Constance ahnt nichts davon, aber sie ist die Frau der Stunde: attraktiv, ungebunden, einem Abenteuer nicht abgeneigt. Folgerichtig wird sie überfallen und verschleppt, im Auftrag des französischen Geheimdienstes: Constance soll eine entscheidende Rolle in einer riskanten Mission spielen, die nichts Geringeres zum Ziel hat als die Destabilisierung Nordkoreas. Constance erweist sich als Idealbesetzung – die Verschleppung bringt sie nicht weiter aus der Fassung. Im Gegenteil: In Pjöngjang läuft sie als Geliebte eines hochrangigen Funktionärs zur Hochform auf, kein Staatsgeheimnis ist vor ihr sicher. Doch als ausgerechnet Constances Entführer versuchen, ihr zur Flucht zu verhelfen, beginnt alles aus dem Ruder zu laufen. Einige Banküberfälle, Verfolgungsjagden und Schießereien später weiß niemand mehr, wer hier welche Strippen zieht und mit welchem Ziel, am wenigsten der Erzähler selbst.

 

Hanser Berlin E-Book

JEAN ECHENOZ

 

UNSERE FRAU IN PJÖNGJANG

 

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

 

 

Hanser Berlin

 

 

I

 

 

1

 

Ich will eine Frau, verkündete der General. Eine Frau brauche ich, so.

Tja, da sind Sie nicht der Einzige, lächelte Paul Objat. Ersparen Sie mir solche Bemerkungen, Objat, der General wurde starr, ich mache keine Witze. Etwas Haltung, wenn ich bitten darf. Objats Lächeln löste sich auf: Herr General wollen entschuldigen. Schwamm drüber, sagte der Offizier, denken wir nach.

Es ist nicht mehr lange bis Mittag. Die beiden Männer denken nach, beiderseits eines grünen Metall-Bürotischs sitzend, eines alten vorschriftsmäßigen Modells mit Schubladen, hinter dem der General seinen Platz hat. Auf der Fläche dieses Möbels befinden sich lediglich eine nicht angeschaltete Lampe, eine Schachtel Zigarillos der Marke Panter Tango, ein leerer Aschenbecher und eine sehr alte, äußerst abgenutzte Schreibunterlage aus Löschpapier, auf der seit, sagen wir, der Akte Ben Barka die Tinte zahlreicher Dokumente getrocknet und die Angelegenheiten damit abgeschlossen wurden. Der grüne Tisch steht im hinteren Teil eines düsteren Raumes, dessen Fenster einen gepflasterten Kasernenhof überblickt; neben ihm befinden sich hier noch zwei Stühle mit Stahlrohrgestell und Kunstleder, drei Schränke mit Hängeregistraturen und ein Beistelltisch mit einem alten, klobigen und verschmutzten Computer. All das ist nicht mehr so ganz taufrisch, auch wirkt der Bürosessel des Generals nicht gerade komfortabel, die Armlehnen sind angelaufen, an den schartigen Rändern des Polsters ist das Innenleben aus Polyurethan der ersten Generation zu sehen, Fetzen hängen heraus.

Die Zwölf-Uhr-Schläge vom nahen Glockenturm der Kirche Notre-Dame-des-Otages sind gerade verhallt. Der General hat sich einen Zigarillo genommen, hat ihn betrachtet, betastet, beschnuppert, dann wieder in die Schachtel zurückgetan. Eine Frau, hat er leise für sich wiederholt. Eine Frau, hat er lauter gesagt, aber nicht nur das. Vor allem nicht so eine Praktikantin, wie man sie an allen Ecken findet. Jemanden, dem das Netz ganz und gar fremd ist, verstehen Sie? Nicht so ganz, musste Objat zugeben. Na ja, eine Ahnungslose, nicht wahr, so brachte der General es auf den Punkt. Die nichts begreift, die tut, was man ihr sagt, und keine Fragen stellt. Und möglichst eine Hübsche.

Gar nicht so wenig Kriterien, meinte Objat, so eine zu finden wird nicht leicht. Ich weiß, sagte der General. Er öffnete die Panter-Tango-Schachtel erneut einen Spalt weit, betrachtete sie liebevoll, schloss sie dann wieder behutsam, während Paul Objat die Blicke über die Wände wandern ließ, sie sind lange nicht mehr gestrichen worden und zu einem guten Teil mit diversen Dokumenten behängt: mehr oder weniger deutliche Fotografien von Personen, Dingen und Orten, oft durch Filzstiftstriche miteinander verbunden, Klemmen, an denen Zettel und rätselhafte Diagramme befestigt sind, Zeitungsausschnitte, Namenslisten, Landkarten, darauf vielfarbige Markierungsnadeln, zwischen denen Fäden gespannt sind. Ein offizielles Porträt des Präsidenten. Nichts Persönliches: weder Familienfotos noch Postkarten von im Urlaub weilenden Kollegen, keine Van-Gogh-Drucke oder ähnlicher Mist.

Wir wollen einmal von unserer Pflicht zur Zurückhaltung und auch von der Wahrung des Dienstgeheimnisses absehen und zunächst die Identität des vorgesetzten Offiziers beleuchten. General Bourgeaud, achtundsechzig, ehemaliges Mitglied des Service Action – Planung und Durchführung von Geheimoperationen –, spezialisiert auf die Ein- und Ausschleusung sensibler Personen zu nachrichtendienstlichen Zwecken. Schroffes Gesicht, unbewegter Blick, aber halten wir uns nicht zu lange damit auf, wir kommen noch auf seine Erscheinung zu sprechen. Angesichts seines Alters haben die Vorgesetzten nach und nach seinen Verantwortungsbereich beschnitten, doch in Anerkennung der geleisteten Dienste lässt man ihm sein Büro und seine Ordonnanz sowie seine sämtlichen Bezüge, nicht aber das Dienstfahrzeug. Da er sich nicht so ganz aufs Abstellgleis schieben lassen mag, veranstaltet Bourgeaud weiterhin die eine oder andere Operation im Verborgenen, um nicht aus der Übung zu kommen. Um sich die Zeit zu vertreiben. Um Frankreich zu dienen.

