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Claus-Ulrich Bielefeld

Petra Hartlieb

Bis zur Neige

Ein Fall für
Berlin und Wien

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Matthias Ott

Copyright © Matthias Ott

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 30008 6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60177 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Alle Personen und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder mit tatsächlichen Ereignissen wären also rein zufällig.

[7] 1

Seit Tagen lag Berlin unter einer Hitzeglocke. Die Temperaturen schwankten zwischen 35 und 38 Grad. Die Zeitung mit den großen Buchstaben teilte ihren Lesern mit, dass seit Beginn der Wetteraufzeichnungen Ende des 19. Jahrhunderts im Juli nicht solche Zahlen gemessen worden seien. Und ein Ende sei nicht abzusehen. Der Senat plane, kurzfristig öffentliche Kühlräume einzurichten, wo sich herzschwache Personen tagsüber erholen könnten. Der Geheimtipp der Zeitung: Am besten längere Zeit in U-Bahnhöfen bleiben, dort sei es zehn Grad kühler als draußen, und der Fahrtwind der einfahrenden Züge sorge zusätzlich für Abkühlung. Oder einfach in die klimatisierten Kaufhäuser gehen. Und natürlich: viel trinken.

Thomas Bernhardt hatte seinen Spaß daran, all diese Ratschläge seinen Kollegen vorzulesen. »Die spinnen, oder? Ein richtig heißer Sommer, das ist doch klasse.« Es war Freitagnachmittag, die Stimmung im Kommissariat war schon ziemlich gelöst.

Katia Sulimma gab ihm recht und ging kurz danach auf die Toilette. Sie verschwand oft für ein paar Minuten mit einem Täschchen. Thomas Bernhardt hatte [8] irgendwann begriffen, dass sie sich kalt abwusch. Wenn sie zurückkam, wirkte sie erstaunlich frisch, duftete nach einem zitronigen Deo und stöckelte munter in ihrem dünnen Blümchenkleid durch den stickigen Büroraum. Auch Cellarius, sein junger, dynamischer Mitarbeiter, widerstand der Hitze erstaunlich gut. Er trug helle Leinenanzüge und weiße Leinenhemden, die wie maßgeschneidert wirkten und es wohl auch waren. Auch Thomas Bernhardt hatte sich für weiße Leinenhemden entschieden. Sie passten zu diesem südlichen Sommer. Und der angenehme Nebeneffekt: Man konnte keine Schweißflecken sehen.

Am meisten litt offensichtlich Cornelia Karsunke unter der Hitze. Ihr Gesicht wirkte leicht aufgequollen, alles schien ihr schwerzufallen. Als Katia Sulimma sie fragte, was los sei, zuckte sie mit den Schultern.

»Die Kita hat Sommerferien. Ich muss mir jeden Tag neu überlegen, wo ich die beiden Mädchen hintue.«

»Du hast doch ’n Mann.«

»Nicht wirklich. Das ist der Vater von der Jüngeren, aber der muss mal langsam mit seinem Studium zu Ende kommen. Demnächst hat er seine Prüfungen. Und der Vater von der Älteren ist sowieso längst vom Acker.«

»Wie schaffst du das denn auf Dauer?«

»Ich jonglier halt so rum.«

Lange Gespräche entwickelten sich an diesem späten, hitzedurchtränkten Nachmittag nicht mehr. Alle wollten ins Wochenende und hofften inständig, dass sie nicht noch zu irgendeinem Mordfall gerufen würden. Und da das Telefon wirklich nicht klingelte, schlossen [9] die Kollegen der 9. Mordkommission des Dezernats »Delikte am Menschen« ihre Schreibtische ab und machten sich auf den Weg.

Cellarius murmelte etwas von einer Gartenparty, zu der seine Frau in ihre Villa in Dahlem eingeladen hatte: hauptsächlich Geschäftsfreunde, wie er hinzufügte. Sein Schwiegervater und seine Frau betrieben Immobiliengeschäfte in ziemlich großem Stil. Ab und zu las Bernhardt von ihren Aktivitäten in der Zeitung. Katia Sulimma wollte mit ihrem neuen Freund auf die Insel Usedom und paradierte in ihrer Vorfreude wie ein wunderschöner zwitschernder Paradiesvogel auf und ab.

Cornelia Karsunke schaute melancholisch auf die schon in Auflösung befindliche Gruppe.

»Na, für mich bleibt immerhin noch die Hasenheide oder der Körnerpark. Bisschen Tai-Chi, bisschen mit den Kindern spielen.«

Thomas Bernhardt war überrascht.

»Du machst Tai-Chi?«

»Nee, ich tu nur so.«

Seit sie gemeinsam mit der Wiener Kollegin Anna Habel die Morde an einem talentierten Schriftsteller und dessen Agenten aufgeklärt hatten, war die Stimmung zwischen den beiden immer mal wieder leicht gereizt. Bernhardt spürte, dass ihm Cornelia vorwarf, sie zugunsten der Wienerin aus dem Fall gedrängt zu haben. Jetzt schaute sie ihn ironisch an.

»Und, Thomas, was machst du mit deiner Woche Urlaub? Bisschen Wiener Schmäh, bisschen Wiener Blut?«

[10] »Weder noch. Ich weiß nicht. Bisschen rausfahren, an irgendeinen See, schwimmen.«

»Mit wem?«

»Mit niemandem.«

»Was Besseres fällt dir für eine Woche Urlaub nicht ein?«

»Nee, Urlaub ist sowieso eine blöde Erfindung.«

»Genieß ihn trotzdem, alter protestantischer Leistungsethiker.«

Als die vier aus dem Gebäude in der Keithstraße traten, schlug ihnen die heiße, trockene Luft wie eine Faust ins Gesicht. Katia Sulimma sprang lachend in das rote Mercedes Cabrio eines Typen, der wie ein Schlagerproduzent aussah. Cellarius startete seinen Audi TT. Thomas Bernhardt schloss die Kette auf, mit der er sein Fahrrad an einen Laternenpfahl angeschlossen hatte, und blickte Cornelia Karsunke nach, die auf ihren verbeulten Kleinwagen zuging.

»Ey.«

»Selber ey.«

Sie blieb stehen und schaute ihn aus ihren schräggeschnittenen Augen an, die ihr in diesem Moment wieder ein ausgesprochen tatarisches Aussehen gaben, wie er fand. Er wollte sie nicht gehen lassen, einfach so.

»Hast du schon was vor heute Abend?«

»Ja.«

»Schade.«

»Findest du?«

[11] »Ja, finde ich. Wir könnten aber morgen zusammen an einen See fahren, das wär doch was?«

»Geht nicht. Ich hab Besuch, die Eltern von meinem Freund. Die sind zum Geburtstag der Kleinen gekommen. Wollen halt ihre Großelternfreude genießen.«

»Ja, klar. Schade.«

Sie ging auf ihn zu, schaute ihn an und legte ihm leicht eine Hand auf die Schulter.

»Wirklich? Schade? Na, wenn du tatsächlich in der Stadt bleibst, können wir uns ja nächste Woche sehen, wenn du willst. Ein bisschen was gibt’s schon zu besprechen, finde ich. Findest du doch auch, oder?«

»Ja, klar, wir können über alles reden.«

Sie lachte, drehte sich um und ging zu ihrem Auto, wandte sich ihm im Weggehen dann aber noch einmal kurz zu.

