Sansaria

Prolog

Alles war in Ordnung, aber nichts stimmte. Cosimo der Listige, wie ihn die meisten in seiner Heimat nannten, wischte mit der Hand über den Fuß des Engels, der über das Steingrab wachte. Es knisterte und knackste, und die abgestandene Kirchenluft, die nicht unangenehm nach Weihrauch, Kerzenwachs und verwelkten Blumen roch, war mit einem Mal so angespannt, als müsste etwas passieren. Doch es geschah – nichts. Er wiederholte die Bewegung, aber wieder passierte nichts. Er blickte sich ratlos um. Die Fresken an den Wänden wirkten verzerrt, was allerdings auch am fahlen Licht liegen konnte, das durch die Fenster fiel. Cosimo strich sich die langen Haare aus dem Gesicht und fuhr ein letztes Mal über die Engelsfüße. Plötzlich begann es über dem Grab zu scheppern. Vorsichtshalber trat er einen Schritt zurück, das Geräusch von Stein auf Stein hallte durch das Kirchenschiff. Klonk!

Aus dem Lärm schälten sich bald leise »Iiies« und »Üüüs« heraus, die einen unangenehm metallischen Geschmack auf seiner Zunge hinterließen. »Aha, Elbix, also«, sagte er, nachdem er sich mit dem Zeigefinger gegen die Ohrmuschel getippt hatte, und sein faltiges Gesicht hellte sich auf. »Nun gut, man kann es sich nicht ausdenken.«

Ein Chor hoher Stimmen verkündete: »… handelt sich hierbei um ein absolut geringfügiges Problem, das unsere hyperintelligenten Gehirne höchstens den Bruchteil eines My beanspruchen wird. Bis es so weit ist, bitten wir alle Reisenden, auf das nächste Portal auszuweichen. Zerbrechen Sie sich darüber nicht Ihre – höchstens mittelmäßigen – Gehirne. Es wäre, wir bedauern, vergeudete Zeit. Besten Dank und gute Reise.« Nach einer kurzen Pause begann die Durchsage von Neuem: »Wir bedauern die Störung. Es handelt sich hierbei um ein absolut …«

Cosimo der Listige, der übrigens genauso aussah wie der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi, raufte sich die Haare und wischte einmal durch die Luft, sodass der Chor abrupt abbrach. »Nicht genug, dass meine Dispetrifikation gründlich danebengegangen ist!«, schimpfte er. »Nicht genug, dass ich mit dem Steinbein lauter bin als eine Horde Huruks. Nein! Jetzt auch noch Elbixe.« Das Wort »Elbixe« hallte noch lange nach. Typisch, dachte er. Sogar ihr Echo ist enervierend. »Nun denn, noch ist nicht aller Nächte Morgen!«, rief er sich zur Ordnung und polterte durch den Mittelgang Richtung Ausgang.

Draußen wehte ihm ein lieblicher Duft von Jasmin und Orangen in die Nase. Er roch warmes Gebäck, das Meer und beißendes Fischöl vom nahen Wochenmarkt. Wie schön es war, wieder lebendig zu sein. In der Mitte des leeren Platzes thronte der Elefantenbrunnen. Cosimo humpelte über den Platz, die kleine Treppe zum Markt hinunter. Auf der letzten Stufe sah er sich noch einmal um. Als er sich sicher war, dass ihm niemand gefolgt war und ihn keiner beobachtete, malte er ein Zeichen in die Luft. Gerade wollte er durch den brennenden Riss steigen, der sich daraufhin vor ihm auftat, als er einen dumpfen Schlag am Hinterkopf spürte. Sein gutes Bein knickte ein, dann verlor er das Bewusstsein und sackte rückwärts zu Boden. Bevor sein Kopf auf die Pflastersteine schlug, wurde sein Fall von zwei starken Armen aufgefangen.

»Abgefahren!«, stieß ein gedrungener Mann aus und sah mit offenem Mund zu, wie der Feuerriss in der Luft enger wurde und schließlich ganz verschwand. Dann packte er die Füße des Alten und hob sie hoch, sodass der reglose Körper zwischen ihm und seinem Kollegen wie eine Hängematte hing.

»Höher«, knurrte ein dritter Mann und wickelte notdürftig ein Tuch um den Alten.

»Habt ihr das gesehen? Was wohl in dem brennenden Loch ist?«, fragte der Erste und ging rückwärts voraus.

