Blick auf die aufgebrochene Tür. »Wir gehen zusammen rein; du bleibst hinter mir.«

Izzys Haut kribbelte, als sie einen Fuß über die Schwelle setzte. Von drinnen kam ein lang gezogenes, schabendes Geräusch – es klang so, als würde Tapete von der Wand gerissen werden.

Ihr Blick huschte durch den dunklen Flur. Mit etwas Mühe erkannte sie Grandmas antiken Schreibtisch – den mit den geschwungenen Beinen –, umgestürzt auf dem Boden. Die Schubladen fehlten und überall auf dem Teppich lag dickes cremefarbenes Briefpapier verstreut.

Seb zog einen Spazierstock aus dem umgestoßenen Schirmständer und umklammerte ihn wie ein Schwert mit beiden Händen. Izzy blieb hinter ihm; ihre Gedanken rasten. Das schabende Geräusch wurde lauter, je weiter sie ins Haus vordrangen. Sie fragte sich, woher es kam.

Vor der Küchentür blieb Seb stehen. »Bereit?« Mit zitternder Hand griff er nach der Türklinke.

Izzy nickte.

Als die Tür aufschwang, stieg ihr der Geruch von nassem Hund in die Nase. Komisch. In der Küche hatte es nie nach etwas anderem als Kuchen gerochen.

Das Licht war an, obwohl Izzy sich sicher war, dass sie es ausgemacht hatten, bevor sie in den Krankenwagen gestiegen waren. Sie bewegte sich nur zentimeterweise vorwärts; ihr Herz raste. Die Küchenschränke links von ihr hatten keine Türen mehr. Auf den Arbeitsplatten lagen Holzsplitter, geplatzte Konservendosen und zerrissene Schachteln. Die Spüle war voll mit zerschlagenem Geschirr. Ein Fleck an der Wand war der einzige Hinweis darauf, dass dort mal der Kühlschrank gestanden hatte. Jetzt lag er auf den Fliesen, und was er verwahrt hatte, quoll wie Erbrochenes aus ihm heraus.

Unter Izzys Sohlen knirschten Müsli und Gemüse. Ihr Blick fiel auf eine Reihe schlammiger Tierspuren, die sich über den Küchenboden zogen.

»Da drüben …« Sebs Stimme war schwach.

Izzy löste den Blick von den Spuren und sah auf. An der Wand gegenüber waren drei Worte aufgetaucht:

WIR KÖNNEN DICH

Jeder der Buchstaben war tellergroß und sah so aus, als hätte man ihn in die pastellfarbene Tapete gekratzt, unter der jetzt das Blutrot eines alten Anstrichs sichtbar wurde.

Dann entdeckte Izzy das Ding, das für den Schaden verantwortlich war. Es war eine Feder – groß und glänzend und schwarz.

Beim Schreiben schwebte sie wie eine Wespe in der Luft; dann, nachdem sie zwei weitere Wörter in die Wand gekerbt hatte, verschwand sie mit einem entrüsteten Windstoß. An ihrer Stelle erschien eine winzige Silbermünze und fiel mit einem Pling zu Boden.

Izzy schnappte nach Luft und las die Worte an der Wand in all ihrer blutigen Pracht:

WIR KÖNNEN DICH
JETZT
SEHEN

3

Seb lief in der Küche auf und ab, mit seinen Turnschuhen bahnte er sich einen Weg durch Scherben und Konservendosen. In der Hand hielt er, was von Grandma Sylvies einzigem Telefon übrig war. Der Hörer war zerbrochen und die Schnur war aus der Wand gerissen worden.

Izzy stützte sich auf eine Stuhllehne. Sie hatte eine Gänsehaut. »Du hast es auch fliegen sehen – oder? Was war das?«

»Ich weiß nicht.« Sebs Gesicht war wie versteinert. Er wischte die Hände an seiner Jeans ab. Izzy sah Schweißperlen auf seiner Stirn. »Was soll das überhaupt bedeuten? ›Wir können dich jetzt sehen‹?« Er gestikulierte wild. »Der Einbruch ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich habe in den Zimmern unten nachgesehen, aber es sieht nicht so aus, als wäre etwas gestohlen worden. Wer immer das war, sie haben einfach nur das Haus verwüstet.«

Izzy sah sich noch einmal um und inspizierte, was von Grandma Sylvies schönen Möbeln, den alten Büchern und ihren Lieblingsfotos übrig war. Sie hatte einen Kloß im Hals. Das meiste von dem, was Grandma Sylvie über die Jahre gesammelt hatte, war nicht zu ersetzen. Izzy verstand nicht, was jemand davon haben sollte, das alles einfach kaputt zu machen. Es ergab schlicht keinen Sinn.

