Über das Buch

Die letzte Partitur.

Ein fremder Mann überreicht der jungen Cellistin Estrella im Flugzeug einen Umschlag und nimmt ihr das Versprechen ab, niemandem davon zu erzählen. Darin findet sie eine originale Notenskizze von Joseph Haydn – eine Sensation! Doch umgehend werden Estrella die Noten unter rätselhaften Umständen gestohlen. Als sie Kontakt zu dem Mann aufnehmen will, der sie ihr anvertraut hat, erfährt sie, dass es der Literaturnobelpreisträger Manuel Maria Gomez war, der ermordet wurde und als Botschaft ein Pentagramm aus Blut hinterlassen hat. Wer versucht, an die verlorenen Noten zu gelangen? Plötzlich ist Estrella in höchster Gefahr – denn sie ist die Einzige, die deren Inhalt kennt.

Eine atemlose Jagd nach Haydns Vermächtnis

Über Anria Reicher

Anria Reicher wurde 1987 in Wien geboren. Sie studierte Geschichte, Linguistik, Germanistik und Kulturanthropologie in Wien, Dublin und Kalifornien. Die Liebe zur Musik wurde ihr in die Wiege gelegt, denn ihr Vater war dreißig Jahre lang Intendant der Internationalen Haydn Festspiele im Burgenland. So erlebte sie bereits in frühester Kindheit die Welt der klassischen Musik auch hinter den Kulissen. Anria Reicher lebt in Haydns Wirkstätte Eisenstadt.

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Anria Reicher

Das Haydn Pentagramm

Thriller

Inhaltsübersicht

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1. Tag, Freitag

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6. Tag, Mittwoch

7. Tag, Gründonnerstag

8. Tag, Karfreitag

9. Tag, Karsamstag

10. Tag, Ostersonntag

17. Tag, Barmherzigkeitssonntag

Nachwort

Impressum

Non moriar, sed vivam et narrabo opera Domini

Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkünden

(118. Psalm, Vers 17)

1. Tag, Freitag

Herzrasen und Angst. Beides bekannt, allzu vertraut.

Unsicher, ob es ein Alptraum war, der ihn geweckt hatte, oder die kalte Nachtluft, die durch das geöffnete Fenster in das Zimmer gekrochen war, starrte er in die Dunkelheit. Bis das Läuten des Telefons die Stille der Nacht zerriss. Er hatte den Anruf bereits erwartet. Nervös nahm er ab, schlug die Bettdecke zur Seite und stand auf.

»Wir haben es gefunden.«

Prompt beschleunigte sein Puls. Der Anrufer brauchte keine großen Worte, sie verstanden sich auch so. Auf ihn war Verlass. Der Mann ließ den Anrufer auf Instruktionen warten und ging nackt zu der großen Fensterfront. Auf dem teuren Parkett hatte sich bereits eine Pfütze gebildet. Missmutig schloss er das Fenster und blickte in die Nacht. Die Gewitterwolken hingen tief, die Skyline der Stadt war kaum auszumachen. Gedankenverloren beobachtete er, wie ein Wassertropfen sich seinen Weg über die Fensterscheibe suchte, sich mit anderen vereinte. Er hörte in sich hinein, spürte die Furcht.

In den vergangenen Jahren hatte er weder Kosten noch Mühen gescheut, und endlich war sein Traum zum Greifen nahe. Sollte ihnen nun ein Fehler unterlaufen, wäre alles vorbei. Den Verlust von Reichtum, Macht oder Ansehen hätte er verkraften können. Doch es ging um mehr, viel mehr. Sein Leben stand auf dem Spiel.

Langsam hob er die Hand, blickte darauf. Das Zittern war beinahe unkontrollierbar. Er zögerte kurz, dann hauchte er gegen die Fensterscheibe und malte eine durchgestrichene Null auf die beschlagene Stelle. Schließlich traf er eine Entscheidung. »Hol es mir!«

*

Mit einem Lächeln beugte sich die Frau ihm entgegen. Weiche Kurven, enge Uniform. Unwillkürlich stellte sich Frank Stinson die Frau nackt vor, schluckte schwer und nickte. Mit einer Zange reichte ihm die Flugbegleiterin eines der Gebäcke aus dem Brotkorb: »Melden Sie sich bitte, sollten Sie noch etwas benötigen, Sir.«

Während die Flugbegleiterin den anderen Passagieren Gebäck anbot, wanderte Stinsons Blick über ihre Brüste, ihre schmale Taille und hinab zu ihrem Po. Er überlegte, ob Flugbegleiterinnen neben ihrer Uniform auch Unterwäsche von der Fluglinie zur Verfügung gestellt bekämen: kleine, knappe Höschen, farblich abgestimmt mit Bustier und Uniform.

»Sehr geehrte Fluggäste, wir befinden uns über dem Golf von Mexiko. Wir werden wie geplant um neunzehn Uhr fünfunddreißig landen. Die Temperatur in Mexico City beträgt zurzeit zwanzig Grad Celsius.«

Entspannt lehnte Stinson sich in seinem Sitz zurück und widmete sich dem Gebäckstück. Knusprig, dennoch trocken. Wie aufgebackenes Zeitungspapier. Trotzdem aß er es auf, wischte anschließend die herabgefallenen Brösel von seinem Jackett und knüllte die Serviette zusammen. Bisher lief die Observation nach Plan. Er hatte einen guten Blick auf seine Zielperson. Wenn dieser Auftrag erledigt war, würde er endlich in den wohlverdienten Innendienst versetzt werden. Er träumte von einem geregelten Arbeitsalltag, einem netten Büro – vielleicht mit Ausblick – und einer hübschen Assistentin. Eifrig, bemüht, jung.

Er mochte dunkelhaarige Frauen, war aber flexibel, was das Aussehen betraf – oder anspruchslos, wie seine wenigen Freunde es auszudrücken pflegten. Eine Assistentin, die der zierlichen Frau neben seiner Zielperson ähnlich sah, könnte er sich allerdings vorstellen.

Bisher waren seine Zielperson und die junge Frau mit Small Talk beschäftigt gewesen, doch irgendetwas hatte sich in den letzten Minuten verändert. Nervös blickte Stinson um sich, versuchte, die Veränderung zu fassen. Die Flugbegleiterin verteilte nach wie vor Gebäck, die Klimaanlage rauschte. Passagiere sprachen, lachten, schnarchten. Stinson konzentrierte sich auf sein Zielobjekt. Er war nicht sicher, doch er hatte den Eindruck, als sei der Mann näher an die Frau herangerückt und spreche nun eindringlicher auf sie ein als noch vor wenigen Minuten.

Verdammt!

Einige Reihen vor Stinson war eine hitzige Diskussion ausgebrochen, sodass er das Gespräch seiner Zielperson nicht verstehen konnte.

