Über das Buch

Sie stand unter dem besonderen Schutz ihrer Großmutter Paula. Wenn nachts die Angst kam, kroch sie zu ihr ins Bett. Doch hatte es diese Angst ohne die Großmutter überhaupt gegeben? Sandra Hoffmanns Memoir Paula liest sich wie ein Familienroman. Mit Aufrichtigkeit und großer Einfühlung erschließt sie das Leben dieser Frau, die ihr erdrückend nahe war und von der sie so wenig weis. Einer Frau, die einmal glücklich gewesen sein muss, deren junger Bräutigam im Krieg stirbt. Einer Frau, die irgendwann aus Angst und Scham zu schweigen beginnt, nie preisgibt, von welchem Mann das Kind stammt, das sie alleine groß zieht, bis der Schutzraum des Schweigens zum Gefängnis wird, in dem Liebe und Empathie verkümmern. Ungeheuer eindrücklich erzählt Sandra Hoffmann in diesem intimen literarischen Text, wie Schutz in Kontrolle umschlägt, Zuneigung in Wut, wie es gelingt, sich zu befreien und dabei Liebe zuzulassen.

Sandra Hoffmann

Paula

Hanser Berlin

»Do you know nothing? Do you see nothing?

Do you remember nothing?«

T. S. Eliot, The Waste Land

Schweigen ist anders als still sein. Nirgends, auch nicht, wenn du tief in die Taschen greifst, um die Münze zu finden, die du zwischen den Fingern bewegst, oder ein Stück Papier mit den Notizen vom Einkauf, findet sich darin wirklich Halt. Du hörst von irgendwoher oder aus dir heraus die dunklen Geräusche der Stummheit, die sich gegen dich wenden, du hörst sie als Grollen, als Grummeln, als fortwährendes Gemurre, Gemurmel irgendwo weit entfernt und zugleich nah. Als suchten sich all die ungesprochenen Wörter Wege aus dem stummen Körper heraus und hinein in den Raum, hin zu dir. Sie bringen dich um die Ruhe und sie bringen dich um den Schlaf. Das Schweigen, wenn jemand nahe bei dir lebt und so schweigt, so unerbittlich jedes Wort auffrisst, dass nichts übrig bleibt für dich und für keinen. Das Schweigen am Tisch, wenn die Gabeln und Messer auf Tellern klappern, wenn jemand, nur einer, sagt, kann ich bitte das Salz haben, und jemand reicht es. Und über allem das Schweigen, das dir vorkommt, als verschlinge es dich und all deine guten Sommer und die wenigen guten Winter. So als käme die Fröhlichkeit nie mehr zurück. Und du hörst das Geräusch von Strumpfhosenbeinen unter dem Tisch und wie der Hund am Stuhlbein vorbeistreicht, ein Räuspern und das laute Schlucken beim Wassertrinken, wenn der Halsmuskel spannt. Wenn die Geräusche aus den Körpern sich im Zimmer so ausgebreitet haben, dass da nur noch Dichte ist, Verdichtung nach außen. Dieses Schweigen, das schließlich in jeder Ritze eines Hauses sitzt, das abstrahlt, ausstrahlt, das ein Haus zur Festung macht, kennt nur die Endgültigkeit als Erlösung. Du kannst bleiben und sterben oder gehen. In der Stille aber wäre auch nur ein Traktor, draußen auf der Straße, ein schönes Geräusch, wäre das eine Verheißung, jemand mäht die Wiese zum ersten Mal in diesem Jahr, es ist noch hell. Die Welt wäre wieder da. Helligkeit und Sprache.

Am 10. November 1997 stirbt meine Großmutter Paula im Alter von 82 Jahren. Sie hat nicht über sich gesprochen, bis zum Schluss nicht. Sie hat ihr ganzes Leben, alle ihre Geheimnisse, aber auch alle ihre Nöte mit ins Grab genommen.