Als Seb das Telefon auf den Küchentisch legte, musterte sie wieder die Tierspuren. Sie spreizte die Finger. Die Abdrücke waren mindestens viermal so groß wie ihre Hände. Was für ein Tier es auch gewesen war, es war viel größer als jedes Haustier.

»Von hier aus können wir die Polizei nicht rufen«, sagte Seb. »Wir müssen zurück nach Bletchy Scrubb radeln, bis wir wieder ein Signal haben, und es dann bei Mum und Dad versuchen.«

Izzy nickte. Dann knisterte es an der Wand in ihrem Rücken. Langsam drehte sie sich um.

»Siehst du das?«, fragte sie.

Seb schluckte.

Das »Wir können dich jetzt sehen« war dabei, Stück für Stück zu verschwinden, so als heilte sich die Tapete selber – wie Haut.

Seb fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und kniff sich in die Wangen, als wollte er sich selber wecken. »Warum wird das denn noch schlimmer?«

Izzy ballte die Hände zu Fäusten. Sie musste herausfinden, was hier vor sich ging, ehe sie noch völlig ausflippte. Es musste eine logische Erklärung geben. Sie ließ die letzten zehn Minuten noch einmal vor ihrem geistigen Auge ablaufen. Grandma Sylvies Haustür … das Schaben … der Kühlschrank … die Tierspuren … die Feder … die Münze.

Die Münze.

Izzy suchte den Küchenboden ab und entdeckte sie in einer Pfütze aus Tomatensuppe.

»Vorsicht«, warnte Seb, als sie sich danach bückte.

Izzys Finger schwebten einen Moment über der Münze, bevor sie sie aufhob und abwischte. Sie hatte in etwa die Größe eines Pennys, nur dass sie aus Silber und in der Mitte gekrümmt war. Die Münze war außerdem ungewöhnlich warm – als hätte sie in der Sonne gelegen.

»Und?«, fragte Seb und trat näher. Izzy nahm die Münze in die andere Hand. Die Temperatur war nicht das einzig Seltsame an ihr. Es war, als ob die Münze sie kitzeln würde, sie hinterließ ein komisches – aber nicht unangenehmes – Prickeln auf ihrer Haut. Izzy kniff die Augen zusammen und hielt die Münze gegen das Licht. Das Metall war an manchen Stellen abgewetzt, aber sie konnte noch einige der Worte erkennen, die auf der Außenseite eingeprägt waren. »Da steht: ›Blackclaw‹, ›Ragwort‹, ›Wolfsbane‹ und ›Schattenwanderer‹.« Sie sah auf. »Was, glaubst du, soll das heißen?«

Seb zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist es eine von Grandmas Antiquitäten. Sie hat in ihrem Laden Münzen verkauft, oder nicht?«

Izzy dachte an die kleinen Bleiglasfenster von Grandma Sylvies Antiquitätengeschäft in Bletchy Scrubb – sie hatte es bis zu seinem Tod zusammen mit Grandpa Ernest geführt.

»Ja«, stimmte sie zu. »Aber die waren anders.«

Seb spannte sich an. »Wie, anders?«

Die Münze war immer noch warm, was an sich schon seltsam war, aber jetzt spürte Izzy noch etwas – etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Es war wie der Unterschied zwischen einer Plüschkatze und einer richtigen Katze. Es war das Gefühl, etwas … Lebendiges zu spüren.

»Also …«

Sie nahm ein entferntes Geräusch wahr – eine Stimme? Sie zögerte. Nein, das musste sie sich eingebildet haben.

»Also …«, fing sie wieder an, »Grandmas Münzen sind nicht mal eben so aus dem Nichts aufgetaucht. Diese hier schon.«

Genau in diesem Moment klapperte es irgendwo vor dem Haus.