»Ich muss Sie bitten, die Gegenstände der anderen Passagiere in den Gepäckfächern zu lassen, Sir!«, versuchte die Flugbegleiterin einen Mann zu beruhigen, der in schnellem Spanisch sprach und gestikulierend auf ein Notebook und ein Gepäckfach über seinem Kopf deutete. »Sie können Ihr Notebook in einem anderen Fach verstauen, Sir.«

Doch der Passagier ließ nicht locker – auch nicht nach wiederholter Bitte der Flugbegleiterin.

Neureicher Prolet! Stinson war äußerst verärgert über diese Störung, ahnte die drohenden Probleme. Doch was konnte man schon von einem Mann mit einer Tätowierung am Hals erwarten?

In Windeseile ging Stinson seine Optionen durch, doch die Möglichkeiten waren entmutigend begrenzt. Noch ehe er sich zu einem Eingreifen entschließen konnte, sah er die Frau neben seiner Zielperson einen weißen Umschlag in ihre Aktentasche stecken und mehrmals nicken.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Das hätte nicht passieren dürfen.

*

Manuel Maria Gomez stellte sein Reisegepäck neben sich und tastete die Taschen seiner Sommerjacke nach dem Wohnungsschlüssel ab, konnte ihn jedoch nicht finden. Verwundert schüttelte er den Kopf, nahm die Tasche wieder hoch und kramte darin. In einem Seitenfach wurde er fündig und öffnete die laut quietschende Wohnungstür. Er dachte daran, sie endlich ölen zu lassen. Dann holte er sein Handgepäck vom Hausflur und betrat die verdunkelte Wohnung.

»Wieder daheim.«

Er hatte sich bereits zu Beginn seiner Karriere angewöhnt, die schweren Vorhänge während seiner Reisen zugezogen zu lassen, und demzufolge stand die Luft in der Wohnung. Der März gehörte zwar neben April und Mai ohnehin zu den wärmsten Monaten in Mexico City, doch die vergangenen Tage waren überdurchschnittlich heiß gewesen und die Hitze nun beinahe greifbar.

Ächzend zog Gomez Schuhe und Jacke aus, betrat den Wohnraum und stellte sein Gepäck abwesend neben den Schreibtisch.

Das Bad war geradezu verschwenderisch groß und im Gegensatz zu seinem Wohn- und Arbeitszimmer auffallend ordentlich. Erst hier schaltete Gomez die Deckenbeleuchtung an. Dann nahm er sein Smartphone aus der Hosentasche und suchte in seinem Telefonverzeichnis nach einer Nummer. Er hatte sie noch nie genutzt, aber sein Kontaktmann hatte ihm versichert, dass die Verbindung sicher sei. Trotzdem traute Gomez der modernen Technik nicht über den Weg, und er verschlüsselte die Nachricht vorsichtshalber, bevor er sie abschickte.

Anschließend dockte er das Smartphone an seinen Bluetooth-Lautsprecher an und schaltete Joseph Haydns Symphonie Nummer 98 ein. Verträumt lauschte er den Klängen der Londoner Symphonie. Für sich nannte er sie gerne »Adieu Mozart«, weil Haydn während der Komposition dieses Werks von Mozarts Tod erfahren und daraufhin die Symphonie seinem jungen Freund gewidmet hatte.

Gomez schälte sich aus seiner Kleidung, stellte sich nackt vor den mannshohen Spiegel.

»Adieu Jugend.«

Resigniert stieg er in die Dusche, um sich den Staub der Reise abzuspülen. Eitelkeit war ein Luxus, den er sich selten gönnte. Seine Anziehungskraft war auf seinen messerscharfen Verstand und seinen weltweiten Erfolg als Schriftsteller zurückzuführen, was kümmerten ihn da Äußerlichkeiten?

Er drehte das Wasser voll auf, genoss den harten Strahl auf seiner Haut. Während er sich mit einem herb riechenden Duschgel einseifte, summte er die Melodie der Symphonie mit. Gomez liebte klassische Musik. Er hatte zwar nie gelernt, Noten zu lesen, und spielte kein Instrument, aber dank seines phantastischen Gehörs hatte er sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl zu einem Kenner als auch zu einem Mäzen klassischer Musik entwickelt. Er mochte alles von Bach über Mozart, Beethoven, Salieri und Dittersdorf bis hin zu Schubert. Aber seine größte Bewunderung galt dem Komponisten Joseph Haydn, dem großen »Vater« der Wiener Klassik, dem Freund Mozarts und Lehrer Beethovens. Denn nur Haydns Musik versprühte diese einzigartige Natürlichkeit. Sie war fröhlich, mitreißend und belebend.

Ja, das ist das Wort: belebend. Das muss ich unbedingt meinen Notizen hinzufügen, denn ist es nicht das, was im Leben wirklich zählt?

Während die letzten Töne des ersten Satzes erklangen und das Wasser angenehm über Gomez’ Haut floss, spürte er die Anspannung der Reise von sich abfallen und rekapitulierte sein vor wenigen Stunden in Havanna geführtes Interview mit Alessandro Orlando. Seit dem Tod Fidel Castros war Gomez nicht mehr in Kuba gewesen, und umso überraschender war die Einladung des bedeutenden Strategen und engen Vertrauten Castros gekommen. Bisher hatte Alessandro Orlando sich stets im Hintergrund gehalten, noch nie ein Interview gegeben. Gomez war folglich mit großen Erwartungen nach Kuba geflogen. Doch anfangs war das Treffen enttäuschend verlaufen. Erst als sich die beiden Männer bei der Verabschiedung in die Augen sahen und Orlando nachdenklich verharrte, ahnte Gomez, dass er nicht mit leeren Händen gehen würde. Und er sollte recht behalten. Denn als der bullige Leibwächter bereits die Tür geöffnet und ihnen den Rücken zugekehrt hatte, hatte Orlando Gomez mit einem resignierten Kopfschütteln ein Kuvert zugesteckt.

Gomez konnte sein Glück kaum fassen, schließlich hatte er vermutet, dass die Lösung des Geheimnisses in Kuba verborgen lag – und mit dem Tod Fidel Castros wieder freigegeben wurde. Sollte es tatsächlich so einfach gewesen sein?

Dass er kurz darauf im Flugzeug die kleine Cellistin traf, war ein weiterer Glücksfall gewesen. Besser hätte er es nicht planen können.

Erst am Abend zuvor hatte er ihr Konzert besucht, und dann hatte das Schicksal sie im Flugzeug zusammengeführt.

Gomez seufzte tief. Er wusste, es war gefährlich gewesen, ihr das Dokument zu überlassen, ohne zumindest eine Kopie für sich selbst anzufertigen. Doch ihm war keine Wahl geblieben, nachdem er entdeckt hatte, dass sie ihn beschatteten. Das Dokument durfte unter keinen Umständen in die falschen Hände gelangen!

Er fühlte sich unwohl, eine Unwissende in die Sache hineingezogen zu haben. Nun, um das zu ändern, musste er sie eben für die Sache rekrutieren. Das konnte doch nicht so schwer sein.

