THOMAS ASBRIDGE

DER GRÖSSTE
ALLER RITTER

UND DIE WELT
DES MITTELALTERS




Aus dem Englischen
von Susanne Held

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
»The Greatest Knight. The Remarkable Life of William Marshal,
the Power behind Five English Thrones«
im Verlag Simon & Schuster, London, 2015
© 2015 by Thomas Asbridge

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Redaktion: Waldemar Wolf, Ludwigsburg
Register: Susanne Held, Gerlingen; Marion Winter, Esslingen

Der Verlag Klett-Cotta dankt dem Autor Thomas Asbridge und dem Verlag Simon & Schuster für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Karten
auf den Seiten 11–13, 111, 340, 411.

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung der Abbildung »Vier Ritter im Turnier« aus: Sir Thomas Holme‘s Book of Arms. © akg-images/British Library

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94923-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10848-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Karten

Die wichtigsten Personen

Vorwort

Erster Teil
Kindheit und Jugend
Wie man Ritter wird

1
Zeit der Wölfe

Ein Land des Unfriedens und des Chaos

Abstieg in die Anarchie

Die Thronanwärter

Die Regentschaft von König Stephan

Der Bürgerkrieg

Jean le Maréchals Charakter

Die Vereinigung der Familien Maréchal und Salisbury

Die Erfahrungen der frühen Kindheit

Der Herr von Châteauroux

Die Belagerung von Newbury

Guillaume le Maréchals Leben in unmittelbarer Gefahr

Der Einfluss auf Guillaume le Maréchals frühe Kindheit

2
Auf dem Weg zum Rittertum

Beim »Vater der Ritter«

Die Entwicklung des mittelalterlichen Ritterwesens

Die reale und die imaginierte Geschichte des Rittertums

Wie man Ritter wird

Aristokratischer Lebensstil

Die Ausbildung Guillaume le Maréchals

Pferde, Waffen und Rüstung im Mittelalter

Das Ritual der Schwertleite

»Gewaltige Schläge und tapfere Taten«

Guillaume in der Krise

Zweiter Teil
Erwachsenenalter
Ein Ritter im Dienst

3
Ein Leben als Krieger

Das Turnier

Die praktische Durchführung von Turnieren

Das Ideal »Ritterlichkeit«

Guillaume le Maréchals Karriere

Ritter und Beschützer

Die Dynastie Anjou

Im wilden Land Aquitanien

Ein Hinterhalt

4
Der Mann, der König werden sollte

Im Dienst des jungen Königs

Heinrich der Jüngere, der Junge König

Ein aufmüpfiger Erbe

Der Weg zur Rebellion

»Ein Krieg ohne Liebe«

Der große Aufstand

Der Junge König im Käfig

5
Turnier-Champions

Wie wird man ein Gewinner?

Tage des Ruhms

Der Werdegang eines »Helden«

Siegen wie am Fließband

Vater des Rittertums

Das glänzendste Turnier

Krisenmanagement

Erste Schritte hin zu einem zweiten Aufstand

6
Loyalität

Maréchals Schuld

Der Beginn des Exils

Der letzte Schachzug

Eine Familie im Kriegszustand

Der Kult um den Jungen König

Reise ins Heilige Land

Guillaumes Pilgerreise nach Jerusalem

Ein Ritter im Osten

Am Ende der Welt

Dritter Teil
Die mittleren Jahre
Ein Lord im Königreich

7
Krieger des Königs

Der Königshof des Hauses Anjou

Das Leben am Hof

In der Gunst des Königs

Die Kräfte des alten Königs schwinden

Die Rivalität zwischen Angevinern und Kapetingern (1187–1188)

Die Isolierung des Alten Königs

1189: Die Verteidigung von Le Mans

Die letzten Tage Heinrichs II.

8
Verteidiger des Königreichs

Der in London wartende Lohn

Die Verteidigung des Königreichs

Der Herr von Striguil

Guillaume le Maréchals Hauswesen

Die Beschützer Englands

Die Rückkehr des Königs Philipp August von Frankreich

9
Im Dienst des Löwenherz

Der Verrat wird offenbar

Aufschwünge

Kampf um die Normandie

Die Wiedergewinnung des angevinischen Reichs

Der lange Krieg an der Seite des Königs

Der Sieg rückt näher

Die Katastrophe von Châlus

Guillaume le Maréchals Entscheidung

Vierter Teil
Altersjahre
Englands Magnat

10
Ein Feind der Natur

Treue zahlt sich aus

Der Earl von Pembroke

Ein »grausamer und ausschweifender« König

König Johanns Charakter und Schwächen

Der Zusammenbruch des angevinischen Reichs

Der Charme Isabellas von Angoulême

Die Krise des Jahres 1202

Was geschah mit Arthur?

Der Verlust der Normandie

11
Lord im Westen

Ein geteiltes Reich

Eine Grenze wird überschritten

Abserviert

Auf der Suche nach Macht in Pembroke und Leinster

Wales und Irland im Mittelalter

Maréchals erste Schritte in den Westen

Der Lord von Leinster

Guillaume le Maréchals Rückkehr nach Leinster

Königliche Fallensteller

12
Die Krone wankt

Die Verteidigung von Leinster

Der Triumph des Lords von Leinster

Die Rache eines Königs

König Johann stürzt sich auf Irland

Die Abwärtsspirale

Guillaume le Maréchals Rückkehr an den Hof

Der Weg zum Abgrund

Die Katastrophe von Bouvines

13
Die Abrechnung eines Königs

Die Große Charta

Maréchals Rolle bei der Entstehung der Magna Carta

Die Bedeutung der Magna Carta im Jahr 1215

Dem König ergeben

Die wichtigste Entscheidung

Guillaume le Maréchals Entscheidung

14
Der Hüter des Königreichs

Die Krönung Heinrichs III.

