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VORWORT

In Vicki Baums Roman Menschen im Hotel heißt es am Schluss programmatisch: »Was im großen Hotel erlebt wird, das sind keine runden, vollen, abgeschlossenen Schicksale. Es sind nur Bruchstücke, Fetzen, Teile. […] Die Drehtür dreht sich, und was zwischen Ankunft und Abreise erlebt wird, das ist nichts Ganzes.« Tatsächlich bleibt das persönliche Erleben der Hotelbewohner nicht nur unabgeschlossen, sondern auch recht vage und nebulös vorsprachlich. Dauernd wissen die Protagonisten nicht so recht, wie ihnen ist; sie finden keine Worte für das, was sie »aufpumpt«. Etwas scheint mit ihrem »Leben nicht ganz richtig zu sein«, aber sie wissen nicht, was genau ihnen fehlt. Wenn Vicki Baum in den Nachttischschubladen ihres Grand Hotel nachschauen würde, fände sie da zwar eventuell wertvolle Perlen, vielleicht auch ein paar wenig gelesene Gideon-Bibeln, jedoch wenig Aufschluss über das Innenleben ihrer Protagonisten: keine Tagebücher, keine Romanmanuskripte, nicht einmal einen Versuch, das Treiben im Hotel, die Shortcuts der durch die Drehtür gefächerten Realitätssplitter sprachlich zu belichten. Das mussten Vicki Baum und ihre Erzählerfigur schon selbst besorgen.

Anders ist das an der bekannten südwestdeutschen Bildungsinstitution, an der die Handlung von Hier kommt Michelle angesiedelt ist. Zwar gibt es auch hier eine Drehtür, die das Rein und Raus, das Hin und Her im Haus grob strukturiert. Zwar lässt sich auch hier sagen: »Die Drehtür dreht sich, und was zwischen Ankunft und Abreise erlebt wird, das ist nichts Ganzes.« Jedoch brauchen hier nicht alle Mitspieler Vicki Baums Sprachfindungsnachhilfe. Mit ein wenig Menschenkenntnis und Sensibilität spürt man besonders im Eingangsbereich neben der Drehtür eine immense Texterzeugungsenergie, die hier Sekunde für Sekunde in einzelnen Passantenköpfen entladen wird. Romane brezeln da durch Gehirne: Hier eine Spätadoleszenznovelle, in der ein Pony krank wird, da ein autobiographisches Liebesgedicht, in dem ein fremder Körper erforscht wird, dann eine Ode, in der ein Besuch im Zoo zu einer Allegorie menschlicher Existenz ausgebaut wird. Dieses Vertextungsmeer bringt natürlich auch jede Menge Unrat und unbrauchbares Treibgut an die Oberfläche. Man muss also genau hinschauen, um die ganz großen Schätze zu heben, hinein in die Köpfe der durch die Drehtür gedrehten Passanten, in ihre Mappen und Taschen, in ihre Schreibtisch- und nicht zuletzt in ihre Nachttischschubladen.

Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um einen solchen Schubladenfund. Die Urfassung lag bis vor Kurzem in einem grauen Rollcontainer der oben erwähnten Hochschule und war mit dem Aktenvermerk »Abfall« versehen. Damit qualifizierte sich der Roman für das Programm der Text-Mission. Der nicht eingetragene Verein will sich der geringsten Brüder und Schwestern unter den Texten annehmen und ihnen in Form einer kleinen Auflage ein textwürdiges Dasein ermöglichen – natürlich in der Hoffnung und mit der Zuversicht, dass gerade verworfene Steine zu Ecksteinen werden.

 

Friedemann Holder

Freiburg, im Juli 2010

 

VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE

Eine von etwa fünf möglichen religiösen Erfahrungen bestehe darin, sich gerettet zu wähnen, behauptete William James in seiner Gifford-Vorlesung, die er 1901-1902 in Edinburgh vortrug. Ein »grauenvolles Empfinden, das das Blut gefrieren und den Herzschlag stocken lässt« weicht plötzlich einem Zustand der »Sicherheit«. Die subjektive Gewissheit, einmal im Himmel mit dabei zu sein, stellt sich freudig ein und wird als Bekehrungserlebnis verbucht. Man muss es sich wohl wie bei verunglückten Bergsteigern vorstellen: Sie werden aus Gefahren geborgen, die oft von Angst und Todesnähe begleitet sind, kehren aber dann, in Alufolie eingewickelt, in die familiäre Sicherheitszone zurück und fühlen sich wie neugeboren. Nicht wenige reden anschließend ausführlich davon, wie viel sie am Berg über sich und ihr Leben gelernt haben und wie stark ihre Lebensperspektive dadurch verändert wurde.