Als er sich den Schaum vom Körper wusch, riss ihn ein knarzendes Geräusch aus seinen Gedanken. Für den Bruchteil einer Sekunde setzte sein Herz aus.

Alter Angsthase.

Verärgert drehte er das Wasser ab. Was war er doch paranoid geworden in letzter Zeit. Sie würden ihm ja doch nichts antun. Schließlich war er einer von ihnen, sie brauchten ihn. Oder etwa nicht? Er benötigte unbedingt einige Tage Ruhe, um nachzudenken, seine nächsten Schritte zu planen. Danach würde er sich mit der Cellistin in Verbindung setzen und den Umschlag zurückholen.

Während er weiter an die Musikerin dachte, stieg er aus der Dusche und hüllte sich in ein weiches, großes Badetuch. Ob er sie zum Essen ausführen sollte? Sie war nicht schön, zumindest nicht im klassischen Sinn. Und weitaus zu jung.

Doch sie spielt Haydn so wunderbar, dass es einem die Tränen in die Augen treibt.

Wenn er doch noch einmal jung wäre.

Unsterblich müsste man sein.

Als die Streicher zum Schlusssatz der Londoner Symphonie hoben, der unter Musikern als einer der originellsten der Werkgruppe galt, kämmte er sein feuchtes Haar nach hinten. Er liebte diese Stelle, an der es zur Beschleunigung kommt und die Violinen rasant-virtuose Sechzehntel-Läufe spielen.

Voller Begeisterung dirigierte Gomez mit dem Zeigefinger den Takt in der Luft mit und ging unbekleidet Richtung Schlafzimmer, um sich frische Sachen zu holen. Ein erneutes mulmiges Gefühl ließ ihn jedoch kehrtmachen und ins Wohnzimmer gehen.

»Hallo? Ist da jemand?«

Mein übermüdeter Verstand spielt mir wohl einen Streich.

Doch da sah er bereits seine geöffnete Reisetasche und den Inhalt seiner Aktentasche neben dem Schreibtisch verstreut liegen. Gelähmt starrte Gomez auf das sich ihm bietende Bild, während im Hintergrund Streicher und Cembalo zum großen Finale der Symphonie anhoben.

Adieu Haydn, dachte er noch, als er von einem dumpfen Gegenstand am Hinterkopf getroffen wurde. Als er bewusstlos auf dem Boden aufschlug, hörte er die das Satzende ankündigenden Fanfaren der Hörner schon nicht mehr.

2. Tag, Samstag

Estrella Pérez gab eine sonderbare Erscheinung ab, als sie weit nach Mitternacht aus der Ankunftshalle des Vienna International Airport in den peitschenden Regen trat. In der einen Hand hielt sie ihre Aktentasche, in der anderen zog sie ihren Reisetrolley, und auf dem Rücken trug sie ihren großen weißen Cellokasten. Mit ihrer zarten, zierlichen Statur wirkte sie in der schwachen Straßenbeleuchtung wie ein Kind.

Estrella stellte ihren Trolley ab, zog die Kapuze ihrer Jacke tiefer in die blasse Stirn und rückte den Schulterriemen ihres Cellokastens zurecht. Sie schnitt eine Grimasse in Richtung der Wolkendecke. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ihr Flug hatte Verspätung gehabt, und mittlerweile befürchtete sie, von ihrer Müdigkeit erschlagen zu werden und an Ort und Stelle einzuschlafen.

Hilfe suchend blickte sie nach einem Taxi die Straße auf und ab, doch bei dem Regen und zu dieser Uhrzeit war kein freies in der Nähe. Estrella stöhnte genervt auf. Sie wollte sich eben auf den Weg zurück in die Ankunftshalle machen, als sich ein Taxi mit hoher Geschwindigkeit näherte und abrupt vor ihr zum Stehen kam.

Das Fenster auf der Beifahrerseite glitt herunter, und ein Mann beugte sich zu ihr herüber. Still schaute er sie an.

»Taxi?!«, sagte er schließlich, mehr eine Feststellung als eine Frage.

Der Mann war durchtrainiert und verboten attraktiv. Prompt fühlte Estrella sich unwohl. Schöne Menschen machten sie immer nervös. Außerdem ging von dem Mann etwas Bedrohliches aus, oder bildete sie sich das nur ein? Rasch machte sie einen Schritt nach hinten und warf einen Blick auf das Kennzeichen: W 777 TX. Die letzten beiden Ziffern kennzeichneten das Fahrzeug als offizielles Wiener Taxi. Also holte sie tief Luft und nickte dem Mann zu.

Sofort sprang er aus dem Auto. Estrella fröstelte, aber dem Taxifahrer schienen weder Regen noch Kälte etwas auszumachen. Seine Bewegungen waren für seinen kräftigen Körperbau überraschend anmutig. Mit einem Handgriff öffnete er den geräumigen Kofferraum, schnappte Estrellas Reisekoffer und verstaute ihn. Dann streckte er ihr seinen rechten Arm auffordernd entgegen und machte einen Schritt auf sie zu. Estrella zuckte zusammen.

»Cello. Bitte«, sagte der Mann mit hartem, aber undefinierbarem Akzent.

Estrella war erstaunt, dass der Mann das Instrument anhand des Koffers sofort identifiziert hatte, ließ den Cellokoffer von den Schultern gleiten, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf und deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Rückbank. Behutsam bettete sie ihr Cello darauf und befestigte es mit dem Sicherheitsgurt. Dann setzte sie sich daneben und legte ebenfalls den Sicherheitsgurt an. Sie nannte dem Mann die Adresse ihrer kleinen Wohnung im ersten Wiener Gemeindebezirk.

Sie hatte eine lange Reise hinter sich. In den vergangen achtundvierzig Stunden war sie von Kuba nach Mexico City und von dort über Madrid nach Wien geflogen. Ihr Konzert in Havanna war phantastisch gewesen. Sie hatte Haydns Cellokonzert Nr. 1 in C-Dur gespielt. Estrella lächelte bei der Erinnerung an die Standing Ovations und den frenetischen Beifall des Publikums. Danach war sie nach Mexico City geflogen. Wenn ihr Künstleragent doch bloß nicht so sehr auf das TV-Interview in dieser mexikanischen Late Night Show gepocht hätte, wäre sie schon längst zu Hause. So aber hatte sie einen mehrstündigen Aufenthalt in der riesigen Metropole Mexico City abwarten müssen, ehe der Anschlussflug sie zurück nach Österreich brachte.

Gedankenverloren blickte Estrella auf die blinkenden Lichter der Schwechater Ölraffinerie.