»Halt die Klappe«, ermahnte ihn sein Kollege und stöhnte. »Verdammtes Steinbein. Der ist so schwer wie eine Waschmaschine.«

»Seid ihr sicher, dass wir den Richtigen haben?«, fragte der Gedrungene, als sie in eine Seitenstraße einbogen und auf einen alten Lieferwagen zusteuerten.

»Nein, es gibt hier bestimmt noch mehr Statuen, die von ihrem Sockel steigen und sich durch ein brennendes Loch in der Luft aus dem Staub machen wollen …«, blaffte sein Kumpel ihn an. »Idiot.«

 

In dieser Nacht verschwanden Gestalten überall auf der Welt in leuchtenden Notportalen, die sie an den ungewöhnlichsten Orten auftaten. In einem Felsvorsprung in den Dolomiten ebenso wie unter Wasserfällen in Kroatien. Mitten in der Wüste Gobi oder im Regenwald von Borneo. Manche Gestalten waren, wie Cosimo, zuvor Statuen gewesen, andere kletterten aus Gemälden in Museen und hinterließen in den Bildern einen leeren Fleck. Andere wiederum formten sich aus ihrer Umgebung. Aus Bodennebel beispielsweise, der sich im Süden Frankreichs zu zwei Mädchen zusammensetzte, die Hand in Hand zum nächsten Eingang hüpften. Im englischen Dartmoor schälten sich fünf Gestalten aus der Rinde moosüberwucherter Bäume und schreckten dabei grasende Rehe auf. Gestalten brachen aus Eisbergen heraus, wehten aus Sandkörnern zusammen oder flossen aus Seen, Meeren und Tümpeln in Form, um sich dann wie ganz normale Menschen auf den Weg nach Sansaria zu machen. Der Anlass für das Spektakel war das alljährliche Frühlingsfest im Fünften Quartier, das in wenigen Minuten beginnen und bis halb fünf Uhr morgens dauern sollte.

Dass die Welt in dieser Nacht verrücktspielte, kriegte außer ein paar aufgeweckten Wissenschaftlern keiner mit. Und selbst die hatten keine Beweise dafür, denn am nächsten Morgen befanden sich die Gestalten wieder auf ihren gewohnten Plätzen. Als wäre nichts passiert, starrten sie in den Museen aus ihren Gemälden, trotzten als Galionsfiguren der hohen See oder waren in ihre Bäume, Eisberge und Wüsten zurückgekehrt. Alle, bis auf einen. Im Süden Italiens blieb die Statue von Giuseppe Garibaldi im Botanischen Garten von Catania spurlos verschwunden.

Erstes Kapitel

Zur gleichen Zeit lag ein blasser elfjähriger Junge namens Leonard Federspiel im Villenviertel einer kleinen deutschen Stadt in seinem Bett und ahnte nicht, dass er bereits Teil dieser Geschichte war. Hätte er es gewusst, wäre es ihm unangenehm gewesen. Denn wenn Leonard neben der Schule irgendetwas richtig wichtig war, dann, nicht aufzufallen. Was ihm aber nicht gelang, wenn es darum ging, dass er etwas besser wusste.

In seinem Bett auf dem Rücken liegend, flackerten seine Augenlider, und exakt eineinhalb Sekunden später landete er unsanft auf allen vieren mitten in einer großen Menschenansammlung. Seltsam, dachte er und tastete mit den Händen zögerlich über den Marmorboden, auf dem er gelandet war. Der fühlt sich echt an. Leonard konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal derart realistisch geträumt zu haben. Seine Knie schmerzten von dem Aufprall, und um ihn herum bewegte sich ein Dickicht aus Beinen, so nah, dass kaum Licht zu ihm drang. Derbe Stiefel und elegante Stöckelschuhe schritten direkt an seinem Gesicht vorbei, und Leonard brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass die dazugehörigen Personen über ihm alle in dieselbe Richtung hasteten.