Leider sind Bergungs- und Rettungsangebote nicht immer seriös und fallen oft nicht zur Zufriedenheit der Geretteten aus: Bahren und Tragen müssten dringend ausrangiert werden, die Bergungshelfer sind betrunken, die Bernhardiner blind, die Rumfässchen leer. Michelle selbst hatte nicht den allerbesten Eindruck von ihren Bergführern und -rettern, zumindest sieht sie das im Nachhinein so. Direkt nach ihrer Befreiung aus einem alten Aktencontainer war sie jedoch zunächst ganz glücklich: Von den Text-Missionaren des kleinen josfritz.verlags wurde sie gerettet und mit einem stoßfesten Einband und mehreren Vorworten versehen. Sie kam überraschend groß heraus, sogar die FAZ war von ihrer ungewöhnlichen Karriere begeistert.

Ihr Unbehagen begann damit, dass man dieses Buch, dessen Titelheldin sie war, auf Amazon nicht bestellen konnte. Obwohl sie mit ihrer offenen, unprätentiösen Art den Nerv einer ganzen Studentengeneration getroffen hatte, war es ihren Fans unmöglich, sie auf dem kürzesten Weg in den Warenkorb zu legen. Ihre Freunde und ihre Eltern hätten ihr gerne eine Amazon-Rezension geschrieben. Das ging nun nicht, weil Amazon aus Sicht des josfritz.verlags ein Killerfisch im Karpfenteich des Buchhandels war und schon viele kleine Buchläden auf dem Gewissen hatte. Überhaupt Freiburg, die Specht-Passage, das Vauban – sie war für eine derartig weltabgewandte politische Verhärmung einfach noch zu jung. Außerdem war das ständige Gelaber von offenen Subjekten, von Empörung und vom Schreiben als Pilgern im Text-Missions-Club einfach nicht ihr »piece of cake«, wie sie seit ihrem Auslandssemester in Bradford sagte. Und um richtig shoppen zu gehen, musste sie immer nach Zürich fahren. An Freiburger Standards gemessen, hatte sie mit großen Marken einfach kein Problem. Im Gegenteil.

Dass sie ausgerechnet bei einer so schwachen Marke wie der Text-Mission angesiedelt war, die zudem unschicke Assoziationen mit einem radikal christlichen Weltbild freisetzte, war ihr ein Dorn im Auge, mehr: ein Pfahl im Fleisch. Nach dem anfänglich bombastischen Rettungserfolg war ihr die karitative Energie, die ihr entgegenkam, bald zuwider. Die einfache Aludecke der Text-Mission taugte ihr nicht mehr. Eine nachhaltige Bergung mit Kanonisierungsperspektiven war nicht in Sicht. An dieser Stelle kam die Piper-Rettungsmannschaft ins Spiel, die Michelle an Bord ihres alarmbereiten Helikopters nahm und sie nach München unter das stabile Piper-Marken-Dach brachte. Von einem kleinen Begrüßungsausschuss wurde sie in der Ingeborg-Bachmann-Lounge zu einer Pressekonferenz erwartet. »Ich bin froh, hier zu sein«, sagte sie bei ihrer Ankunft. »Genaugenommen war es ein Albtraum.« Auf Einzelheiten der Episode wollte sie sich zunächst nicht einlassen, aber dann sagte sie doch: »Wie schlecht die Agenten der Klein- und Billigverlage gekleidet sind, das wollen Sie gar nicht wissen.« Dennoch sei sie sicher, dass auch diese Erfahrung für irgendetwas gut war. Sicherlich habe sie viel Wichtiges über das Leben und über sich selbst gelernt, und bestimmt besitze sie jetzt eine klarere Lebensperspektive.

 

Friedemann Holder

Freiburg, im August 2012

 

Dieser Roman ist larmoyant, verbittert, arrogant, ungerecht und unpsychologisch; er enthält Stereotypen, Versatzstücke, Gesellschaftskritik, Verhöhnungen, Polemik und ein negatives Weltbild. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind beabsichtigt.