Seb fuhr herum. »Was war das?«

Bevor Izzy antworten konnte, war das Klappern wieder zu hören, gefolgt vom Klang mehrerer Stimmen.

Sie waren nicht allein.

4

Izzy lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Was, wenn die das sind – die Leute, die das hier angerichtet haben?«

Seb war schon auf dem Weg zur Hintertür. »Wir sollten nicht warten, um es herauszufinden.« Er sprang über die Überreste einer chinesischen Vase und eilte durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Izzy schob die Silbermünze in ihre Manteltasche und stolperte hinter ihm her.

Der Regen schlug auf die Gehwegplatten wie auf eine Trommel. Izzy versuchte, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, als sie Seb nachjagte und um die Ecke preschte, auf den Weg zwischen dem Haus und der angrenzenden Wiese. Unbeholfen wischte sie sich den Regen aus den Augen und dachte überhaupt nicht mehr daran, dass sie eine Kapuze hatte.

»Achtung, Izzy!«, rief Seb.

Mit rudernden Armen kam sie zum Stehen. Vor ihrer Gummistiefelspitze lag ein schäbiger Kartoffelsack, aus dem Erde quoll. Grandma Sylvies Kartoffeln. Izzy zuckte zusammen. Sie kannte diesen Sack, solange sie lebte. »Tut mir leid«, flüsterte sie.

Vorsichtig sprang sie über den Sack und schlich zu Seb hinüber, der an der Garagenwand kauerte, den Blick auf die Straße gerichtet. Der Regen hämmerte auf das Wellblechdach und übertönte Izzys Schritte. Sie hockte sich hinter eine dichte Eibenhecke und schob den Kopf dahinter hervor, bis sie etwas sehen konnte. Ihr klappte die Kinnlade runter.

Was zum …

In Grandma Sylvies Einfahrt stand eine Trauerkutsche, mit vier schwarzen Pferden davor. Sie war lang und rechteckig mit Glasfenstern an den Seiten und einem Zierstreifen auf dem Verdeck. Jeder Zentimeter des schwarzen Lacks glänzte und passte zum Federschmuck der Pferde. Izzy hatte nur einmal etwas Vergleichbares gesehen, auf dem Weg zur Schule. Damals hatte ihre Mutter gebremst, um die Kutsche vorbeizulassen, die einen Sarg transportiert hatte. Diese Kutsche hier war leer.

Oder nein … Moment mal.

Izzy kniff die Augen zusammen. Die Kutsche war nicht leer. Drinnen konnte Izzy einen Jungen erkennen, nur verschwommen, weil es so regnete, aber dass er dunkles Haar und karamellbraune Haut hatte, sah sie doch. Er hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und den Kopf gesenkt, sodass Izzy sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Seb!«, raunte sie, aber der Blick ihres Bruders war auf etwas anderes gerichtet: auf die Haustür. Izzy drehte sich um, um zu sehen, was da los war.

Auf der Veranda standen zwei Männer in identischen schwarzen Uniformen: ein Typ mit gerötetem Gesicht, Glatze und dickem Bauch und daneben eine hoch aufgeschossene, schlanke Gestalt mit zurückgegeltem Haar, kreideweißer Haut und einer dunklen Brille. Beide trugen knöchellange Mäntel, Handschuhe mit glänzenden Silberapplikationen und Hüte, die aussahen wie die Dreispitze von Piraten.

»Soll ich sie jetzt einsetzen, Sir?«, fragte der Mann mit dem roten Gesicht. »Um jeden nach draußen zu treiben, der noch hier sein könnte?« In einer Hand hielt er eine große Muschel – eine dieser spitzen, salzverkrusteten, die man an felsigen Stränden findet. Als der andere Mann nicht antwortete, sagte er: »Officer Smokehart, Sir?«

Der große Mann reckte das Kinn und drehte sich langsam zu ihm um. »Nehmen Sie die Muschel runter«, sagte er. Seine Stimme jagte Izzy eisige Schauer über den Rücken. Sie klang wie ein Messer – böse und kalt. »Wenn noch jemand dadrin ist, dann wollen wir ihm keine Gelegenheit zur Flucht geben. Im Verhör könnte er etwas preisgeben.«

Izzy zitterte. Officer Smokehart kam ihr irgendwie unnatürlich vor. Vielleicht lag es an seiner Haltung: dem geraden Rücken und der starren Haltung – als wäre er ein Roboter.