Die Rolle Guillaume le Maréchals

Die Stabilität der Krone wird wiederhergestellt

Die Strategie der Royalisten

Hoffnungsfunken

Die Schlacht von Lincoln

Im Vorfeld der Schlacht

Die Schlacht beginnt: 20. Mai 1217

Das Ende des Kriegs

Epilog

Guillaume le Maréchal als »Regent«

Maréchals Amtsverzicht

Die letzten Tage

Guillaumes Sorge um seine Familie und sein Gefolge

Das Schicksal der Seele Guillaumes

Tod und Begräbnis

Das weitere Schicksal der Maréchal-Dynastie

Der Niedergang des Hauses Maréchal

Das Ritterwesen im mittelalterlichen England

Guillaume le Maréchal: Leben und Legende

ANHANG

Chronologie

Stammbäume

Bild- und Kartennachweise

Anmerkungen

Register

Tafelteil

Karten

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DIE WICHTIGSTEN PERSONEN

DIE DYNASTIE MARÉCHAL

Jean le Maréchal    Vater Guillaumes (Mutter: Sybil von Salisbury), ein anglo-normannischer Adliger mittleren Ranges, Inhaber des Amtes des königlichen Obermarschalls.

Jean le Maréchal II.    Guillaumes älterer Bruder (gest. 1194).

Guillaume le Maréchal    Glänzender Turnierstreiter, Diener der Krone, Lord von Striguil (seit 1189), Earl von Pembroke (seit 1199) und schließlich Regent von England.

Isabel von Clare    Reiche Erbin, seit 1189 mit Guillaume le Maréchal verheiratet.

Guillaume le Maréchal der Jüngere    Ältester Sohn und Erbe von Guillaume le Maréchal und Isabel von Clare.

DIE DYNASTIE ANJOU

Heinrich II.    König von England (1154–1189) und Begründer des mächtigen angevinischen Reichs.

Eleonore von Aquitanien    Erbin des Herzogtums Aquitanien, Ehefrau Heinrichs II.

Heinrich der Junge König    Ältester Sohn und Erbe Heinrichs II. und Eleonores, gekrönt zum Mit-König im Jahr 1170; Herr und Gönner Guillaumes.

Richard Löwenherz    Herzog von Aquitanien, Graf von Poitou und König von England (1189–1199), einer der großen Krieger seiner Generation.

Johann Ohneland    Graf von Mortain und König von England (1199–1216); Heinrichs II. und Eleonores jüngster Sohn, ein höchst umstrittener Charakter.

Arthur von Bretagne    Sohn von Gottfried von Bretagne, 1199 Thronanwärter für das angevinische Reich.

Heinrich III.    König Johanns (und Isabellas von Angoulême) gefährdeter Sohn und Erbe; König von England (1216–1272).

DIE DYNASTIE DER KAPETINGER

Philipp II. August    König von Frankreich (1180–1223), Sohn und Erbe Ludwigs VII.; ein fähiger, ehrgeiziger Monarch, Erzrivale der Angeviner.

Marguerite von Frankreich    Tochter Ludwigs VII. von Frankreich, verheiratet mit Heinrich, dem Jungen König.

Prinz Ludwig    Ältester Sohn und Erbe Philipps II. August.

ADLIGE, RITTER, HÖFLINGE

Patrick, Earl von Salisbury    Onkel Guillaumes (gest. 1168).

Guillaume von Tancarville    Herr der Burg Tancarville in der Obernormandie; bei ihm erhielt Guillaume le Maréchal seine Ausbildung zum Ritter.

Philipp, Graf von Flandern    Mächtiger, skrupelloser Adliger und renommierter und begeisterter Turnierkämpfer.

Guillaume des Barres    Prominenter französischer Ritter im Dienst der Kapetinger.

Baudouin de Béthune    Guillaumes Standesgenosse und Partner im Gefolge des Jungen Königs Heinrich und am angevinischen Hof.

Guillaume des Roches    Adliger im Dienst der angevinischen Dynastie, der sich stetig emporarbeitete, letztlich aber unter König Johann die Seiten wechselte.

Geoffrey FitzPeter    Verwalter am angevinischen Hof, später Earl von Essex.

Jean d’Earley    Guillaumes treuer Knappe und Begleiter.

Wilhelm von Longchamp    Treuer Diener von Richard Löwenherz, zeit-weilig während der Teilnahme des Königs am Dritten Kreuzzug Justiziar von England.

William FitzPatrick    Vetter des Earl von Salisbury und Guillaume le Maréchals.

Guillaume Longue-Épée    Unehelicher Sohn König Heinrichs II.; durch Heirat mit Ela, der Erbin, Earl von Salisbury.

Meiler FitzHenry    Justiziar von Irland unter König Johann.

Robert FitzWalter    Prominenter Adliger in England, Anführer des Aufstands der Barone.

William de Briouze    Prominenter Lord aus den Welsh Marches, zunächst stark begünstigt von König Johann, später durch denselben zugrunde gerichtet.

MÄNNER DER KIRCHE

Hubert Walter    Bischof von Salisbury (seit 1189), Erzbischof von Canterbury (1193–1205) und Justiziar von England.

Stephen Langton    Namhafter Theologe, seit 1213 Bischof von Canterbury.

Peter des Roches    Verwalter, Krieger, seit 1206 Bischof von Winchester.

Pandulf    Päpstlicher Gesandter in England ab 1211 und später wieder ab 1218.

Guala von Bicchieri    Päpstlicher Gesandter in England von 1216 bis 1218.

VORWORT

Am Mittwoch, dem 6. Februar 1861, betrat ein junger französischer Gelehrter namens Paul Meyer(1) das Auktionshaus Sotheby’s(1), das sich damals noch direkt hinter dem Covent Garden in London(1) befand, in der Wellington Street 13. Um 13 Uhr sollte eine Versteigerung beginnen. Der Katalog versprach, dass »einige der wertvollsten alten Manuskripte, überwiegend Pergamenthandschriften«, zum Verkauf angeboten werden sollten. Es handelte sich um Stücke aus der Savile-Sammlung(1) seltener mittelalterlicher Texte, die während der Regentschaft von Königin Elizabeth I. zusammengetragen worden und seit über zweihundert Jahren nicht mehr öffentlich zugänglich gewesen waren. Meyer(2), ein passionierter Mittelalterstudent, war nach England(1) gekommen, um bei diesem Ereignis dabeizusein. Was er zu sehen bekam, veränderte sein berufliches Leben grundlegend und entfachte eine vierzig Jahre andauernde Leidenschaft. Es stieß die Jagd nach einer verlorenen Geschichte und deren Offenlegung an sowie eine Entdeckung, die unser Verständnis der mittelalterlichen Welt grundlegend verändern sollte.

