Über Eliot Pattison

Eliot Pattison ist Journalist und Rechtsanwalt. Er ist oft nach Tibet und China gereist und lebt mit seiner Familie in Oley, Pennsylvania. Er hat mit seiner Tibet-Serie um den Ermittler Shan eine Thriller-Serie der Sonderklasse geschrieben.

Sechs weitere Romane aus dieser Serie liegen im Aufbau Taschenbuch vor: »Der fremde Tibeter«, »Das Auge von Tibet«, »Das tibetische Orakel«, »Der verlorene Sohn von Tibet«, »Der Berg der toten Tibeter«, »Der tibetische Verräter« sowie »Der tibetische Agent«

Von Eliot Pattison liegen außerdem ein Roman über den Highlander Duncan »Das Ritual« und der Roman »Die Asche der Erde« vor.

Mehr zum Autor unter www.eliotpattison.com

Thomas Haufschild, geb. 1967, arbeitet seit 1991 als Übersetzer und hat alle Romane von Eliot Pattison ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Der Schotte und der Schamane.

Amerika im Jahr 1760 – Franzosen kämpfen gegen Engländer, um die Vorherrschaft. Beide Seiten versuchen sich die Unterstützung der Indianer zu sichern. Mit Hilfe des Schamanen Conawago hat der Schotte Duncan McCallum das Massaker an seinem Clan überlebt, das von den Engländern verübt wurde. Nun ist er zusammen mit Conawago in den Wäldern unterwegs. Als sie einen sterbenden Offizier der Engländer finden, der an einen Baum genagelt worden ist, geraten sie wieder in Schwierigkeiten. Conawago wird verhaftet, weil man ihn für den Mörder hält. Um ihn zu retten, macht Duncan sich daran, die Wahrheit dieses Mordfalls herauszufinden. Bald erkennt er, dass es noch mehr Ritualmorde gegeben hat. Irgendjemand hat ein großes Interesse daran, Verhandlungen zwischen Indianer und Kolonisten zu stören.

»Der letzte Mohikaner trifft Braveheart – mit einem Schuss CSI.« Entertainment Weekly

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Eliot Pattison

Das Auge des Raben

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Thomas Haufschild

Inhaltsübersicht

Über Eliot Pattison

Informationen zum Buch

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Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Epilog

Anmerkung des Verfassers

Zeittafel

Impressum

Für Connor,
der mich immer wieder neu inspiriert.

Kapitel Eins

April 1760,
in der Wildnis von Pennsylvania

Der blutige Krieg wurde nirgendwo so unbarmherzig geführt wie hier, und keine der Parteien in diesem weltumspannenden Konflikt war dafür bekannt, dass sie Gnade walten ließ. Mit jedem Schritt, den der alte Indianer tiefer in das schlafende Feindeslager vordrang, schlug Duncan McCallum das Herz ein Stück höher im Hals. Er hatte Conawago inständig gebeten, sich von dem gegnerischen Biwak fernzuhalten, und gelobt, stattdessen beim nächsten Vollmond mit ihm hierher zurückzukehren, doch sein Gefährte wollte nicht warten. Es war ihm ziemlich einerlei, dass die Huronen, die dort unten mit den Franzosen kampierten, ihn bei lebendigem Leib rösten würden, falls sie ihn inmitten ihrer Reihen ertappten. Die Geister hätten die Feinde da platziert, um seine Entschlossenheit auf die Probe zu stellen, hatte Conawago versichert und den jungen Schotten aufgefordert, ihn nicht zu begleiten. Sein großes Vorhaben – die Rettung der Stämme – duldete keinen Aufschub, und seine Mutter hatte ihn gelehrt, dass die heilige Tonerde, die er von dem Sims am Rand des Lagers benötigte, am wirksamsten war, wenn sie bei Vollmond gewonnen wurde.

Voller Furcht beobachtete Duncan nun, wie Conawago zwischen den Zelten der französischen Offiziere hindurchschlüpfte und dann an einer schlafenden Gestalt nach der anderen vorbeischlich. Sein Leinenhemd leuchtete hell im Mondschein. Als Duncan sich aus dem Schatten vorbeugte, sah er, dass sein Freund nicht etwa die Keule an seinem Gürtel gepackt hielt, sondern das Amulett, das um seinen Hals hing. Ein Mann mit blonden Locken regte sich, als Conawago ihn bei dem schwelenden Feuer passierte. Duncan hob sofort das lange Gewehr an die Schulter und legte auf den französischen Soldaten an, bis dieser sich wieder in seine Decke wickelte.

Von der anderen Seite des Lagers, wo Duncan zuletzt den Wachposten der Huronen gesehen hatte, hallte der gespenstische Ruf eines Ziegenmelkers herüber. Auf einmal antwortete ihm ein zweiter Vogel, deutlich näher, und ließ Duncan an einen Baum zurückweichen, alle Muskeln angespannt, jeder Nerv in Flammen. Er hatte nicht mit einem weiteren Posten gerechnet, wusste aber nun, dass es ihn gab, und zwar bei der Felswand, auf die Conawago zusteuerte. Tief geduckt schob Duncan sich langsam und fast lautlos durch das Lorbeerdickicht. Noch vor wenigen Monaten wäre er wie ein verirrtes Kalb durch das Gebüsch getrampelt, was ihn in so unmittelbarer Feindesnähe schon nach ein paar Schritten das Leben gekostet hätte. Doch Conawago hatte ihm kürzlich eröffnet, nach ihrer gemeinsamen Zeit in der Wildnis sei Duncan inzwischen kein Hochlandschotte mehr, sondern ein Waldschotte.

Der hochgewachsene, kräftige Hurone stand im Unterholz und behielt nicht das Lager, sondern den umliegenden Wald im Auge. Er hatte Duncan den Rücken zugewandt und den Kopf geneigt, als sei ihm in den tiefen Schatten der Bäume etwas aufgefallen. Duncans Herz klopfte wie wild in seiner Brust. Geräuschlos zog er den Tomahawk. Falls er den Krieger nicht mit dem ersten Hieb ausschaltete, würde der Mann Alarm schlagen. Aber noch während Duncan den Arm hob, keuchte der Posten plötzlich vor Schmerz auf, griff sich an den Kopf und wurde dann heftig nach unten gerissen, so dass er zwischen den Sträuchern verschwand. Duncan hörte ein leises Stöhnen, gefolgt von einem Rascheln, als würde etwas davonhuschen.

Als Duncan bei ihm eintraf, war der Hurone bewusstlos. Hektisch schossen ihm mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf: dass eines der nächtlichen Raubtiere des Waldes es auf sie abgesehen hatte, dass sie auf ein Nest giftiger Vipern gestoßen waren, dass er und Conawago soeben in ein Gefecht zwischen den Huronen und deren Erzfeinden, den Irokesen, verwickelt wurden. Dann sah er, dass sein Freund das ungeschützte Sims erreicht hatte, auf dem es die Tonerde gab. Duncan schob alle Befürchtungen beiseite und eilte zu Conawago, um ihm bei der Beschaffung des heiligen gelben Pulvers behilflich zu sein.