»Stellen Sie sich nur mal vor, Sergeant«, flüsterte er und legte die Finger zu einem Dach aneinander, »welche Antworten hinter dieser Tür auf uns warten könnten; welch dunkle Offenbarungen dort in der Finsternis lauern. Seit über vierzig Jahren leben wir in Unkenntnis über das, was sich in jener Nacht abgespielt hat.«

»Am Dreikönigstag«, sagte der Sergeant ein klein wenig fragend und legte die Muschel auf dem Boden ab.

Smokehart presste die Kiefer zusammen. »Natürlich am Dreikönigstag. Das größte ungelöste Rätsel der heutigen Zeit. Die komplette Familie Wrench – Mutter, Vater, Tochter und drei Brüder – verschwindet in einer schicksalhaften Nacht. Und wir wissen weder, warum sie verschwunden sind, noch, wie. Wir wissen nicht einmal, welche Rolle sie in der Großen Schlacht gespielt haben … bis jetzt.« Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Die Quartiermeister werden gar keine andere Wahl haben, als mich dafür zu befördern. Merken Sie sich meine Worte.«

Der Sergeant schluckte und nahm Haltung an. Dann musterte er das aufgebrochene Schloss. »Sieht allerdings so aus, als wären wir nicht die Ersten vor Ort, Sir.«

Officer Smokehart betrachtete das Schloss durch seine dunkle Brille. Izzy fragte sich, warum er sie trug – die Sonne brannte ja nicht gerade vom Himmel.

»Sie hat viele Feinde«, sagte Smokehart nachdenklich. »Möglich, dass uns einer von ihnen zuvorgekommen ist. Ziehen Sie Ihre Waffe.«

Der Sergeant nickte beflissen, schlug seinen Mantel zurück und zog …

Izzy blinzelte. Sicher sah sie nicht richtig. Der Regen behinderte ihre Sicht, es konnte gar nicht anders sein. Weißes Plastik. Langer Griff. Runder Kopf mit Borsten.

Nein, es war eine Klobürste! Als Smokehart eine identische Klobürste aus der Schlaufe an seinem Gürtel zog, fiel Izzy noch etwas auf: Die Borsten bewegten sich ein wenig. Wenn sie sich richtig konzentrierte, konnte Izzy sie trotz des prasselnden Regens sogar knistern hören. Und was war das? Am Ende der Borsten? Funken?

Izzy riss die Augen auf.

Seb, immer noch im Schutz der Garage, winkte wie wild. Dann zeigte er zum Tor, wo ihre Fahrräder lehnten.

Izzy deutete mit dem Kinn die Straße runter nach Bletchy Scrubb. Dort mussten sie hin.

»Glaube nicht, dass wir uns noch lange hier aufhalten sollten, Sir«, bemerkte der Sergeant und schob die Haustür auf. »Wir haben den kleinen Dieb in der Kutsche – muss zum Prozess zurück nach Lundinor.«

Smokehart hob seine bleistiftdünnen Augenbrauen, sodass sie über die dunklen Brillengläser ragten. »Nicht lang? Sergeant, wenn das hier wirklich der Ort ist, an dem sich Sylvie Wrench seit vierzig Jahren versteckt, dann bleiben wir so lange, wie es nötig ist. Jeder Hinweis ist wertvoll.« Die Klobürste gereckt, marschierte er über die Schwelle in den dahinterliegenden Flur. Der Sergeant folgte ihm.

Der Name »Sylvie Wrench« klingelte in Izzys Ohren. Sylvie

Sie bewegte sich so langsam wie in einem Traum.

Grandma

»Izzy«, raunte Seb, der bereits aufgesprungen war. »Die Fahrräder.«

Mit einem Ruck war sie zurück in der Wirklichkeit und folgte Seb über den Kies, um ihr Fahrrad zu holen. Ihre Hände waren feucht und zitterten, als sie die Kapuze abnahm und an dem Riemen ihres Helms herumfummelte. Sylvie Wrench … Dreikönigstag … In ihrem Kopf drehte sich alles.