Paul Meyer(3) hatte eine hervorragende Zukunft vor sich. Internationale Anerkennung als Akademiker und Archivar erwartete ihn: Er wurde später zur wichtigsten Autorität auf dem Gebiet früher französischer Manuskripte und der Interpretation entlegener Handschriften. Diese eher esoterische Kompetenz machte Meyer(4) zu einem Schlüsselzeugen im berüchtigten Dreyfus-Prozess des Jahres 1898, in dem seine Zeugenaussage mit dazu beitrug, dass der Angeklagte vom Vorwurf der Spionage freigesprochen wurde.1 Zu Beginn des Jahres 1861 war er jedoch lediglich ein 21-jähriger Student an der École des Chartes(1), dem renommierten Zentrum für Mittelalterstudien in Paris(1), und noch mit der Abfassung seiner Doktorarbeit beschäftigt, die den eher uninspirierten Titel trug: »Forschungen zur während der barbarischen Jahrhunderte (5. bis 9. Jahrhundert) in Frankreich gesprochenen Sprache«.1

Meyer(5) war von Mitarbeitern der Kaiserlichen Bibliothek entsandt worden (kurz darauf sollte die Bibliothek in »Französische Nationalbibliothek« umbenannt werden), um in ihrem Namen bei der Auktion mitzubieten und, so hoffte man, drei berühmte Werke der mittelalterlichen französischen Literatur zu erstehen. Leider hatte ihn die Bibliothek lediglich mit einem schmalen Budget ausgestattet, womit er den wohlhabenden Privatsammlern und bestallten Archivaren kaum würde Paroli bieten können. Meyer(6) beschloss, sich deswegen nicht die Freude an dieser sensationellen Gelegenheit vergällen zu lassen, und schon am frühen Vormittag stellte er sich bei Sotheby’s(2) ein, um einen ausgedehnten Gang durch den Ausstellungsraum zu unternehmen.

Für einen Mann mit seinem Hintergrund und seiner Ausbildung war der Ausstellungsraum eine unschätzbare Fundgrube. In den nächsten beiden Stunden streifte er an den Tischen entlang und machte sich zu jedem der angebotenen Manuskripte seine Notizen. Bei vielen handelte es sich um Abschriften berühmter Texte. Einige waren herrlich verziert und kostbar mit strahlend farbigen Illuminationen geschmückt. Eine Handschrift jedoch, die seine Aufmerksamkeit erregte, war weder berühmt noch auf den ersten Blick sonderlich auffallend. Das bescheidene Exemplar war als Auktionslos 51 gelistet. Der (auf das 16. Jahrhundert datierte) Einband war aus abgewetztem, dunkelbraunem Leder, und von der Größe her ähnelte es einem modernen Hardcover-Buch – die Seiten hatten ein Format von 24 mal 17 cm. Der Sotheby-Katalog beschrieb es schlicht als »eine normannisch-französische Chronik über englische Angelegenheiten (in Versen)«, geschrieben auf Pergament »von einem anglo-normannischen Schreiber« im 13. Jahrhundert. Dankenswerterweise waren noch die letzten vier interessanten, wenn auch unspezifischen Verse des Textes angeführt:

Ci fini del conte lestoire

Et dex en perdurable gloire

Vont que la sue ame seit mise

Et entre ses Angles assise.

Amen.

Hier endet die Geschichte des Grafen

und möge Gott seiner Seele gewähren

in ewigem Ruhm zu ruhen

in der Gesellschaft Seiner Engel.

Amen.

Meyer(7) nahm vorsichtig den vorderen Einbanddeckel hoch, fand allerdings keine offensichtlichen Erkennungszeichen, keinen Titel oder Hinweise auf das Thema. Er hatte einen einfachen, dabei geschmackvoll verzierten Text vor sich – eine Minuskelschrift in schwarzer Tinte, angeordnet in zwei Spalten, die sich über 127 Blätter hinzogen, versehen mit einer Mischung aus roten und blauen Initialen, welche jeweils von schmückenden abstrakten Mustern umgeben waren. Die erste Seite wies Wasserschäden auf, war aber noch lesbar, Meyer(8) konnte also die ersten Abschnitte des Werks näher in Augenschein nehmen und fasste schriftlich seinen ersten Eindruck zusammen: »Enthält eine originale Chronik, die offenbar den Konflikt behandelt, der in England(2) während der Regentschaft von Stephan, dem Neffen von Heinrich(1) I., ausbrach.«

Meyer(9) begann zu ahnen, dass dieses Manuskript seit mindestens 250 Jahren nicht geöffnet, ja nicht einmal berührt worden war. Später schrieb er, dass dieses Buch »im höchsten Maße meine Neugier erregte«, aber das lag zu einem großen Teil einfach daran, dass er keine Ahnung hatte, worum es sich hier handelte. Während seiner Studien war er noch nie auf die Erwähnung einer mittelalterlichen Verserzählung dieser Art gestoßen.

Sein Interesse war geweckt. Während der Auktion am selben Tag verfolgte er die Gebote auf Los 51, und es wurde überdeutlich, dass auch die Aufmerksamkeit anderer erregt worden war. Das British Museum bot 200 Pfund, dann hob der Archivar Sir Frederic Madden(1) dieses Gebot auf 250 Pfund an, hatte dann jedoch keine Chance gegen den berühmten Buchsammler und Antiquar Sir(1) Thomas Phillipps – einen bekennenden Bibliomanen, der für seine ausschweifende Sammelwut berüchtigt war. Phillipps(2) bot den »enormen Betrag« von 380 Pfund (nach Meyers Berechnung 9500 französische Francs), womit das Auktionslos 51 den anderen 34 Savile-Manuskripten zugeschlagen wurde, die der Sammler an diesem Tag ergattert hatte.