Aber sein Gefährte machte sich nicht etwa an die Arbeit, sondern kniete sich ungeachtet der zwei Dutzend blutrünstigen Feinde vor die Felswand, hielt die Arme mit nach oben weisenden Handflächen auf Hüfthöhe ausgestreckt und sprach leise zum Mond.

»Bei allem, was heilig ist, fang endlich an zu graben!«, flüsterte Duncan, ließ den Blick über das schlafende Lager schweifen und versuchte verzweifelt, den noch verbliebenen Wachposten ausfindig zu machen.

»Alles, was heilig ist, wird mich wissen lassen, ob ich würdig bin«, erwiderte Conawago gemächlich. Er arbeitete nun schon seit Monaten darauf hin, die Stämme wieder mit ihren Göttern zu vereinen, von denen sie so eindeutig verlassen worden waren. Es handelte sich um die vielleicht wichtigste Aufgabe seines Lebens, aber er wollte die Geister nicht bedrängen.

Er wartete auf ein Zeichen.

Angespannt musterte Duncan das Lager. Sie würden nun gewiss nicht mehr unbemerkt fliehen können. Dennoch hatte er nicht vor, seinem tapferen Freund deswegen Vorwürfe zu machen, erinnerte der Ältere ihn doch frappierend an seinen geliebten Großvater und besaß mittlerweile einen ähnlichen, wenn nicht noch höheren Stellenwert für ihn. Auch Duncans Stamm hatte die Verbindung zu seinen Göttern verloren, im schottischen Hochland, vor nicht allzu langer Zeit, und auch sein Volk war durch die Gier der europäischen Könige nahezu ausgelöscht worden. In Schottland war es ihm verwehrt geblieben, sein Leben für seinen Clan zu opfern, doch er würde es bedenkenlos einsetzen, um den sanften alten Nipmuc zu beschützen.

Er löste die Lederschlaufe, mit der das Messer an seinem Gürtel gesichert war, kniete sich hinter einen Felsblock und stützte den Gewehrlauf darauf ab. Die Huronenkrieger, die ihre Haut stets mit Blut bemalten, würden unter lautem Geheul als Erste angreifen, um den Dämonen, mit denen die Klingen ihrer Beile verziert waren, Menschenfleisch zu fressen zu geben.

Duncan hörte ein geflüstertes Dankeswort, blickte auf und sah eine einzelne Gans quer über das Antlitz des Mondes fliegen. Conawago breitete unterhalb der Ockerschicht ein quadratisches Ledertuch aus und fing an, die Tonerde mit dem Messer herauszugraben.

Sie liefen nach Westen. Der uralte Pfad verband das nördlich gelegene Land der Irokesen mit dem Gebiet westlich des Ohio. Das erste graue Licht des Tages sickerte zwischen den Eichen und Hemlocktannen hindurch, als Conawago plötzlich seinen Schritt verlangsamte und die lange Keule zog, als wolle er sie jeden Moment schleudern. Duncan hob sein Gewehr und spannte den Hahn. Conawago schob den Beutel mit der mühsam erlangten Tonerde schützend auf den Rücken und schien vorstürmen zu wollen, als er voraus auf dem Pfad einen hellen ovalen Gegenstand entdeckte.

Duncan hatte noch nie erlebt, dass Conawago klein beigab, aber beim Anblick des mit roten Symbolen bemalten Schildkrötenpanzers entrang sich den Lippen des alten Indianers ein gequältes Ächzen. Dann trat ein hochgewachsener Krieger aus den Schatten vor. Conawago wich einen Schritt zurück und schien ein Stück kleiner zu werden. Der Fremde war lediglich mit einem Jagdmesser bewaffnet, das an einem quer über die nackte Brust verlaufenden Riemen hing, doch seine Augen funkelten angriffslustig. Conawago ließ die Keule zu Boden fallen und bedeutete Duncan, er möge sein Gewehr senken. »Onondaga«, sagte er leise. Das war der Name eines der sechs Stämme der befreundeten Irokesischen Liga.

Aber der Mann verhielt sich nicht wie ein Verbündeter, sondern beugte sich vor und ballte die Fäuste, als würde er sich im nächsten Augenblick auf den alten Indianer stürzen.

Duncan trat zur Seite, um auf einen Angriff des Fremden sofort reagieren zu können. Er sah nun die Schildkrötentätowierung, die das halbe Gesicht des Mannes bedeckte, und die kunstvoll gemalten Muster auf seinen Armen und der Brust. Der Onondaga trug eine offene ärmellose Weste, Leggings aus Rehleder und ein Lendentuch. Er war kein gewöhnlicher Krieger, sondern führendes Mitglied eines der mächtigen Geheimbünde der Stämme. Duncan versuchte sich zu erinnern, was Conawago ihm im Laufe der letzten Monate über die Onondaga erzählt hatte. Sie waren die Bewahrer des Allerheiligsten der Sechs Nationen, Schlichter in Streitfragen und Hüter der Geheimnisse der Altvorderen, dank derer die Stämme mit ihrer Vergangenheit verbunden blieben.

»Der Häuptling des Schildkrötenclans«, fügte Conawago hinzu, als wolle er Duncan damit beruhigen.

»Du bist ein Ausgestoßener!«, zischte der Fremde. »Unsere Totems sind seit der Geburt unseres Volkes stets sicher gewesen, geehrt durch unsere Gebete und geschützt durch unsere Götter. Dann raubst du sie wie ein gewöhnlicher Dieb! Du spuckst auf unsere Götter! Du stehst nicht länger unter dem Schutz der Haudenosaunee!«

Duncan sah, wie sein Freund vor Kummer das Gesicht verzog, als würde ihn ein körperlicher Schmerz überkommen. Er erinnerte sich an einen Vorfall vor einem Monat, an die kleine Höhle oberhalb eines der langgestreckten Seen westlich der Kolonie New York. Der Eingang war von Schädeln und Federn umgeben gewesen, und über der Öffnung hatte ein großer Schildkrötenpanzer gehangen, bemalt mit den gleichen Symbolen wie der Panzer, der nun vor ihnen lag. Conawago hatte darauf bestanden, dass Duncan draußen wartete, während er selbst sich in der Höhle aufhielt. Den Vortag hatte der alte Indianer mit Reinigungszeremonien an einer Bergquelle zugebracht, und den Großteil der folgenden Nacht hatte er Gebete in der Sprache seiner Väter aufgesagt. Doch Duncan war nicht entgangen, dass er in den Tagen darauf zweifelnd und zögerlich gewirkt hatte, und die Begegnung mit dem Häuptling schien nun eine ähnliche Reaktion bei ihm auszulösen.