Eins, zwei, drei, vier  Während Estrella die Lichtsignale zählte, spürte sie die Anspannung von sich fallen. Als sie tiefer in die Sitzpolsterung rutschte, grummelte ihr Magen vernehmlich. Da sie in ihrer Wohnung lediglich eingefrorene Toastscheiben erwarteten, begann sie ihre Tasche nach einem Müsliriegel zu durchwühlen. Dabei entdeckte sie zwischen Haydns Cellokonzert Nr. 2 in D-Dur und dem Präludium von J. S. Bachs Cellosuite Nr. 1 Gomez’ Umschlag.

Estrella schmunzelte bei dem Gedanken an seine Geheimniskrämerei. Er hatte aufgeregt gewirkt und ihr das Versprechen abgenommen, den Inhalt vertraulich zu behandeln. Sollte sie das Kuvert jetzt öffnen? Forschend sah sie den Umschlag an, drehte ihn um. Es war ein schlankes weißes Kuvert ohne Vermerke oder Stempel.

Estrella wagte einen Blick zu dem Taxifahrer, der ihr aber nach wie vor keine Beachtung schenkte. Sie seufzte verhalten. Der Schriftsteller Gomez würde ihr wohl kaum sein neuestes Manuskript überlassen und um ihre Meinung bitten.

Schon wieder so ein Möchtegern-Komponist, der mein Feedback zu einer Komposition hören will.

Diesbezüglich war Estrella völlig desillusioniert. Seit ihrem Durchbruch als Solistin erhielt sie regelmäßig Noten oder Einspielungen zugesandt. Ehemalige Studienkollegen, Bekannte ihrer verstorbenen Eltern, wildfremde Menschen – jeder schien plötzlich einen Grund zu haben, sie zu kontaktieren. Meistens wurde Estrella um ein Empfehlungsschreiben gebeten, oder sie sollte angehende Musiker auf ihr Können prüfen. Ihr waren diese Bitten meist sehr unangenehm. Sie zerstörte nicht gern die Träume junger Musiker, die zwar großen Ehrgeiz, aber wenig Talent besaßen.

Und an diesem Abend war Estrella einfach zu müde, um sich mit dem musikalischen Schaffen eines Amateurs herumzuschlagen. Und so ließ sie den Umschlag sinken, blickte wieder aus dem Fenster und zählte die vorbeirasenden Leitplanken.

Doch der Umschlag ließ ihr keine Ruhe, und schließlich siegte ihre Neugierde. Vorsichtig öffnete sie ihn und fand tatsächlich ein Notenblatt darin. Allerdings nur eine Seite. Das Papier war in einem mitgenommenen Zustand, und aufgrund der pergamentartigen Färbung und Stockflecken schätzte Estrella es alt ein. Bedächtig drehte und wendete sie es. Sie konnte nur wenig erkennen, traute sich aber nicht, das Leselicht einzuschalten. Interessiert entzifferte Estrella die ersten Notenzeilen. Sie hatte den Eindruck, dass die Noten sehr schnell niedergeschrieben worden waren.

Was hat das zu bedeuten?

Diese Notenzeilen stammten definitiv nicht von Gomez. Estrella ließ die Arme sinken, schloss die Augen. In Gedanken wiederholte sie die Melodie, die sie soeben gelesen hatte.

Plötzlich bremste der Taxifahrer scharf, und Estrella wurde mit einem heftigen Ruck nach vorn geschleudert. Ihre Ledertasche fiel von ihrem Schoß, und der Inhalt verteilte sich über die Rückbank und im Fußbereich des Autos. Der Taxilenker fluchte verhalten in einer ihr fremden Sprache. Estrella erkannte die Rücklichter eines Autos, das ihr Taxi abgedrängt hatte und nun mit hoher Geschwindigkeit im Dunkel der Nacht verschwand. Der Taxifahrer hatte mit dem abrupten Bremsmanöver gerade noch einen Unfall verhindert.

Hastig drehte sich Estrella zu ihrem wertvollen Cello und tastete es ab. Sicher angegurtet hatte es keinen Schaden genommen. Als sie ihre Notenblätter und Unterlagen auf dem Sitz und zu ihren Füßen verstreut liegen sah, stöhnte Estrella leise auf.

Möge diese Reise doch endlich zu Ende gehen.

Missmutig sammelte sie die Papiere ein und stopfte sie unsortiert in ihre Tasche.

*

Schweiß. Zwischen den Brüsten, unter den Achseln. Sogar am Bauch.

»Estoy loca por ti. Ich bin verrückt nach dir«, raunte Gabriela Hernández dem Mann über ihr zu und bewegte sich schneller, woraufhin er laut aufstöhnte: »¡Cielos! Ach du lieber Himmel!«

Comisario Paco Ramírez war ein leidenschaftlicher und attraktiver Mann. Da er zudem verblüffende Ähnlichkeiten mit dem spanischen Schauspieler Antonio Banderas aufwies, wurde er seit Jahren von den männlichen Kollegen »Banderas« genannt. Ob dieser Spitzname auch seiner jungen Kollegin Gabriela zu Ohren gekommen war, wusste er nicht. Es interessierte ihn momentan auch wenig. Ihm war gerade nur eines wichtig: Er hatte sie heute Nachmittag angerufen, sie war nach ihrem Dienstschluss sofort zu ihm nach Hause gekommen, und nun wand sie sich heftig stöhnend unter ihm, während ihre geschickten Hände über seinen Rücken und hinab zu seinem Po glitten. Ungeduldig rieb er sich an ihrem Becken, als ein Läuten sie unterbrach. Fragend sah Gabriela ihn an. Er hatte keine Lust, sich seinen freien Tag – und schon gar nicht sein Schäferstündchen – durch ein Telefonat vermiesen zu lassen, also ignorierte er das Läuten, das nach einer Weile verklang, nur um sofort von Neuem zu beginnen. Wieder und wieder, ohne Erbarmen.

Frustriert rollte Ramírez sich von Gabriela. Im Halbdunkel der zugezogenen Vorhänge tastete er nach seinem Handy und wollte es lautlos schalten, als er auf dem Display die Nummer des Morddezernats von Mexico City erkannte. Kurz schloss er die Augen, wünschte sich an einen anderen Ort, nahm den Anruf aber schließlich ungehalten entgegen. »Wehe, es ist nicht wichtig …«

»¡Hola! Ich bin’s, Javier. El Jefe hat mich beauftragt, dich anzurufen. Es gibt einen neuen Fall. Du sollst dich darum kümmern …«

Ramírez stöhnte genervt auf. Mischte sich sein oberster Vorgesetzter, der Jefe superior de Policia, in Personalangelegenheiten ein, bedeutete das selten etwas Gutes.