»Über alles? Ein Viertel reicht schon.«

[12] 2

Auf der Autobahn verspürte Anna dieses Hochgefühl, das sie immer dann befiel, wenn sie mehr als vierundzwanzig Stunden am Stück freihatte. Ihr siebzehnjähriger Sohn saß neben ihr, und da sie sich nicht auf eine CD einigen konnten, hörten sie FM4 – ein Kompromiss. Eigentlich wollte Anna nichts als Ruhe und versuchte, das Hämmern der Musik auszublenden. Nur keinen Konflikt, dachte sie. Selten genug, dass Florian freiwillig mit ihr das Wochenende verbrachte.

Es war noch nicht lange her, da konnte er nicht genug kriegen vom Leben auf dem Land, von Ausflügen mit dem Mountainbike, unzähligen Tischtennismatches, und wenn Anna zusammenzuzählen versuchte, wie oft sie gemeinsam den kleinen Bach aufgestaut hatten, sah sie einen riesigen Stausee vor ihrem geistigen Auge. Dann kam bald die Ich-igle-mich-lieber-in-meinem-Zimmer-ein-Phase, und seit er samstagabends ausging, war er vielleicht noch zweimal mitgefahren.

Als sie den Knoten Stockerau mit dem ländlichen Einkaufsparadies hinter sich gelassen hatte, sah sie die flirrende Hitze über der Ebene. Florian setzte seine lächerliche verspiegelte Pilotenbrille auf.

»Was essen wir?«

[13] »Was willst du essen?«

»Grillen?«

»Wenn du den Grillmeister machst?«

»Verstehe. Grillen ist Männersache.«

»Ja. Genauso wie Rasenmähen und Heckenschneiden.«

»Verschone mich. Ich hab ganz viel zum Lesen mit. Keine Gartenarbeit.«

»Schon gut, ich mach’s ja gerne.«

Das kleine Haus im Weinviertel war gut in Schuss. Seit Anna es vor über zehn Jahren von ihrer Großtante überraschend geerbt hatte, versuchte sie, alle notwendigen Reparaturen immer sofort erledigen zu lassen. Und auch wenn sie es nicht sehr oft nach Salchenberg schaffte, hätte sie das Häuschen nie verkaufen wollen. Manchmal reichte ihr alleine das Gefühl, einen Ort zu haben, an den sie jederzeit fahren konnte, wenn ihr alles zu viel wurde.

Ihr Job als Chefinspektorin der Wiener Mordkommission erlaubte ihr nicht oft, am Freitagmittag das Wochenende einzuläuten, doch die Stadt war durch die Julihitze wie gelähmt: Die ganze Woche kein Einsatz, der Schreibtisch war aufgeräumt, alle Fallberichte abgelegt. Und ihr Kollege Robert Kolonja übernahm den Bereitschaftsdienst.

Sie hielten noch am großen Supermarkt an der Bundesstraße, denn in Salchenberg gab es außer drei Heurigen und einem Gasthaus keinerlei Einkaufsmöglichkeiten. Lediglich unter der Woche versorgte ein mobiler Bäcker die Leute mit dem Notwendigsten, doch den hatte Anna bis jetzt immer verschlafen.

[14] Als sie in die kleine Ortschaft einbogen, kam ihnen der Nachbar auf dem Traktor entgegen. Er tippte lässig an den Hut, und Anna winkte zurück. Als sie vor ihrem Haus parkte, öffnete Frau Haidinger von gegenüber sofort das Küchenfenster.

»Frau Habel. Sind S’ auch mal wieder hier! Ich hab schon glaubt, sie kommen nimma.«

»Tja, Frau Haidinger, leider viel zu selten. Die Arbeit ist doch immer wichtiger.«

»Ja, und der Florian! Mein Gott, bist du groß geworden.«

Florian grüßte kurz und machte sich daran, die Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen.

»Ham S’ scho ghört? Jetzt hamma auch a Leich.«

»Oje, wer ist denn gestorben?«

Obwohl Anna seit zehn Jahren nach Salchenberg kam, kannte sie nur wenige Bewohner des kleinen Ortes. Dass regelmäßig jemand starb, war nicht verwunderlich, eine überwiegende Mehrheit der Einwohner war weit über sechzig.

»Der Bachmüller von oben rechts in der Kellergasse.«

»Den kannte ich gar nicht. Wie alt ist er denn geworden?«

»Na, ein junger Bursch war das. Dreiundfünfzig. So ein Unglück!«

»Was ist denn passiert?«

»Man weiß es nicht genau. Der Sieberer hat ihn im Weinkeller gfunden. Angeblich sah er aus, als würd er schlafen. War aber bewusstlos, oder – wie sagt man – im Koma.«

[15] »Mein Gott, das ist ja furchtbar. Und dann?«

»Na, der Sieberer hat die Rettung angrufen. Die sind gleich nach Wien gfahren mit ihm, aber im Spital is er gstorbn.«

»Wann ist das denn passiert?«

»Gestern Abend, ich wollt grad Nachrichten schauen, da is hier der Wirbel losgangen.«

»Ich muss dann mal…«

Anna deutete mit dem Kopf auf ihr Auto. Frau Haidinger verabschiedete sich sichtlich ungern und beobachtete vom Küchenfenster aus, wie Anna die restlichen Sachen ins Haus trug.

Nachdem sie das große Tor zur Straße wieder geschlossen hatte, überfiel Anna sofort die Ruhe, die sie immer zwischen diesen alten Mauern verspürte. Das Gras war viel zu hoch, die halbherzig angelegten Gemüsebeete vom Unkraut überwuchert. Und auch die Wühlmäuse hatten wieder ganze Arbeit geleistet. Doch sosehr sie Hausarbeit hasste, im Garten machte Anna die ewige Pusselei nichts aus.

Florian hatte inzwischen alle Fenster geöffnet und die Lebensmittel im Kühlschrank verstaut. Anna ging durch alle Räume und versuchte, die schmutzigen Glasscheiben und die Wollmäuse in den Ecken zu ignorieren.

»Kleine Planänderung: Du musst nicht grillen.«

»Okay. Warum, was gibt’s denn?«

»Wir gehen zum Heurigen.«

»Wieso das denn?«

»Ich muss mich mal ein wenig unter die Leut mischen.«

[16] »Du willst was über den Toten erfahren?«

»Nein. Ja. Vielleicht. Man kann sich ja ein wenig umhören.«

»Mama, du hast frei. Und außerdem bist du hier gar nicht zuständig.«

»Ich ermittle ja nicht, ich will doch nur wissen, an was der arme Weinbauer gestorben ist.«

»Wenn du meinst. Und bis dahin?«

»Keine Ahnung. – Ich mach auf jeden Fall Mittagsschlaf.«

Anna spannte die Hängematte zwischen die beiden Apfelbäume und bewaffnete sich mit Sonnenbrille, Mineralwasser, einem Kissen und dem neuen Roman von John Irving.