Here comes the sun,

and I say: it’s alright.

 

 

Hier kommt Michelle, eine reizende junge Abiturientin mit einem schmalen, flinken Körper, einer raschen Auffassungsgabe und einer ausgeprägten Schwäche für Katzen. Im Moment kann sie aber keine halten, denn sie weiß nicht, wo sie die nächsten Jahre verbringen wird, und Katzen brauchen Sicherheit. Michelle dagegen ist bereit, einiges auszuprobieren, schließlich hat sie sich in den letzten Jahren sehr am Riemen gerissen, und gelohnt hat es sich, das sagt jeder, und sie selbst sagt es sich voller Stolz. Ein gutes, nein ein sehr gutes, ein überdurchschnittliches Abitur, und Michelle ist das nicht in den Schoß gefallen, sie hat fleißig gelernt, zum Glück kann sie sich die Dinge leicht merken, solange sie nicht allzu kompliziert sind, und ihre Eltern haben sie sehr unterstützt, und auch ihr Freund hat sie sehr unterstützt, das allerdings ist ein trauriges Kapitel, denn der Freund hat sich aus dem Staub gemacht, mit einer anderen ist er über alle Berge, nach Australien sogar, weiter geht es ja gar nicht, aber Michelle ist das ganz recht, so muss sie wenigstens nicht befürchten, ihn ständig im Supermarkt oder im Kino zu treffen, und wenn sie einsam ist, hat sie ja genug Freundinnen, die ihr beistehen, und bald wird sie sowieso keine Zeit mehr für Männer haben, und auch nicht für Katzen, weil sie ihr Studium beginnen wird. Sie wird über dem Studium nicht die Eltern vernachlässigen, und die Freundinnen nach Möglichkeit auch nicht, und den schmalen flinken Körper nicht, den sie im Fitnessstudio trainiert, aber das kann sie ja auch als Studentin tun, die Zeit wird sie sich eben nehmen.

 

Hier ist die Erzählerin. Sie reibt sich die Hände, weil sie dieses harmlose Mädchen mit groben Strichen entworfen hat und sich jetzt schon, wo die Erfindung doch gerade erst zu leben begonnen hat, darauf freut, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Vom moralischen Standpunkt her ist diese Erzählerin also höchst zweifelhaft und zugleich simpel. Warum macht sie es sich so leicht? Warum verspottet sie ihr Geschöpf, bevor es überhaupt richtig losgeht? Warum wagt sie sich nicht an eine komplexere Figur? Das hat sie doch bisher auch ganz gut gekonnt. Die Figuren der letzten Romane: zutiefst gebrochen, vielleicht gar gescheitert, Suchende, für die keine Lösungen mehr zur Verfügung stehen, Reisende, die nicht ankommen werden, poetische Existenzen, phantasievolle, abgründige Charaktere. Die übrigens auch interessante Namen trugen. Und jetzt: diese Michelle. Da vergibt sich die Erzählerin alle, aber auch wirklich restlos alle Möglichkeiten ihrer Kunstfertigkeit.

 

Michelle jedenfalls würde gern studieren, sie wird auch studieren, gut genug ist sie ja, und beworben hat sie sich, an der Universität Sommerstadt, einer traditionsreichen, altehrwürdigen, aber doch allen Veränderungen gegenüber aufgeschlossenen Institution, für die Fächer Deutsch und Englisch, denn sie möchte gerne Lehrerin werden, um mit Kindern zu arbeiten und Kindern etwas mitzugeben, Kinder zu fördern und von Kindern zu lernen, es ist der schönste Beruf gleich nach Arzt, aber als Arzt, als Ärztin vielmehr ist man beruflich so festgelegt, und wenn sie selbst einmal eine Familie gründet, möchte sie für die Kinder da sein, und das geht als Lehrerin viel leichter, da kann sie einfach ein oder zwei Jahre aussteigen, die Verbeamtung ist schon Gold wert, wer weiß, wie lange es das noch gibt, und das ist ein Grund mehr, schnell das Studium anzufangen, und so ist das, gerade noch auf der Schulbank, eben noch im Abi geschwitzt, den Teddy als Glücksbringer gegen den Multivitaminsaft gelehnt, das epische Theater von Brecht erklärt, gerade noch dem Freund, Manuel hieß er und heißt er wohl immer noch, die Lippen auf die Lippen gedrückt, und schon ist er weg, so weit weg, wie es überhaupt nur geht auf dieser Weltkugel, und schon fängt das Studium an der schönen und traditionsreichen Universität Sommerstadt an, in der schönen Stadt Sommerstadt, gut, dass sie keine Katze hat, die müsste ja jetzt auch umziehen nach Sommerstadt und würde sich sicher schwer tun, schwerer als sie, das ist mal klar, und schon ist sie in …