Ihm gegenüber, wie er in Zivil, ist Paul Objat ein ziemlich attraktiver Typ mit sanfter Stimme und ruhigem Blick, halb so alt wie der General, stets die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen, was ebenso beruhigend wirkt wie ganz im Gegenteil, manchmal erinnert es an das Lächeln des Schauspielers Billy Bob Thornton. Ich habe da vielleicht eine Idee, sagte Objat. Dann erläutern Sie sie, regte der General an, um darauf seinen Plan näher zu schildern.

Sehen Sie, vor allem müsste man sie, wenn wir sie gefunden haben, zuerst mal einer Art Grundreinigung unterwerfen. Sie einige Zeit vollkommen aus dem Verkehr ziehen, bevor sie in Aktion tritt. Eine Art Isolationstherapie, wenn Sie so wollen. So etwas verändert die Persönlichkeit. Ich meine nicht, dass es den Charakter zerstört, aber es sorgt für geeignetere Reaktionen, es macht das Subjekt duktil.

Was meinen Sie mit duktil?, erkundigte sich Objat, das Wort kenne ich nicht. Na ja, sagen wir formbar, geschmeidig, fügsam, besser zu bearbeiten, erläuterte der General, einverstanden? Einverstanden, sagte Objat, ich glaube, ich verstehe. Ich glaube sogar, ich könnte da möglicherweise mehrere Ideen haben.

Allzu viele braucht es gar nicht, bremste ihn der General, der seinen Entschluss noch weiter entwickelte. Wenn ich über diesen Säuberungsprozess rede, der mir nötig erscheint, wäre es nicht schlecht, anfangs einen sanften Schock zu provozieren, ohne Scheu davor, ihr bei Bedarf ein wenig Angst zu machen. Ohne Gewaltanwendung freilich. Das versteht sich von selbst, Herr General, Objat lächelte immer noch, übrigens glaube ich, dass meine Idee Konturen annimmt. Angesichts der Grundzüge Ihres Plans könnte es sogar eine sehr gute Idee sein. Eine Person, die sich hervorragend eignen würde. Gutes Profil, recht bereitwillig, sie könnte sich, wie haben Sie es genannt, als duktil erweisen. Bei guter Vorbereitung sollte das gehen. Hübsch?, insistierte der General. Ganz und gar nicht übel, versicherte ihm Objat.

Kennen Sie sie gut? Eigentlich nicht. Ich bin ihr einmal bei Leuten über den Weg gelaufen, fand sie interessant, aber mich kennt sie nicht, darauf kommt es an. Natürlich, pflichtete der General bei, das ist wichtig, es handelt sich um eine heikle Operation, der Gesichtsverlust wäre enorm. Ja, wohl wahr, stimmte Objat zu, aber haben Sie nicht vielleicht ein bisschen Hunger? Ich hab von einem Restaurant gehört, das soll nicht schlecht sein, es ist ganz in der Nähe, Richtung Jourdain, mit der Metro ohne Umsteigen. Stimmt, ich hab den Wagen nicht mehr, erinnerte sich der General, also schön, ist gut. Fahren wir eben so.

Nachdem der General einen Zigarillo entnommen und sich in die Brusttasche gesteckt hatte, zogen beide ihre Regenmäntel an – schiefergrau der eine, perlgrau der andere –, obwohl es am Boulevard Mortier im 20. Pariser Arrondissement, wo sie sich befanden, nicht regnete. Kaum haben sie sich zur Metrostation Porte des Lilas aufgemacht, die sich vierhundert Meter von der Kaserne entfernt befindet, da belobigt General Bourgeaud, ohne ihn anzusehen, Paul Objat brummig, beinahe streng, was zu seinen Worten nicht recht passt. Ich hab gewusst, ich kann mich auf Sie verlassen, Objat, Sie haben oft genau die richtige Idee, Sie haben mir schon verdammt gute Dienste geleistet. Ich kann Sie gut leiden, Objat, wissen Sie. Und da er seinen Vorgesetzten gut genug kennt, beherrscht Objat sich nicht weiter und zuckt angesichts dieser Erklärung zusammen.

Im Restaurant, bei Schweinsohrensalat, gefolgt von geschmorter Ochsenbacke, wollte der General dann wissen: Und, was ist das für eine Frau? Ich geh da gleich heute Nachmittag ran, versprach Objat, ich muss ein paar Erkundigungen einholen und zwei, drei Anrufe machen. Aber je mehr ich drüber nachdenke, umso mehr meine ich, die könnte sich eignen. Und zwar so gut, Sie machen sich keinen Begriff. Ich werde sie auch ohne Probleme finden, ich weiß mehr oder weniger, wo sie wohnt.

In welcher Ecke?, erkundigte sich Bourgeaud zerstreut und kaute an einem Stück Schweinsohr. Im 16., antwortete Objat, Richtung Chaillot. Hübsches Viertel, bemerkte der General. Schön ruhig, aber ein bisschen öde, oder? So heißt es jedenfalls. Ich hab ja meine kleine Erdgeschosswohnung nach hinten raus nie aufgegeben, beim Observatorium, ich hab mich da immer sehr wohl gefühlt. Und Sie, Objat, in welchem Viertel wohnen Sie? Na ja, um die Wahrheit zu sagen, General, Objat vermied eine klare Antwort, das ist derzeit ein bisschen kompliziert. Sagen wir so, ich befinde mich gerade zwischen zwei Umzügen.