Als die Auktion zu Ende war, wurde die geheimnisvolle »Normannisch-französische Chronik über englische Angelegenheiten« weggepackt. Meyer(10) sollte in den darauf folgenden zwanzig Jahren den Text nicht wieder zu Gesicht bekommen. Erst später sollte ihm klar werden, dass er an diesem Mittwoch im Jahr 1861 augenblicksweise mit einem »Werk von außerordentlicher Bedeutung« in Berührung gekommen war – mit der einzigen erhaltenen Abschrift einer unbekannten Biografie, die in allen Einzelheiten das Leben eines berühmten mittelalterlichen Ritters beschreibt: eines Mannes, der sich durch die Hierarchie hocharbeitete, der der englischen Krone diente, mit Personen wie Richard Löwenherz(1) und Eleonore(1) von Aquitanien befreundet war, der bei der Aushandlung des Texts der Magna(1) Carta mitarbeitete, und der noch mit siebzig Jahren England(3) gegen die Invasion(1) der Franzosen verteidigte. Dieser besagte Kämpe war Guillaume le Maréchal, und – was Meyer(11) nicht wusste – seine sterblichen Überreste waren in der Temple(1) Church in London(2) beigesetzt, weniger als eine Meile entfernt von Sotheby’s(3).

***

In den folgenden Jahren machte Paul Meyer(12) Karriere, doch immer wieder und immer häufiger kehrten seine Gedanken zu der geheimnisvollen »normannisch-französischen Chronik« zurück, die er 1861 gesehen hatte. Zwei Jahre nach der Auktion in London(3) wurde er offiziell von der Handschriftenabteilung der Bibliothèque Nationale in Paris(2) angestellt, und man entsandte ihn in die großen englischen Bibliotheken in London(4), Oxford, Cambridge, Glasgow und Edinburgh, um dort nach Handschriften mit Bezug zur mittelalterlichen Kultur und Geschichte Frankreichs(1) zu forschen. Er begann zu veröffentlichen und erarbeitete sich einen Ruf als belesener, akribischer Gelehrter, während in ganz Europa Archivare und Akademiker die Grenzen des Wissens über das Mittelalter ausweiteten und den Verlauf der Epoche kartografierten. Auktionslos 51 konnte Meyer(13) in dieser ganzen Zeit nicht vergessen.

Zunächst waren seine Nachforschungen eher beiläufiger Natur – er war überzeugt, dass die »normannisch-französische Chronik über englische Angelegenheiten« irgendwo in den Handschriftenlisten auftauchen musste, die man in Frankreich, Großbritannien und Deutschland bereits zusammengetragen hatte. Eine lange, langsame Suche begann, durch Tausende von Einträgen, in jeder der altehrwürdigen Institutionen, die Meyer(14) besuchte. Doch nach Jahren zunehmend penibler Suche hatte er noch immer keinerlei Hinweis auf einen Text gefunden, den man mit diesem Werk in Versen auch nur hätte vergleichen können. Noch frustrierender war der Umstand, dass das Auktionslos 51 in der Sammlung Phillipps(3) offenbar verschwunden war. Die außerordentliche persönliche Bibliothek von Sir(4)(5) Thomas umfasste rund 60000 Manuskripte. Sie war im Lauf von mehreren Jahrzehnten zusammengetragen worden und war auf seinem Anwesen Middle Hill in Worcestershire untergebracht. Seit 1837 hatte Phillipps(6) ebenso langsam wie penibel diesen Bestand katalogisiert, jedem Text eine Referenznummer zugewiesen, und anschließend mit Hilfe einer kleinen, privaten Druckerpresse ein ständig anwachsendes Bestandsverzeichnis veröffentlicht. Nur wenige dieser Listen waren im Umlauf. Meyer(15) spürte zwar alle auf, aber nicht einmal hier konnte er eine Erwähnung seines geheimnisvollen Manuskripts finden, obwohl andere Stücke aus der damaligen Savile-Auktion aufgeführt waren.

Ein Teil des Problems bestand darin, dass Phillipps(7) 1863 einen Umzug seiner gesamten Bibliothek in ein großes Anwesen in Cheltenham veranstaltet hatte – eine Unternehmung, die zwei Jahre in Anspruch nahm. Außerdem hatte er nicht mehr lange zu leben, er wurde zunehmend zänkisch und wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich irgendjemand seinen kostbaren Büchern näherte. Auch als Sir Thomas 1872 im Alter von 79 Jahren starb, konnte von einer Verbesserung der Situation nicht die Rede sein. Die Zukunft der Sammlung Phillipps(8) und überhaupt des gesamten Vermögens wurde zum Zankapfel zwischen den Erben. Als Meyer(16) sich mit höflichen Anfragen wegen eines bestimmten vermissten Texts an sie wandte, bekam er auf seine Briefe keine Antwort. Allem Anschein nach war die »normannisch-französische Chronik« verschwunden.

Aber Meyer(17) gab nicht auf. Er ging jetzt auf sein vierzigstes Lebensjahr zu, hatte sich einen akademischen Ruf erworben, war Herausgeber einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift, Romania, und wurde bald selbst Leiter der École des Chartes(2). Die Familie von Phillipps(9) lenkte im Herbst 1880 endlich ein und gewährte Meyer(18) Zugang zur Sammlung in Cheltenham. Nach mehreren Besuchen hatte er seine Nachforschungen auf 5000 Texte eingeschränkt und machte sich daran, jeden einzeln zu inspizieren. Endlich, im Jahr 1881, fand er das falsch eingeordnete Buch – Phillipps(10) hatte ihm die Nummer »25155« gegeben, doch war der Band weder ordnungsgemäß katalogisiert noch gelesen worden. Nach zwei Jahrzehnten hatte Meyer(19) die »normannisch-französische Chronik« wieder vor sich. Ein kurzer Überblick über die Seiten bestätigte seine Vermutung, dass es sich tatsächlich um die einzige Abschrift einer ansonsten unbekannten Darstellung handelte, doch der Inhalt erwies sich als weitaus bedeutender, als er sich je hätte träumen lassen.