Wenn ich morgens durch den Park laufe, den See umrunde und höre, wie die Schwäne und Enten schnattern, wenn ich den Mandarinenten zusehe, die wie bunte Punkte zwischen den anderen Enten leuchten, denke ich häufig an meine Großmutter, die seit achtzehn Jahren tot ist, und ich denke an meine Eltern. Ich würde ihnen gerne den Park zeigen, die Hunde, die mir regelmäßig auf meiner Laufstrecke begegnen, die schönen Stellen an den Nebenkanälen des Eisbachs, deren Oberfläche ab und zu eine Weide streift. Die Männer, die vor ihrer Personaltrainerin auf der Erde liegen und anstrengende gymnastische Übungen machen oder gegen kleine Boxsäcke schlagen, die in den Bäumen hängen, wieder und wieder und wieder, damit sie stark werden, für was auch immer. Ich würde ihnen gerne die Yogis beim Sonnengruß zeigen, die Japanerin, die merkwürdig schwingende Armbewegungen macht beim Gehen. Ich sehe die Surfer an der Eisbachwelle, und ihretwegen halte ich manchmal an. Ich schaue den fremden Menschen zu und ich bin froh, dass es sie gibt, dass ich mich zwischen ihnen hindurchbewegen darf und, ohne mit ihnen zu sprechen, weiß: Ich mag, dass sie da sind. Ich würde gerne zu meiner Familie sagen: Schaut, hier lebe ich jetzt. So ist es geworden und es ist gut. Aber meine Großmutter ist tot. Und meine Eltern haben kein großes Interesse an einem Leben, das mit ihnen nicht unmittelbar zu tun hat. Ich spreche beim Laufen mit ihnen, ich zeige ihnen in Gedanken diese Welt, und immer gerate ich darüber in eine Traurigkeit.

Das Schweigen hat sich über die Generationen verschleppt.

1915 gilt im chinesischen Kalender als das Jahr des Holzhasen. Franz Josef Strauß wird geboren, Ingrid Bergman, Edith Piaf auch; Frank Sinatra, Pinochet. Der Erste Weltkrieg ist im zweiten Kriegsjahr, in Den Haag findet der erste Internationale Frauenkongress für den Frieden statt, Albert Einstein spricht öffentlich über die Relativitätstheorie, und Virginia Woolfs Romandebüt erscheint. Da wird an Allerheiligen, in einem kleinen Dorf, mitten im katholischen Oberschwaben Paula geboren. Sie ist das erste Kind der Familie. Die Verhältnisse, in die Paula hineingeboren wird, sind einfach, viel Geld hat die Familie nicht. Sie wächst mit zwei Schwestern und einem Bruder auf, der im Zweiten Weltkrieg an der Front stirbt. Von seinem Tod erzählte sie. Wieder und wieder, öfter, als ich es hören wollte.

Er ist gestorben, im Krieg.

Das war ihre Erzählung. Sie bestand aus fünf Wörtern.

Als sie starb, endete das Leben einer Frau, von deren Geschichte ich nicht viel weiß. Sie hat einen Weltkrieg erlebt, zwei Kinder geboren. Sie hat vom deutschen Wirtschaftsboom profitiert, sie war ohne Ausbildung und deshalb Gastarbeiterin im eigenen Land. Reinemachefrau hieß der Beruf, den sie ausübte. Manchmal spüre ich ihre Stimme. Ich höre ihr zu, so wie ich ihrer Schwester Marie zugehört habe; auch sie ist bereits tot. Ich höre ihr zu, so wie ich meiner Mutter zugehört habe, die längst schon aufgehört hat über das Schweigen ihrer Mutter zu sprechen. Alle ihre Stimmen höre ich; sie bilden keine Einheit, sie kommen und gehen, sie verbergen sich gerne. Wenn ich ihnen zu nahe komme, flüchten sie; jedenfalls kommt es mir so vor. Ich denke, dass es möglich sein könnte, mit ihrer Hilfe das Leben von Paula zu erzählen. Ich will es ergründen.

Sie war meine Großmutter.