Doch sie konnte sich nicht recht konzentrieren, immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, sie lauschte den Stimmen hinter der Gartenmauer, und als sie sich vergewissert hatte, dass Florian über seinem Buch eingeschlafen war, machte sie sich auf zu einem kleinen Spaziergang. Sie ging die große Kellergasse hoch, eine breite Straße, die links und rechts von alten Weinkellern gesäumt war. Vor einigen standen Tische und Bänke. In der nachmittäglichen Hitze war es menschenleer, doch am Abend, wenn es kühler wurde, würde sich hier das halbe Dorf versammeln.

Oben rechts, hatte die alte Haidinger gesagt – schauen ist ja noch nicht ermitteln. Bachmüllers Keller war einer der wenigen, an denen das alte Portal stilvoll renoviert war, kein neumodisch-praktischer Schnickschnack, selbst die Fenster und das Dach hatte der Besitzer im [17] Original nachbauen lassen. An der Seite ein kleines Messingschild: Biodynamischer Weinbau Bachmüller. Das breite Tor stand offen, und Anna warf einen Blick hinein. Ein paar Regale mit Flaschen, ein Tisch mit zwei Stühlen, eine kleine Presse, mehr war nicht zu sehen. Der Raum erstreckte sich weit nach hinten, und Anna konnte im diffusen Licht eine weitere Tür erkennen. Sie wusste, dass manche dieser Keller bis zu fünfzig Meter tief in den Hang hineinführten, und steuerte auf die verschlossene Tür zu, ein paar Schritte nur wollte sie sich reinwagen, einen Blick nach hinten werfen. Anna tastete die feuchten Wände nach einem Lichtschalter ab, konnte aber keinen finden. Inzwischen hatten sich ihre Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, sie öffnete die Tür und wagte sich tiefer in den Stollen. Von der sommerlichen Hitze war hier nichts mehr zu spüren, und der typische Weinkellergeruch schlug ihr entgegen: feucht, moosig und leicht säuerlich.

»Wer ist da?!«

Anna drehte sich so abrupt um, dass sie über ein paar leere Weinflaschen stolperte, und schrie auf. Nun war kein Ton mehr zu hören, und Anna steuerte langsam auf den vorderen Teil des Kellers zu. Wie peinlich, wie schrecklich peinlich, dachte sie und überlegte fieberhaft eine gute Ausrede. Neben dem Tisch stand eine schmale, blonde Frau und starrte Anna angsterfüllt entgegen. Ihre Hände umklammerten einen alten Reisigbesen, der im Ernstfall als Waffe wohl in tausend Stücke zersplittert wäre.

»Nicht erschrecken! Ich bin von der Polizei.«

[18] »Was tun Sie hier in unserem Keller? Sie dürfen doch nicht einfach so hier rein!«

Die Stimme der Frau klang verunsichert, sie ließ den Besen sinken und war sichtlich erleichtert, einer Frau gegenüberzustehen.

»Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin hier vorbeigekommen, und die Tür stand offen. Ich hab ein Geräusch gehört, und da wollt ich nachschauen.«

»Sie lügen doch! Sie sind überhaupt nicht von der Polizei. Sie sind einfach nur neugierig und sind hier eingedrungen!«

Ihre Stimme wurde schrill, und sie schien den Tränen nahe.

»Ich bin wirklich von der Polizei, glauben Sie mir. Ich hab nur meine Dienstmarke nicht dabei, weil ich im Wochenende bin. Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Anna Habel, ich hab da unten an der Austraße ein kleines Häuschen.«

»Uschi Mader.«

Sämtliche Energie schien nun aus der schmalen Person entwichen zu sein. Sie sank kraftlos auf einen der Stühle und vergrub das Gesicht in den Händen.

Anna zog den zweiten Stuhl näher und setzte sich ihr gegenüber.

»Sind Sie die Frau vom Bachmüller?«

»Freundin. Heiraten wollt er ja nie. Und jetzt steh ich da. Mit nichts!«

»Das tut mir leid, aber vielleicht ist ja alles geregelt. Wie lange waren Sie denn schon zusammen?«

[19] »Fünf Jahre.«

»Vielleicht hat er Sie ja in seinem Testament bedacht.«

»Ha, da sieht man, Sie kannten ihn nicht. Der Freddy hätte nie ein Testament gemacht. Der hat doch immer getan, als wär er zwanzig.«

»Woran ist er denn gestorben?«

»Ich weiß es nicht. Er lag da. Hat sich nicht mehr gerührt. Der Nachbar von nebenan hat ihn gefunden. Ich weiß gar nicht, was der hier drin gewollt hat, die waren doch seit Monaten zerstritten.«

»Warum denn?«

»Männer halt. Es ging um irgendwelche Grundstücksgrenzen. Der Freddy wollte einen Weinberg vom Sieberer kaufen, doch der wollte nicht verkaufen, obwohl der da seit Jahren nichts anbaut.«

»Hatte Ihr Freund denn irgendwelche Beschwerden?«

»Für seine 53 Jahre war der fit wie ein Turnschuh. Lief jeden Tag fünf Kilometer, trank nichts, aß nur Bio.«

»Wie kann man als Weinbauer nichts trinken?«

»Da schaun Sie, was? Er hat sich immer lustig gemacht über die ganzen Saufköpfe, wie er sie genannt hat, hier im Dorf. Nein, er hat immer nur genippt.«

»Wissen Sie denn, in welches Spital sie ihn gebracht haben?«

»Ja, erst nach Korneuburg. Aber dann brauchten sie eine Herzintensivstation und haben ihn ins Wilhelminenspital gebracht. Aber die haben auch nichts mehr tun können. Als ich hingekommen bin, war er schon tot.«

[20] Uschi Mader tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen.

»Kommen Sie. Soll ich Sie nach Hause bringen? Haben Sie denn jemanden, der sich um Sie kümmert?«

Bevor Uschi Mader antworten konnte, hielt ein Auto mit quietschenden Bremsen vor dem Weinkeller. Flankiert von zwei Polizisten, betrat ein Mann in zerknittertem Leinenanzug den dunklen Raum, ignorierte Uschi Mader und fixierte Anna mit finsterem Blick.

»Was haben Sie hier zu suchen?«

»Grüß Gott, Herr Kollege Kronenburger, wie geht es Ihnen denn?«

Anna streckte ihm die Hand entgegen, doch ihr Gegenüber trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die beiden kannten sich von früher, ein Autor war im Schlafwagen ermordet worden. Und da die Leiche in Niederösterreich entdeckt worden war, hatte man erst einmal die örtliche Polizei verständigt. Als Anna damals dazukam, war sie mit dem »Provinzkollegen« rasch aneinandergeraten.

»Kronberger, Frau Habel. Ich heiße immer noch Kronberger. Und würden Sie freundlicherweise meine Frage beantworten: Was suchen Sie hier?«

»Ich suche gar nichts. Ich habe hier ein kleines Häuschen im Ort und bin rein privat hier.«

»Und jetzt wollten Sie bei Herrn Bachmüller Wein kaufen, und ganz zufällig ist er tot.«

»Ja, so ungefähr. Ich habe mich ein wenig mit Frau Mader unterhalten.«

»Na wunderbar, dann brauchen wir das ja nicht [21] mehr tun, wenn Sie eh die ganze Arbeit erledigt haben.«

»Ist denn Herr Bachmüller keines natürlichen Todes gestorben?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Wie auch immer, Kollege Kronenburger, soviel ich weiß, ist er ja in Wien gestorben. Das heißt, wenn es ein Fall ist, dann ist es ohnehin mein Fall. Und falls Sie hier schon irgendwelche Untersuchungsergebnisse haben, dann bitte ich Sie, mir diese weiterzuleiten. Und jetzt sperren wir erst mal den Tatort ab, bevor hier noch mehr Leute durchtrampeln. Sie haben doch sicher Absperrband und ein Polizeisiegel dabei, Herr Kollege?«

Kronberger erwiderte nichts und drehte sich auf dem Absatz um. Die beiden Uniformierten standen unschlüssig herum, und auch Uschi Mader schien nicht recht zu wissen, was nun zu tun sei.