»Der heilige Gegenstand, den ich entliehen habe, wurde dort im letzten Jahrhundert von meiner Mutter zurückgelassen, als ich noch ein Junge war«, erklärte Conawago mit ruhiger Stimme und holte unter seinem Hemd etwas hervor, das an einem Riemen um seinen Hals hing. »Diese kleine Tonfigur wurde von der ersten Mutter meines Nipmuc-Stammes gefertigt, am Anbeginn unserer Tage.«

Duncan schob sich ein Stück vor. Er musste sich anstrengen, um den irokesischen Worten zu folgen. Sein Blick richtete sich kurz auf die Schatten. Er spürte, dass man sie beobachtete.

»Sie wurde meinem Clan anvertraut, für alle Haudenosaunee«, sagte der Mann und benutzte dabei die Bezeichnung seines Volkes für die Stämme, die von den Europäern Irokesen genannt wurden. »Ich habe bei meinem Blut geschworen, sie zu beschützen.«

»Die Figur ist niemandes Eigentum«, gab Conawago schroff zurück. »Als mein Vater starb, hat meine Mutter sie zu der Schreinhöhle gebracht, um sein Mohawk-Erbe zu ehren. Aber sie ist für alle Stämme des Waldes da, die von ihren Göttern verlassen werden.«

»Unsere Götter stehen uns bei! Sie weichen vor niemandem zurück!«

»Mach die Augen auf!«, entgegnete Conawago. »Während wir den Krieg der Europäer für sie austragen, sterben unsere Frauen und Kinder an europäischen Krankheiten. Die Geschichten unserer Völker sind seit Generationen weitergegeben worden, aber nun lässt der britische Rum die Ohren unserer Jugend taub für die Stimmen der Älteren werden. Unsere Stämme werden abhängig von Gütern, die sie nicht selbst herstellen können. Die Europäer reißen unser Land an sich, als würden wir gar nicht existieren. Von meinen Nipmuc ist nicht mehr geblieben als von Herbstlaub, das in alle Winde verstreut wurde. Die Götter entfernen sich und vergessen uns, weil wir sie bereits vergessen haben.«

Die Miene des Fremden umwölkte sich für einen Moment, dann fiel sein Blick wieder auf den kleinen Gott aus gebranntem Ton. »Ich habe gesehen, wie du an jenem Tag die Höhle verlassen hast, aber ich war nicht in der Lage, dir zu folgen.« Die nächsten Worte sprach er auf Englisch, als wolle er, dass Duncan die Drohung verstand. »Ich glaube, du hast das heilige Amulett nur gestohlen, weil du es an einen Engländer verkaufen willst. Skanawati wird das nicht zulassen.«

»Er hat doch bloß ein Totem seiner Familie an sich genommen!« Die Worte kamen Duncan wie von selbst über die Lippen. Er würde dem Fremden nicht gestatten, Conawago zu beleidigen.

Der Fremde griff nach seinem Messer. Conawago trat näher an Duncan heran. Etwas machte ihm sichtlich zu schaffen. Der Name des Kriegers schien ihn weiter verunsichert zu haben. Er hob die Hand und bedeutete Duncan, er möge zurückweichen.

»Er ist niemandes Eigentum«, wiederholte Conawago und hielt die Statuette dabei an dem Riemen hoch. »Aber ihn wieder mit seiner Gefährtin zu vereinen, verleiht ihm neue Stärke.« Während er sprach, griff er in einen Beutel an seinem Gürtel und brachte eine zweite Figur zum Vorschein, die der Ersten zwar stark ähnelte, aber eindeutig eine Frau darstellte.

Der Anblick der zweiten Reliquie ließ den Onondaga verstummen. Er starrte sie eindringlich an, dann seufzte er und ließ sich auf einen nahen Baumstamm sinken. »Was hast du vor, alter Mann?« Duncan entging nicht, dass er jemandem im Schatten mit einer schnellen Geste ein Signal gab.

»Ich spreche Tag und Nacht mit den alten Geistern und erinnere sie an Riten, die ich als Kind gekannt habe. Ich befreie ihre Ohren vom Staub, ihre Augen von den Dornen. Ich nenne Namen, die seit Jahren nicht mehr genannt wurden.«

»Das ist die Aufgabe der Onondaga.« In der Stimme seines Widersachers lag kein Zorn mehr, sondern eher ein aufkeimender Schmerz. »Du gehörst nicht mal zu den Haudenosaunee.«

Conawagos Augen funkelten. Er riss sein Hemd auf und enthüllte die Wolfstätowierung auf seiner Brust. »Ich bin ein Abkömmling der Mohawk und der Nipmuc«, verkündete er stolz und mit weithin hallender Stimme. »Blutsverwandt mit König Hendrick«, sagte er und meinte damit den allseits verehrten alten Häuptling, der vor einigen Jahren im Kampf gegen die Franzosen gefallen war, als er – obgleich selbst schon über achtzig – seine Irokesenkrieger in die Schlacht führte. »Ich wurde am Hof des französischen Königs empfangen und vom englischen König mit Orden ausgezeichnet. Ich habe Büffel gejagt, solange es an den Ufern des Hudson welche gab, und ich habe mit Männern gesprochen, die den großen Champlain kannten.« Er wies auf die Tätowierung. »Als ich in den Wolfsclan der Mohawk aufgenommen wurde«, fügte er mit mühsam unterdrückter Wut hinzu, »hattest du noch nicht mal die Milch deiner Mutter geschmeckt.«

Duncan hatte seinen Freund kaum jemals so aufgebracht erlebt. Die beiden Indianer schienen einander in Rage zu bringen und Emotionen zu wecken, die für gewöhnlich tief verborgen blieben.

Doch es waren nicht die grimmigen Worte, die Skanawati letztlich beschwichtigten. Er riss verwundert die Augen auf, erhob sich und schob Conawagos Hemd zur Seite, so dass auf dessen linker Schulter eine weitere Tätowierung freigelegt wurde, eine Sonne, deren lange Strahlen sich bis hinunter auf den Arm und die Brust erstreckten. Skanawatis Fingerspitzen zogen die Linien nach, ohne jedoch die Haut zu berühren. Es war, als würde von dem Bild irgendeine Kraft ausgehen. Der Blick des Mannes wanderte auf und ab, von Conawagos ernster Miene zu der Tätowierung, bis er endlich wieder Worte fand. »Ich dachte, dass kein lebender Mensch mehr das Zeichen der Dämmerungsläufer tragen würde«, räumte er ehrfürchtig ein. Duncan hatte diese Tätowierung zum ersten Mal vor einigen Monaten gesehen, an dem Leichnam eines Freundes von Conawago. Sie wurde nur den wenigen Auserwählten verliehen, die erfolgreich einen uralten Ritus absolvierten, einen gefährlichen, bisweilen tödlichen vierundzwanzigstündigen Lauf quer durch bergiges, sumpfiges und bewaldetes Gelände, bei dem heilige Stätten der Waldgötter miteinander verbunden und dadurch mit Macht erfüllt wurden.