 

 

2

 

TROCADÉRO. Wohnung in idealer Lage, Licht von zwei Seiten, 62 m², oberste Etage eines von Henri Sauvage entworfenen Art-déco-Gebäudes. Stil Künstleratelier (lichte Raumhöhe 5 Meter), volle Südlage, seltenes Objekt, sehr ruhig, unverbaubarer Blick auf den Palais de Chaillot und den Friedhof von Passy.

Aufzug, Keller, Stellplatz optional.

Preis auf Anfrage.

 

Dieser Preis passt aber überhaupt nicht, schätzte der Makler, Sie verlangen viel zu viel. Ich weiß, räumte Constance ein, aber ich will die Wohnung gar nicht unbedingt so schnell loswerden, ich habe keine Eile. Es geht mir erst mal um einen Anhaltspunkt, ich will sehen, ob sie zu dem Preis weggehen würde. Der Makler namens Philippe Dieulangard zuckte mit den Schultern, dann setzte er sich vor seinen Laptop. Da diese Bewegung eine machtvolle Ausdünstung seines Hugo-Boss-Rasierwassers bewirkte, zogen sich Constances Nasenlöcher zusammen. Dieulangard ergänzte die Annonce um ein paar Details (Raumaufteilung, integrierte Küche, Gästetoilette etc.), dann machte er das Layout fertig und druckte sie aus, in ochsenblutroten gotischen Großbuchstaben mit dem Adjektiv SELTENHEIT gestempelt. Nachdem er sie zu den anderen in das Schaufenster des Büros gehängt hatte, gingen Constance und er hinaus, um die Wirkung zu prüfen.

Ein Foto wäre noch besser, bemerkte Dieulangard. Das spricht mehr an, so ein Foto erzählt was. Da sie auch darauf keinen Wert legte, zuckte er diesmal mit nur einer Schulter, verabschiedete sich und ließ sie vor dem Fenster stehen, in dem Constance nun sorgfältig alle anderen Annoncen von Miet- und Eigentumswohnungen studierte und sich Mal um Mal ein anderes Leben vorstellte, andere Schicksale, Liebschaften und Kümmernisse. Und sich fragte, wie sie sich je nach Behausung anders ausstaffieren würde, wie wenn man sich zu einem neuen Casting begibt: Garderobe, Frisur, Make-up. Während sie vor dem Fenster tagträumt und sich darin spiegelt, nutzt sie die Gelegenheit für eine rasche Kontrolle: geschwind die Lippen nachgezogen, Burberry 308 seidenmatt, ein Blick auf den Nagellack, Chanel 599 PROVOCATION, sie verwuschelt ein wenig ihren Pony, pudert sich die Nase nach und tritt dann einen Schritt zurück: Vollansicht Constance im Schaufenster von Dieulangard Immo vor dem Hintergrund des nicht sehr dichten Einbahnverkehrs auf der Rue Greuze.

Straff sitzende blaue Bluse, anthrazitgraue Skinny-Jeans, flache Schuhe, ein Haarschnitt à la Louise Brooks und Kurven wie Michèle Mercier – das scheint nicht so recht zueinander zu passen, aber siehe da, es funktioniert sehr gut. Sie ist vierunddreißig Jahre alt, nicht sehr berufstätig und nicht sehr ausgebildet – gerade mal zwei Jahre Jura-Studium für die Verwaltungslaufbahn –, mit einem Mann verheiratet, dessen Geschäfte gut laufen oder wenigstens gut liefen, aber das Leben mit diesem Mann läuft nur soso: Materiell ist sie sanft gebettet, in Sachen Eheleben nicht. Gedanken an Scheidung, Aussichten auf Arrangements, Streitereien, gefolgt von Kompromissen, je nach Tagesform. Auf diese Weise lebt sie mal in der ehelichen Wohnung, wenn auch immer seltener, mal in der Wohnung, die sie jetzt zu verkaufen plant. Nach Fertigstellung dieses raschen Steckbriefs wendet Constance ihrem Spiegelbild den Rücken zu, entfernt sich von dem Maklerbüro, und zu Fuß sind es von der Rue Greuze zu ihrem seltenen, sehr ruhigen Objekt sechs bis acht Minuten, immer am Friedhof von Passy entlang.

Während dieser Bewegung auf ihr Zuhause zu hat sie zwei andere Bewegungen nicht bemerkt, die ihr parallel folgten: ein Mann in fünfzig, ein Lieferwagen in einhundert Metern Entfernung. Der Mann trägt einen sehr sauberen, fast anormal sorgfältig gebügelten blauen Arbeitsoverall, dazu an einem Riemen über der Schulter etwas wie eine Werkzeugtasche. Hinter ihm das Nutzfahrzeug hat zwar weder hinten noch seitlich Fenster, zeigt dafür aber an ihrer Stelle das Logo einer Pannenhilfe, die auch noch weitere Dienstleistungen anbietet. Da Constance eben vor dem monumentalen Eingangstor des Friedhofs stehen geblieben ist, halten auch Mann und Lieferwagen sofort an. Und da sie nichts zu tun hat, was häufig der Fall ist, da der keimende Frühling es erlaubt, scheint ihr die Idee eines Spaziergangs über den Friedhof zu kommen. Sobald sie zwischen den Gräbern verschwunden ist, richten Lieferwagen und Mann sich zu beiden Seiten des Tors auf eine gewisse Wartezeit ein, jener parkt, dieser zündet sich eine Zigarette an.