»Frau Mader, seine Unterlagen, die Auftragsbücher und die Abrechnungen, hatte die Herr Bachmüller hier oder in seinem Wohnhaus?«

»Nein, hier ist nichts. Das ist alles in seinem Büro.«

»Die Adresse?«

»Salchenberg 78. Das ist das gelbe Haus hinter dem Bahnhof.«

Als sie aus dem Weinkeller traten, blieb Anna vor Hitze fast die Luft weg, obwohl es inzwischen später Nachmittag war. Sie sperrte eigenhändig den Weinkeller ab und kontrollierte, ob Kronberger die Tür korrekt versiegelte. Der große altmodische Schlüssel passte nicht [22] in ihre Hosentasche, und sie hielt ihn in der Hand wie ein zu großes Kinderspielzeug.

»Ich komme dann später kurz vorbei und bringe Ihnen meine Karte. Wir haben sicher auch noch ein paar Fragen, bitte geben Sie mir doch Ihre Telefonnummer.«

Uschi Mader war sichtlich schockiert über die Entwicklung der Dinge und blickte misstrauisch von Anna zu Kronberger. »Wer ist denn nun zuständig? Und warum braucht man überhaupt die Polizei?«

Kronberger hatte keine Chance, auch nur den Mund aufzumachen.

»Zuständig bin ich. Und die Polizei braucht man, weil man ausschließen muss, dass Herr Bachmüller unter Fremdeinwirkung verstorben ist. Schließlich war er nicht neunzig oder schwer krank.«

Uschi Mader hielt sich die Hand vor den Mund. »Fremdeinwirkung? Was soll das heißen?«

»Erst mal heißt das gar nichts. Eine reine Routineangelegenheit. «

[23] 3

Bernhardt hatte keine Lust, in seine Wohnung zu gehen, und so war er schlecht gelaunt und schwitzend mit seinem Fahrrad zum Schlosspark Charlottenburg gefahren. Dort legte er sich in den Schatten einer riesigen Eiche. Gegen neun Uhr abends spürte er, wie die Blätter des Baums Kühle abzugeben begannen. Er stand erst auf, als es dunkel geworden war. Die kleine Sauerstoffdusche hatte ihm gutgetan. Er fuhr die Schlossstraße runter und hielt an der Kastanie. Unter einem ausladenden Kastanienbaum standen Bänke und Tische, an denen sich Leute unterhielten und ihr Bier tranken. Er setzte sich in das milde Licht einer Laterne und blickte auf das beleuchtete Schild mit der Bierreklame, das über dem Eingang zur Kneipe angebracht war. Auf gelbem Grund war ein großes Bierglas zu sehen, aus dem pfiffig ein Kindergesicht blickte: Dieses Bier hatte ihm schon immer besser geschmeckt als das andere Berliner Traditionsbier, auf dessen Wirtshausschildern ein Mann in mittelalterlichem Ornat prangte.

Doch die Berliner Proletenbiere wurden hier schon längst nicht mehr ausgeschenkt, und Soleier, Gurken und Buletten, die früher auf der Theke jeder Berliner Eckkneipe gestanden hatten, waren nur ferne Erinnerung, [24] wenn überhaupt. Jetzt gab’s Jever Pils, Lammsbräu mit dem Biosiegel, Memminger Weißbier, dazu Schwäbische Maultaschen, Münchner Weißwürste und Fränkischen Wurstsalat. Am Nebentisch unterhielten sich ein paar verschwitzte Boulespieler, die auf dem Fußgängerweg in der Mitte der Straße an einem Turnier teilgenommen hatten, am »34. Kastanienturnier«, das sich ganz bescheiden »Grand Prix d’Allemagne« nannte, wie Thomas Bernhardt verblüfft auf einem Plakat an der Kneipentür las.

Als er sein zweites großes Jever intus hatte, verschwamm die Wirklichkeit langsam zu einem großen impressionistischen Gemälde. Er spürte, wie sich die Härte und Depression, die der letzte Fall in ihm produziert hatte, auflösten. Er wusste genau, dass dieses gute Gefühl nur kurze Zeit dauern würde, aber er genoss es trotzdem. Morgen würde er wieder an das vierzehnjährige Mädchen denken, das täglich brav ins Gymnasium gegangen war und abends mit irgendwelchen Typen Drogenpartys in Neukölln gefeiert hatte. Und dann umgebracht, in einen Koffer gesteckt und verbrannt worden war. Weil sie zu viel wusste? Weil sie eine Überdosis genommen hatte? Es war ihnen bis jetzt nicht gelungen, den Fall aufzuklären. Cornelia Karsunke hatten die Untersuchungen stark mitgenommen. »Ich müsste mit den Kindern umziehen«, sagte sie, »aber wohin? In irgend so’n Spießerdorf in Brandenburg?« Aus dem Rollberg-Kiez, wo ihre Großeltern schon gewohnt hatten, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus den Tiefen des Ostens gekommen waren, würde sie schwer wegkommen. »Is so [25] was wie meine Heimat«, hatte sie zu Thomas Bernhardt einmal in ihrer lakonischen Art gesagt.

Als eine Latino-Band zu spielen anfing, zahlte er, griff sich sein Fahrrad und schob es die Schlossstraße runter und dann die Suarezstraße, wo aus der Feuerwache ein paar Wagen preschten. Sirenengeheul, Blaulicht. Selbst als die Wagen schon längst verschwunden waren, vibrierte die heiße Luft noch, die plötzlich ausgebrochene Energie verebbte nur langsam. Er ging über den Amtsgerichtsplatz, der von alten gusseisernen Gaslampen beleuchtet wurde, und näherte sich über die Leonhardtstraße dem Stuttgarter Platz.

Dicht an dicht saßen die Leute vor den Kneipen, ihr Gerede lag wie eine summende Wolke über dem Platz. Hier war Charlottenburg ganz bei sich selbst, die Architekten und Rechtsanwälte, die Lehrer und Professoren, die Senatsangestellten und Redakteure lebten in diesem kleinen Soziotop ihre gesicherte Existenz, gut versorgt von italienischen Restaurants und Feinschmeckerläden. Ihre Kinder hatten sich längst nach Prenzlauerberg, Friedrichshain, Kreuzberg und neuerdings Neukölln aufgemacht, so dass der Altersdurchschnitt relativ hoch war. Aber das Lebensgefühl der Leute war über die Jahrzehnte unverändert geblieben: Links ist gut, wir sind gut. Diese bräsige Selbstgewissheit missfiel Thomas Bernhardt, wobei er sich in stillen Momenten eingestand, dass er selbst nicht ganz frei davon war.