»Also wirklich, passen Sie doch auf!«, schimpfte eine schrille Stimme vorwurfsvoll zu ihm hinunter. Ein spitzer Schuh stieß ihm in die Seite, und Leonard rappelte sich hastig hoch, bevor er weitere Tritte abbekam. Was er sah, machte ihn sprachlos. Er stand in einer riesigen Halle aus hellem Stein, und an der Wand vor ihm reihten sich mehrere enorme Röhren aneinander. Schiebetüren öffneten sich rhythmisch und ließen immer neue Gestalten aus ihrem blendend weißen Inneren hervortreten. Leonard rieb sich die Augen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er zu Hause in seinem Bett aufgewacht wäre. Doch als er sie wieder aufmachte, war das Gedränge nur noch größer geworden. Alle trugen lange Umhänge, die an den Ärmeln oder am Saum leicht angekohlt waren. Während sie einander in die Arme fielen und aufgeregt durcheinanderredeten, breitete sich der Geruch verbrannter Textilien in der Halle aus. Wie eine Puppe wurde Leonard jetzt in alle Richtungen geschubst. Ellenbögen stachen ihm in die Seite und brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Als er zur gläsernen Kuppel hochblickte, wurde ihm schwarz vor Augen. Etwas Raues kratzte über sein Gesicht, und er begann, panisch mit den Armen in der Luft zu rudern.

»Da bist du ja endlich«, zischte es in sein Ohr, und etwas zerrte an ihm herum. »Halt still, ich mach das.« Einen Augenblick später blinzelte Leonard in das konzentrierte Gesicht eines Mädchens. Ein Mädchen, das er kannte, ohne ihr je zuvor begegnet zu sein. Seit ein paar Wochen war ihm genau dieses Mädchen jede Nacht im Traum erschienen. Leonard starrte sie mit offenem Mund an. Sie war etwa einen halben Kopf größer als er und hatte langes Haar. Als Leonard an sich hinuntersah, begriff er, dass sie ihm einen Kapuzenumhang übergezogen hatte und nun an den Haken nestelte. Er ließ es geschehen und blickte hinauf zu der Kuppel – durch die großen, achteckigen Scheiben schimmerten tatsächlich drei Monde unter der Sonne.

»Schon besser«, sagte das Mädchen zufrieden. Sie stierte nun auf einen Punkt auf seiner Schulter und sagte etwas leiser: »Freut mich. Aber versteck dich lieber, besser, man sieht dich hier nicht.«

»Wieso? Vor wem soll ich mich verstecken?«, fragte Leonard verwirrt. »Und wo sind wir hier überhaupt? Woher kommen die vielen Leute – und sind die Monde da oben etwa echt?«

»Meine Güte, hier kann man doch nicht einfach stehen bleiben!«

Leonard wurde unwirsch zur Seite geschubst. Der Umhang kratzte unangenehm auf seiner Haut, und er begann, die Haken daran zu lösen.

»Lass ihn an«, sagte das Mädchen streng und deutete zu einem Ausgang, an dem sich die Reisenden an einer Art Kontrollpunkt stauten. »Außer du willst, dass dich die Wachen dahinten im Pyjama sehen.«

Leonard ließ die Hände sinken. Unter dem Umhang trug er tatsächlich noch seinen Schlafanzug, außerdem war er barfuß.

»Wenn du nicht ins Gefängnis wandern willst, kommst du jetzt besser mit.« Damit drückte sie ihm einen Schal in die Hand und begann, sich einen ähnlichen um den Hals zu wickeln. Sie vergrub ihre Nase darin und schob sich die Kapuze tief ins Gesicht. »Solltest du genauso machen, und halt auch besser gleich die Luft an.«

Eine Glocke läutete, und es fing um sie herum zu zischen an. Leonard beobachtete, wie vier Gestalten rechts neben ihm von einem rotierenden Lichtkegel eingehüllt wurden und darin verschwanden. Schon schoben sich an der Stelle, wo sie gerade noch gestanden hatten, vier winzige Wesen mit auffällig spitzen Ohren an ihm vorbei. Andere Personen änderten ihre Hautfarbe, während wieder andere plötzlich an Fabelwesen erinnerten, die man aus Märchenbüchern kannte. Eine kräftige Frau wurde sogar zu einer lilafarbenen Pfütze und floss um alle Füße herum in Richtung Kontrollstelle. Unmöglich, das kann alles nicht echt sein, dachte Leonard. Wie bin ich hier hingekommen und wieso kenne ich dieses Mädchen? Während die Gedanken in seinem Kopf rasten, breitete sich ein bestialischer Gestank aus, und ihm wurde speiübel. So rasch er konnte, zog er sich den Schal über die Nase. »Ist das giftig?«, rief er und atmete stockend durch den Mund.