Ich bin eine unzuverlässige Erzählerin. Ich lag auf der analytischen Couch. Ich habe mein Leben reflektiert. Ich habe versucht, die Wege, die ich gegangen bin, nachzuvollziehen, die vergangenen Stürme in mir zu verstehen, um die kommenden besser aufhalten zu können. Ich bin gut darin geworden. Man kann sich hier auf mich verlassen. Ja. Man kann sich darauf verlassen, dass ich alles, was ich nicht mehr weiß, alles, was ich nie gewusst habe, alles, was ich unbedingt wissen will, erfinden werde. Wie anders soll es möglich sein, das zu entfalten, was ich nie wusste, neben dem, was ich noch sehr genau weiß. Wie erzählt man, was in Träumen immer wiederkehrt, Alp oder Angst oder die dunkle Ahnung einer Bedrohung, die bis in mein heutiges Leben reicht. Wie erzählt man, was am Tag als Bild heranhuscht und wieder weg? Und warum ich seit sieben Jahren nicht mehr auf dem Friedhof war – oder nur einmal, heimlich?

Was ich zum Beispiel nicht erfinden muss: Wie sich die Haut meiner Großmutter im Gesicht angefühlt hat, wie ein Veilchenblütenblatt, fast durchscheinend, wie unberührt. Keine Furchen mäanderten hindurch, nur feine Linien, Spuren, Zeichen, wie Vögel sie im Schnee hinterlassen. Und ihren Geruch kenne ich noch heute. Warm und nicht sauer. Mild und nicht grob. Ihr Duft war besser, als sie selbst war. Weicher, zärtlicher. Niemals roch sie alt. Wenn ich will, spüre ich den warmen Großmutterleib und die Wand mit der Raufasertapete. Dazwischen sehe ich mich selbst liegen in den Nächten nach den Alpträumen. Zwischen Großmutters Händen bewegt sich ihr Rosenkranz und sie zündet geweihte Kerzen an. Manchmal streift mein Gesicht das ihre.

Ich liebe dich und ich hasse dich, das sagen Kinder nicht in einem Satz. Kinder sagen das eine oder das andere. »Ich liebe dich« ist kein Satz aus meiner Kindheit. »Ich hasse dich« jedoch auch nicht. Nichts war eindeutig außer der Angst vor dem Sterben. Und dass ich meiner Großmutter irgendwann nicht einmal mehr die Hand geben wollte.