Der Friedhof Passy ist bei weitem der schickste von ganz Paris. Zwar von recht geringer Größe, ist er doch unschlagbar bezüglich der Dichte von Reichen und Berühmten pro Quadratmeter, zumal aus Kunst und Literatur. Übrigens ist er an einem Hang angelegt, was denen, die hier liegen, erlaubt, sich immer über den Lebenden zu halten. Alles trägt zum gesitteten Eindruck bei. Gedämpfte Atmosphäre zwischen den mit dem Pinsel sauber gehaltenen Grabstätten, das Pflaster der Wege wird mit der Pinzette gereinigt, Körperhaltung und Tracht von Witwen und Erben verraten einen angeborenen Adel, wenn sie mit einer Gießkanne gerüstet unter den Kastanienbäumen und Magnolien ihre lieben Verstorbenen erfrischen gehen. Und auch für das Wohlbefinden der Weiterlebenden wird alles Erdenkliche getan: Dies ist der einzige Totenacker der Hauptstadt mit beheizter Trauerhalle.

Allzu wenig bekannt ist übrigens, dass die Bewohner dieses Friedhofs alljährlich fern des Weltgetümmels und der Scheinwerfer eine große Silvestergala geben, geleitet von einem ganz bemerkenswerten Team: Fernandel, François Périer, Jean Servais und in den Damenrollen Réjane und Pearl White. Die hohe Qualität der Darbietung wird von anderen Entschlafenen garantiert: Bühnentext von Tristan Bernard und Henry Bernstein nach einer Idee von Octave Mirbeau, Dialoge von Jean Giraudoux, Bühnenbild von Robert Mallet-Stevens, Kostüme von Jean Patou, Musik von Claude Debussy. Der Vorhang ist von Édouard Manet entworfen, Regie führt Jean-Louis Barrault. In Buchform ist der Text bei Arthème Fayard erschienen. Den meisten ist das nicht bekannt.

Constance spazierte also ein wenig über diesen Friedhof. Wir befanden uns im April, an einem Spätvormittag im April, zahlreiche Knospen versprachen baldig um die Stelen herum zu erblühen, die Thujen schlugen mächtig aus. Stiefmütterchen, Ringelblumen, Narzissen waren offenbar in Bestform, auch wenn nicht wenige schlaffe, verwelkte, vermodernde Blumen auf den Gräbern lagen, die von den Friedhofsgärtnern noch nicht fortgeschafft worden waren.

Als sie aus dieser Einrichtung wieder herauskam, trat der Mann im Overall mit besorgter Miene auf sie zu, einen Zettel in der Hand, den er offenbar zu entziffern versuchte. Ein sehr attraktiver Mann in seiner Berufskleidung, stellte Constance sofort fest und war folglich nur zu gern bereit, ihm mit einer Auskunft weiterzuhelfen. Der Mann sagte, er suche die Rue Pétrarque, und siehe da, die Rue Pétrarque kannte Constance sehr gut. Erstens, teilte sie ihm mit, befand sie sich gleich um die Ecke. Zweitens hat sie hier vor zehn Jahren mit einem gewissen Fred zwei Monate im Bett verbracht, ohne je auszugehen, aufzustehen oder auch nur die Fensterläden seiner im Erdgeschoss zum Hof hin gelegenen Wohnung zu öffnen.

Diese Episode jedoch erwähnte Constance nicht. Sie sagte nur, es sei hier um die Ecke, sie könne den Mann sogar dorthin begleiten, und der Mann sagte, sehr gern, und setzte dazu ein seltsam gutmütiges, fürsorgliches, unschuldiges Lächeln auf, das doch auch gerissen wirkte, belustigt und ein wenig traurig, eigenartiger Kerl das. Ein interessanter Typ, wirklich ansprechend, und Constance hatte den Eindruck, dass auch sie ihm gefiel, spontan und gegenseitig, dass das hier sich gar nicht schlecht anließ, vielversprechend und genau zum passenden Zeitpunkt, und so gingen sie die Rue du Commandant-Schloesing miteinander bis zur Ecke Rue Pétrarque hoch. Hierbei handelt es sich um eine stets ruhige und wenig befahrene Gegend der Stadt, die sie unter ein paar Sätzen zum beginnenden Frühling erreichten, während der Kleintransporter langsam an ihnen vorbeirollte. Da man hier auch ohne größere Probleme parken kann, hatte der Wagen sogleich einen Platz gefunden.

Auf Höhe dieses Fahrzeugs blieb der Mann im Overall dann stehen: Warten Sie mal kurz, ich möchte Ihnen etwas zeigen, das Sie interessieren könnte, und Constance schien durchaus bereit, sich dafür zu interessieren. Er ließ den Riemen seiner Werkzeugtasche von der Schulter gleiten, öffnete sie und beförderte immer noch lächelnd ein Bohrgerät zutage. Schauen Sie mal, sagte er, ist das nicht schön? Dieser Bohrer ist der reinste Wahnsinn, es gibt keinen besseren. Kompakt, leicht, stark, absolut leise. Nicht übel, was?