Meyer(20)(21) war wahrscheinlich der Erste in sechshundert Jahren, der das Manuskript las, und nun, da er über die ersten Seiten hinauskam und die 19215 Verszeilen zur Gänze studierte, zeichnete sich ab, dass er hier weder eine Chronik noch ein fiktionales Werk vor sich hatte. Seine anfänglichen Notizen, die er im Jahr 1861 schnell niedergekritzelt hatte, hatten kaum die Oberfläche angekratzt, denn der Text ging weit über die Zeit der »Anarchie« unter der Regentschaft von König Stephan(1) in der Mitte des 12. Jahrhunderts hinaus. Faktisch wurde detailgetreu die gesamte Lebensgeschichte eines Mannes namens Guillaume le Maréchal ausgebreitet. Meyer(22) war mit Hunderten von Texten vertraut, die den Werdegang berühmter Könige, Königinnen und Heiliger beschrieben, doch dies hier war die erste Biografie eines mittelalterlichen Ritters, verfasst in der Mitte der 1220er Jahre.

Nun machte sich Meyer(23) fieberhaft an die Arbeit, er widmete sich nur noch dem Studium des Manuskripts, dem er den Namen Geschichte des Guillaume le Maréchal gab, während er gleichzeitig in anderen Quellen nach Hinweisen auf Maréchal suchte. Dieser war offenbar kein gewöhnlicher Ritter gewesen: In anderen zeitgenössischen Chroniken und Dokumenten taucht er immer wieder auf, als wichtiger Diener des Königs und später als Earl von Striguil(1) und Pembroke. Gegen Ende seines Lebens wurde Maréchal sogar zum Regenten von England(4) und brachte eine neue Fassung der Magna(2) Carta heraus. In den Annalen der mittelalterlichen Geschichte war er eine bekannte, wenn auch bislang nur schattenhafte Gestalt. Der Text, den Meyer(24)(25) entdeckt hatte, fügte plötzlich den Knochen dieses längst vergessenen Mannes Fleisch hinzu. Er beschreibt Maréchals Weg von relativ bescheidenen Anfängen durch den Prunk ritterlicher Turniere(1) und die brutale Realität des Kriegs bis hin zu den reichen Königshöfen Europas. Der Text folgt ihm auf seinen Reisen durch die mittelalterliche Welt – von seinem Geburtsort in England(5) bis zum Fuß der Pyrenäen und ins ferne Heilige Land –, und er zeichnet seinen Aufstieg zum Ruhm und die Gründung der Maréchal-Dynastie nach.

Die lange Jagd nach dem Auktionslos 51, der »normannisch-französischen Chronik«, hatte sich also gelohnt – Meyer war mit der Ausgrabung dieses Texts, der ein aufschlussreiches Licht auf die mittelalterliche Kultur und Geschichte wirft, ein entscheidender Durchbruch gelungen. Innerhalb eines Jahres veröffentlichte er einen Artikel über seine Suche nach dem Manuskript und seine ersten Befunde. Danach widmete er weitere zwanzig Jahre seines Lebens einer dreibändigen Ausgabe der Geschichte, die zwischen 1891 und 1901 als L’Histoire de Guillaume le Maréchal, comte de Striguil(2) et de Pembroke(1), erschien.2

Das Manuskript der Geschichte von Guillaume le Maréchal, das von Paul Meyer entdeckt wurde und heute in den Archiven der Morgan Library(1) in New York liegt, ermöglicht eine Rekonstruktion des Lebens dieses einzigartigen Ritters. Gestützt auf die darin enthaltenen Zeugnisse und eine Reihe weiterer zeitgenössischer Materialien können die Einzelheiten von Guillaume le Maréchals außerordentlicher Lebensgeschichte zusammengesetzt werden. Doch neben allen daraus gewonnenen Einsichten ist bei der Lektüre auch Vorsicht geboten. Man sollte mit einem kritischen Auge lesen. Die Biografie wurde von einem Mitglied der Maréchal-Familie kurz nach seinem Tod in Auftrag gegeben und von einem ansonsten unbekannten anglo-französischen, in England(6) arbeitenden Autor namens Jean verfasst. Kurz nach 1226 war der Text fertiggestellt, und die erhaltene Version stellt eine Abschrift dieses Originals dar, die im Lauf der folgenden 25 Jahre entstand.2

Der Biograf gibt an, sein Bericht beruhe zum Teil auf persönlicher Erfahrung. Außerdem habe er auf andere Dokumente und Aufzeichnungen zurückgegriffen, aber überwiegend stützte er sich auf das mündliche Zeugnis derjenigen, die Guillaume le Maréchal kannten – seine engsten Verwandten und ergebenen Dienstleute. Eine besonders wichtige Informationsquelle war der Ritter Jean(1) d’Earley, Maréchals Freund und Helfer über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren. Earley konnte sich nicht nur an Dinge erinnern, die er mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern er gab auch viele der Geschichten von tollkühnen Abenteuern wieder, die Maréchal selbst gern erzählte.3

Die Histoire(2) ist eine Zelebration der erstaunlichen Taten von Guillaume le Maréchal. Sie präsentiert ihren Helden als den vollkommenen Ritter und ist insofern schamlos voreingenommen. Auf ihren Seiten wird Guillaume fast zur realen Verkörperung des mythischen arturischen Ritters Lancelot(1) – einem der wichtigsten Helden der zu Maréchals Lebzeiten entstehenden Populärliteratur. Viele Angaben in der Histoire(3) können durch andere Quellen bestätigt werden, aber es kommt vor, dass der Biograf unbequeme Details auslässt, die zu Maréchals Aufstieg zum Ruhm gehörten, von seiner Beteiligung an den Aufständen gegen die Krone bis hin zu seinen Mauscheleien mit König Johann, Englands(7) verrufenstem Monarchen. In gewisser Hinsicht ist die Voreingenommenheit der Histoire(4) nützlich, bietet sie doch einen Einblick in die zeitgenössischen Sensibilitäten. Der Biograf überzog seinen Helden mit löblichen Eigenschaften, und natürlich erwartete er von seinen Lesern, dass sie von Maréchals Charakter tief beeindruckt waren. Einige dieser Eigenschaften – Tapferkeit, kriegerischer Heldenmut, Treue und Ehrgefühl – sind genau das, was wir von einem idealisierten mittelalterlichen Krieger erwarten würden. Andere wiederum – Gerissenheit, Doppelzüngigkeit und kruder Materialismus – gehören ganz sicher nicht dazu.