In einer Schublade ihrer Kommode lagen unter den Gesangbüchern mit und ohne Goldschnitt und allerlei kleinen Heftchen und Heiligenbildchen eine bunte Pappschachtel aus einer Confiserie, eine stabile Strohschachtel, ein wahrscheinlich selbstgemachtes blaues Album mit rotweißen Applikationen auf der Vorderseite. Alle waren voller Fotos. Darauf Menschen verschiedenen Alters, sehr viele Männer, davon wiederum einige Soldaten. Männer auf Motorrädern, Mann vor Auto, Männer auf dem Feld, Männer vor Schiffen, vor Panzern, vor Wald und Feld, Männernamen auf Kreuzen. Männer mit Männern in schicken Autos. Seltener Männer mit Frauen im Auto. Manche der Männer tragen Arbeitsanzüge, wie ich sie aus Dokumentationen über Zwangsarbeiter kenne. Viele tragen Uniform. Es gibt Männer in eleganten Anzügen, Männer mit Krawatte, mit Fliege, Männer mit Monokeln, lässig gekleidete smarte Männer. Auch dunkelhäutige Männer in Uniform, vermutlich marokkanische Männer, recht sicher sogar. Männer mit fröhlichen Gesichtern, Priester, schwarze und weiße im Gewand. Ministranten. Mein Vater strahlend und gutaussehend bei der Hochzeit mit meiner schönen Mutter. Keine echten Familienfotos. Außer jenen von Familien, die mir vollkommen unbekannt sind. Frauen. Die Schwestern von Paula: Marie und Theresia. Die drei Schwestern mit einem Kind. Die Tochter von Theresia. Die Tochter von Theresia und meine Mutter. Meine Großmutter Paula mit einem Schwimmreif in einem kleinen See. Paula neben einem schönen Mann in der Wiese, lange weiße Handschuhe zum geblümten Kleid, Paula mit dem gleichen Mann auf einem großen Motorrad, Paula am Grab eines Mannes, der einmal ihr Bräutigam war, Paula und fünf andere Frauen an einem Küchentisch, fröhlich. Frauen in Gruppen, aufgestellt wie der Gymnastikverein. Paula mit ihrer Mutter, Paula mit einer fremden Frau und fremden Kindern. Und so weiter. Paula, wie sie bei der Hochzeit ihrer Tochter auf die märchenhaft schöne Braut schaut: düster, freudlos, am düstersten die Augen in ihrem strengen Gesicht. Paula mit Handtasche in der Blumenwiese, finsterer Blick, Margeriten in der Hand. Der graue Dutt streng geknüpft. Das eingebundene Bein unter dem Kostüm. Daneben meine Mutter im Bleistiftrock, mit toupierter Kurzhaarfrisur und Sonnenbrille, wie immer ziemlich Audrey Hepburn, und wie sie mit ihren hohen Pumps auf einem Feldweg schreitet, als sei das die Champs-Élysées. Ich erkenne mich, ein Mädchen mit einer Jungenfrisur im grünen Kleidchen, das nicht mit der Kamera kokettiert. Meine Großmutter Paula auf dem Ledersofa mit Marie, meiner Mutter und mir. Meine Mutter schaut aus, als sei sie einem jungen, schicken Modejournal entstiegen, Marlenehosen, eine Bluse, die heute ETRO wäre, die Frisur, die lackierten Fingernägel. Sie ist sechsundzwanzig und so schön, dass ich den Blick nicht abwenden kann. Und dann sehe ich es: Meine Mutter fühlt sich falsch an diesem Ort, ich sehe diesen dunklen, melancholischen Blick, ich sehe, dass sie nicht da ist, wo sie sitzt. Und ich sehe Paula und Marie, die sich um mich, das Kind mit der Puppe und den ausnahmsweise einmal schlecht geschnittenen Haaren, kümmern. Sie kümmern sich, wie immer. Ich bin sechs Jahre alt auf dieser Fotografie. Das weiß ich, weil meine Haare mit sieben und acht Jahren länger waren, weil ich mit diesen halblangen glänzenden Mireille-Mathieu-Haaren, die ich nur kurze Zeit tragen durfte, und in echten Clogs und Latzrock aus Jeansstoff einmal auf der Isola Bella im Lago Maggiore das Mädchen sein durfte, das seiner Mutter in nichts nachstand. Danach kam dieses Haar wieder ab.

Meine Großmutter wurde in einem Dorf namens Aßmannshardt geboren, das es nach dem Dreißigjährigen Krieg eigentlich nicht mehr gab. Alle Einwohner waren durch Mord und Totschlag und Hunger, Pest oder Vergewaltigung gestorben, das Dorf zuletzt abgebrannt. Als neue Siedler kamen Menschen aus dem Montafon und dem Vorarlberg, also ungefähr von der anderen Seite des Bodensees. Warum auch immer das geschah. Meine Großmutter ist in diesem Dorf aufgewachsen. Ihre Mutter war eine strenge, kalte Frau, sagt meine Mutter, aber auf den Fotografien, die ich von ihr kenne, sieht sie weich aus und dadurch jung, auch wenn sie da schon sehr alt gewesen sein muss. Der Vater, der Großvater meiner Mutter, lebte lange und war der liebenswerteste Mensch, den man sich vorstellen konnte, sagt meine Mutter. Good cop, bad cop! Das sage ich. Er war ihr Ersatzvater. Das sagt sie. Und was sie ohne ihn gemacht hätte! Ein Leben ohne ihn wäre unmöglich gewesen.

Es gibt keine Ordnung in den Fotokartons, es gibt Bilder und Bilder, Hunderte, klein und etwas größer, solche, die ausschauen, als seien sie unendlich viele Male in den Händen gedreht und gewendet worden, und andere, vergilbt zwar, aber wie unberührt. Von manchen gibt es gleich mehrere Abzüge, als habe jemand vorgehabt, sie zu verschenken. Und es bleibt nicht aus, dass die Fotografien in meinen Gedanken beginnen ein Eigenleben zu führen, dass sie sich über den Kopf von Paula hinweg an mich wenden, du darfst uns erzählen, sagen sie, wie auch immer du willst. Wir sind da.