[26] 4

Anna betrat durch die hintere Tür den ummauerten Hof ihres Häuschens. Florian lag in der Hängematte, einen Strohhut tief ins Gesicht gezogen, nackter Oberkörper, knielange Boxershorts.

»Wo warst du?«

»Ein wenig spazieren.«

»Bei der Hitze?«

»Ja, ich war in einem Weinkeller, da war es schön kühl.«

»Warst du bei dem Toten?«

»Ja, aber der ist längst nicht mehr da. Nur eine Hinterbliebene, die ist aber relativ gefasst.«

»Mama, hast du nicht frei dieses Wochenende?«

»Ja, eh. Ich hab ja nur mal geschaut. Magst du ein Cola? Und ich glaube, wir haben auch noch Eis im Gefrierschrank.«

»Ja. Und gehen wir zum Heurigen?«

»Ich muss. Mich ein wenig umhören. Irgendwas ist komisch mit dem Tod von diesem Freddy Bachmüller.«

»Mein Gott, der war halt alt und ist gestorben. Du siehst überall nur Verbrechen.«

»Wir werden sehen, vielleicht hast du ja recht, aber alt war der nicht.«

[27] Der Rest des Nachmittags wurde mit Eisessen und Dösen verbracht. Anna versuchte immer wieder den Faden ihres Buches aufzunehmen, doch ihre Gedanken waren woanders.

Sie suchte ihr Handy und wählte Kolonjas Nummer.

»Was gibt’s? Hast du Sehnsucht?« Kolonja war sichtlich verwundert, Annas Stimme zu hören.

»Nicht direkt. Kolonja, hör zu. Kannst du bitte im Wilhelminenspital anrufen, auf der Pathologie, und etwas rausfinden?«

»Jetzt? Am Freitagabend? Du glaubst doch nicht, dass da noch irgendwer ist!«

»Bitte versuch es. Da ist heute einer gestorben, gestern Abend eingeliefert. Ein gewisser Freddy Bachmüller, 53 Jahre alt, Adresse Salchenberg 78.«

»Moment mal. Salchenberg? Ist da nicht dein Häusl? Anna, was hast du angestellt?«

»Nichts, gar nichts. Reine Routineüberprüfung.«

»Leg dich nicht mit den niederösterreichischen Kollegen an.«

»Leider schon zu spät. Aber dieser Kronenburger hasst mich ja sowieso. Da muss ich gar nichts mehr machen.«

»Und irgendwann wird er Innenminister, und du kannst in Frühpension gehen.«

»Wenn der Innenminister wird, dann werd ich Finanzministerin. Obwohl – in diesem Land ist wohl alles möglich.«

»Also gut. Ich ruf an. Kennst du da jemanden?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Gut, was willst du wissen?«

[28] »An was der Bachmüller gestorben ist, natürlich. Ob es schon Ergebnisse gibt, ob er schon obduziert ist.«

»Anna, es gibt auch natürliche Tode.«

»Ja, aber angeblich war der topfit und pumperlgsund, und dann plötzlich: Herzintensiv und tot. Ich will nur sichergehen.«

»Alles klar. Ich meld mich.«

Nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatten, machten sich Anna und Florian auf den Weg in die Kellergasse. Vor dem größten Heurigen standen unter einem riesigen Nussbaum mehrere Tische mit Bänken, die inzwischen gut besetzt waren. Sie fanden noch zwei Plätze an der Hausmauer, und der dicke Hund der Wirtsleute begrüßte sie träge.

»Servus. Lange nicht gesehen! Und der Bub ist groß geworden.«

Die Wirtin Elfi – im klassischen Dirndl – stellte ein Tablett leerer Gläser ab und wischte über die klebrige Tischplatte.

»Ja, weißt eh. Immer zu viel Arbeit. Und der Florian hat auch Besseres zu tun, als mit seiner alten Mutter aufs Land zu fahren.«

»Was wollt’s denn trinken?«

»Ich hätt gern einen Veltliner und eine Flasche Mineralwasser. Und Florian Traubensaft?«

Der nickte nur und studierte die Karte.

Während sie aufs Essen warteten, blickte sich Anna ein wenig um. Sie kannte die meisten Leute nur vom Sehen, ein paar nickten ihr zu.

[29] Kurz darauf brachte die Wirtin zwei riesige Speckbrote auf runden Holztellern und setzte sich kurz auf die äußerste Kante der Holzbank. Sie beugte sich vertraulich vor, und Florian starrte in ihr beachtliches Dekolleté.

»Ist ja ein Zufall, dass du gerade da bist, wo einer stirbt.«

»Ja, aber ich war’s nicht, ehrlich.«

»Komisch ist das ja schon, am Mittwoch war der noch völlig g’sund, und am Freitag fällt er einfach um.«

»Glaubst, da hat jemand nachgeholfen?«

»Ich weiß es nicht. Mögen hat ihn ja niemand so richtig im Ort, aber umbringen tut man deswegen doch keinen.«

»War der von hier?«

»Nein, der ist hier plötzlich aufgetaucht, so vor zehn Jahren. Hat das Haus oben am Bahnhof gekauft und den alten Keller mit ein paar Weinbergen. Angeblich alles gleich bezahlt, ohne Kredit. Sagte zumindest der Pechböck von der Bank.«

»Wer kannte ihn denn näher?«

»Gekannt haben wir ihn alle. Schließlich hat er ja hier gewohnt. Nicht so einer, der alle heiligen Zeiten aus der Stadt kommt und ein bisschen auf rustikal macht.« Sie grinste Anna schief an. »Mit dem Pfarrer war er befreundet. Hat im Kirchenchor gesungen und im Pfarrblatt geschrieben.«

»Und der Sieberer?«

»Ja, der ist auch ein sturer Hund. Wollt ihm ums Verrecken ein Stück Grund nicht verkaufen, obwohl das [30] seit Jahren brachliegt. Aber der sitzt eh da drüben, den kannst ja selber fragen. – Geh, Sieberer, komm einmal her!«

Ein schmales Männchen in speckiger Lederweste hob fragend den Kopf.

»Was gibt’s?«

Elfi stand auf und ging zu ihm.

»Das ist die Anna, die arbeitet bei der Polizei in Wien. Der gehört das Haus unten am Bach. Sie wollt was wissen wegen dem Bachmüller.«

»Ich weiß nix.«

Anna war dazugetreten und gab Sieberer die Hand. Der stand nicht auf und starrte mürrisch in sein Weinglas.

»Sie haben den Bachmüller gefunden?«

»Ja.«

»Was wollten Sie denn von ihm?«

»Er hatte mich eingeladen. Wollt noch mal reden mit mir wegen dem Hang.«

»Und da lag er dann.«

»Ja. Hat sich nicht mehr gerührt. Und ganz blau war er.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich hab die Rettung angerufen.«

»Haben Sie nicht versucht, Erste Hilfe zu leisten?«

»Der hat so tot ausgeschaut, den wollt ich nimmer anfassen.«

»Ist Ihnen sonst was aufgefallen?«

»Nein.« Sieberer biss sich auf die Zunge und wurde noch ein wenig kleiner.