»Quatsch, stinkt nur ziemlich«, nuschelte das Mädchen durch ihren Schal. »60 Prozent Aroma eines alten, französischen Käses, 35 Prozent Duft von verschwitzter Funktionskleidung und 15 Prozent Geruch des Morgenurins einer trächtigen Schlange aus dem Uralgebirge. Kommt ungefähr hin, oder?«

»Woher soll ich wissen, wie eine Schlange aus dem Uralgebirge riecht, wenn sie pinkelt?«, gab Leonard zurück. »Außerdem kenne ich nur Emmentaler und Gouda. Und Mozzarella, aber der zählt für mich eher zu Joghurt und Quark.« Es fiel ihm schwer, seine Kenntnisse für sich zu behalten, wenn er erst mal anfing.

»Bei Verwandlungen stinkt es immer so«, antwortete das Mädchen und zuckte mit den Schultern.

»Zum Donnerwetter, passen Sie doch auf!«, brüllte jemand in Leonards Ohr. Ein knorriges Wesen, das entfernt an einen verkohlten Baumstumpf erinnerte, hatte sich vor ihm aufgebaut. »Was stehst du hier herum? Das ist doch keine Wartezone …«, schimpfte der Stumpf und pikste ihm mit einem dürren Astarm in die Brust, während er sich mit einem anderen die Stelle massierte, an der er sich gestoßen hatte. Leonard zog den Schal vom Mund und strich sich das struppige Haar aus dem Gesicht. Er wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als das Baumwesen zurückwich, sich mehrmals verbeugte und stammelte: »Oh, bitte verzeihen Sie, ich h-h-hatte Sie nicht gleich erkannt … Mein Fehler, verzeihen Sie vielmals …«

»Sie müssen mich verwechseln«, antwortete Leonard und sah sich Hilfe suchend nach dem Mädchen um. »Tut mir wirklich leid, es ist sehr eng hier«, erklärte er, doch der Stumpf tuschelte bereits mit seinen Nachbarn.

»… die Prophezeiung, sehen Sie?«, rief der Baumstumpf und deutete auf Leonard.

»Es ist also wahr. Schau doch!«, japste eine kleine Frau.

»Also, ich weiß nicht, das soll er sein? So schmächtig und blass. Bist du sicher?«, fragte ein anderer.

»Aber ja, sehen Sie doch: Sein Träumling hat das Zeichen …« Dabei deutete der Baumstumpf auf Leonards Schulter und nickte feierlich. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Frohes Frühlingsfest und gutes Gelingen!«

»Was ist da?«, fragte Leonard irritiert und wischte sich über die Schulter. Der Baumstumpf verbeugte sich noch einmal, ohne zu merken, dass sich hinter ihm die Menge zu teilen begann.

»Kieferlinge!«, schrie das Mädchen in dem Moment und deutete mit aufgerissenen Augen hinter ihn. Leonard fuhr herum und erblickte durch die Menge, die sich geteilt hatte, fünf dreibeinige Viecher, so groß wie Ochsen, mit glatter, grün schimmernder Haut, denen Wachen die Maulkörbe von den Schädeln zerrten. Das gibt es nicht, dachte er und spürte eine so große Angst, wie er sie noch nie in seinem Leben gefühlt hatte.

Das Wort »Kieferlinge« war noch nicht verhallt, da brach Panik in der Halle aus. Die Leute schrien auf, ließen ihr Gepäck fallen und liefen in alle Richtungen davon, wobei sie unkoordiniert in ihre Nachbarn prallten. Einige erstarrten vor Schreck. Die Menge wogte panisch von den Viechern weg und wieder zurück. Die Kieferlinge schnupperten mit ihren medizinballgroßen Köpfen ruhig in Leonards Richtung.