Sie sind Verführer. Sie tun so, als gäben sie bereitwillig alles preis, aber sie bleiben im Widerstand. Wortlos. Papier.

Und wenn ich meine Großmutter gefragt hätte? Darf ich das?

Sie war keine Geschichtenerzählerin, sie war eine, die betete, eine, die in sich versunken blieb, sie hätte nicht geantwortet. Sie hätte nein gesagt, indem sie nicht ja gesagt hätte.

Sie hat mir das Rosenkranzgebet mitsamt seiner fünf Gesetze erklärt, da lag ihr Rosenkranz auf ihrem Tisch und bewegte sich nicht. Sie hat mir erklärt, wann welches Rosenkranzgeheimnis folgen muss und wann man freudenreich und wann schmerzhaft betet. Ich habe es immer wieder vergessen.

Sie selbst machte das unzählige Male am Tag und in der Nacht bestimmt auch: Ihre Hand bewegte sich dabei in ihrer Schürzentasche wie ein kleines Tier, das sich nicht zeigen will bei der Arbeit. Dabei ist der Rosenkranz nichts als eine Perlenkette. Daran ein Kreuz. Nicht mehr und nicht weniger. Was nicht wahr ist. Die Zahl der Perlen steht fest und wie man ihn betet und wann man ihn betet. Und wenn man daran glaubt, dann hilft das, sagte sie. Von weit oben schaut einer zu, er meint es gut, wenn man freundlich ist, er vergibt alles, wenn man sich nur genügend zu ihm hinwendet, sagte sie. Das Leben und Gottes Liebe hängen davon ab, wie viel, wie oft und wie gut man betet. Das verstehe ich als Kind. Betet man falsch, ist man gefährdet. Betet man zu wenig, stirbt man leicht. Betet man seine Sünden nicht weg, ist es um einen geschehen. Deshalb habe ich auch gebetet. Darum, dass ich am nächsten Tag wieder aufwache, wenn der Tag schön war, und darum, dass ich am nächsten Tag wieder aufwache, wenn der Tag schlimm war, weil ich heimlich schlecht über jemanden gedacht habe und heimlich geflucht habe. Es war auch möglich, ohne Rosenkranz zu beten, abends im Bett, die Beine angezogen, den Oberkörper darüber gebeugt, den Scheitel gegen die Wand gelehnt, beim Yoga heißt das Kleinkindstellung. Zwanzig Vaterunser, zwanzig Ave-Maria, heißt das bei der Beichte, Versenkung bei beidem und dazwischen die Bitten, es möge mir verziehen werden, ER möge mir verzeihen. Ich betete darum, dass ich wieder aufwache, falls ich einschlafe und deshalb zu wenig gebetet habe, und darum, dass meine Mutter und mein Vater und mein Bruder nicht sterben.

Ich habe nicht gewusst, ob Gott mich sieht und mich hört, nur wollte ich nicht, dass meine Großmutter stirbt. Sie sollte mich nur in Ruhe lassen mit ihren Gebeten, die sie angab für mich zu beten, dabei betete sie die Gebete gegen ihre Angst. Später wollte ich, dass sie stirbt. Als ich das schon wieder nicht mehr gewünscht habe, starb sie wirklich.