*

Dieses Buch liefert eine neue Biografie von Guillaume le Maréchal: dem landlosen jüngeren Sohn, der der vielleicht berühmteste Ritter des Mittelalters werden sollte, gepriesen als unvergleichlicher Krieger und Inbegriff des Rittertums(1); einem Mann, der zu unerhörter Macht kam und sich eine Position als Baron und Politiker erarbeitete, von der aus er gegen Ende seines Lebens als Regent Englands(8) fungierte. Indem wir seinen Werdegang verfolgen, bewegen wir uns in den Fußstapfen angesehener Forscher wie Paul Meyer(26), Sidney(1) Painter und David Crouch(1).4 Das vorliegende Buch soll nun zum ersten Mal diese Darstellung vom Leben des Guillaume le Maréchal in einen sehr viel größeren Kontext stellen.

Guillaumes erstaunliche Geschichte öffnet ein unvergleichliches Fenster zur Welt des mittelalterlichen Ritters. Sie ermöglicht uns, aus erster Hand die Entstehung dieser fast mythischen Kriegerklasse mitzuverfolgen, die im Herzen der Geschichte des europäischen Mittelalters steht. Mein Buch geht der Entwicklung dieses Elitekaders nach, angefangen bei Training und Ritualen bis hin zur Entstehung ritterlicher Waffen, Rüstungen und Kampfmethoden. Und es enthüllt, wie der Zusammenstoß zwischen den herben Realitäten mittelalterlicher Kriege und Politik einerseits und den verklärenden arturischen Mythen andererseits die Vorstellungen von Ritterlichkeit und höfischem Benehmen hervorbrachten, die Verhaltenscodices, die Guillaume le Maréchal verkörpern und definieren sollte.

Darüber hinaus verfolgt das Buch den Werdegang Maréchals neben fünf Königen in einer turbulenten Zeit militärischer Konfrontationen und kultureller Aufstände, in einer Zeit also, während der England(9) sich grundlegend verwandelte. Guillaume war Zeitgenosse von Aufstieg und Fall des mächtigen englischen Königsgeschlechts Anjou(1). Er führte erbitterte Eroberungskriege gegen die Franzosen, die zur Folge hatten, dass sich erstmals ein deutliches Bewusstsein einer eigenen »englischen« Identität herausbildete. Und er war an der Formulierung der Magna(3) Carta beteiligt, der ersten »Freiheitsurkunde«, welche die Machtbalance zwischen dem König und seinen Untertanen in eine neue Ordnung brachte. Die Geschichte dieses Ritters spielt sich also in einer der entscheidendsten Phasen unserer mittelalterlichen Vergangenheit ab. Sie erzählt von einem bemerkenswerten Mann, von der Herausbildung des Ritter-Ideals und von der Geburt einer Nation.

ERSTER TEIL


KINDHEIT UND JUGEND
WIE MAN RITTER WIRD

1

ZEIT DER WÖLFE

Im Jahr 1152 fasste König Stephan(2) von England(10) den Entschluss, einen  fünfjährigen Jungen hinzurichten. Dieses Kind – Guillaume le Maréchal – hatte nichts verbrochen. Es war eine Geisel: der Krone als Unterpfand übergeben für das Ehrenwort seines Vaters, einer nicht sonderlich bedeutenden Figur im großen Spiel um politische Macht, das damals in einem von Bürgerkrieg verheerten Königreich ausgetragen wurde. Als Guillaumes Vater praktisch unmittelbar danach seinen dem König gegebenen Schwur brach und erklärte, dass »ihm das Kind egal« sei, schließlich verfüge er noch »über Amboss und Hammer, um weitaus bessere zu schmieden«, war der König aufs Äußerste erzürnt. In seiner Wut befahl er, den Jungen »zu holen und zwecks Erhängen zum Galgen zu bringen«. Der kleine Guillaume wurde also dem königlichen Befehl gemäß weggeführt, sein Schicksal schien besiegelt.1

In seinem ganzen langen Leben vergaß Guillaume offenbar nie diesen Augenblick äußerster Dramatik. Womöglich bildete er seine früheste Kindheitserinnerung. Ruhm und Erfolg warteten auf ihn, er sollte sogar als der »beste Ritter der Welt« gefeiert werden, doch er begann seinen Weg als ein Junge, der von seinem Vater im Stich gelassen und von seinem König zum Tod verurteilt wurde. Wie kam es, dass das Leben des kleinen Guillaume in solche Gefahr gebracht wurde – und wie überlebte er?

EIN LAND DES UNFRIEDENS UND DES CHAOS

Guillaume le Maréchal wurde um das Jahr 1147 in England(11) geboren, in einer Zeit schlimmer politischer Turbulenzen. Das Königreich befand sich im Würgegriff eines ruinösen, seit fünfzehn Jahren andauernden Konflikts: König Stephan(3) leistete erbitterten Widerstand gegen die Versuche von Kaiserin(1) Matilda, seiner Kusine, die Macht zu ergreifen. Beide hatten gewichtige Gründe für ihre Herrschaftsansprüche, daher war das Land in seiner Loyalität zweigeteilt und versank immer tiefer in Anarchie. Ein zeitgenössischer Chronist sprach von einer Phase »großen Unfrie-dens [und] Chaos«, in der England(12) »von Krieg heimgesucht war … und das Gesetz des Landes keine Beachtung mehr fand«. Weite Landstriche waren von Kämpfen verwüstet, es lebte dort niemand mehr, und man konnte »einen ganzen Tag unterwegs sein« und lediglich unbewohnte Dörfer und unbebaute Felder passieren. In den verwüsteten Gegenden »verhungerten die Menschen elendiglich«. Ein Zeitgenosse bemerkte, in diesen Jahren hätten viele »in aller Öffentlichkeit davon gesprochen, dass Christus und seine Heiligen schliefen«.2