»Kieferlinge orientieren sich durch Geruch und eine Art Sonar wie Fledermäuse«, flüsterte das Mädchen in Leonards Ohr. »Du darfst sie auf keinen Fall durch schnelle Bewegungen irritieren. Folge mir! Langsam!« Sie zerrte ihn hinter sich her. Ein Kieferling hatte in der Zwischenzeit den Baumstumpf erreicht, den Leonard angerempelt hatte. Sein Nacken kräuselte sich, als er den Stumpf mit flachen Nüstern beschnupperte. Gerade als die Umstehenden dachten, dass sich der Kieferling abwenden würde, biss er dem Baumstamm in einer einzigen blitzschnellen Bewegung den halben Ast ab. Schreie gellten durch die Halle, während der schockierte Stumpf nicht mal mehr ein Knirschen von sich gab und ohnmächtig zu Boden fiel. Der Kieferling nahm erneut Witterung auf und galoppierte dem Mädchen und Leonard dann mit mächtigen Sätzen nach. Er stieß sich dabei mit seinem kräftigen Hinterlauf vom Boden ab und benutzte die beiden Vorderpranken nur, um die Richtung zu korrigieren, während er auf dem glatten Untergrund zum nächsten Sprung ansetzte. Das Mädchen bugsierte Leonard durch die dichter werdende Menschentraube vor den Ankunftsröhren, während der Kieferling immer näher kam. Schweiß lief Leonard von der Stirn in die Augen, sodass er nur undeutlich sehen konnte, dass sie direkt auf eine Wand zuliefen. Jetzt sitzen wir in der Falle, dachte er, doch das Mädchen schrie: »Runter mit dir!«, und verschwand unter einer moosbedeckten Holzbank. Eine Familie stand darauf und drückte sich zitternd aneinander, allesamt in rosafarbenen Umhängen und mit Taschen behängt, die über und über mit Kleeblättern bestickt waren.

In dem Moment schlitterte der Kieferling auf Leonard zu und riss sein riesiges Maul auf. So schnell er konnte, hechtete er ebenfalls unter die Bank und in das Loch hinein, das dort in den Stein geschlagen war. Es war gerade so groß, dass er dem Mädchen auf Händen und Knien folgen konnte. Knapp hinter seiner rechten Ferse schnappte das Maul der Bestie zu, doch der Tunnel war zu klein für ihren mächtigen Brustkorb. Leonard blickte zurück und starrte in einen weit aufgerissenen Schlund, aus dem es grauenvoll stank. Hinter vier gebogenen Fangzähnen erkannte er eine sich drehende Zahnspirale, die in den Rachen hinunterführte. Von dem Ast des Baumwesens, den die Bestie bereits zerfräst hatte, war nichts mehr zu sehen. Sein Bein würde ihr wohl ebenso wenig Verdauungsprobleme bereiten.

»Komm weiter«, ermahnte ihn das Mädchen. Bloß schnell weg von dem Viech, dachte Leonard und jagte ihr hinterher. Er spürte, wie der Schacht immer erdiger wurde. Auf dem Boden lagen spitze Steinchen, die ihm in die Knie stachen, doch bei dem Gedanken an das Monster, das hinter ihm weiterhin den Eingang versperrte, nahm er den Schmerz in Kauf. Er fragte sich, wie lange sie wohl noch kriechen mussten, als eine kleine Lichtscheibe vor ihnen schnell größer wurde. Wenig später stieß das Mädchen ein Gitter auf und kletterte flink ins Freie. Leonard drückte sich nach ihr aus dem Schacht, stand auf und klopfte sich den Dreck von seinem Umhang. Angenehm warmer Wind wehte ihm ins Gesicht, und er stellte erleichtert fest, dass weit und breit kein Kieferling zu sehen war. Auch sonst nahm niemand Notiz von ihnen. Die Sonne tauchte den großen Platz, der wie eine flache Scheibe vor ihnen lag, in goldenes Licht.

»Wer bist du? Und wo sind wir?«, fragte er das Mädchen, nachdem er wieder etwas Atem gefunden hatte.

»Erkläre ich dir später«, antwortete sie und sah sich um. »Mit ein wenig Glück sind wir längst über alle Berge, bevor die Wachen begreifen, wer du bist. Wir müssen so schnell wie möglich ins Elfte.«

»Ins elfte was?«, fragte Leonard. Er war nicht gerne der Ahnungslose.

»Stimmt, ich vergesse, dass du wirklich gar keine Ahnung hast.« Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fügte sie an: »Quartier. Die meisten Reisenden wollen heute ins Fünfte Quartier wegen des Frühlingsfestes. Siehst du die riesige Ziffer dort unter der Lichtsäule?«

Leonard nickte und musterte die goldene römische Eins, die am Ende des Platzes in den Boden graviert war. Rechts daneben prangte eine ebenso große Zwei und auf der anderen Seite eine Zwölf.

»Sansaria ist in zwölf Quartiere unterteilt, die hier an der Ankunftsplattform zusammenlaufen«, flüsterte das Mädchen. In dem Moment steuerte eine rundliche Frau in einer geblümten Schürze auf die goldene Elf zu und zog ein rotes Taschentuch aus ihrer Tasche. Sie schnäuzte sich geräuschvoll und spazierte weiter zur Zwölf.