»¡Chin! Verdammt!«, schimpfte er. »Was ist passiert?«

»Blöde Sache, wird dir nicht gefallen. Ziemlich wichtige Person und …«

»Jetzt sag schon!«

»Gomez. Der Literaturnobelpreisträger. Er wurde ermordet.«

»¡Chin!«, wiederholte Ramírez. »Schick mir die Adresse auf mein Handy. Ich bin unterwegs.«

Flores hatte recht, das gefiel ihm gar nicht. Ein prominenter Mord in Mexico City bedeutete immer Stress. Grundsätzlich behandelte Ramírez alle Fälle gleich, und er würde nicht härter, schneller oder besser an der Lösung arbeiten, weil es sein Chef verlangte, doch mit einem bekannten Mordopfer kam auch automatisch die ungewollte Publicity. Ein Mord von »öffentlichem Interesse« hieß es dann. Nun hatte er also nicht nur einen Fall zu lösen, sondern auch seinen eitlen Chef und die Medien im Nacken.

Frustriert streifte Ramírez das leere Kondom ab und sammelte seine im Schlafzimmer verteilten Kleidungsstücke zusammen.

»Wir holen das nach, Gabriela«, versicherte er ihr und küsste sie hart auf den Mund. »Lass die Tür einfach ins Schloss fallen, wenn du gehst«, bat er seine Kollegin, als er in seine Schuhe schlüpfte. Dann schnappte er seine Dienstmarke, seine Pistole und sein Handy und rannte hinaus in die vom mexikanischen Feierabendverkehr vibrierende Luft.

War ja klar. Natürlich die Condesa.

Im Laufschritt steuerte Ramírez die nächste Metrostation an. Wenige Sekunden nachdem er Gabriela bedauernd in seiner Wohnung zurücklassen musste, hatte er Flores’ SMS erhalten: Calle Cuautla in Colonia Condesa. Ein Beamter wartet an der Metrostation Chapultepec.

Ramírez hatte mit einem der schicken Wohnorte gerechnet. Entweder der Zona Rosa, dem Zocalo oder eben der Condesa. Drei Nobelbezirke in Mexico City, in denen man auch nachts relativ gefahrlos spazieren gehen konnte. Ramírez verübelte Gomez seine Wahl nicht, schließlich hätte er sich ebenfalls eine Gegend für Politiker, Wohlhabende und Diplomaten ausgesucht, wenn sein Beamtengehalt nicht so verdammt mickrig oder seine Grundprinzipien nicht so entschieden gegen Korruption gewesen wären. Natürlich würde auch er eine dieser hübschen Wohnungen im Art-déco-Stil im Condesa-Viertel bevorzugen.

Ramírez war bewusst, dass Korruption in Mexiko ein massives Problem darstellte. Insbesondere niedere Ränge vieler Polizeieinheiten waren unterbezahlt, was einen Nährboden für Korruption darstellte und sich auch in großen Teilen der mexikanischen Gesellschaft manifestierte. Ramírez erinnerte sich an die Studie einer amerikanischen Universität, in der es geheißen hatte, dass jeder mexikanische Haushalt im Durchschnitt acht Prozent seines Einkommens für Bestechungsgelder ausgab. Acht Prozent!

Ramírez schnaubte bei diesem Gedanken verächtlich. Selbst wenn diese Zahl stimmte, er hatte noch nie einen einzigen Peso davon gesehen, und die Scheinheiligkeit solcher Studien aus dem Ausland ärgerte ihn. Als ob es woanders nicht genug Probleme gäbe – Drogen zum Beispiel. Die kamen zwar aus Mexico, aber gekauft und konsumiert wurden sie vor allem von Ausländern.

Gringos hin oder her, jetzt muss ich mich um einen Toten kümmern, und ich bete, dass es nichts mit Drogen zu tun hat.

Dank seines Dienstgrades stand Ramírez bei Einsätzen mit höchster Priorität zwar ein Dienstauto zur Verfügung, aber er verzichtete meist aus praktischen Gründen darauf. Der Verkehr in Mexico City war überwältigend, enorme Staus standen an der Tagesordnung. Er nahm lieber Gedränge und Ausdünstungen großer Menschenmassen in der Metro in Kauf, als wertvolle Zeit im Stau zu verlieren.

Und so stieg er bereits eine halbe Stunde später an der Station Chapultepec aus, wo wie versprochen ein uniformierter Sargento auf ihn wartete, um ihn die letzten, von den öffentlichen Verkehrsmitteln wenig frequentierten Kilometer zu fahren.

Als der Sargento den Comisario erblickte, nahm er sofort Haltung an und warf seine Zigarette fort: »¡Buenos días, Comisario!«

Schweigend fuhren sie zu dem eleganten Wohnhaus, vor dem bereits die ersten Schaulustigen standen. Ramírez wies den Sargento an, dafür zu sorgen, dass die Leute verschwanden. Vor der Eingangstür standen zwei weitere uniformierte Sargentos, und Ramírez zog seinen Dienstausweis hervor: »División de Investigación. Ermittlungsabteilung.«

»Fünfter Stock, Comisario. Penthouse.«

Oben angelangt, kam ihm José Mateo Mendoza, ein Beamter der Policía Científica, der wissenschaftlich-technischen Abteilung, pfeifend entgegen.

»¡Hola, Banderas! Ich bin vor etwa fünfzehn Minuten eingetroffen. War der Erste hier.«

Ramírez grüßte zurück. Er mochte Mendoza, auch wenn diesem der Ruf vorauseilte, etwas schrullig zu sein. Meistens pfiff er fröhlich vor sich hin, egal ob er sich in der Kantine des Polizeipräsidiums aufhielt oder einen Tatort untersuchte.

Nicht nur bei Mendozas in Plastik gehülltem Anblick, sondern auch während er selbst die vorgeschriebenen Plastikfüßlinge über seine Schuhe zog und die Latexhandschuhe überstreifte, dachte Ramírez voll Ironie an sein leeres Kondom zu Hause.

»Gehen wir«, forderte er seinen Kollegen schicksalsergeben auf.

*

Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht … Und Gott sah, dass es gut war.

Unzählige Male hatte er diese Schöpfungsworte bereits gehört, sie selbst zitiert. Und doch besaßen sie noch immer Gültigkeit. Denn erst mit dem Licht kam die Erkenntnis.

Zufrieden blickte er auf die vierzehn Männer vor sich und sah, dass es gut war. Sie waren eine elitäre Gruppe. Oberflächlich betrachtet, hatten sie keine Gemeinsamkeiten – weder in geographischer Herkunft oder Ethnie noch in Berufsstand oder Alter. Lediglich der Sozialstatus und das ansehnliche Vermögen, das sie in diversen Steuerparadiesen geparkt hatten, wies Ähnlichkeiten auf. Unter ihnen waren renommierte Ärzte und Wissenschaftler, tüchtige Financiers, hochrangige Beamte, aber auch gefinkelte Kriminelle und korrupte Politiker, und sie alle verband dieselbe Leidenschaft, derselbe Traum.

Er korrigierte seine Wortwahl gedanklich. Es war weder etwas so Profanes wie eine Leidenschaft noch etwas so Abstraktes wie ein Traum. Es war mehr. Es war eine Mission!