Doch inmitten des Chaos und der Schrecken dieser Zeit gab es auch Menschen, die von dem Bürgerkrieg profitierten. Mit dem Zusammenbruch der Autorität der Krone war die Aufgabe, einen Anschein von Ordnung aufrecht zu erhalten, an lokale Warlords übergegangen, und diese Macht wurde von skrupellosen, räuberischen Männern häufig missbraucht. Ein Mann dieses Schlags war Guillaumes Vater, Jean(1)(2) le Maréchal, ein nicht sehr hochrangiger Adliger mit einer Grundherrschaft in Südwestengland. Jean(3) war von seiner Abstammung her kein Engländer (oder Angelsachse), sondern ein Französisch sprechender Normanne. Im 10. Jahrhundert hatten sich seine Wikinger-Vorfahren – die damals so genannten »Nordmänner« – in einem Teil Nordfrankreichs niedergelassen, der später Normandie(1) heißen sollte (wörtlich: »Land der Nordmänner«). Sie eigneten sich einige Gebräuche ihrer neuen Heimat an, legten sich sogar französische beziehungsweise fränkische Namen zu, doch blieben sie vom Naturell her streitbar und landhungrig. Im Jahr 1066 überquerte ihr Anführer Wilhelm, Herzog der Normandie – Wilhelm(1)(2) »der Eroberer« –, an der Spitze einer Invasionsstreitmacht den Ärmelkanal und erstritt in der Schlacht von Hastings(1) einen überwältigenden Sieg. Im Zuge dieses normannischen Triumphs blieben Englands(13) letzter angelsächsischer König, der noch junge Harold(1) Godwinson, und die Besten des regierenden Adels tot auf dem Schlachtfeld zurück. Wilhelm(3) übernahm die Krone von England(14), behielt aber auch die Herrschaft über die Normandie(2). Es entstand ein anglo-normannisches Königreich, und in diese den Ärmelkanal übergreifende Welt hinein wurde Guillaume le Maréchal geboren.

In gewisser Hinsicht markiert das Jahr 1066 einen entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit. Wilhelm(4) der Eroberer begründete eine neue, beständige königliche Dynastie, und Englands(15) »ursprüngliche« Einwohner mussten plötzlich feststellen, dass sie Untertanen fremder Eindringlinge waren. König Wilhelm(5)(6) I. verteilte das Land nördlich des Ärmelkanals an rund 150 normannische Warlords und Amtsträger, und in gemeinsamer Anstrengung befriedeten sie das Reich unter Anwendung brutaler Gewalt: Sie errichteten ein ausgedehntes Netzwerk imposanter Burgen, um ihre Autorität zu sichern. Jean le Maréchals Vater Gilbert Giffard(1) (wörtlich bedeutet der Name »Gilbert Pausbacke«) war einer dieser frühen normannischen Siedler. Er kam entweder mit der ersten Eroberungswelle(2) oder unmittelbar danach nach England(16). Zum Zeitpunkt der großen Domesday-Erhebung Wilhelms I., der Erfassung sämtlicher Ländereien(1) aus dem Jahr 1086, besaß Gilbert ein Gebiet in der westlichen Grafschaft Wiltshire. Er hatte außerdem die Funktion eines königlichen Obermarschalls. Dabei handelte es sich um ein altes militärisches Amt, das traditionellerweise mit der Pflege und Wartung der Pferde des Königs assoziiert war, sich allerdings im Lauf der Zeit zu einem Verwaltungsposten entwickelt hatte, dessen Inhaber hauptsächlich mit den alltäglichen Abläufen bei Hof betraut war.

Sieht man sie in einem größeren Kontext, so war die Ankunft der Normannen nicht ganz so erschütternd, wie es auf den ersten Blick vielleicht wirken mag. Später sollte Britannien seinen Ruf als uneinnehmbares Insel-Königreich kultivieren: als William Shakespeares(1) unantastbare »bezepterte Insel«, »dieses feste Castell, das die Natur für sich selbst aufgeworfen hat, um sich vor … feindseligem Anfall zu sichern« (»sceptre’d isle«, the »fortress built by nature [against] the hand of war«). Im frühen Mittelalter jedoch war England(17) fatal anfällig für Invasionen(3). Durch die Jahrhunderte, die dem Jahr 1066 vorangingen, sahen sich die Angelsachsen (ihrerseits Nachfolger der früheren keltischen und anschließend der römischen Invasoren) wiederholten Wellen von Einfällen und Besiedlungen durch die Wikinger(1) ausgesetzt. Das hatte zur Folge, dass sich ein großer Teil von Nordengland in norwegischer Hand befand. Eine Periode direkter Wikingerherrschaft – unter Knut(1) von Dänemark – war das frühe 11. Jahrhundert. Für kurze Zeit kamen danach wieder angelsächsische Könige an die Macht, und dann traf auch schon Wilhelm der Eroberer ein. Das hatte zur Folge, dass die kulturelle, ethnische und sprachliche Identität der »Engländer« alles andere als homogen war, und die Vorstellung, dass die Normannen über eine im Prinzip organisch entstandene, rein angelsächsische Gesellschaft herfielen, hat in der Realität kaum eine Entsprechung.