»Das ist das Zeichen«, presste das Mädchen hervor und rannte los. »Komm schon.«

Leonard stolperte ihr, so schnell er konnte, hinterher. Beim Näherkommen wurde deutlich, dass die Lichtsäule Nummer elf die reinste Müllhalde war. Große Steinbrocken und allerlei metallene Streben waren herausgebrochen, und es sah nicht so aus, als könnte man damit irgendwohin reisen.

»STE-HEN GE-BLIEBEN!«, rief in dem Moment eine Wache, die auf ihrer Patrouille gerade um die Ecke trat. Eine zweite zog ihrem Kieferling den Maulkorb ab und rief: »FASS!« Zum zweiten Mal sprang ein Biest in großen Sätzen auf sie zu. Leonard blieb wie angewurzelt stehen und hoffte, in seinem Bett aufzuwachen. Der Kieferling preschte heran. Er war noch größer als sein baumfressender Artgenosse, die grünliche Lederhaut war schwarz gefleckt, und gerade öffnete er sein Maul mit der malmenden Zahnspirale.

Schaum flockte ihm von den Lefzen, und Leonard sah nur noch Zähne. Wenn ich nicht sofort aufwache, wird der Biss der Bestie das Letzte sein, was ich in meinem Leben spüre.

Das Mädchen hatte inzwischen in die Tasche ihres Umhangs gegriffen und darin eine Pillendose aufgeschnipst. Sie griff vier Pillen heraus, schob sich zwei davon hektisch zwischen die Zähne und beförderte den Rest in Leonards offen stehenden Mund.

Sie hielt die Hand immer noch über seinen Lippen, als sie im Elften Quartier auf einer staubigen Landstraße landeten. Die Berührung der Hand und ihr leichter Geruch nach Erde und Honig verwirrte Leonard noch mehr als der plötzliche Ortswechsel.

»Das war knapp«, kommentierte sie trocken. »Der Nachteil der Pillen ist, dass sie so ungenau sind. Man weiß nie, wo man landet. Von hier aus müssen wir laufen.« Mit diesen Worten stapfte sie entschlossen los.

Leonard drehte sich im Kreis. Die Ankunftsplattform, auf der sie gerade noch gestanden hatten, war ebenso verschwunden wie der Kieferling. Um sie herum befand sich nichts als weites, flaches Land. Am Horizont verschwand die Sonne, als würde sie ertrinken, und von einer Sekunde auf die andere wurde es dunkel.

»Was waren das für Pillen?«, rief er dem Mädchen hinterher. Er wusste zwar immer noch nicht, ob er träumte oder in einem Paralleluniversum gelandet war, doch über Pillen, die einen teleportieren konnten, musste er auf jeden Fall mehr erfahren.

»Reisekraut von Frau Grünkohl, an dem ich ein wenig herumexperimentiert habe«, erklärte sie, während sie schnell voranschritt. »Irgendwann soll man damit ganz ohne Lichtsäulen zwischen den Vierteln wechseln können. Allerdings hat das bisher noch nie funktioniert.«

»Also, gerade hat es großartig funktioniert, und ich finde es unheimlich gut«, antwortete Leonard und beeilte sich, sie einzuholen. »Wie heißt du eigentlich?«

»Philomena«, antwortete das Mädchen, ohne sich zu ihm umzudrehen.

»Ich bin Leonard«, schnaufte er und bemühte sich, Schritt zu halten.

»Ich weiß, ich hab dich ja oft genug gerufen«, murmelte Philomena und wurde noch ein bisschen schneller.

»Du kennst mich also auch!«, rief er. Leonard hatte so viele Fragen, dass es ihm schwerfiel, sich auf eine zu konzentrieren. Seine Fußsohlen brannten, als sich in der Ferne ein warmes Leuchten abzuzeichnen begann. Während sie darauf zumarschierten, betrachtete er Philomena von der Seite. Sie sah genauso aus, wie sie ihm erschienen war, schmal mit schrägen Augen und einer spitzen Nase, die leicht nach oben zeigte.

»Kieferlinge auf uns zu hetzen!«, schnaubte Philomena erbost. »Ohne Maulkorb! Die sind nicht ganz richtig im Kopf. Nicht einmal die Armee arbeitet mehr mit ihnen, so aggressiv und böse, wie die sind.«

»Tiere sind eigentlich nie grundlos böse«, widersprach Leonard. »Es hängt meistens davon ab, wie sie eingesetzt werden. Pferde oder Elefanten kann man beispielsweise ebenso gut zu Feldarbeit einsetzen wie zur Kriegsführung. Hannibal ist mit ihnen sogar über die Alpen geritten.«

»Dann versuch das nächste Mal, doch mal einen Kieferling zu reiten. Viel Spaß damit«, sagte Philomena und schüttelte den Kopf.