Und dann brach eine Stimme wie Donner über sie herein: »Hier spricht Officer Smokehart von der Ersten Kohorte der Untergarde von Lundinor! Sie brechen GUH-Gesetze. Auf Befehl der vier Quartiermeister von Lundinor, bleiben Sie, wo Sie sind!«

5

»Los, Seb!«, schrie Izzy. Sie warf sich Grandma Sylvies Tasche über den Rücken, bevor sie sich vom Boden abstieß. Sebs Reifen quietschten, als er auf die Straße schoss und um die Kurve preschte.

Izzy warf einen Blick über die Schulter, während sie wie wild in die Pedalen trat. Officer Smokehart stand auf Grandma Sylvies Veranda und hielt sich die Muschel an die Lippen. Der Sergeant war schon auf die schwarze Kutsche geklettert.

Izzy stand aus dem Sattel auf und fuhr, so schnell sie konnte. Es klang, als wäre ihr ein Hagelschauer auf den Fersen, und das Geräusch kam näher.

Die Pferde …!

Die Kutsche war auf der Straße.

»Bleib an mir dran«, rief Seb. »Hier lang!« Er bog von der Straße ab, schoss durch einen schmalen Spalt in der Hecke und holperte auf ein Feld. »Die Kutsche ist zu groß, um hinter uns herzukommen«, brüllte er. »Sie müssen den langen Weg außenrum nehmen.«

Izzy begriff, was er vorhatte. Die Straße verlief am Feldrain entlang. Seb radelte querfeldein auf ein offenes Tor auf der anderen Seite zu. Wenn sie Glück hatten, würden sie vor der Kutsche dort ankommen.

Sie raste hinter ihm her. Ihr Fahrrad buckelte ächzend und quietschend über den unebenen Boden. Als sie zurücksah, konnte sie das Kutschdach über die Hecke ragen sehen – die Pferde holten auf. Auf dem Bock beugte sich der Sergeant vor und schwang die Peitsche; der Federschmuck der Pferde wippte wie wild.

»Sie kommen näher!«, rief Izzy. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ihren Vorsprung noch halten konnten.

»Dann fahr schneller«, brüllte er sie an. »Wir müssen es schaffen!«

Izzy trat kräftiger in die Pedale und schoss durch den prasselnden Regen. Für Seb waren es nur noch wenige Meter bis zum Tor.

»Izzy!«, schrie er. Er war jetzt auf der Straße.

Die Kutsche hatte sie beinahe erreicht. Izzy erhaschte einen Blick auf den dunkelhaarigen Jungen in ihrem Innern. Er presste sich gegen das Fenster, um bei der Rüttelei nicht herumgeworfen zu werden.

Smokeharts Stimme ertönte erneut. »BLEIBT, WO IHR SEID!«

Als Izzy endlich die Straße erreichte, konnte sie sich kaum noch auf dem Rad halten. Die Pferde waren nur noch wenige Meter entfernt. Sie warf Seb einen hilflosen Blick zu, der sie mit großen Augen ansah. Izzy schrie seinen Namen und dann …

… war die Kutsche zwischen ihnen.

Etwas splitterte, quietschte. Der Sergeant heulte auf. Izzy flog über den Lenker. Ihr Helm dämpfte den Aufprall, aber sie schlug hart auf dem Boden neben der Straße auf. Grandma Sylvies Tasche drückte schmerzhaft gegen ihre Rippen und kalter Schlamm spritzte ihr ins Gesicht.

Als sie die Augen wieder aufmachte, sah sie direkt in ein Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, Augen wie dunkle Schokolade und einer Haut wie flüssiges Karamell.

Es war der Junge aus der Kutsche.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. Der Regen hatte sein langes Haar durchweicht. Das Wasser lief ihm über die Schultern.

»Äh …«, murmelte Izzy. Ihr Hirn fühlte sich an wie ein Marshmallow. Sie kämpfte mit dem Verschluss ihres Helmes und riss ihn sich schließlich vom Kopf. »Was ist passiert?«

»Untergarde«, knurrte der Junge. »Zu sehr damit beschäftigt, dich zu jagen, statt auf die vereiste Straße zu achten.«

Izzy griff sich mit einer zitternden Hand an den Kopf. Untergarde …?