Er und diese Männer waren keine Freunde, aber sie hatten einen Eid geleistet, würden der Sache treu bleiben bis in den Tod. Deshalb wussten sie mehr übereinander als ihre Ehefrauen, Rechtsanwälte und Therapeuten. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen, schließlich konnte kein Geheimnis so sicher sein, dass es nicht doch einer der anderen entdecken würde.

Das Prinzip war simpel: Jeder überwachte jeden. Sie kannten ihre genauen Kontostände, ihre sexuellen Vorlieben, ihre täglichen Gewohnheiten, ihre beruflichen Aktivitäten und ihre geheimen Korrespondenzen. Sie wussten alles voneinander. Kaufte einer von ihnen ein Appartement für die Geliebte, fanden es die anderen heraus. Nahm einer ihrer Söhne Drogen, fanden es die anderen heraus. Hinterzog einer von ihnen Steuern, fanden es die anderen heraus. Erkrankte einer von ihnen ernsthaft, fanden es die anderen heraus – und machten sich schnellstmöglich auf die Suche nach potenziellem Ersatz.

Die ständige gegenseitige Überwachung hätte für den Einzelnen möglicherweise eine Belastung sein können, doch im Grunde war sie eine Art Garantie. Eine Versicherung, um die Mission niemals zu gefährden. Ihr Eid war für die Ewigkeit. Brach ihn einer der Brüder, wurde er für die anderen zum Freiwild und die gesammelten Geheimnisse brachen dem Verräter das Genick.

Doch das war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Er glaubte nicht, dass einer von ihnen den Eid brechen würde. Das gemeinsame Ziel war zu wichtig und das Risiko, am Ende, wenn es so weit wäre, nicht dabei sein zu dürfen, zu groß. Kurz gesagt, jeder durfte sein Leben führen, wie es ihm gefiel. Ja, sie durften die Welt betrügen, ausnutzen und verkaufen, soviel sie wollten. Die anderen mischten sich nicht ein, wollten lediglich darüber informiert sein.

Er seufzte bei diesem Gedanken. Anfangs hatte er sich abgestoßen gefühlt von all den Informationen, die ihm über seine Brüder zugetragen wurden, und es hatte ihn schockiert, dass jeder sein kleines schmutziges Geheimnis hatte. Mittlerweile war er jedoch zu dem Schluss gekommen, dass das in Ordnung war – solange ihre gemeinsame Mission nie in Gefahr gebracht wurde. Mehr noch, auch er war in den letzten Jahren in einem Sumpf aus Korruption, Betrug und Gefahr versunken, hatte erkennen müssen, dass der Satz »Der Zweck heiligt die Mittel« auch für ihn Gültigkeit besaß.

Sein Blick wanderte erneut durch den altehrwürdigen Raum mit seinen hohen Decken und antiken Gemälden. Um diese Jahreszeit war es noch kühl hinter den steinernen Mauern, und obwohl ein Feuer im Kamin loderte, spürte er die Kälte durch die Schuhsohlen in seine Beine kriechen.

Wie erwartet, waren heute alle Brüder anwesend. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt und waren extra für das Ritual nach Oxfordshire angereist. Nun standen sie in kleinen Gruppen zusammen und waren in Gespräche vertieft. Sie trugen noch ihre Alltagskleidung: Anzüge, Tweed, Polo und Steppjacken. Für ihre heiligen Gewänder war noch Zeit bis zur Abendzeremonie. Erst später würden sie gemeinsam über die Kapelle hinunter in die Sakralräume schreiten, sich symbolisch reinigen und umziehen. Danach würde er das Ritual des letzten Abendmahls eröffnen. Für gewöhnlich trafen sie sich nur selten, um die Risiken und den Aufwand möglichst gering zu halten. Doch die besonderen Umstände erforderten, dass sie bereits in einer Woche erneut zusammenkommen würden: am Ostersonntag, dem Tag der Auferstehung.

*

Im Wohnzimmer roch es nach Erbrochenem und Schweiß. Ramírez schnappte nach Luft, in seinem Magen begann es zu rumoren. Er wünschte, er könnte ein Fenster öffnen, doch das war an einem Tatort nicht erlaubt. Zu leicht konnte Zugluft Beweismaterial wegwehen oder Fremdkörper den Tatort kontaminieren. Darum riss er sich zusammen und bemühte sich, nur noch flach zu atmen.

Der Boden des Wohnzimmers war mit Büchern, Notizblättern und Zeitungen übersät. Anscheinend wahllos verstreut. Der massive hölzerne Schreibtisch war leer gefegt. Stifte und Blöcke lagen am Boden, Schubladen waren herausgerissen, Kästen standen offen. In einer Ecke stand Gomez’ Reisegepäck, und der gesamte Inhalt – Socken, Hemden, Toilettenartikel und Medikamentenschachteln – war ebenfalls ausgeleert und durchwühlt worden. Hier hatte jemand gründlich nach etwas gesucht.

»¡Que lío! Was für ein Durcheinander!«

Seufzend ging Ramírez zu dem Toten. Gomez’ nackter Leichnam hing bleich in einem massiven Schreibtischstuhl. Die Arme waren an den Armlehnen festgebunden, die blassen, kaum behaarten Beine an den Stuhlbeinen. Der Oberkörper hing schlaff nach vorn gebeugt und war – so wie auch der Boden – voll mit Erbrochenem. Ramírez achtete darauf, nicht hineinzutreten, als er vor der Leiche in die Hocke ging, und dankte innerlich den Plastiküberzügen an seinen Schuhen.

Vorsichtig versuchte er, Gomez’ Finger zu bewegen. Vergeblich. Die Totenstarre war bereits vollständig ausgeprägt.

»Todeszeitpunkt?«

»Schwer zu sagen. Die Totenstarre könnte aufgrund der hohen Temperaturen hier drinnen schneller vorangeschritten sein als üblich. Die Körpertemperatur ist wohl kein gutes Indiz mehr. Eventuell gibt die chemische Zusammensetzung des Glaskörpers der Augen präzisere Auskunft. Ich vermute allerdings, dass der Todeszeitpunkt zwischen dreiundzwanzig Uhr und drei Uhr letzte Nacht liegt.«

Ramírez nickte. Er wusste, dass Mendoza sich nicht zu einer engeren Zeitangabe hinreißen lassen würde, er sich aber auf die erste Einschätzung des erfahrenen Kollegen verlassen konnte.

Ramírez’ Knie begannen von der hockenden Haltung zu schmerzen. Schwerfällig richtete er sich auf, und als er das Bein durchstreckte, durchfuhr sein rechtes Knie ein stechender Schmerz. Er stöhnte verhalten, als er es einige Male abwinkelte.

»Alles okay?«

Ramírez winkte mit einer wegwerfenden Bewegung ab. Ein getrockneter Blutfleck am Hinterkopf des Opfers hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Der menschliche Schädel ist besonders gut durchblutet, und Schläge auf den Kopf und der darauffolgende Blutverlust waren häufig Todesursache. Doch die Wunde war nicht allzu groß. Der Blutverlust schien sich in Grenzen gehalten zu haben, auch wenn Blut den Rücken hinabgeflossen war. Ob der Schlag auf den Hinterkopf innere, letale Folgen gehabt hatte, würde der Rechtsmediziner dem Kommissar später sagen.