Was macht einen Menschen aus? Und wie geht das, dass jemand sich auffüllt, sich anfüllt zu einer lebendigen Person, jemand, der alles dafür getan hat, nichts von sich preiszugeben? Die Stimme, wie sich ihre Stimme findet, wie du versuchen musst, dich ganz nah an sie heranzudenken, damit du sie fühlen kannst, sie hören, das innere Raunen, das stille Gespräch, das Denken im Gebet. Das Tasten, die Unmöglichkeit der Annäherung, wenn du dich nicht selbst in die Erinnerung begibst. Die Unmöglichkeit, die Wahrheit zu erfinden. Die Pflicht zur Präzision. Die Pflicht zur Fiktion, um die Lücke zu schließen, zwischen Bild und Bild, Bruchstück und Bruchstück. Das Aushalten der dauernden Brüche in der Erinnerung, der Abbrüche der Beziehung zu ihr, als schaffte sie es noch immer zu sagen: Du darfst mich nicht wissen. Du darfst mich nicht erzählen. Wie weit reichen Verbote? Wie weit das Schweigen? Ihre Verweigerung auch in der Erinnerung. Ihr Verbot, sie, Paula, zu erfinden, noch über den Tod hinaus. Das Gebot zu schweigen. Und dann: Wie aus Verschwiegenem Wörter werden.

Säße man um einen Tisch herum, erzählte man sich die Geschichten, spräche man Nächte hindurch, heiter und traurig, vielleicht füllte sich dann ein Leben auf?

Aber das verschwiegene Leben von Paula ist verschwiegen geblieben, wie ein Virus hat sich das Schweigen in das Leben unserer Familie geschlichen, wie ein Virus, das sich von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation überträgt.

Und du dachtest, nicht nur als Kind, auch später noch denkst du, dass es vielleicht nur die Tiere sind, die sich in diesen verschwiegenen Gegenden zurechtfinden. Es sind vielleicht ihre Körper, die sich darin einen Weg bahnen, es ist vielleicht ihr Fell, das sie schützt. Es ist vielleicht die andere Sprache. Das Maunzen und Grunzen, das Jaulen und das Miauen und wie die Vögel klingen im Frühling, im Sommer, wie sie im Winter verklingen. Du vermutest, dass es Tiere gibt, die das Schweigen in ein stilles Sprechen verwandeln, und solche, die rein gar nichts bewirken in der Menschenwelt.

Da bin ich sieben Jahre alt. Ich gehe auf der Mauer und versuche, nicht auf das Moos zu treten. Wer auf Moos tritt, stirbt und fällt ins Grab. Das ist kein Spiel. Vom Grab meiner Urgroßeltern aus gehe ich der Mauer entlang hinüber zur Wassertankstelle, pumpe ein Mal und trinke dabei aus dem Eisenhahn. Dann pumpe ich noch drei Mal. Wasser läuft in den Trog. Das Geräusch ist schön. Drei ist eine gute Zahl. Sie ist sicher. Ich gehe auf der Mauer zurück. Ich darf das nur, wenn keine anderen Menschen auf dem Friedhof sind. Das Moos auf der Mauer ist schwarz und braun und gelb und rot. Und nur an manchen Stellen grün.

Warum eigentlich ist das so, habe ich meine Großmutter gefragt, aber sie hat keine Antwort gegeben.

Das kommt vom Alter der Moose, hat mein Onkel Gustl gesagt.

Nachdem ich genau neun Mal bis zwanzig und ein Mal bis drei gezählt habe beim Gehen, komme ich am Grab an. Ich kann von der Mauer auf das Grab hinabschauen.

Meine Mutter sagt, da ist noch ein Kind drin im Grab. Es hat keinen Namen. Es liegt unter der Urgroßmutter und unter dem Urgroßvater.

Warum hat es keinen Namen?

Es hat einen offenen Rücken gehabt, sagt meine Mutter, und dass ihr Tante Marie, die Schwester von Großmutter, das erzählt habe. Es kann aber auch sein, dass es die andere Schwester war, Theresia.

Wie muss ich mir das vorstellen, frage ich mich, dass da der Rücken nicht zugewachsen ist, dass man alles sieht, was in dem Menschen drin ist. So wie auf den Schulbuchabbildungen im Sachkundeunterricht.

Warum eigentlich wächst man nicht zu?, frage ich.

Es gibt alles, sagt meine Mutter. Wenn man einen offenen Rücken hat, dann hat man auch einen Schaden am Hirn.

Der Junge, der der Bruder meiner Mutter hätte sein sollen, hatte also einen Schaden am Hirn.