MODUL EINS

Sie steht zusammen mit anderen Mädchen und Jungen vor dem Studentensekretariat und hört sich an, worauf man achten muss und dass man sich den Freitag freihalten soll für verlängerte Wochenenden und dass man einen Studenten-Account braucht und wie hoch die Zimmermiete in Sommerstadt ist, sehr hoch nämlich, und wo es gute Jobs gibt, in den Kneipen und in den Modeabteilungen der Kaufhäuser (Ware ein- und auspacken, Preisschilder anbringen), und als sie fragt, was die anderen denn studieren, hört sie Fächer, von denen sie noch gar nichts gewusst hat: Verwaltungsmanagement, Kultursponsoring, Literaturmarketing mit betriebswirtschaftlichem Vertiefungsschwerpunkt, und dass man Punkte sammeln muss für Bologna (wieso Bologna?), und dass man möglichst schon im Ausland gewesen sein sollte, das macht sich immer gut (sie war mit ihren Eltern in Italien und Schweden, zählt das?), und überhaupt hat es keinen Sinn, nur blindwütig und engstirnig sein Fach zu studieren, da sind sich alle einig, man muss offen sein, man muss planen, und man muss immer den Markt im Blick haben. Michelle will ja Lehrerin werden, was sagt der Markt dazu? Die anderen nicken unsicher, doch, die Sicherheit, nicht schlecht, und warum gerade Lehrerin? Na die Sicherheit, sagt Michelle, und die anderen nicken wieder. Ja, und sie möchte mit Kindern arbeiten, sagt Michelle, aber da nicken die anderen nicht, es kann sein, dass es niemand versteht, also wird Michelle es für sich behalten. Du kannst doch selber später welche kriegen, sagt ein Mädchen, als hätte sich damit alles erledigt, Michelle könnte mit ihr diskutieren, aber sie kennen sich ja gar nicht, warum sollte sie mit diesem Mädchen ihre Lebensplanung diskutieren. Denn deswegen sind sie hier, sie planen ihr Leben, damit es möglichst harmonisch und angenehm verläuft, wer wollte ihnen das verdenken, und das Studium wird ihnen zu einer angenehmen Laufbahn verhelfen, dafür zahlen sie ja schließlich auch.

 

Ich musste nichts bezahlen, sagt Michelles Vater, und dann stand ich nachher da mit einem Doktor in Musikwissenschaft, und was hat mir das gebracht.

Du spielst so schön Klavier, sagt Michelles Mutter, die nichts studiert hat, aber schon eine Neigung zeigte, sie hätte ja auch können, vorbei die Zeiten, wo es für Frauen schwierig war zu studieren, Michelles Mutter ist so jung und sieht noch jünger aus, natürlich hätte sie etwas Schönes studieren können, aber es hat sich einfach nicht so ergeben, dann kam ja auch Michelle, und Michelles Vater hatte inzwischen etwas Anständiges gelernt und konnte die Familie ernähren, und den Namen für Michelle haben sie aus dem Beatles-Lied , und wie recht haben sie behalten, denn Michelle ist eine kleine Schönheit. Oder auf jeden Fall hübsch. Eben schmal und flink, wie oben ja schon erwähnt. Das ist wichtig, körperliches Kapital, eine gewisse Beweglichkeit, Wendigkeit und doch Weiblichkeit, eben eine selbstbewusste, zeitgemäße Weiblichkeit, die eigentlich in der Schule fast vergeudet wäre, aber vielleicht findet Michelle ja noch eine andere Möglichkeit, das mit der Schule muss ja nicht sein, Kinder kriegen kann sie auch selber.