[31] »Warum habt ihr denn so gestritten?«

»Schikaniert hat er mich. Hat sich immer aufgeregt, dass ich ihm seinen Wein versau, nur weil ich daneben ein wenig gegen das Ungeziefer gespritzt hab. Aber er, er war ja biologisch-dynamisch.«

Er sprach das Wort mit Verachtung aus und nahm – wie zur Bestätigung – einen großen Schluck aus seinem Glas.

»Und warum haben Sie ihm das Stück Hang nicht verkauft?«

»Aus Prinzip. Weil ich das nicht einsehe. Kommt da so ein aufgeblasener Piefke daher und will uns erklären, wie man einen ordentlichen Wein macht.«

»Der Bachmüller war Deutscher?«

»Ja, man hat es aber kaum mehr gehört. Magst noch ein Vierterl, Sieberer?« Elfi schob Anna sanft, aber bestimmt in Richtung ihres Tisches. »Jetzt lass ihn in Ruh. Der ist sowieso schon fertig. Der lauft dir nicht davon.«

Florian hatte inzwischen sein ganzes Speckbrot verdrückt und war sichtlich genervt. Bevor er sich beschwerte, nahm Anna seine Hand und zwang ihn, sie anzusehen.

»Entschuldigung.«

»Was denn? Ist doch wie immer.«

»Ich habe ›Entschuldigung‹ gesagt.«

»Ich hab’s gehört.«

»Magst noch was trinken?«

»Warum bin ich eigentlich mitgefahren?«

»Ja, ist schon gut. Ich hör auf. Ich ess jetzt mein Brot, und dann gehen wir nach Hause. Ich rede mit niemandem mehr, okay?«

[32] »Heute, meinst du?«

»Ja, heute.«

»Glaubst du wirklich, dass den einer umgebracht hat?«

»Ich weiß es nicht. Aber es ist nicht ganz unwahrscheinlich. Man stirbt nur in den seltensten Fällen einfach so.«

Den Rest des Abends verbrachten sie am Küchentisch und spielten zwei Partien Scrabble. Die Zeiten, in denen sie Florian absichtlich hatte gewinnen lassen, waren längst vorbei, er war ihr haushoch überlegen. Anna hoffte, dass Florian ihre Unkonzentriertheit nicht bemerken würde.

[33] 5

Vor dem Lentz setzte sich Thomas Bernhardt neben einen graubärtigen Mann, der trübsinnig in sein Bier starrte. Er spürte Abwehr, als er den Typen verstohlen musterte. Irgendwoher kannte er den. Nur woher? Etwas Vergangenes war das, etwas Unangenehmes. Er grub in seinem Gedächtnis. Und dann ging ihm ein Licht auf. O Gott, das war… ihm fiel der Name nicht ein. Vor seinem inneren Auge entfaltete sich ein Sommer in der oberhessischen Provinz. Wie alt war er damals gewesen? Sechzehn Jahre, vielleicht siebzehn. In jenen Ferientagen war er jeden Tag mit Freunden ins Schwimmbad gegangen. Sie hatten Fußball gespielt, sich wie junge Hunde gegenseitig angerempelt und miteinander gekämpft. Abends war er müde und sonnenverbrannt nach Hause gegangen. Dann stellte seine Mutter Grießbrei mit Himbeersoße oder Zimtreis und kalten Nudelsalat auf den Tisch. Der Vater war selten da, hatte anderes zu tun. Die Mutter stand vor dem offenen Fenster im Gegenlicht, fragte, wie’s gewesen war. Aber er hatte nicht viel zu erzählen und ging noch einmal auf die Straße, wo die Freunde warteten. Wunderbare, endlos sich dehnende Abende und noch mal Fußballspiel, bis die Dämmerung kam und die Laternen angingen. In [34] der Nachbarschaft war eine Familie in ein neuerbautes Haus eingezogen. Zwei ältere Söhne hatten die und drei Mädchen, die mehr oder weniger in seinem Alter waren. In die mittlere hatte er sich verliebt und sich ganz und gar schutzlos dieser Liebe hingegeben. Aber er hatte einen Konkurrenten, ein bisschen älter als er selbst – und der saß jetzt hier, wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, als seien die verflossenen Jahrzehnte nur ein paar Tage gewesen.

Bernhardt wollte aufstehen, aber es war zu spät. Der andere grinste schief.

»Thomas?«

»Wie bitte?«

»Komm, ich seh dir an, dass du mich auch erkannt hast, musst dich nicht verstellen.«

»Liegt mir fern.«

»Wegen damals musst du doch nicht mehr sauer sein.«

Bernhardt merkte, dass er mit den Zähnen knirschte. »Ich bin nicht sauer. Ich kann mich noch nicht mal an deinen Namen erinnern.«

»Mann, wir waren in dasselbe Mädchen verliebt, in die Freya. Ich bin der Paul, der Tannert.«

Bernhardt spürte ein schmerzliches Ziehen, das sich flutend vom Magen zum Brustkorb ausdehnte. Das hatte er so zum letzten Mal in jener längst vergangenen Zeit erlebt, wenn er das Mädchen angeschaut hatte. Freya, die ihn verzaubert, ihn in einen seltsamen Schwindel getrieben hatte. Die ihn anlachte, manchmal mit wehendem Rock auf dem Gepäckträger seines Fahrrades mitfuhr. Er fühlte sich ihr so nah, dass es schmerzte. Bei [35] jeder schüchternen Berührung gab es einen elektrischen Schlag.

Und dann war dieser Typ gekommen, an dessen Namen er sich nicht erinnern wollte und der ihn jetzt aus blutunterlaufenen Augen anstarrte.

»Mann, ich hatte bei der Freya einfach mehr Erfolg, weil ich schon ein Moped hatte. Du weißt doch, wie die Frauen sind. Die schauen auf so was, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Obwohl, ich glaub, die war mehr in dich verliebt als in mich. Aber du warst einfach zu strange, weißt du, was ich damit meine?«

»Nee.«

»Du warst zu stark in die Freya verliebt. Die hat das nicht ausgehalten, wie du die angeschmachtet hast. Die hat irgendwie gemerkt, dass sie schwach werden könnte.«

Bernhardt konnte nur mit Mühe sein Verlangen unterdrücken, dem Typen einen Kinnhaken zu verpassen. Er schwieg, während der andere einfach nicht lockerließ.

»Und ihr Vater, der hatte Angst, dass du ihr die Unschuld raubst. Wirklich. Und bei mir, so komisch das klingt, bestand da keine Gefahr. Hab ich aber erst viel später begriffen, ich hab die vor dir gerettet. So war das, und so sind wir beide nicht zum Schuss gekommen. Mann, wenn man sich das überlegt, mit Bumsen war damals ja überhaupt nichts. Da hat sich zum Glück einiges geändert.«

Bernhardt ballte die Faust und schaute sein Gegenüber an: Hatte der vielleicht sogar den Punkt getroffen?

»Und du bist jetzt Bulle, hat mir Freya erzählt.«

[36] Bernhardt schaute auf sein Gegenüber: Was sagte der?