Ramírez kniete sich erneut nieder und betrachtete Gomez’ Gesicht eingehend. Auf der linken Wange und auf der Stirn prangten dunkle, etwa handtellergroße Flecken. Bis auf einige weitere dunkle Flecken im Bauchbereich konnte Ramírez aber keine Verletzungen am Körper erkennen.

»Das Opfer wurde mehrmals geschlagen«, merkte Mendoza an.

Ramírez nickte, dann stellte er sich neben den Toten. Aus Gomez’ Blickwinkel betrachtete er das Wohnzimmer. An der Wand neben einem Bücherregal entdeckte er in Schulterhöhe einige Flecken. Er bedeutete Mendoza, er möge ihm eine Taschenlampe reichen. Der gebündelte Lichtstrahl zeigte schmierige Abdrücke.

»Sind das Handabdrücke?«, fragte Ramírez, nachdem er eine Weile darauf gestarrt hatte.

»Möglich. Aber Genaueres kann …«

»Jaja, schon gut. Ich weiß«, unterbrach Ramírez den Kollegen, wedelte ungeduldig mit der Hand und winkte einen Beamten in weißem Schutzanzug heran, um Fotos von den Abdrücken machen zu lassen und Proben zu nehmen.

Bei seinem anschließenden Rundgang stellte Ramírez überrascht fest, dass das Badezimmer verschwenderisch groß und elegant war.

Mein Gott, gib mir nur eine einzige Stunde mit Gabriela in solch einer Wanne!

Sehnsuchtsvoll strich er mit seinen noch immer in Einweghandschuhen steckenden Fingern über den Wannenrand. Dabei fiel sein Blick auf das Smartphone unter dem Waschtisch. Er nahm es hoch. Pin-Code.

Auch gut, die Techniker werden den Code schon knacken.

Abgesehen von einer Unmenge Medikamentendöschen im Spiegelschrank fand er bei der weiteren Durchsuchung des Raumes nichts Interessantes. Er steckte das Handy in eine Plastiktüte für Beweismaterial und überreichte sie einem der Kriminaltechniker.

Dann verließ er die Wohnung und trat zu einer Gruppe Sargentos, die gelangweilt auf dem Flur vor der Wohnung herumstanden und auf weitere Anweisungen warteten.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte er Felipe Ruiz, einen älteren Sargento, mit dem er schon einige Male zusammengearbeitet hatte.

»Die Putzfrau. Sie hat einen Schlüssel, kommt zweimal die Woche. Normalerweise um acht Uhr, aber weil Gomez letzte Nacht erst spät von einer Dienstreise in Kuba zurückgekommen ist, sollte sie heute erst am Nachmittag kommen. Sie hat uns sofort angerufen. Wir haben ihre Aussage zu Protokoll genommen.«

Ramírez nickte und erstellte im Kopf bereits einen Zeitplan von Gomez’ letzten Stunden.

»Sind die Drogenhunde schon unterwegs?«

Ruiz nickte.

»Kümmerst du dich auch um die Befragung der Hausbewohner, por favor

»Sí, Comisario. Ich nehme Lorca mit«, erwiderte Ruiz, deutete zu dem jungen Sargento und gab diesem mit einem Kopfnicken zu verstehen, ihm zu folgen.

Ramírez wusste, dass die Chancen schlecht standen, durch diese Routinearbeit etwas in Erfahrung zu bringen. Statistiken zufolge erstatteten in Mexico neunzig Prozent jener, die Opfer eines Verbrechens wurden, niemals Anzeige. Durch dieses Misstrauen der Bürger verringerte sich die Chance von Verbrechensaufklärung und -bekämpfung dramatisch – und Ramírez’ Arbeit wurde massiv erschwert. Trotzdem gehörte dieser Teil zur Polizeiarbeit.

Ramírez seufzte, als er sich auf den Weg in sein Büro machte. Dahin war seine Chance, heute noch mal in Gabrielas Arme zurückzukehren.

3. Tag, Palmsonntag

Geisterstunde. Mit einem Ruck saß Miles aufrecht in seinem Hotelbett. Schweißgebadet und voll Panik. Hinter den nachlässig zugezogenen Vorhängen flackerte das gelbe Licht der Außenbeleuchtung, doch im Zimmer war es dunkel. Miles konnte die Umrisse der Möbel nur schemenhaft ausmachen. Es würde noch dauern, bis die Sonne aufging. Diese Stunden waren die gefährlichsten für ihn.

Sein Herz raste, und er spürte den Puls kraftvoll gegen seinen Hals pochen. Er trug ein T-Shirt und knappe Boxershorts, hatte die Decke von sich gestoßen, nahm die kühle Luft auf seiner feuchten Haut aber nicht wahr.

Wo war er? Was hatten sie mit ihm gemacht? Wo waren die anderen? Der Feind hat sie erwischt!

Miles war in höchster Alarmbereitschaft. Blitzschnell tastete er nach seiner Pistole, die griffbereit neben ihm lag. Er entsicherte sie und rutschte lautlos auf den Teppichboden. Neben dem Bett kauernd, ging er in Deckung und suchte den kleinen Raum nach Bewegungen ab. Seine Augen waren überall. Er scannte jeden Gegenstand nach Veränderungen und Auffälligkeiten. Sie waren hier. Er konnte sie spüren.

Wie haben sie mich gefunden, und wo verstecken sie sich?

Sein Blick huschte vom Nachttisch zum Einbauschrank, über seinen offenen Koffer, der auf einem kleinen Tisch stand, bis hin zur geschlossenen Tür des Badezimmers.

»Kommt heraus, ihr verdammten Arschlöcher!«, schrie er, seine Waffe schussbereit auf die Tür gerichtet. Nein, sie würden ihn nicht bekommen! Ihn nicht!

Minuten vergingen. Endlose, stille Minuten.

Ein Geräusch vom Gang ließ Miles zusammenzucken, seinen Puls noch schneller schlagen. Seine Pupillen waren geweitet, und seine Atmung ging flach. Er saß in der Falle.

Ich brauche einen Plan!

Er würde versuchen, zuerst den Feind im Bad zu überrumpeln. Danach konnten die vom Gang hereinkommen, wenn sie sich trauten. Er war bereit.

Langsam stand er auf, schlich Zentimeter für Zentimeter zum Fenster und öffnete es lautlos. Sein Zimmer war im ersten Stock. Er nahm nie eins, das höher lag. Er brauchte immer einen Fluchtweg.

Mit einem Satz eilte er zurück und kauerte sich wieder neben das Bett.

»Kommt schon! Ich habe keine Angst vor euch!«, spie er in Richtung Badezimmertür, doch es blieb auch diesmal still.