»So habe ich das doch nicht gemeint …«

»Kieferlinge sind nicht besonders schlau, dafür umso gefährlicher«, sagte Philomena, während sie stur weiterstapfte. »Ihre winzigen Gehirne sind gerade groß genug, um zwei Befehle aufzunehmen: Beute stellen und zermalmen. Sie haben keine Augen, dafür umso bessere Nüstern, die einfach alles wittern können. Die strudelförmige Zahnreihe hast du ja gesehen. Damit befördern sie ihre Beute in den Schlund und zersetzen sie noch auf dem Weg in den Magen.«

»Woher weißt du das alles?«

»Mein Onkel hat in der Armee mit den Viechern gearbeitet«, antwortete Philomena, »zumindest bis sie verboten wurden und man sie ins Quartier ohne Namen abgeschoben hat.«

»Was ist das Quartier ohne Namen?«

»Du stellst zu viele Fragen«, brummte Philomena.

Und du weißt anscheinend nicht sehr viel, dachte Leonard, der an ihrem Ton merkte, dass die Unterhaltung beendet war. Als sie schließlich eine Siedlung erreichten, die sich vor ihnen aus der Dunkelheit geschält hatte, sah Philomena ihn an.

»Sperrstunde«, sagte sie, »wir sind zu spät.« Dann fing sie an zu laufen, und Leonard rannte ihr hinterher. Die Gebäude wirkten uralt, die meisten waren aus Holz gebaut und erinnerten ihn an die Bilder der japanischen Teehäuser im Arbeitszimmer seiner Mutter. Dazwischen vereinzelt Häuser aus Stein, so schief und baufällig, als würden sie bei der kleinsten Erschütterung zusammenbrechen.

»Hier hinein«, flüsterte Philomena plötzlich, zerrte Leonard von der Straße und drückte ihn in einen Torbogen. Sein Herz wummerte, als er eine Gruppe hörte, die im Gleichschritt an ihnen vorbeimarschierte. Dann war es wieder still, und er schnappte nach Luft. Wenig später fanden sie das Lokal Zur lodernden Sichel, das sich von den Gebäuden ringsum nur durch ein entsprechendes Schild unterschied. Leonard folgte Philomena nach drinnen. Über den Tischchen schwebten lodernde goldene Sicheln in der Luft und tauchten alles in ein heimeliges Licht. In der Mitte des Raums stand eine provisorische rot lackierte Holzbühne, auf der die Instrumente einer Jazzband einen traurigen Blues spielten. Die dazugehörigen Musiker entdeckte Leonard an einem Tisch davor, die roten Jacken hatten sie aufgeknöpft und waren in ein Gespräch vertieft. Es sah nicht danach aus, dass sie sich selbst bald wieder auf die Bühne stellen würden. Dementsprechend gelangweilt spielten die Instrumente einen Standard und verzichteten auf die üblichen Soli.

Philomena quetschte sich zu einer Gruppe im hinteren Teil des Lokals durch, Leonard folgte ihr.

»Was, wenn er nicht kommt?«, wisperte ein Junge, höchstens fünf oder sechs Jahre alt.

»Er wird kommen«, antwortete ein etwas älterer neben ihm. »Damian hat es gesehen.«

»Ruhe, ihr zwei«, ermahnte sie eine Frau. »Wenn ihr nicht sofort still seid, bringe ich euch nach Hause.«

»Aber du hast versprochen, dass du mit uns noch auf das Frühlingsfest gehst!«, protestierte der Kleine.

»Ich habe gesagt, dass wir vielleicht noch auf das Fest gehen. Aber ich denke nicht, dass wir das tun, wenn ich auch nur einen weiteren Pieps von euch höre.«

Durch einen Spalt zwischen den Leuten sah Leonard einen Mann, der sich eine tiefe Wunde auf dem Rücken nähen ließ. Sein Oberkörper war muskulös, und obwohl er schwer atmete, wirkte er kampfbereit.

»Schaut, gleich ist es geschafft«, sagte die Frau zu ihren Söhnen, der Kleinere hatte ihre Hand ergriffen.