Sie sind von der gleichen Hartnäckigkeit, Paula und ihre Schwester Marie. Wenn sie nicht sprechen wollen, dann sprechen sie nicht. Sie tragen die gleichen bunten Schürzen, als lebten sie noch immer vor zwanzig Jahren und auf dem Dorf, wo es schmutzig zugeht. Es geht bei uns nicht schmutzig zu. Tante Marie und ihr Mann erfüllen uns allerlei Wünsche. Man muss nichts dafür tun und auch nichts dafür sein lassen. Mein Bruder und ich sind die Patenkinder, und für die tut man alles, wenn man keine eigenen Kinder hat. Von Tante Marie und ihrem Mann Gustl habe ich Tiernamen gelernt, und wie man Rehe streichelt. Mit ihnen besuchte ich alle Tiergehege und alle Erlebnis-Spielplätze, die mit einem Goggomobil innerhalb eines Tages zu erreichen waren, wenn man, bevor es dunkel wurde, zurück sein wollte. Von ihnen habe ich Blumen und Steinnamen gelernt und wie die Schwäbische Alb überhaupt entstanden ist. Ich lernte Ton, Kalk und Mergel zu unterscheiden.

Ich sitze hinten im Goggo und meine Tante Marie sitzt neben mir, und wenn der Onkel mit uns spricht, sagt meine Tante: Guck nach vorn! Weil sie anscheinend nicht sieht, dass er uns gar nicht anguckt oder nur durch den Rückspiegel, wo er mir dann durch seine dicke Brille zuzwinkert. Ich sitze hinten und die Landschaft draußen sieht so aus, wie der liebe Gott sie immer haben wollte, würde meine Oma Paula sagen, die glücklicherweise nicht dabei ist. Tante Marie riecht nach 4711 und ich finde nicht, dass das stinkt, aber ich habe nicht so gerne, dass sie sich an mich schmiegt, ich will nicht so riechen. Ich habe das grüne Kleid an, mit den langen Ärmeln und dem weißen Besatz, ich wachse gerade aus dem Kleid heraus, weil man sehr wächst, bevor man eingeschult wird. Das Kleid ist zu warm für so einen Tag ohne Wolken im Goggomobil. Ich schaue nach draußen, und obwohl alles so schön aussieht, bin ich nicht glücklich. Und nicht froh. Ich habe Angst, dass etwas passieren könnte, denn ich habe etwas Schlechtes gedacht, und ich darf es auf keinen Fall noch einmal denken und noch einmal sagen, und wenn ich jetzt nicht gleich bete, wird es passieren. Ich kann das Vaterunser und das Ave-Maria genauso gut im Schlaf wie mein Nachtgebet. Ich versuche beim Beten nicht zu murmeln, ich starre aus dem Fenster und denke das Gebet stumm in mich hinein, weil das niemand zu wissen braucht, weil das mein Geheimnis ist. Wenn ich das Vaterunser zwei Mal ohne Unterbrechung schaffe, passiert nichts. ER ist zuständig für meine Sünden. Die Muttergottes ist zuständig für meine Hoffnung. Manchmal besteht darin kein großer Unterschied, weil ich Dinge erhoffe, die nicht schön sind.

Aber jetzt höre ich die Tante sagen: Schau mal, dieser riesige Baum, und ich nicke und lasse mich nicht rausbringen.

Schau mal, die schwarzen Kühe, sagt die Tante, da habe ich ein Vaterunser bereits geschafft.

Hast du schon einmal so schwarze Kühe gesehen, sagt meine Tante Marie und ich kann nicht antworten, weil ich es sonst nicht schaffe. Ich nicke und sie sagt: Wirklich?

Und der Onkel von vorne sagt: Natürlich, als wir letztes Mal dran vorbeigefahren sind.

Ich komme weiter im Gebet, das ist gut, während ich konzentriert aus dem Goggomobilfenster auf die Kühe schaue, die gar nicht so schnell verschwinden, weil so ein Goggo nicht besonders schnell fährt.

Das habe ich vergessen, sagt meine Tante, gell, natürlich, sagt sie, die hast du schon einmal gesehen.

Ich nicke.