»Ich war der Letzte, der sie erhalten hat«, sagte Conawago. »Die Götter wissen, dass wir sie vergessen haben«, wiederholte er.

»Ich habe den Brauch verloren geglaubt. Kennst du die Orte, die dabei aufgesucht, und die Worte, die gesprochen werden müssen?«, drängte Skanawati.

Conawago nickte zögernd.

»Warum hast du dein Wissen nicht mit unserem Volk geteilt?«

»Dieses Zeichen wird nicht des Stolzes oder Ruhmes wegen getragen.«

»Wir brauchen heilige Männer.«

»Ich habe in meinem Leben zu viele unheilige Dinge getan, um dafür geeignet zu sein.«

Skanawati musterte bekümmert den kleinen Gott an dem Lederriemen und nickte langsam, als wisse er nur zu gut, wovon Conawago sprach.

Duncan nahm den Häuptling aufs Neue in Augenschein. Ihn umgab eine Aura großer Macht, sogar wenn er einfach nur dastand. Er war ein Krieger im besten Alter, aber sein Blick zeugte von etwas Tieferem.

»Begleite mich zurück, damit wir die beiden Götter in der Höhle vereinen können. Sei mein Lehrer.« Als Conawago nichts darauf entgegnete, schien Skanawati auf merkwürdige Weise beschämt zu sein. Für einen Moment wirkte der Irokesenhäuptling in den langen Schatten der Morgendämmerung viel älter, als er in Wirklichkeit war. »Dann lass mich dir helfen.« Er deutete auf Duncan. »Ich könnte deinen weißen Sklaven mitnehmen und im Ohiogebiet viele Felle für ihn bekommen.«

Duncan ließ sich nicht anmerken, dass er die Worte verstanden hatte, und erwiderte lediglich Conawagos versonnenen Blick, als sein Freund vorgab, das Angebot zu überdenken.

Schließlich zuckte der alte Indianer die Achseln. »Ich werde ihn vorläufig behalten. Er ist schwerfällig, aber er sammelt mein Brennholz und bereitet meine Hasen zu.«

Der Irokese betrachtete Duncan verächtlich und zuckte dann ebenfalls die Achseln, als wolle er zum Ausdruck bringen, dass Conawago seine Entscheidung noch bereuen werde. Er wich einen Schritt zurück, hielt inne, zog ein in Fell gewickeltes Bündel aus dem Gürtel und gab es Conawago. Bei den Stämmen wurde so etwas ein Medizinbündel genannt. Es enthielt heilige Gegenstände aus dem Wald.

Conawago nahm die Gabe feierlich entgegen, schloss beide Hände darum und drückte sie dann an sein Herz. »Du bist weit weg von deinem Langhaus. Was führt dich hierher?«

Skanawati starrte schweigend in den Wald und überlegte, ob er antworten sollte. »Der Kriegerpfad ändert sich«, sagte er letzten Endes und benutzte dabei den irokesischen Namen des Pfades, auf dem sie standen. »Wir verlieren hier seit einiger Zeit Männer«, erklärte der Häuptling in beunruhigend finsterem Tonfall. »Wir finden ihre Leichen bei alten heiligen Bäumen, verstümmelt wie von einem Raubtier.« Er zögerte. »Manchmal sind unter den Toten auch Europäer.« Er schaute von Conawago zu Duncan und musterte sie durchdringend. »Meine Mutter hatte einen Traum«, fügte er dann hinzu.

Duncan sah den Irokesen an. Dies war eine verblüffende Enthüllung. Träume galten den Indianern als höchst vertraulich, denn sie waren Mitteilungen der Geister und stellten eine Verbindung zu der Welt jenseits des Todes dar. Träume waren Schicksal, ihnen musste Folge geleistet werden.

Skanawatis Augen richteten sich auf das Zeichen der Dämmerungsläufer. Wenn ein Irokese einen Wampum-Gürtel in der Hand hielt, musste er die Wahrheit sprechen. Skanawati hingegen schien sich angesichts der Tätowierung verpflichtet zu fühlen, seine tiefen, dringlichen Geheimnisse preiszugeben. »In ihrem Traum wurde sie von einem alten Bärengeist auf diesen Pfad mitgenommen. Der Bär hat ihr verraten, dass der Pfad zu einem Riss in der Welt wird, dass auf ihm die Leben vieler Männer gestohlen werden und dass ihre Seelen eine Linie bilden, die ins Ohiogebiet weist. Nicht lange darauf hat meine Mutter dann selbst den Anfang jenes Risses gesehen und mich auf den Pfad geschickt. Sie hat gesagt, wenn ich die Seelen finde, werden sie mir mitteilen, wie wir uns aus dem Dienst des englischen Königs lösen.«

Das waren kühne, beängstigende Worte, denn sie kündeten nicht nur von vielen Toten, sondern von einer Kluft zwischen den Engländern und den Stämmen. Falls die Irokesen die traditionelle Allianz aufkündigten, würde die britische Armee vermutlich ihre Vernichtung anstreben, damit sie sich nicht den Franzosen anschlossen.

»Und sprechen die Geister zu dir?«, fragte Conawago.

Duncan erschauderte, denn Skanawati nickte. »Ich habe in den Riss in der Welt geschaut«, verkündete er. »Es ist ein furchtbarer Anblick. Auf diesem Pfad wandelt der Tod. Mann wird zu Baum. Mann wird zu Maschine. Die Rufe der Geister fordern mich des Nachts heraus.«

Conawago und Duncan wechselten einen besorgten Blick.

»Wir sind keine Geister«, stellte Conawago fest.

Skanawati schien darüber nachzudenken und nickte dann ernst, wobei er abermals Duncan ansah. »Ich habe Geschichten über einen verrückten alten Nipmuc gehört, der mit einem Gelbhaar in den Bergen umherstreift.« Der Blick des Irokesen wanderte wieder zu Conawagos Tätowierung. »Du musst diesen Pfad verlassen. Geh tiefer in die Berge, meide die Forts, halte dich fern von dem blutigen Wasser, oder du könntest in den Riss in der Welt fallen. Versteck dich. Wenn die Kette des Vertrags reißt, werden nicht mal die Kinder sicher sein.« Er meinte das jahrhundertealte Bündnis zwischen den Briten und den Irokesen. »Es kommen mehr Geister.« Er hob bei diesen Worten den bemalten Schildkrötenpanzer auf.

»Und doch ziehst du ohne Furcht durch den Wald«, merkte Conawago an.

»Ich bin die Antwort auf die Geister«, entgegnete der Irokese.

Dann verschmolz er ohne ein weiteres Wort mit den Schatten.