Eben nickte Constance noch höflich, da spürte sie, wie sie am Ellbogen gefasst wurde: Sie drehte sich herum, es war ein Typ, der eben auf der Beifahrerseite aus dem Lieferwagen gestiegen war und sie jetzt sehr freundlich beim Arm hielt, ebenso lächelnd, wenn auch deutlich weniger attraktiv: groß, knochig, hagerer Hals, Blick wie ein Vogel Strauß. Sehen Sie, fuhr der Mann im Overall fort, er ist ausgezeichnet für heikle Präzisionsarbeiten geeignet, und für hohe Stückzahlen. Funktioniert übrigens auch als Bohrschrauber. Schauen Sie mal, ich werde ihn Ihnen mal vorführen. Und da stellte Constance fest, dass ein dritter Mann, wohl der Fahrer des Lieferwagens, sie beim anderen Arm nahm, nicht ohne ein ebenso liebenswürdiges Lächeln, und der war auch nicht gerade hübsch: gedrungen, kurzbeinig, rotgesichtig, eine Schnute wie eine Seekuh. Eine derartige Situation hat nun freilich nichts, was einen gleich in Sicherheit wiegen könnte, doch schauten diese drei Männer so liebenswürdig, freundlich und gutmütig drein, dass Constance dank eines naiven Nachahmungsreflexes ebenfalls lächeln musste.

Also, sagte der Mann im Overall, ich mach ihn mal an, schauen Sie, und Constance sah tatsächlich, wie der Bohraufsatz sich völlig geräuschlos in schnelle Drehbewegungen versetzte, während einer der anderen Kerle, ohne Constances Arm loszulassen, mit der anderen Hand die Hecktür des Lieferwagens öffnete. Als dann der Mann im Overall den rotierenden Bohrer auf Constances Unterkiefer zu führte, wie ein Zahnarzt, der einen aber nicht gebeten hätte, den Mund aufzumachen, verging ihr das Lächeln. Strauß und Seekuh hielten sie nunmehr an beiden Armen fest gepackt.

All das ereignete sich ohne Zeugen, denn obgleich hier an der Ecke der Rue Pétrarque und der Rue du Commandant-Schloesing die Hauptverkehrsstraßen ganz nah sind, was einen raschen Rückzug ermöglicht, ist das doch eine Gegend ohne viel Durchgangsverkehr, ideal, um eine Angelegenheit diskret zu regeln. Constance blinzelte rasch vier Mal. Nein, nein, so etwas mache ich natürlich auf keinen Fall, versicherte ihr der Mann im Overall, ich wollte es Ihnen nur mal demonstrieren. Übrigens werde ich Sie jetzt nicht weiter belästigen, er deutete auf die geöffnete Hecktür des Lieferwagens, wenn Sie sich dann bitte da hineinbemühen würden. Und als Constance sich zu dem Wagen umdrehte, stellte sie fest, dass sich in dem Laderaum, den eine metallene Wand von der Fahrerkabine trennte, ein recht bequem wirkender Sessel befand, an dessen Beinen und Armlehnen jedoch Polyestergurte mit verstellbaren Schnallen angebracht waren. Auf der Rückenlehne des Sessels lag, nachlässig zusammengelegt, eine elegante schwarze Kapuze.

Constance zögerte, wie wir es wohl alle täten, doch angesichts des immer noch rotierenden Bohrers kletterte sie lieber in den Lieferwagen, als eine ungezielte kieferorthopädische Behandlung ohne Betäubung zu riskieren. Während Vogel Strauß sie ebenso jovial und beruhigend wie eine Sprechstundenhilfe beim Zahnarzt mit fester Hand auf dem Sessel platzierte, sah sie, wie Seekuh sich kurz noch mit dem anderen beriet, der seinen Bohrer verstaute und sich dann Richtung Trocadéro aufmachte, er drehte sich nicht noch einmal um, offenbar hatte er seinen Teil getan. Bis dann die Hecktür geschlossen wurde, folgte Constance ihm mit den Blicken, voller Bedauern über den Ausgang dieser Begegnung. Denn es war wirklich ein sehr schmucker Kerl unter seinem so säuberlich gebügelten Overall, schade. Richtig schade. Constance kann sich solcher Gedanken nicht enthalten, uns ist mittlerweile klar geworden: Amourös ist sie unterversorgt.

 

 

3

 

Und jetzt beugen wir uns mal über Constances Gatten, wenn es Ihnen recht ist. Dieser Gatte befindet sich gegenwärtig irgendwo in der Metro auf der Linie 2, die den Pariser Norden von Ost nach West durchquert, und er hört auf den Namen Lou Tausk. So ein Name, Lou Tausk, klingt ja ganz nach einem Pseudonym, aber belassen wir es für jetzt dabei, wir kommen zu gegebener Zeit darauf zurück.

Eine Aktentasche auf dem Schoß, sitzt Lou Tausk also im vordersten Waggon eines Zuges, der von Porte Dauphine nach Nation fährt und ihn allmorgendlich von seiner Wohnung (Station Villiers) zu seinem Studio bringt (Station Couronnes) und abends dann wieder zurück. Das ist praktisch, es ist direkt, man muss nicht bei jedem Halt nach dem Namen der Station schauen, denn eine Frauenstimme sagt ihn jedes Mal zweifach an: Man braucht nicht immer wieder von Zeitung oder Smartphone aufzublicken. Wenn die Stimme »Couronnes« ankündigt, steht Tausk auf. Wenn sie »Couronnes« bestätigt, begibt er sich zur vordersten Tür des Wagens, direkt gegenüber dem Ausgang der Station, von wo ihn siebenundvierzig auf drei Treppenabschnitte verschiedener Länge verteilte Stufen zum Boulevard de Belleville hinaufbefördern.

Auf diesem Boulevard befand sich bis vor gar nicht so langer Zeit – und befindet sich bisweilen heute noch – eine Art wilder Markt, bunt verstreut wie auf einem Brachgelände, auf dem direkt vom Bürgersteig weg arme Schlucker anderen armen Schluckern allerlei armselige Dinge aus dritter Hand verkauften, Saftschleudern oder Eismaschinen in zerplatzter Noppenfolie, satzweise angeschlagene Tassen, Partien von Joghurts, die sich diskret über ihr Haltbarkeitsdatum ausschwiegen, Toaster ohne Strippe, Mixer unbekümmert um ihre Garantie, bündelweise alte Fernsehzeitschriften ohne Illusionen bezüglich ihrer Zukunft, altes Spielzeug, nicht zueinanderpassende Handschuhe, abgelegte Klamotten und was man noch alles aufzählen könnte.