»Ja, wir treffen uns gelegentlich, sie ist ja unverheiratet geblieben, anders als ihre Schwestern. Sie hat dich mal im Fernsehen gesehen, Mordkommission. Finde ich ja klasse.«

Tannert lachte. Bernhardt schwieg und überlegte: Hatte er diesen Typen nicht später noch mal kurz erlebt, in einer dieser Kapital-AGs? Genau: Er war in der Gruppe der Radikalste von allen gewesen. Nicht in der Theorie steckenbleiben, war seine Devise, die Revolution muss bewaffnet sein, die Macht kommt aus den Gewehrläufen. Vieles hatte Bernhardt inzwischen vergessen, aber noch immer war er froh, dass er sich nicht auf den Weg der Gewalt begeben hatte. Nun also dieses Gespenst aus der Vergangenheit, das sich offensichtlich freute, ihn wiederzusehen.

»Was meinst du, was ich jetzt mache?«

»Keine Ahnung, vielleicht bist du Autor einer Zeitschrift, die Der dritte Weg heißt?«

»Nee, ich bin Beamter wie du.«

»Na, wunderbar.«

»Ja, stell dir vor, Professor an der Fachhochschule für Verwaltungswissenschaften. Und außerdem bin ich bei der SPD noch so eine Art Parteihistoriker.«

»Brauchen die denn so was noch?«

Tannert schaute jetzt ziemlich verbissen aus seinem Lacoste-Hemd. Und Bernhardt wollte es gut sein lassen. Aber die Hitze, der halbe Mond über dem Platz, das kühle Bier, das in seinen Kopf eine erstaunliche [37] Helligkeit gezaubert hatte, kurzum: die Magie der Sommernacht sorgte dafür, dass Bernhardt den Platz nicht verlassen konnte.

Als es langsam leer wurde vor den Kneipen, zog er mit Tannert, den er gar nicht mehr loswurde, vom guten Teil des »Stuttis« zum weniger guten in Richtung Kaiser-Friedrich-Straße. Innerhalb weniger Meter änderte sich das Bild. Unvermittelt neben dem gutbürgerlichen Areal existierte das Rotlichtmilieu: Puffs und Stripteasebars in runtergewirtschafteten bürgerlichen Häusern. Im Café Voltaire, das Tag und Nacht geöffnet hatte und sozusagen das Bindeglied zwischen den beiden Milieus war, trafen sich nun die etwas bunteren Gestalten.

Bernhardt saß mit Tannert draußen an einem verschmierten Tisch und schaute auf das gegenüberliegende Viadukt, wo die S-Bahnen vorbeiratterten. Tannert faselte etwas vom bewaffneten Kampf und verhaspelte sich immer mehr in seiner Abwägung des Für und Wider. Am Nebentisch erklärte ein dicker schwuler Modeschöpfer einer müden, vielleicht sechzehn-, siebzehnjährigen Prostituierten, dass sie mit seiner Hilfe das Abitur machen und studieren könne, dass er sie bis zum Dr. phil. führen werde, sie müsse ihm halt nur vertrauen. Irgendwann setzten sich ein paar sehr junge, sehr blonde russische Prostituierte mit einer Flasche Prosecco zu ihnen. Sie lachten: Nein, keine Angst, sie hätten Dienstschluss, sie müssten ihnen nichts ausgeben. Bernhardt hörte ihnen zerstreut zu, er hatte den Eindruck, dass er ein bisschen über der Erde schwebte. Der Singsang der Stimmen: Ja, Sibirien, sie seien alle aus Sibirien, und natürlich [38] würden sie zurückgehen, nach Tschita, da sollten sie dann mal vorbeikommen.

Wie Bernhardt es geschafft hatte, mit seinem Fahrrad in die Merseburger Straße zu gelangen, war ihm später nicht ganz klar. Den unablässig quasselnden Tannert hatte er unterwegs verloren. Als die Sonne aufging, stand er auf seinem kleinen Balkon. Die Vögel in der Kastanie im Hinterhof fingen an zu lärmen. Ein neuer heißer Tag begann, als sich Bernhardt endlich auf seine Matratze fallen ließ.

Er hatte sich ein paar Stunden hin- und hergewälzt und war nicht richtig eingeschlafen. Der kalte Strahl aus der Dusche, den er lange auf sich niederprasseln ließ, weckte ihn brutal, der Kopfschmerz trat widerwillig den Rückzug an. Es war schon elf Uhr. Er zog sich schnell an, warf die Badesachen in eine Tasche und verließ, bevor ihm der Schweiß wieder ausbrach, seine Wohnung.

Als er aus dem Dämmer des Treppenhauses hinaus ins Freie trat, traf ihn die Gewalt der Sonne unerwartet. Hinter seiner Stirn begann es wieder stärker zu pochen. Im Auto öffnete er das Schiebedach. Von oben wirbelte jetzt heiße Luft herein. Nach wenigen Minuten fühlte sich Bernhardt ganz wohl, er freute sich auf das schöne seidige Wasser des Sees, auf die Stunden, die er unter einem Baum verdösen würde. Keine Zeitungen, keine Bücher, nichts.

Er spürte, dass es ein guter Tag werden konnte. Die Fahrt durch die Stadt war problemlos, keine Staus. Im Wedding saßen die ersten Trinker vor den Kneipen, vor [39] einem Hochhaus liefen Kinder durch den Wasserstrahl eines Rasensprengers. Die Autobahn Richtung Norden war frei. Und als er die Abfahrt »Lanke« nahm und durch schmale Alleen fuhr, deren Baumdächer sich über ihm wölbten und sonnengesprenkelten Schatten spendeten, fühlte er diesen winzigen Moment Glück, der ihm so lange gefehlt hatte.

Er kam gerade rechtzeitig, um die kleine Fähre zur Insel, die mitten im Liepnitzsee lag, zu erreichen. Das asthmatische Gefährt, das nur mühsam Fahrt aufnahm, wurde noch immer von dem Mann gesteuert, mit dem er sich im vergangenen Jahr unterhalten hatte und der auch diesmal wieder von seinen dreißig Jahren Fährdienst sprach. Demnächst würde er ja nun endlich in Ruhestand gehen. Wer das dann machen würde? Ja, wer denn? Der müsse im Sommer täglich von 8 bis 19 Uhr ständig hin- und herfahren. Der müsse ja Spaß daran haben, so wie er. Und mit jedem Fahrgast gut auskommen. Selbst mit so ’nem Typen wie Honecker. Den habe er auch mal gefahren. Für die Jüngeren an Bord: Der war mal ’n großes Tier. Generalsekretär und noch ’n paar Titel. Er schaute einen älteren Mann mit kurzen Hosen, grauen Sandalen und grellfarbig gestreiftem Hemd an: Na, Sie erinnern sich aber noch, oder? Der Mann nickte: Allerdings. Thomas Bernhardt hatte den Eindruck, dass der griesgrämige Ältere sich wohl ein bisschen mehr Respekt gegenüber dem Generalsekretär erwartet hätte. Vor zwanzig Jahren war der wahrscheinlich in der mittleren SED-Kulturbürokratie angesiedelt, schätzte er.