»Sie haben sich auf dem Feld überschlagen«, fuhr der Junge fort. »Sieht so aus, als hätte dein Freund es gerade noch rechtzeitig gemerkt.«

Freund? Der Nebel in Izzys Kopf begann sich zu lichten. Die Erinnerung kam zurück und mit ihr eine eisige Kälte, die sich in ihr ausbreitete. Seb. Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihr Fahrrad lag fünf Meter entfernt. Die Reifen surrten noch. Eine vertraute Gestalt taumelte durch das Gras auf sie zu.

»Izzy!«, rief Seb atemlos. »Alles okay?«

Izzy versuchte aufzustehen. Der Junge half ihr hoch. Seine schlanke Figur, die engen Jeans, die schwarze Lederjacke und die hohen roten Basketballschuhe erinnerten sie an den Leadsänger von The Ripz. »Schön langsam«, sagte er. »Du wirst dich fühlen, als wäre dir gerade ein Sack Mehl auf den Kopf gefallen, aber versuch einfach zu atmen. Kannst du alles bewegen?«

Langsam und systematisch wackelte sie mit Fingern und Zehen und neigte den Kopf von der einen Seite zur anderen. Sie nahm an, dass sich unter ihrem Mantel wahrscheinlich ein paar Schnitt- und Schürfwunden verbargen, aber einen Krankenwagen brauchte sie nicht. »Ich glaube, ja. Seb?«

Sein Blick war auf den Fremden gerichtet. »Wer bist du?«, fragte Seb. Jetzt, wo sie nebeneinanderstanden, konnte Izzy sehen, dass sie ungefähr gleich alt waren. »Gehörst du zu denen?«

Der Junge hob eine Augenbraue. »Zu den Untergardisten? Himmel, nein. Lieber wäre ich ein Ghul.« Sein Blick wanderte nervös zu einer Stelle nicht weit von Izzys Füßen. »Aber ich weiß, wie es ist, vor ihnen wegzulaufen. Wenn ihr beiden abhauen wollt, dann bleibt euch nicht mehr viel Zeit.«

Izzy fragte sich, wo er hinschaute. Dann fiel ihr im Gras ein kleiner Lederkoffer mit Messingschließen auf. Am Griff hing ein braunes Papierschild. Komisch … Bisher hatte sie ihn gar nicht bemerkt.

Sie bückte sich und legte die Hand um den Griff. »Wie ist denn das hier hinge…?« Die Frage blieb ihr im Hals stecken. Ihre Finger prickelten vor Hitze. Sie schnappte nach Luft. Genau dasselbe Gefühl hatte sie schon mal gehabt, als sie die Silbermünze in die Hand genommen hatte. Der einzige Unterschied war, dass das Gefühl bei der Berührung des Koffers noch intensiver war.

Der Junge erstarrte. Dann streckte er eine behandschuhte Hand nach dem Koffer aus. »Der gehört mir.«

Izzy hielt ihm den Koffer hin. »Alles klar. Ich hab nur …«

Auf der Straße hörte sie Pferdegeschirr rasseln.

»Die Untergarde«, zischte der Junge. »Wir haben keine Zeit mehr …« Er legte den Koffer ins Gras, ließ die Schließen aufschnappen, klappte ihn auf und kniete sich daneben. »Kommt ihr?«

In Izzys Kopf drehte sich alles. »Wohin?«

Seb bohrte seine Finger in ihre Schulter. »Izzy, wir müssen was tun – jetzt.«

Zu spät.

Das Donnern von Hufschlägen war auf der anderen Seite der Hecke zu hören, gefolgt von einem krachenden Poltern und lautem Gewieher, und dann kam Officer Smokehart auf sie zugerast. Er bewegte sich unnatürlich schnell und ruderte mit den Armen, sein schwarzer Mantel bauschte sich hinter ihm. Izzy stellte entsetzt fest, dass sein Gesicht und sein Hals nicht länger blass waren – sondern übersät mit winzigen Punkten, scharlachrot wie Blut. Smokehart fuchtelte wild mit seiner Klobürste herum, die Borsten sprühten blaue Funken.

»Verschwindet – jetzt!« Der Junge zerrte an Izzys Arm und zog sie zu Boden.

Sie spürte nasses Gras unter ihren Händen, dann drückte etwas gegen ihren Hinterkopf. Sie sah noch, wie sich das braune Wildlederfutter des Koffers dehnte, bevor ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief und die Dunkelheit sie verschluckte.