Doch dann fühlten die Anwohner sich gestört und alarmierten irgendwann die Ordnungskräfte, die ein wenig aufräumten, indem sie die fliegenden Händler hochscheuchten und in Richtung der alten Stadttore des östlichen und nördlichen Paris verdrängten. Und dann wird man das Aufzählen ja manchmal auch ein wenig leid.

Rings um die Metrostation Couronnes streben von Nordosten kleine Straßen wie Zuflüsse zum Boulevard: Passage de Pékin, Rue du Sénégal, Rue de Pali-Kao. In diese biegt Tausk ein, nachdem er an ein paar chinesischen Imbissen – flüchtige Dünste von Monosodiumglutamat –, tunesischen Restaurants – subtile Düfte von Ras el Hanout –, zwei Supermärkten und einem Elektro-Ramschladen vorbeigegangen ist, »Alles 1€« konkurriert wütend mit »Alles Mini €«. Bescheidene, hässliche Wohnhäuser mit demütig vor sich hin bröselnden Fassaden – rissiger Backstein oder typische Pariser Quader – werden hier und da abgerissen, aus Alters-, hygienischen oder Spekulationsgründen, um ihresgleichen Platz zu machen, die nicht weniger unansehnlich sein werden, dafür aber bis zum nächsten Abriss mehr Profit abwerfen.

Während Tausk die Straße zu seinem Studio hinaufgeht, plätschert von einem Baugerüst fröhlich ein alter internationaler Hit herunter, angestimmt von einem Abrissarbeiter in seiner gelb fluoreszierenden Sicherheitsweste: Vamos a la playa, Tausk hat das seit 1983 nicht mehr gehört. Und als hätte eine Mücke seinen Weg gekreuzt, wird ihn diese Melodie von nun an jucken und den ganzen Tag nicht lockerlassen.

Die Schulter von seiner Tasche beschwert, den Cortex von Vamos a la playa besetzt, gelangt Tausk zu seinem geräumigen Studio, es liegt im Tiefparterre und verfügt demnach kaum über Tageslicht bis auf das wenige, das durch ein Kellerfenster dringt. Wenn man es öffnet, lässt es ein bisschen von der Luft und den Geräuschen der Rue de Pali-Kao herein, deren Name an einen Sieg der anglo-französischen Truppen im Zweiten Opiumkrieg erinnert und auf deren Bürgersteigen, wiederum ebenfalls bis vor gar nicht so langer Zeit, noch heimlich allerlei Derivate dieses Opiums feilgeboten wurden, mehr oder weniger mit Milchzucker gestreckt oder auch mit Koffein, Paracetamol, Gips, Strychnin, mit Waschpulver oder schlimmeren Substanzen, die man weiterhin aufzählen könnte. Doch dann fühlten die Anwohner sich gestört und alarmierten irgendwann etc. Und dann wird man das Aufzählen usw. pp.

Zu zwei Dritteln enthält das Studio Gerätschaften zur Tonerzeugung: ein rundes Dutzend Tastaturen, Synthesizer, Rhythmusmaschinen und Multieffektgeräte, die Tische ruhen auf Böcken, auf dem Schreibtisch stehen drei Laptops, der abnehmenden Größe nach angeordnet, und der Rest ist als Wohnzimmer eingerichtet: Sessel, Sofa, Couchtisch, Regalbretter übereinander, die sich unter Massen von Vinylplatten, Tonbändern und diversen Instrumentenkästen biegen. An der Wand zwei unlesbare Trophäen, eine goldene Schallplatte unter Plexiglas und ein Foto von Lalo Schifrin mit handschriftlicher Widmung. Außerdem ist da eine Kochecke, in der sich Lou Tausk, nachdem er die Lampen und den Hauptcomputer angeschaltet hat, zugleich einen Orangensaft und eine Kanne Tee fertig macht, und zwar unveränderlich und parallel, schließlich weiß er, dass das Wasser zum Kochen ebenso lange braucht wie er, um zwei Orangen auszupressen, und dass das Ausspülen der Zitruspresse so lange dauert, wie der Tee ziehen muss.

Als dies vollbracht ist, setzt sich Tausk vor den Hauptcomputer und studiert die Datei mit der anstehenden Arbeit, will an dieser etwas herumfeilen, doch nur wenige Minuten vergehen, bis dieses Unterfangen ihm sinnlos vorkommt. Da seine Kompositionsversuche keinerlei Ergebnis zeitigen, öffnet er eine alte Hilfsdatei mit Uraltideen – Melodiefetzen, Dissonanzversuche, vorstellbare Akkordfolgen –, die er zur Sicherheit festgehalten hat, und versucht, diese Reste miteinander zu kombinieren und sie in das laufende Projekt einzubauen, doch nach fast ebenso kurzer Zeit gibt er es auf.

Seine Geschäfte laufen ja so, wie wir es angedeutet haben, und da muss man auch zugeben, dass er gegenwärtig auf dem Trockenen sitzt, und zwar allmählich schon eine geraume Weile. Ein Anzeichen für diese Notlage: Er tippt die beiden ersten Takte von Vamos a la playa ein, gönnt sich dann Zeit zum Nachdenken, stellt den Computer auf Stand-by, beäugt seine Fingernägel. Bemerkt sodann das Bündel Post, das ihm der Concierge des Hauses – er hat den Schlüssel zum Studio – wie jeden Tag auf den Tisch gelegt hat.