Ich habe in den Riss in der Welt geschaut. Die Leben vieler Männer werden gestohlen. Es kommen mehr Geister. Die Worte des Onondaga ließen Duncan keine Ruhe, während er und Conawago ihren Weg in dem langsamen, gleichmäßigen Laufschritt fortsetzten, mit dem die Stämme sich durch die Wildnis bewegten. Mit gestohlenen Leben waren Leben gemeint, die ohne Ehre genommen wurden. Skanawati hatte von Morden gesprochen, die das Bündnis gefährdeten. Falls der Pakt gebrochen wurde, würden die Kolonien Pennsylvania und New York sich in blutige Schlachthäuser verwandeln. Duncan musste unwillkürlich wieder an den Posten in dem feindlichen Lager denken, der wie von Geisterhand niedergestreckt worden war.

Die beklemmenden Worte des Irokesenhäuptlings nahmen seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, dass er fast mit Conawago kollidiert wäre, als dieser plötzlich stehenblieb. Sie befanden sich kurz vor einer Kreuzung mit der von Osten nach Westen verlaufenden Forbes Road, deren ausgetretenes Band zwischen den Bäumen hindurchschimmerte. Aus dem Unterholz unweit des Pfades stieg ein klagendes Stöhnen auf, wie von einem kleinen Tier im Todeskampf. Conawago ließ den Blick einen Moment lang über den bewaldeten Hang schweifen und lief dann auf eine große Buche zu. Duncan blieb dicht hinter ihm.

An den Baum gelehnt saß ein braunhaariger Mann, ein Europäer von vielleicht dreißig Jahren, dessen Brust im Licht des frühen Morgens rot erglühte. Das frische Blut bedeckte sein Hemd und die Hose, und sein nach oben ausgestreckter linker Arm lag eng am Stamm des Baumes an, was sehr seltsam aussah. Sein Blick war unstet und flehentlich, sein Atem abgehackt, und obwohl er immer wieder den Mund öffnete, als wolle er etwas sagen, brachte er doch nur stöhnende Laute hervor.

»Heben Sie sich Ihre Kraft auf«, wies Duncan ihn an und kniete sich neben den Fremden. Seine in Schottland erworbenen medizinischen Kenntnisse ließen ihn die Wunden mit geübtem Blick taxieren. Eine Schramme an der rechten Schläfe, wo das Blut bereits getrocknet war. Eine klaffende Verletzung am Oberschenkel, aus der weiterhin Blut rann und am Boden eine Lache bildete. Eine Brustwunde, aus der Blut durch das Hemd sickerte. Duncan hob seine Feldflasche an das Kinn des Mannes und tröpfelte etwas Wasser auf dessen Lippen. Der Mann hustete und schien sich dann zu beruhigen, weil er erkannte, dass Hilfe eingetroffen war. Conawago schnitt eine Ranke ab und fing an, den Oberschenkel des Mannes abzubinden. Falls sie sich nicht beeilten, würde er verbluten. Es kamen mehr Geister, hatte Skanawati gewarnt.

»Wir müssen ihn hinlegen«, sagte Duncan zu Conawago. Doch als er den Fremden behutsam an der Schulter nahm, wollte der linke Arm sich nicht von dem Baumstamm lösen. Duncan zog daran, aber vergeblich. Er zog fester, so dass die geschlossene Faust sich öffnete und den Blick auf die Handfläche freigab. »Um Gottes willen!«, rief er. Die Hand des Mannes war an den Baum genagelt.

Duncan schloss die Augen, um sich zu sammeln. Dann suchte er das Hemd nach der Eintrittswunde ab. Er fand einen langen Riss im Stoff, genau über der Mitte des Blutflecks, und klappte das Hemd auf. Erschrocken zuckte er zurück.

»Sein Herz!«, keuchte er ungläubig. Er hatte davon gehört, dass die grausamen Huronen ihren Feinden mitunter die Herzen herausschnitten. Doch das hier schien irgendwie noch abscheulicher zu sein. Im Brustbein des Mannes steckte ein großes Zahnrad aus einem Uhrwerk. Es war ihm mit großer Wucht in den Leib getrieben worden, und die Zähne hatten sich tief ins Gewebe gegraben. Zwischen ihnen quoll Blut hervor. Mann wird zu Baum, hatte Skanawati gesagt. Mann wird zu Maschine.

»Dahinten auf der Böschung wächst Moos«, sagte Conawago. »Und im Erlendickicht gibt es Spinnweben.« Bei den Stämmen waren das die gebräuchlichsten Hilfsmittel, um Blutungen zu stillen. Er öffnete einen der Beutel an seinem Gürtel und entnahm ihm ein Bündel Kräuter.

Duncan legte Gewehr und Tornister auf einen Felsen und lief zurück den Pfad hinauf.

Während er auf der sumpfigen Böschung kniete und Moos vom Boden löste, ließ ein Geräusch ihn jäh erstarren. Auf der nahen Straße waren Stimmen zu vernehmen. Duncan verwünschte sich dafür, dass er seine Waffe bei Conawago gelassen hatte, und ging hinter dem Farnkraut in Deckung. Zwei Männer kamen in Sicht, nicht auf der Straße, sondern an ihrer nördlichen Flanke. Sie hielten auf den alten Indianerpfad zu. Gleich darauf tauchten zwei weitere an der Südflanke auf. Sie waren nicht nur viel zu sauber, sondern bewegten sich auch zu steif und zögerlich, um Ranger sein zu können, aber sie waren von Rangern ausgebildet worden, denn die schickten ihren Abteilungen stets Kundschafter zu beiden Seiten des Weges voraus. Duncan spürte, so wie Conawago es ihn gelehrt hatte, dass die Schritte zahlreicher Füße den Waldboden erzittern ließen, noch bevor er die Marschkolonne tatsächlich sah. Es waren mehr als zwei Dutzend Soldaten, einer hinter dem anderen. Die meisten hatten kurze Musketen über den Schultern, einige aber auch die langen Gewehre, die von den Franzosen so sehr gefürchtet wurden. Keiner der Männer trug eine reguläre Armeeuniform, wenngleich ein halbes Dutzend in die gleichen blauen, lederbesetzten Waffenröcke gekleidet war und alle sich ein Stück roten Stoff an den Dreispitz oder den Kragen geheftet hatten. Eine Miliz. Duncan ließ die Kolonne vorbeiziehen, erhob sich langsam und wollte soeben einen Gruß rufen, als ein entsetzter Schrei die Stille zerriss.