Die Kolonisierung Englands durch die Normannen verlief erstaunlich erfolgreich. Der Eroberer und seine Nachfolger hatten sich eines wohlhabenden Lands bemächtigt, das für seine Bodenschätze berühmt war und gewissermaßen nur darauf wartete, ausgebeutet zu werden. Über ein Drittel der Britischen Inseln war noch immer dicht bewaldet, aber England(18) verfügte im ausgehenden 11. Jahrhundert auch über den Reichtum von knapp drei Millionen Hektar bebauten Ackerlands, die von einer überwiegend ländlichen Bevölkerung – rund zweieinhalb Millionen Menschen lebten damals auf der Insel – bebaut wurden. Eine Periode des Klimawandels führte außerdem dazu, dass die Durchschnittstemperatur um ungefähr ein Grad Celsius wärmer wurde, was eine Vermehrung der Ackerbauerträge zur Folge hatte (es war sogar möglich, in Mittelengland Wein anzubauen). Zumindest für die herrschende Klasse war dies eine Zeit des Überflusses. Nach dem Tod von König Wilhelm(7) im Jahr 1087 hatte man auch den Eindruck, als sei eine Ära politischer Kontinuität angebrochen: Auf ihn folgten zwei seiner Söhne, Wilhelm Rufus(1) (1087–1100) und dann Heinrich(2) I. (1100–1135).3

Während der Regierungszeit des Letzteren begann die Karriere von Jean(4)(5) le Maréchal, der allmählich an Ansehen, Landbesitz und Reichtum zunahm. Um 1130 dürfte Jean(6) Mitte Zwanzig gewesen sein, und es war ihm gelungen, sich das Amt des Obermarschalls zu verschaffen. Für dieses Privileg musste er an die Krone den Betrag von vierzig Silbermark bezahlen – damals, wo ein jährliches Einkommen von rund fünfzehn Mark es einem Adligen erlaubte, einigermaßen komfortabel zu leben, eine beträchtliche Summe. Die Stellung bedeutete an sich keine besondere Machtfülle, doch sie zeichnete ihn als einen der wichtigen Männer im Haushalt des Königs aus. Er hatte vier Untermarschälle unter sich, eine Gruppe königlicher Diener, den Aufseher über die königlichen Zelte, sogar den Aufseher der königlichen Feuerstellen. Was noch wichtiger war: Jean(7) hatte in gewissem Umfang Zugang zum König selbst und seinen führenden Baronen. Das ermöglichte ihm, sich einzuschmeicheln und um Belohnungen zu bemühen. Er besaß in der Nähe des königlichen Palasts und Schlosses in Winchester mehrere Häuser sowie in Südwest-England einige kleine vereinzelte Parzellen Land, doch sein wertvoller Familienbesitz, der später den Namen Hamstead Marshall(1) trug, lag in einer fruchtbaren Region des Kennet-Tals, in der Nähe der Grenze zwischen Berkshire und Wiltshire. Ungefähr um diese Zeit sicherte sich Jean(8) eine angesehene Hochzeit mit einer jungen Erbin aus Wiltshire namens Adelina(1). Aus der Ehe gingen zwei Söhne, Gilbert(1) und Gauthier(1), hervor. Bislang hatten seine Erfolge und sein Werdegang wenig Spektakuläres an sich. Doch der Tag, an dem Jean le Maréchal sich profilieren konnte, stand noch bevor: Schon begann der Friede des Königreichs brüchig zu werden.

ABSTIEG IN DIE ANARCHIE

In der Nacht des 25. November 1120 schmiss William Ætheling(1) – der siebzehn Jahre alte Erbe des englischen Throns – eine wilde Party, bei der der Wein in Strömen floss. Eine Horde junger, wohlhabender Adliger hatte sich um ihn versammelt. Man befand sich an Bord eines gerade erst fertiggestellten Schiffs, der White Ship(1), die im Hafen von Barfleur(1) in der Normandie(3) vor Anker lag. Unter den Feiernden befanden sich auch Williams(2) Halbgeschwister, Richard(1) und die Gräfin Matilda du Perche,(1) sowie sein Vetter, Stephan(4)(5) von Blois(6) (derjenige, der Jahre später Guillaume le Maréchals Hinrichtung anordnen sollte). Man sprach tüchtig dem Alkohol zu, sogar die Besatzung und die Ruderer waren nicht ausgenommen, und es machte sich eine Atmosphäre trunkener Fröhlichkeit und jugendlichen Übermuts breit. Als eine Gruppe Geistlicher eintraf, um das neue Schiff mit Weihwasser zu segnen, wurden sie mit verächtlichen Rufen und höhnischem Gelächter davongeschickt. Einige Zeit zuvor am selben Tag war König Heinrich(3) I. von England(19), Williams(3) Vater, von Barfleur(2) aus in See gestochen, um den Kanal zu überqueren. Nun wurden ungestüme Rufe auf der White Ship(2) laut, man könne es doch auf ein Wettrennen ankommen lassen. Dieses schnittige Schiff würde doch sicher das Schiff des Königs überholen können und vor ihm an der englischen Küste eintreffen? In aller Eile wurden die Vorbereitungen für den Aufbruch getroffen. Einige waren wohl von der Idee doch nicht so ganz überzeugt und gingen an Land, unter ihnen auch Stephan von Blois(7), angeblich mit dem Hinweis darauf, er sei von einer Durchfallattacke heimgesucht. William von Malmesbury(1), der große zeitgenössische Chronist der damaligen Zeit, beschrieb, wie die überfüllte White Ship(3) »vom Ufer ablegte, obwohl es bereits dunkel war«, und er fügte hinzu, dass »sie über die bewegte Oberfläche des Meeres schneller davonschoss als ein Pfeil«.

Die Katastrophe ereignete sich nur wenige Minuten später. Der betrunkene, unaufmerksame Steuermann schätzte die Ausfahrt aus dem natürlichen Hafen falsch ein, und das königliche Schiff kollidierte in voller Fahrt mit einem Felsen, der sich aus dem Niedrigwasser erhob. Zwei Planken an Steuerbord wurden zerschmettert, und die White Ship(4) begann, sich rasch mit Wasser zu füllen. In dem Chaos, das nun ausbrach, wurde William Ætheling(4) auf ein Ruderboot verfrachtet, und es hatte schon ganz den Anschein, als sei er dem Untergang entkommen, doch die verzweifelten Schreie seiner Schwester Matilda(2) veranlassten ihn, umzukehren und einen Rettungsversuch zu unternehmen. Als Williams kleines Boot in die Nähe der sinkenden White Ship(5) kam, war es im Handumdrehen von anderen besetzt, die sich verzweifelt zu retten versuchten, und es kenterte. Der junge Prinz(5) und seine sämtlichen jungen Freunde ertranken – »begraben« waren sie nun, wie William(2) von Malmesbury(3) es formulierte, »in der Tiefe«.