Diese Papiere betreffen einen Single-Club, ein Kreditangebot zur Hausrenovierung, das Glaubensbekenntnis einer Splittergruppe von vereinten Souveränisten-Ultraleninisten sowie den Vorschlag, Ihre alte schäbige, zugekalkte, unbequeme, Ihren Bedürfnissen und bald auch Ihrem Alter nicht mehr angepasste Badewanne zu ersetzen, und zwar durch eine hochleistungsfähige Maßanfertigung mit verchromten Massage-Multidüsen, Tiefenentspannung garantiert. Diese Sendung studiert Tausk ein wenig länger, denn warum eigentlich nicht, knüllt sie dann aber zusammen wie die anderen und wirft sie in den Papierkorb: Voller Papierkorb bedeutet tätiger Mensch. Die einzige an ihn persönlich gerichtete Postsendung besteht aus einem großen, von einem Schießgummi zusammengehaltenen beigen Umschlag, an dem ein kleinerer weißer mit einer Briefklammer befestigt ist.

Tausk scheint spontan misstrauisch zu reagieren, denn er öffnet keinen von beiden, verschiebt die Lektüre, wie man manchmal Briefe von der Bank lieber erst mal liegenlässt. Er steckt beide Umschläge in seine Tasche, die schauen wir uns später mal an, immerhin nimmt er Gummi und Klammer vorher ab. Gedankenverloren zieht er den Gummi lang, bis er reißt, dann biegt er die Büroklammer auf, versucht, sie zu einem menschlichen Profil zu formen, ohne Erfolg, während der auf den Tisch geworfene Gummi ein &-Zeichen improvisiert: Ein Schnipser, und hopp, das Und kringelt sich zu einem At-Zeichen, um dann in Form eines Violinschlüssels zur Ruhe zu kommen.

Dieses musikalische Symbol könnte Tausk als Ermutigung deuten, sich wieder an die Arbeit zu begeben, aber da klingelt drei Mal hintereinander das Telefon. Die ersten beiden Anrufe sind mehr oder weniger ebenso gehaltvoll wie die Werbebroschüren: Eine erste Frau, asiatischer Akzent, bietet ihm Glastüren zum Kauf an, Tausk lehnt ab, eine zweite Frau, elsässischer Akzent, erkundigt sich, ob er sich für Gott interessiert, Tausk lehnt abermals ab, aber beim dritten Mal ist es Franck Pélestor, der sich für in fünf Minuten ankündigt.

Ich bin ja schon ganz froh, dich zu sehen, oder, meint Pélestor, als er eintrifft, was meinst du? Genau solche uneindeutigen, mit stumpfer Stimme und bedauerndem Lächeln vorgebrachten Wendungen sind typisch für Franck Pélestor, einen gedrungenen, gebeugten Zeitgenossen, der seinen finsteren Blick auf seine Füße und den Boden, auf dem sie stehen, gerichtet hält und sich bei seinem Gegenüber nur selten höher hinauf wagt. Seine Kleidung ist zu jeder Jahreszeit zugeknöpft und gegürtet: Strickjacke, Sakko, Mantel, Schal und gefütterte Stiefel mit Reißverschluss. Die Sonne strahlt, die Leute laufen im T-Shirt herum, Pélestor trägt dieselben Grautöne wie stets, auch seine Haut ist gräulich, ebenso wie seine Laune, tagaus, tagein. Wahrscheinlich fürchtet er einen Schnupfen, wahrscheinlich hat er ihn schon, denn er zieht alle paar Minuten dasselbe erstarrte, kompakte, plattgedrückte Papiertaschentuch hervor, es wirkt wie ein Bimsstein oder ein Stück Handseife am Ende seiner Laufbahn, aber er pult immer noch einen durchscheinenden Zipfel hervor und hält ihn sich unter die Nase.

Seinerzeit, aber das ist auch schon ein Weilchen her, hatte das Duo Franck Pélestor und Lou Tausk einige Erfolge zustande gebracht. Ein paar Tausk-Pélestor-Songs, gesungen von Gloria Stella, Coco Schmidt und ein paar anderen, waren gar nicht so schlecht gelaufen. Nerverei und Weisheitszahn waren regelrechte Hits gewesen, und dann war Reiner Wahnsinn – das ist die goldene Schallplatte unter Plexiglas – zwar ein Welterfolg, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, aber die folgenden Produktionen wurden immer verhaltener aufgenommen. Schon Nicht wahr hatte sich höchstens mittelprächtig verkauft, und Du bist hier, ich bin da!, ein doch viel zugänglicheres Werk, schaffte es nicht mal mehr bis in die Eurovisions-Vorauswahl. Das war die Lage, man versuchte, sie zu verbessern, man hatte Mühe damit.

Ich sage dir gleich, geschrieben habe ich nichts, warnte Pélestor als Erstes, falls dich das beruhigt, und Tausk zog eine Grimasse, die besagte, er auch nicht. Das heißt, ich hatte einen Anfang, wagte Pélestor sich vor, aber der wird dir nicht gefallen. Na, zeig doch mal, ermutigte ihn Tausk. Es ist nicht fertig, schniefte Pélestor, ich muss noch mal draufschauen. Gut, du kannst mir ja sagen, wann du so weit bist, Tausk resignierte und hielt ihm ein frisches Papiertaschentuch hin. Nicht nötig, ich hab meins, sagte Pélestor, wo könnten wir essen? Sie entschieden sich für den üblichen Chinesen in der Rue d’Eupatoria.