»Mord!«, kreischte eine junge, verängstigte Stimme. »Gott sei uns gnädig! Es ist der Captain! Die Wilden!«

Duncan ließ das Moos fallen und rannte los. Er war schon halb an der Kolonne vorbei, bevor die ersten Männer mit überraschten Ausrufen auf ihn reagierten, aber mehrere von denen, die bereits auf den blutigen Baum zuliefen, fuhren herum und legten auf Duncan an. Er schlängelte sich zwischen den Soldaten hindurch, wich einem Kolbenhieb aus und stieß einen der Männer mit der Schulter beiseite, als dieser gerade einen Tomahawk aus dem Gürtel ziehen wollte. Zwei Musketen wurden abgefeuert. Die Kugeln zischten an Duncans Ohr vorbei, und jemand schimpfte laut über die Narren, die beinahe ihre eigenen Kameraden getroffen hätten. Er konnte nun Conawago sehen, der verwirrt dem ersten der Fremden entgegenblickte und von dessen Gewehrstoß an der Schulter gestreift wurde.

Der nächste Mann holte mit einem Beil aus. Duncan brüllte wütend auf, fiel dem Soldaten aus vollem Lauf in den Arm und riss ihn um. Duncan rollte sich ab, sprang wieder auf und stürzte sich auf die Männer, die Conawago angriffen.

»Ihr irrt euch! Wir sind keine Feinde!«, rief er und warf erst einen, dann einen weiteren Mann zu Boden. Plötzlich lag eine kalte Klinge an seiner Kehle. Jemand packte sein langes blondes Haar und zerrte seinen Kopf zurück.

»Falls du an dieser Schandtat beteiligt bist, wird es auch dich den Skalp kosten«, knurrte eine Stimme. Duncan wand sich, griff über die Schulter und bekam einen Bart zu fassen. Die Klinge drückte fester gegen seinen Hals. Er musste loslassen.

»Wir sind Kundschafter für Woolfords Ranger!«, keuchte Duncan und verfolgte entsetzt, wie immer mehr Männer auf Conawago einprügelten, ihn traten und mit Gewehrkolben schlugen. »Hört auf!«, flehte er. »Wir sind keine Feinde, so glaubt mir doch!«

Die Soldaten blickten fragend auf, jedoch nicht zu Duncan, sondern zu dem Mann hinter ihm, der das Messer hielt. Einer der Fremden legte dem blutigen Mann am Baum einen Finger an den Hals. »Er ist tot, Sergeant.«

»Dein Freund hat unseren Captain umgebracht!«, zischte die Stimme an Duncans Ohr.

Duncan schaute zu dem Toten. Der Blick des Offiziers war bereits glasig, seine Haut wurde wächsern und bleich. »Wir haben ihn so hier vorgefunden. Wir wollten ihm helfen.«

»Einen Dreck wolltet ihr! Dieser Wilde stand mit einem blutigen Messer über ihn gebeugt und wollte ihn gerade skalpieren!«

»Wir sind Kundschafter für die Ranger!«, wiederholte Duncan, der ebenfalls immer wütender wurde.

»In dem Fall werden wir ihn nicht an Ort und Stelle töten«, gab der Sergeant barsch zurück. »Wir nehmen ihn mit ins Fort und machen ihm ordnungsgemäß den Prozess, bevor wir ihn exekutieren.«

Zwei Männer packten Duncan grob an den Armen, und die Klinge verschwand von seinem Hals. Die anderen fielen mit ihren Stiefeln und dicken Knüppeln wieder über Conawago her. Der alte Indianer brach zusammen. Duncan beschwor die Soldaten, sie mögen aufhören, verfluchte sie auf Englisch und Gälisch, schrie sie an und versuchte verzweifelt, seine Peiniger abzuschütteln. Dann traf ihn eine der Keulen am Kopf. Duncan ging in die Knie. Da seine Arme immer noch festgehalten wurden, konnte er sich nicht vor dem zweiten Hieb schützen. Das Letzte, was er sah, war Conawagos kostbarer kleiner Gott aus gebranntem Ton, so alt wie die Zeit selbst, der unter einem Tritt in Stücke barst.

Kapitel Zwei

Zuerst spürte Duncan den stechenden Schmerz an seiner Stirn, dann an der Schulter. Verwirrt glaubte er sich wieder an Bord des Sträflingsschiffes aus Glasgow, wo ihn im Schlaf die Ratten gebissen hatten. Er roch den modrigen Gestank des Laderaums, ertastete die schmierigen, schimmligen Wände. Ein lautes Kreischen ließ ihn zusammenzucken, beim zweiten drehte er den Kopf herum, und dann brachte ein neuerlicher Schmerz ihn dazu, die müden Augen zu öffnen.

Eine tote, grau verweste Hand lag auf seiner Brust. Mehrere schwarze Vögel stritten sich darum, während einige ihrer Artgenossen auf Duncans Fleisch einpickten.

Sein entsetzter Aufschrei kam ihm als trockenes raues Krächzen über die Lippen. Er richtete sich auf und nahm einen Knüppel, um die Aasfresser zu vertreiben. Dann schrie er erneut auf, denn das Ding in seiner Hand war gar kein Stück Holz, sondern ein verfaulter menschlicher Unterschenkel. Panisch kroch Duncan aus der flachen Grube, in die man ihn geworfen hatte, verscheuchte die Vögel mit einer Handvoll Erde und krabbelte weiter, bis er sich keuchend an eine dicke Palisadenwand drückte.

Nun erst schaute er sich genauer um. Er befand sich auf einem Hügel bei einer großen Festung. Unterhalb waren Schanzanlagen aufgeschüttet. Blau uniformierte Artillerieoffiziere ließen dort ihre Männer an Feldgeschützen üben.

Der Abfall und die Körperteile, die anscheinend vom Tisch eines Chirurgen stammten, waren durch eine schmale Öffnung neben Duncans Kopf in die Grube geworfen worden. Ihm wurde übel, und er begriff, dass man ihn absichtlich hier zurückgelassen, ihm die verwesende Hand auf die Brust gelegt und sogar, wie er nun sah, eine provisorische Vogelscheuche umgeworfen hatte, mit deren Hilfe die Krähen auf Abstand gehalten werden sollten. Duncan schloss die Augen und kämpfte gegen den nächsten Brechreiz an. Dann ging er die Wand entlang bis zu einem Tor. Gleichzeitig versuchte er, sich die Militärstützpunkte im westlichen Wald ins Gedächtnis zu rufen. Er und Conawago hatten sich weniger als einen Tagesmarsch von Fort Ligonier entfernt befunden, der nach Fort Pitt zweitgrößten Festung im Westen.

Der Posten in dem scharlachroten Uniformrock, ein Soldat der britischen regulären Truppen, nickte Duncan frostig zu, als dieser durch das westliche Tor eintrat. In dreißig Metern Entfernung gab es einen Brunnen. Duncan wartete, bis eine Indianerin in einem Kattunkleid ihre Kürbisflasche aufgefüllt hatte. Dann ließ er den Eimer hinab und trank mit großen Schlucken, wusch sich im verbliebenen Wasser die Hände und schüttete es sich über den Kopf. Als er allmählich wieder seine Lebensgeister spürte, zog er sich in den Schatten zurück und lehnte sich vor einem langen eingeschossigen Gebäude an einen Pfosten der Veranda. Von hier aus konnte er das gesamte Gelände überblicken.