6

Das Tageslicht verschwand – ebenso wie der frische Geruch nach Gras und feuchter Erde. Izzy hustete und tastete blind im Dunkeln. Ein weicher Teppichboden kitzelte ihre Haut, schickte Hitzewellen durch ihren Körper. Es war das gleiche Gefühl wie vorhin.

»Seb?«, rief sie. »Seb! Bist du da?«

Keine Antwort. Sie atmete ein paar Mal tief ein, aber ihr Herz hämmerte weiter. Sie zitterte am ganzen Körper. Es roch nach altem Leder und Schuhcreme. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sie krabbelte vorwärts. Wo immer sie war, es musste einen Weg raus geben.

Nach ein paar Metern hörte Izzy ein Klicken und in der Ferne tauchte ein Lichtschein auf. Mit Tränen der Erleichterung in den Augen krabbelte sie darauf zu. Bald war er briefkastengroß, spendete genug Licht, um ihre Umgebung sichtbar zu machen. Sie rang nach Luft, als sie das braune Wildlederfutter des Koffers sah.

Moment – war sie darin?

War sie in einem Koffer?

Sie hastete auf das Rechteck aus Licht zu, und als es groß genug war, kletterte sie hinaus auf eine kalte, steinige Oberfläche. Sie schaute zurück und auf dem Boden stand derselbe Koffer, den sie auf der Wiese aufgehoben hatte – dieselben Schließen, dasselbe verschlissene Leder und dasselbe braune Papierschild.

Sie sah auf ihre Beine und fuhr zusammen. Sie waren winzig, wurden aber größer. Ihre Knochen knirschten, und ihre Hose blubberte, als würden sich auf ihrer Haut darunter Blasen bilden. Binnen Sekunden war sie wieder normal groß.

Sie kämpfte gegen die aufkeimende Panik an und kam mit Mühe auf die Beine. Sie befand sich in einer großen Höhle, so groß wie die Turnhalle ihrer Schule. Durch zwei Glasplatten hoch oben in der Decke fiel buttergelbes Licht auf den Boden, wo mehr Gepäckstücke standen, als Izzy je gesehen hatte: stapelweise Koffer und schwankende Säulen aus Hutschachteln, haufenweise Handtaschen und Türme aus Metallkoffern. Es sah aus wie eine Garderobenfestung. Sie konnte nur einen Spalt in der Höhlenwand entdecken, hinter dem ein dunkler Tunnel lag.

»Seb …«, flüsterte sie. Sie musste herausfinden, wo sie eigentlich war. Sie drehte sich wieder zu dem Koffer um. Das Innenfutter schien sich in der Dunkelheit aufzulösen wie eine optische Täuschung. Izzy inspizierte das Schild am Griff des Koffers. »Lundinor« war in schwarzer Tinte darauf geschrieben.

Lundinor … Officer Smokehart hatte den Namen erwähnt. Und der dunkelhaarige Junge hatte von einer »Untergarde« gesprochen. Sie fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.

In diesem Moment fing der Koffer an zu wackeln. Izzy wich zurück, gerade als er über den Steinboden schlitterte. Aus dem dunklen Futter barsten ein blonder Schopf und ein graues Sweatshirt.

»Ich muss kotzen«, stöhnte Seb, als er aus dem Koffer auf den Boden fiel. Seine geschrumpften Gliedmaßen streckten sich wieder zu ihrer normalen Größe, als wären sie aus Knete.

»Seb! Alles in Ordnung?« Erleichtert half Izzy ihm auf. Seine Hände waren klamm und kalt.

»Ich muss wirklich …« Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, übergab er sich schon.

Izzy konnte gerade noch ausweichen. Eine teuer aussehende Aktentasche aus Leopardenfell wurde das unglückliche Opfer. Izzy hielt sich die Nase zu und schob Seb in eine Ecke der Höhle.

»Sieht ganz so aus, als würde dein Freund Kofferreisen nicht besonders gut vertragen«, bemerkte eine Stimme ganz in der Nähe.

Izzy fuhr herum. Der dunkelhaarige Junge stand direkt hinter ihr und klopfte seine Hose ab.

»Er ist nicht mein Freund. Er ist mein Bruder«, korrigierte sie ihn streng. »Und natürlich mag er keine Kofferreisen.« Sie verwendete das Wort wie einen medizinischen Begriff.