Wie in den meisten dieser Lokale befindet sich auch im Nachdenklichen Mandarin ein großes Aquarium, das dem Etablissement Glück bringen soll, weswegen seine Platzierung im Raum sorgfältig von einem Geomanten festgelegt wird. Und während dieses Essens erläutert Tausk Pélestor, dass das Verfertigen von Chansons, wie sie es bis jetzt kennen, also das läuft so seit fünfzehn Jahren, und jetzt läuft es eben nicht mehr, wir können nicht so weitermachen, das bringt nichts mehr, wir müssen die Ausrichtung ändern. Und als Ausrichtung, so legt er dar und dreht dabei seine Schälrippchen vom Schwein um, scheint ihm ein umfassenderes Konzept geeignet. Aha, sagt Pélestor, und was soll das heißen, umfassender? Das kann ich dir sagen, sagt Tausk.

Er zögert mit der Antwort und betrachtet dabei das runde Dutzend abgestumpfter Zierkarpfen, die in dem Aquarium ihre Bahnen ziehen, pastellige, fast durchscheinende Farbtöne, manche scheinen an einer Hautkrankheit zu leiden, alle halten Abstand von einem fetten, ausgewachsenen und furchteinflößenden Karpfen, der fest auf dem Thron zu sitzen scheint: Die kleineren ringsum bleiben in gebührender Distanz. Eine Art Oper, erklärt Tausk endlich, oder ein Oratorium, wenn du so willst. Eine Art Konzeptalbum, du erinnerst dich an die Konzeptalben. Um eine einzelne Frauenstimme herum aufgebaut. Die musst du aber erst mal finden, wendet Pélestor ein. Ich weiß, sagt Tausk, ich weiß noch nicht, ich suche noch. Wenn du das bitte auch tun würdest?

So sucht man also, redet nicht mehr miteinander, die Kellner kommen und gehen, immer um das Aquarium herum, und als sie dann aufbrechen wollen, begegnen sie dem Chef des Lokals. Der ist wirklich dick, ihr Fisch da, sagt Tausk, um etwas zu sagen. Oh ja, sagt der Chef, das ist der echte Chef, die anderen haben Angst vor ihm. Und wie heißt er, Tausk heuchelt Interesse. Einen Namen hat er nicht, lächelt der Chef tiefernst. Ach was, staunt Tausk, warum denn nicht? Er hat ja keine Ohren, nicht wahr, erläutert der Chef geduldig, er kann nichts hören, man kann ihn nicht rufen. Es lohnt sich einfach nicht, verstehen Sie, so einfach ist das. Keine Ohren – kein Name. Oh ja, sagt Tausk, natürlich, ich verstehe. Selbstverständlich.

Pélestor ging nach Hause. Mangels eines Grundes, ins Studio zurückzufahren, nahm Tausk an der Station Couronnes die Metro und ging zehn Stationen später, nachdem die Stimme die Station Villiers angesagt hatte, seinerseits in der Rue Claude-Pouillet in seine Wohnung hoch. Dort stand er auf einmal planlos, tatenlos, es gab nicht mehr viel zu tun. Der kaum erst begonnene Nachmittag verkörperlicht sich in Form eines Balls, den man mit dem Fuß in Bewegung halten muss, Stunde um Stunde, bis es Zeit für den Aperitif wird und dann für das Abendessen (Halbzeit), und dann fängt der Abend an (neuer Ball). Und nichts ist in Sicht, was dieses Spiel kurzweiliger machen könnte, höchstens könnte er noch die Hemden aus der Reinigung in der Rue Legendre holen und dann beim Änderungsschneider in der Rue Gounod eine grüne Hose, die er in der Woche davor gekauft hat, ein Schnäppchen, schon zwei Mal herabgesetzt, beim zweiten Mal gibt man den Widerstand auf. Das sind sehr wenige Unternehmungen, freilich, aber wenn man methodisch vorgeht, hilft es doch, einen guten Teil des Nachmittags totzuschlagen. Dann vielleicht noch am Spätnachmittag ein kleiner Spaziergang im Park, um die Zeit für den Aperitif noch etwas hinauszuzögern.

Doch zunächst hat Tausk seine Aktentasche im Eingang abgestellt, ist ins Wohnzimmer gegangen und hat dort die Jacke abgelegt und die Taschen geleert, dann ist er erneut zur Tür gegangen und hat die Tasche geholt, um sie, abermals im Wohnzimmer, ebenfalls zu leeren: Da sind ja wieder der große und der kleine Umschlag, die ihn vorher im Studio erwartet hatten. Er begegnet ihnen ohne Freude wieder, langsam sucht er einen Brieföffner, widerstrebend öffnet er sie, und sogleich begreift man das vormittägliche Misstrauen. Der kleine nämlich enthält ein kleines Foto von Constance, der große eine üppige Lösegeldforderung.

Auf dem Foto sieht Constance überrascht aus, sie deutet ein aberwitziges Lächeln an, ihr linkes Auge ist halb geschlossen. Die Höhe der verlangten Summe ist ebenfalls aberwitzig. Diese Summe ist enorm hoch, sie ist exorbitant, wir werden sie nicht nennen, aber die Art, wie Tausk zusammenfährt, als er sie sieht, kann eine Vorstellung ihrer Größenordnung vermitteln. Der handgeschriebene Text, in dem sie vorkommt, wirkt übrigens kindisch. Er ist mit verschwommenen Drohungen gewürzt, ein Rechtshänder scheint ihn mit links geschrieben zu haben oder umgekehrt, absichtlich unbeholfen und in Großbuchstaben. Kurze, schreckensstarre Pause, dann beschließt Tausk, den Aperitif vorzuziehen, Vamos a la playa.