Auf Drehgelenken entlang der Palisadenspitzen waren kleine Geschütze montiert, und an jeder Ecke standen Wachen. Gegenüber von Duncan gab es ein zweites langes Gebäude mit mehreren Türen. Männer in blauen Artillerie- und roten Infanterieuniformen gingen dort ein und aus. Sie alle trugen kleine Ringkragen aus Messing um den Hals, wie es für britische Offiziere üblich war. Einige Indianer, Kundschafter vom Stamm der Stockbridge, deren die Armee sich häufig bediente, hockten neben einer bemalten Tierhaut und spielten mit weißen Kieseln eines ihrer Glücksspiele. Unter einem Kastanienbaum saß ein Krieger, der auf dem Kopf die schmale Skalplocke der Irokesen trug, und steckte kleine eiserne Pfeilspitzen auf frisch gefertigte Schäfte. Unteroffiziere ließen mit schneidenden, unduldsamen Befehlen mehrere Infanterieabteilungen exerzieren. Es herrschte eine Atmosphäre von Gehorsam, Disziplin und Angst. Obwohl die Briten sich in diesem blutigen Krieg nach dem Fall von Quebec endlich im Vorteil befanden, war der Kampf in der Wildnis noch längst nicht vorbei.

»Mich beeindruckt nicht so sehr ihre Kenntnis der Dinge an sich«, erklang hinter Duncan eine kultivierte Stimme, »sondern vielmehr die intuitive Art und Weise, auf die diese Kenntnis erlangt wird.«

Duncan wandte den Kopf und sah einen gut gekleideten Mann, der auf einem kleinen Fass an der Hauswand saß und den einzelnen Irokesen betrachtete. »Verzeihung?«

»Die Eingeborenen. Sie wissen um alle Geheimnisse der Natur, und doch drücken sie ihre Weisheit nicht durch Worte, sondern durch Handlungen aus. Ihre Kenntnisse werden instinktiv gewonnen. Wir Barbaren hingegen müssen uns das Wissen in die Schädel hämmern lassen.«

Die ungewöhnlichen Worte kamen aus dem Mund eines ungewöhnlich aussehenden Mannes. Der Fremde war Mitte dreißig, also ungefähr zehn Jahre älter als Duncan. Er trug ein gutes Leinenhemd und darüber eine Weste, aus der die Ketten von nicht einer, sondern zwei Taschenuhren hingen. Sein langes braunes Haar war nach Indianerart im Nacken zusammengebunden und mit einem Streifen gefärbter Aalhaut geschmückt, wie die Flussstämme ihn benutzten. Um seinen Hals hingen sowohl eine kleine Schnupftabakdose aus Messing als auch ein Amulett, das offenbar in ein Nerzfell gewickelt war. An den Händen trug er keinen Schmuck, abgesehen von einem Ring aus Eichenblättern, der rund um ein Handgelenk eintätowiert war und an ein Armband denken ließ. Über seine wollene Hose hatte er Leggings gestreift, wie bei den Rangern üblich, wenngleich sein Exemplar aus Rehleder gefertigt und mit Perlen bestickt war. Seine Füße steckten in den schweren Lederschuhen eines Soldaten.

»Heute Morgen habe ich meine Bewunderung für die Treffsicherheit zum Ausdruck gebracht, mit der dieser bronzefarbene Gladiator der Shawnee ganz beiläufig Eichhörnchen aus einem hohen Baum geschossen hat. Er sagte, die Kraft stecke im Holz seines Bogens und die Genauigkeit im Schaft des Pfeils. Er selbst richte lediglich ein Gebet an die Geister, die ihm die Macht des Holzes verliehen, und visiere das Ziel an. Kein noch so gelehrter Professor hätte mir eine wissenschaftlich befriedigendere Erklärung liefern können.« Er sah Duncan mit aufgeweckter, wissbegieriger Miene an. »Ich arbeite daran, die Kraft des Pfeils in algebraische Formeln zu fassen«, verkündete er und klopfte auf eine Leinentasche, die über seiner Schulter hing. »Ich könnte es Ihnen zeigen, falls …«

Er wurde durch einen stämmigen Mann mit einer Schürze unterbrochen, der in dem Eingang hinter ihnen erschien, ihm ein Stück Kautabak zuwarf, sich kurz bedankte und wieder verschwand.

Der Fremde wirkte verlegen. »Wer seine Schulden bezahlt, ist jedermanns Freund.«

»Haudenosaunee«, sagte Duncan.

»Bitte?«

»Nicht Shawnee. Er ist Haudenosaunee. Es bedeutet Volk des Langhauses.«

Der Mann bekam große Augen. »Die Irokesen! Das edle Reich des Nordens! Ich habe Aufzeichnungen über meine Gespräche mit den Leni Lenape, den Susquehannock, den Shawnee und den Stockbridge, doch sie alle waren nur die Einleitung für das Studium der Irokesen. Meine Nachforschungen führen mich unausweichlich zum Herzen ihres inneren Königreichs. Sind Sie womöglich eine Art Abgesandter? Stimmt es, dass es in der Sprache der Irokesen zehn Worte für Bär gibt, je nach Alter?«

Duncan hätte auf diese merkwürdige Mischung aus Begeisterung, Intellekt und Naivität wahrscheinlich belustigt reagiert, wäre er nicht in so großer Sorge um Conawago gewesen. »Ich suche einen alten Indianer, der heute als Gefangener hergebracht wurde.« Er hielt inne, weil der Mann verunsichert reagierte, und streckte die Hand aus. »Duncan McCallum«, sagte er, »Absolvent der medizinischen Fakultät von Edinburgh.«

Die Miene des Mannes hellte sich sofort auf, und er schlug eifrig ein. »Johan van Grut aus Den Haag. Absolvent der Universität Leuven und des Yale College in der Kolonie Connecticut.«

»Mein Freund wirkt wie ein alter Mönch. Er trägt sein Haar auf traditionelle Art in langen Zöpfen, obwohl er geraume Zeit von Europäern unterrichtet wurde.«

Van Grut runzelte die Stirn. »Ein neuer Miliztrupp aus Virginia ist mit zwei langen Bündeln eingetroffen, die wie Leichname ausgesehen haben. Ich habe es nur aus der Ferne beobachten können, da ich gerade damit beschäftigt war, ein Rebhuhn zu zeichnen. Eines der Bündel wurde ins Krankenrevier gebracht, das andere beim Arrestlokal abgeladen.« Er deutete auf eine Erdrampe, die zu einem eingegrabenen Gebäude führte.