»Ihr verdammten Hurensöhne!«, schrie er, riskierte aber nicht, seine Position erneut zu verlassen. Starr blickte er geradeaus, wagte kaum zu atmen oder zu blinzeln. Seine Augen begannen zu brennen.

Feuer! Sie versuchen, mich auszuräuchern.

Er musste das Feuer löschen, durfte nicht schon wieder versagen.

Panisch sprang er auf, gab seine Deckung auf und war mit einem Satz in dem kleinen Badezimmer. Es war leer.

Das Feuer …!

Hastig schnappte er ein Handtuch, drehte den Wasserhahn auf und tränkte den Stoff, bis er triefend nass war. Als er hochblickte, starrte er in den Spiegel.

»Was willst du von mir?«, schrie er. »Verschwinde!«

Doch der Mann stierte ihn weiter manisch an.

»Stirb!«, brüllte er und schlug mit seinem Kopf gegen das vernarbte Gesicht.

Er spürte keinen Schmerz, fühlte aber warmes Blut über sein Gesicht laufen.

»Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkünden«, flüsterte er. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er fiel bewusstlos auf den kalten Fliesenboden.

*

Estrella erwachte am frühen Morgen in ihrer Wohnung. Ihr leerer Magen hatte sie geweckt. Sie streckte sich ausgiebig und schloss erneut die Augen, um in Gedanken ihren Tag zu planen.

Zuerst würde sie ihre obligatorischen Tonleitern üben. Als Freiberuflerin hatte sie zwar keine festen Arbeitszeiten, hielt sich aber schon seit Beginn ihrer Karriere an einen fixen Tagesablauf, der nur von Konzerten oder anderen wichtigen Terminen durchbrochen werden durfte. Für gewöhnlich übte sie mindestens fünf Stunden täglich am Cello, vor wichtigen Konzerten sogar acht oder zwölf Stunden. Erst danach erlaubte sie sich, den Tag frei zu gestalten. Konsequenz, Ausdauer und Disziplin waren Estrellas herausragende Eigenschaften, die sie letztendlich dorthin gebracht hatten, wo sie heute stand.

Trotzdem nahm sie sich vor, es nach der langen Reise ausnahmsweise ruhiger anzugehen. Sie könnte sich mit Freunden treffen, überlegte sie. Doch ihr fiel niemand ein, den sie anrufen wollte. Ihre Karriere und die vielen Reisen ließen ihr für tiefere Freundschaften keine Zeit. Der Einzige, zu dem sie wirklich Vertrauen hatte, war Peter Cathem. Estrella lächelte bei dem Gedanken an ihn, war aber auch überrascht, dass ihr dieser Name in den Sinn kam, denn sie hatte Peter einige Jahre nicht gesehen.

»Peter«, flüsterte sie. Sie sprach seinen Namen englisch aus, schließlich war er gebürtiger Amerikaner. Während sie seinen Namen mehrmals wiederholte, tanzten ihre Finger wie auf einem imaginären Cello-Griffbrett spielend über die Bettdecke.

Nach einem einfachen Frühstück, das aus Toastbrot aus dem Tiefkühlfach bestand, und einer schnellen Dusche, nahm Estrella mit vor Vorfreude kribbelnden Fingern ihr geliebtes Cello aus dem Cellokasten. In manchen Momenten wurde ihr schlagartig bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte, ihre Leidenschaft zu ihrem Beruf gemacht zu haben und auch davon leben zu können.

Nachdem sie ihren Cellobogen straff gespannt hatte, spielte sie zum Aufwärmen einige Tonleitern. Doch sie war nicht recht bei der Sache. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Peter.

Sie wollte ihm unbedingt von der Begegnung mit Gomez berichten und sich dessen geheimnisvolle Noten bei Tageslicht ansehen.

Trotzdem zwang sie sich, wenigstens einen Teil ihrer obligatorischen Übungen zu absolvieren. Erst danach legte sie ihr Cello beiseite und ging ungeduldig zu ihrer Aktentasche.

Was herrschte doch für ein Chaos darin. Rasch machte sie sich daran, die Notenblätter und Notizen sorgfältig zu ordnen. Nach einer Weile stutzte sie. Gomez’ Kuvert war da, aber es war leer, und sie konnte das Notenblatt nicht finden. Ihr Atem ging stoßweise, als sie ihre Augen schloss und die Hände zu Fäusten ballte. Estrella hielt die Luft an.

Wenn ich bis sechzehn gezählt habe, dann taucht alles wieder auf.

Eins, zwei, drei … vierzehn, fünfzehn, sechzehn.

Sie schnappte nach Luft, öffnete ihre Augen und atmete bewusst ein und aus. Sie würde erneut alle Unterlagen, Seite für Seite, durchgehen. Die Noten konnten schließlich nicht verschwunden sein.

Aber auch nachdem sie jedes Blatt gewendet, jedes Fach sorgfältig durchsucht und alle Papiere gezählt und gestapelt hatte, tauchte das Notenblatt nicht auf. Estrellas Herz raste. Gestern im Taxi hatte sie es noch in der Hand gehabt und wieder in den Umschlag gesteckt. Falsch! Sie musste es direkt in die Aktentasche gesteckt haben.

Sie überlegte fieberhaft. Habe ich es wirklich wieder eingesteckt?

Oder war es nach dem Bremsmanöver unter den Sitz gerutscht, und es lag noch im Taxi?

Unruhig sprang Estrella auf, holte ihr Smartphone. Schon nach wenigen Sucheingaben hatte sie die Nummer des Taxidiensts gefunden.

»Vienna City Taxi, guten Tag«, meldete sich eine rauchige Frauenstimme.

»Guten Tag. Mein Name ist Estrella Pérez. Ich bin letzte Nacht mit einem Ihrer Taxis gefahren und habe etwas im Auto verloren.«

»Ich kann gerne nachsehen. Was haben Sie vergessen?«

»Ein Notenblatt. Ich saß auf der Rückbank, und es dürfte unter den Sitz gerutscht sein.«

»Keine Sorge, wir kontrollieren unsere Fahrzeuge regelmäßig. Kennen Sie vielleicht die Fahrzeugnummer? Das würde mir die Suche erleichtern.«

Estrella konnte sich noch gut an die dreistellige Ziffer und die Endbuchstaben TX erinnern. Sie nannte der Frau am anderen Ende die Daten und hörte im Hintergrund das Klackern einer Computertastatur.

»Es tut mir leid, das Taxi mit diesem Kennzeichen war letzte Nacht nicht unterwegs.«

»Aber ich bin absolut sicher«, erwiderte Estrella verblüfft. »Ein schwarzer Ford Galaxy.«

»Das stimmt schon, aber das Fahrzeug war letzte Nacht nicht im Einsatz. Der Fahrer, der eigentlich Schicht gehabt hätte, musste sich krankmelden, und wir konnten so kurzfristig keinen Ersatz finden.«