Nach wenigen Minuten hatten sie die Anlegestelle [40] auf der Insel erreicht. Er hätte ein Ruderboot mieten können, was er sich vor Jahren einmal gegönnt hatte. Den ganzen Tag hatte er sich damals auf dem See treiben lassen, ab und zu ein paar Schläge gemacht, um nicht ans Land getrieben zu werden. Abends war er mit einem satten Sonnenbrand wieder in die Stadt gefahren. Unvergesslich. Jetzt ging er über sandige Wege zur Badestelle der Insel. Die Kneipe in der Mitte der Insel, die wie eine Westernstadt mit rohen, nachlässig zusammengefügten Holzbohlen eingefriedet war, ließ er rechts liegen, folgte dem Weg mit seinen kurzen An- und Abstiegen, schaute nicht ohne eine gewisse Ablehnung auf die großen Zelte, die unter den Fichten standen. Sie wirkten behelfsmäßig, als sei der Krieg noch nicht zu Ende, als hätten Flüchtlinge kurzfristig Aufnahme gefunden und kochten sich in ihrem Blechgeschirr eine karge Mahlzeit. Aber da er versöhnlich gestimmt war, sagte er sich, dass man das alles sicher auch schön finden könne, die Nähe zur Natur, das Gemeinschaftsgefühl der Zeltenden, der Verzicht auf Zivilisation.

Bald öffnete sich der Blick auf die sanft abfallende Badestelle. Viele Menschen, aber nicht zu viele, stellte er fest. Er sah, dass am Ufer noch ein schattiges Plätzchen frei war, von dem man aufs Wasser und auf die Badestelle am gegenüberliegenden Ufer schauen konnte. Er breitete sein Handtuch aus, platzierte sich so, dass ihm niemand zu nahe kommen konnte, steckte die große Plastikwasserflasche zwischen zwei Astgabeln, so dass sie halb im Wasser hing, zog dann die Badehose an und ging ins warme Wasser. Mit schnellen Zügen entfernte [41] er sich vom Ufer, in der Mitte des Sees schwamm er im Kreis oder trat Wasser. Gedämpft drangen die Stimmen von den beiden Badestränden zu ihm, ab und zu dümpelte jemand auf einer Luftmatratze oder einem kleinen Gummiboot an ihm vorbei.

Er machte sich schwer, ließ sich langsam sinken und in die Tiefe des Sees ziehen. Grün strudelte das Wasser vor seinen Augen, kleine Fische flitzten hin und her – Stille und doch von ferne her blubbernde und glucksende Geräusche, als gäbe es eine unterirdische Sprache. Er versuchte, möglichst lange unter Wasser zu bleiben, hielt die Luft an und schoss erst dann nach oben, als er eine kleine Panik verspürte. Nach Luft japsend, hielt er sein Gesicht in die Sonne, drehte sich dann auf den Rücken und trieb ein paar Minuten auf dem Wasser, das Absinken durch leichte Bewegungen der Arme und Beine verhindernd. Als sein Atem wieder normal ging, schwamm er langsam auf das Ufer der Insel zu.

Jetzt war er schön abgekühlt, im Baumschatten fröstelte er sogar ein bisschen.

Die Stunden vergingen. Thomas Bernhardt döste im Schatten vor sich hin, das Gemurmel der Menschen, die Stimmen der im Wasser planschenden Kinder und die Schreie der Jungs, die sich von einem Seil, das um den Ast eines Baumes gebunden war, in den See schleuderten, erreichten nur den Rand seines Bewusstseins. Flüchtige Bilder kamen und verzogen sich schnell wieder: Was Cornelia jetzt wohl machte? Oder Anna Habel, die hyperaktive Kollegin aus Wien? Schade, dass sie sich nach [42] ihrer gemeinsamen Untersuchung des »Eisenbahnfalles«, wie er das nannte, nicht mehr getroffen hatten. Ein Märchen hatte er ihr erzählt. Wie ging das noch mal?

Er richtete sich auf. Er merkte, dass sich seine Sinne geschärft hatten. Er hörte, wie die Wellen leise glucksend auf dem sandigen Uferstück ausliefen, das matte Grün des Sees wirkte geheimnisvoll und verführerisch, durch das milchige Blau des Himmels segelten ein paar weiße Wölkchen, das Licht verlor jetzt am frühen Nachmittag langsam seine grelle Schärfe. Mitten im Juli an einem märkischen See.

Als hielte er die Magie dieses Augenblicks nicht aus, griff er zu seinem Handy. Er schickte an Cornelia eine SMS: »Schade, dass du nicht hier bist. Irgendwann in diesem Sommer…« Und dann noch eine SMS an ›die‹ Anna. Kaum waren die Zeilen losgeschickt, ärgerte er sich. Die Zeitlosigkeit dieses verträumten Nachmittags war vorbei, er war wieder in der Welt.

[43] 6

Obwohl Anna schlecht geschlafen hatte und der Hahn der Nachbarn sie im Morgengrauen das erste Mal aus dem Schlaf gerissen hatte, war es schließlich doch halb zehn, als sie schweißgebadet hochschreckte. Ihr altmodisches Telefon im Vorzimmer klingelte durchdringend, und Anna nahm den Hörer von der Gabel.

»Ja bitte?«

Es gab nur wenige, die diese Nummer hatten, ihr alter Vater und Florian, aber der war ja im Nebenzimmer und schlief.

»Guten Morgen, hier ist Robert. Hab ich dich geweckt?«

»Du bist das! Woher hast du denn die Nummer?«

»Hast du mir mal gegeben, vor einigen Jahren, weißt du nicht mehr?«

»Warum rufst du denn nicht am Handy an?«

»Hab ich ja, geht aber keiner ran.«

»Na gut. Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich am Samstagvormittag hier aufzuscheuchen.«

»Du hast mir gestern einen Auftrag erteilt. Schon vergessen?«

»Stimmt. Und? Was erreicht?«

»Na ja, gestern hab ich nur mit einem [44] Prosekturgehilfen gesprochen. Der meinte lediglich, dass der Tote nicht freigegeben ist, sprich: im Kühlfach liegt. Und heute Morgen hatte ich einen übellaunigen Pathologen dran, der da Wochenenddienst schiebt und wohl nicht übermäßig Lust hat, eine Leiche aufzuschneiden. Andererseits hat er mit bebender Stimme über einen interessanten Fall gesprochen und dass irgendwas daran sicher faul sei.«

»Na wunderbar. Ein wenig präziser?«

»Anna, es ist Wochenende, es hat jetzt schon 29 Grad, und wir sind in Wien.«

»Okay, ein Verdacht reicht erst mal, um hier offiziell ein paar Leute zu befragen. Du hältst mich auf dem Laufenden, und ich schau mich noch ein wenig um. Am Montag bin ich wieder da, und dann wird es hoffentlich Ergebnisse aus dem Wilhelminenspital geben.«

»Jetzt mach doch auch mal ein wenig frei.«

»Ich muss ja auch noch Rasen mähen und Unkraut jäten. Ich geh am Nachmittag nur ein bisserl spazieren und schau mich um.«

»Na gut, tu, was du nicht lassen kannst, aber beschwer dich nachher nicht, dass du nie freihast.«

»Würde ich nie tun, schönes Wochenende.«

Anna machte rasch Kaffee und holte sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Mit dem Rasenmähen musste sie sich beeilen, ab zwölf Uhr war Mittagsruhe im Ort, und dann sollte sie mit den 300 Quadratmetern fertig sein. Als sie den Motor starten wollte, machte der nur gurgelnde Geräusche, immer wieder zog sie die Anlassschnur, aber da war nichts zu machen, kein Benzin.

So wie sie war, in Shorts und T-Shirt, packte Anna den [45]  Irgendwo in Iowa,