Duncan richtete sich unwillkürlich auf, als er sah, dass zu den Posten an der Rampe nicht nur zwei gewöhnliche Infanteristen gehörten, die mit der Standardmuskete Brown Bess bewaffnet waren, sondern auch ein Mann, der wie ein Grenzbewohner aussah und einen roten Stofffetzen am Dreispitz trug. Und erst jetzt bemerkte er in der Nordostecke des Forts das halbe Dutzend Zelte, das dort im Schatten der Eichen stand. Duncan entbot dem Holländer einen knappen Gruß und eilte davon.

Kurz darauf befand er sich hinter einem Baum nahe der nördlichen Palisade und musterte das kleine Zeltlager. Er hielt nach den Anführern Ausschau und entdeckte schließlich einen breitschultrigen Mann mit Vollbart, den die anderen als Sergeant ansprachen. Anhand seiner rauen Stimme und des großen Messers erkannte Duncan in ihm den Angreifer von jenem Morgen wieder. Er kroch näher und sah, dass zwischen zwei Bäumen ein langes Brett angenagelt worden war. Daran lehnte eine Reihe von Musketen. Sobald er sein eigenes Gewehr erblickt hatte, erhob er sich aus der Deckung, ging hin, nahm wie selbstverständlich die Waffe auf und schüttete aus dem Fläschchen in seiner Tasche etwas Schießpulver auf die Zündpfanne. Dann näherte er sich mit gesenktem Kopf dem Sergeant und tippte ihm mit dem Ende des Gewehrlaufs auf die Schulter. Als der Mann sich zu ihm umdrehte, hieb Duncan ihm den Kolben in den Leib. Der Sergeant ging in die Knie und zog das Messer. Duncan schlug es ihm aus der Hand.

Die Wut im Blick des Sergeants ließ nach, sobald er Duncan erkannte, und er winkte die Männer zurück, die ihm zu Hilfe eilen wollten.

»Es ist ein Wunder, Jungs«, höhnte er. »Der Unrat ist aus der Abfallgrube auferstanden.«

»Dann war es also Ihre Idee, mich dort in den Dreck zu werfen«, knurrte Duncan.

Der Sergeant winkte gekränkt ab. »Das versteht man im Norden unter Dankbarkeit, Jungs. Wir haben ihn verschont, und so vergilt er es uns.« Einige der Milizionäre brachen in Gelächter aus. »Falls es hier einen Arzt oder Metzger gäbe, hätten wir etwas frisches Blut über dich ausgeschüttet«, fügte er bedrohlicher hinzu.

»Wo sind meine Sachen?«

Der Virginier spuckte Duncan einen dunklen Schwall Tabaksud vor die Füße. »Die werden meistbietend versteigert, genau wie das Zeug von dem Wilden, um damit den Sarg unseres tapferen Captains zu bezahlen.«

Duncan ließ den Hahn des Gewehrs in der Ruhestellung einrasten und richtete die Mündung auf den Sergeant. »Ich verlange die Sachen, die Sie mir und meinem Freund gestohlen haben.« Er ignorierte die Soldaten, deren Ring um ihn sich schloss, und konzentrierte sich ruhig auf den Bärtigen.

»Dein roter Freund hat den Kopf praktisch schon in der Schlinge. Wenn du ihm in der Hölle Gesellschaft leisten willst, soll uns das nur recht sein. Wer sich mit solchem Gesindel abgibt, ist selbst nicht viel mehr wert.«

»Sohn einer caoineag!«, fluchte Duncan. Die Verwünschungen seiner Hochlandheimat kamen ihm wie von selbst über die Lippen, und so beschwor er nicht nur den Abkömmling einer Banshee herauf, sondern auch den uruisg, den glaistig und die einäugige direach, allesamt Ungeheuer, die als Rächer der Unschuldigen auftraten. Er schaffte es kaum noch, seine Wut zu zügeln.

»Wir behalten den Zustand deines Heiden genau im Blick«, warnte der Sergeant. »Falls es so aussieht, als würde er sterben, knüpfen wir ihn auf, ohne das Urteil des Majors abzuwarten. Wir lassen uns nicht um unsere Gerechtigkeit betrügen.«

Duncan spannte den Hahn seines Gewehrs vollständig.

»Du wirst mich nicht erschießen.«

»Nein«, bestätigte Duncan und richtete die Mündung auf ein kleines Fass neben einigen Bündeln. »Ich werde Ihr Pulver und die Vorräte in die Luft jagen. Die Splitter der Explosion könnten einige von Ihren Leuten natürlich trotzdem erwischen. Haben Sie schon mal einen Mann gesehen, dem zehn Zentimeter Eichenholz im Auge stecken?«

Der Sergeant fluchte. Ein halbes Dutzend Männer mit Knüppeln kam näher. Der Sergeant wollte sein Messer vom Boden aufheben und erstarrte. Zwei Gestalten hatten sich zu Duncan gesellt.

»So eine Gefechtsübung macht bestimmt Spaß«, erklang eine Stimme mit schnarrendem Hochlandakzent. »Aber wir können euch nicht das ganze Vergnügen überlassen.«

Die Männer zu beiden Seiten Duncans waren von imposanter Statur und trugen die scharlachroten Waffenröcke und Plaid-Kilts eines Hochlandregiments. Die Hellebarden in ihren Händen waren lang und tödlich.

Der Miliz-Sergeant stieß einen Fluch aus, erhob sich langsam und gebot seinen Männern mit einer knappen Geste Einhalt.

»Unser Freund hat um die Rückgabe seines Eigentums gebeten«, dröhnte der Soldat links von Duncan, ein massiger Stier von einem Mann mit lockigem rotem Haar, das unter seiner Schottenmütze hervorquoll.

Der Sergeant murmelte einen Befehl. Einer der Milizionäre verschwand in einem Zelt. Als er wieder zum Vorschein kam, brachte er ein vertrautes Pulverhorn, zwei Tornister und fast die gesamte andere Ausrüstung mit, die Duncan und Conawago bei sich getragen hatten.

»Eine irokesische Kriegskeule. Eine rote Kriegskeule«, sagte Duncan. Ein bei Soldaten überaus beliebtes Souvenir, wusste er. Der Sergeant fluchte erneut und zog sie dann höchstselbst aus einem Bündel.

Sie ließen das Lager der Miliz schnellen Schrittes hinter sich. »Sergeant Colin McGregor zu Ihren Diensten«, verkündete der rothaarige Mann und legte sich eine Hand auf die Brust. »Eine solch herrliche Folge von Hochlandflüchen ist wie Balsam für mein heimwehkrankes Herz. Der Tonfall klang ganz nach der Westküste, wenn ich mich nicht irre.«

Duncan musste unwillkürlich lächeln. »Der McCallum-Clan hat seit Menschengedenken in der Nähe von Lochlash und auf den kleineren westlichen Inseln gelebt. Nun sind von meinem Clan nur noch ich und mein Bruder und ein alter Mann in der Kolonie New York übrig.«

»Ihr Bruder?«, fragte McGregor. »Doch nicht etwa unser hochverehrter Captain Jamie McCallum?«