»Lasst den Jungen durch«, sagte der Mann mit der Wunde, hob den Kopf und band sein honigblondes Haar zu einem Knoten zusammen. Leonard blickte sich wie die anderen um, doch als er den Kopf wieder nach vorne drehte, sah er, dass die ganze Gruppe ihn anstarrte.

»Er ist es«, sagte Philomena, woraufhin sich alle übrigen Gäste von ihren Plätzen erhoben. Für einen Moment wurde es unheimlich ruhig in dem Lokal, dann begannen die Leute, auf ihn zuzugehen. Leonard hob beschwichtigend die Arme und wich behutsam zurück. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte. Der Ausgang war zu weit weg und barfuß würde er nicht weit kommen.

»Philomena hat mich hergebracht«, sagte er mit zitternder Stimme, »mein Name ist Leonard Federspiel, und ich …«

Weiter kam er nicht, denn plötzlich riefen alle durcheinander. Leonard konnte gerade noch schützend die Arme hochreißen, als er spürte, wie lauter Hände nach ihm griffen. Doch statt ihn zu packen, zogen sie nur an seinem Umhang, wuschelten ihm durch das Haar und klopften ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Ich hab ihn mir größer vorgestellt«, hörte er jemanden sagen.

Ein anderer brummte mit ungläubigem Ton in der Stimme: »Der ist doch noch ein Kind!«

»Dafür ist sein Träumling einfach prächtig. Schau nur, wie groß seine Ohren sind – und die Nase erst. Wirklich beeindruckend!«

»Jetzt drängelt nicht so«, schimpfte eine Frau, während eine andere flüsterte: »Nein, der Arme, bringt ihm doch erst mal eine Tasse Bernsteintee, der fällt uns hier gleich um.«

Kurz darauf kam Bewegung in die Menge, und Leonard richtete sich zaghaft auf. Vor ihm stand nun eine Frau mit glänzenden Silberringen um den rechten Oberarm, zwei Peitschen am Gürtel, neben ihr der Mann mit dem Samuraiknoten. Während der Mann Leonard freundlich zunickte, überreichte ihm die Frau wortlos einen Koffer. »Hab keine Angst, Leonard«, sagte sie und lächelte müde. »Uns bleibt leider nicht viel Zeit, deshalb hör genau zu. Dunkle Mächte haben unsere Regierung unterwandert und arbeiten an der Zerstörung Sansarias. Wir wissen noch nicht genau, wer hinter der Verschwörung steckt, doch Damian, unser Anführer, hat dich gesehen.« Dabei deutete sie mit ihrem Kinn auf den Mann neben sich. »Was du dir jetzt merken musst: Das Tor mit den drei goldenen Siegeln ist der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung …«

Leonard hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, als plötzlich jemand in die Kneipe stürmte und rief: »Sie kommen!«

Hektik brach aus. Menschen fuhren auseinander, und die goldenen Sicheln über ihm surrten wie verrückte Ventilatoren. »Pass auf deine Augen und Hände auf!«, rief der Mann mit dem Samuraiknoten. »Sie sind deine stärksten Waffen. Und deine größte Schwäche.« Daraufhin stieß jedes der Instrumente einen grausam hellen Ton aus, der Leonard in den Ohren schrillte. Die Tür der Lodernden Sichel brach mit einem lauten Knall aus dem Rahmen, dann wachte er auf.

 

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte seine Mutter. Leonard rieb sich die Augen und setzte sich ruckartig auf. Er hätte schwören können, dass er bis vor einem Augenblick tatsächlich in der Kneipe mit der seltsamen Jazzband und den tanzenden Sicheln gestanden hatte. Alles hatte sich so echt angefühlt.

»Das Tor mit den drei goldenen Siegeln ist der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung«, wiederholte er leise.

»Hast du etwas gesagt, Leolino?« Seine Mutter, die gerade noch an seinem Regal herumhantiert hatte, drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an.

»Wie spät ist es?«, fragte er verschlafen und dann, nach einer kurzen Pause: »Was machst du da eigentlich?«

Diese Frage war durchaus berechtigt, seine Mutter kam nämlich so gut wie nie in sein Zimmer. Um diese Zeit schlief sie für gewöhnlich noch. Den Rest des Tages saß sie in ihrem Arbeitszimmer, las in ihren Büchern oder schrieb an ihrer Arbeit und tauchte sporadisch in der Küche auf, wenn der Hunger sie dazu trieb. Nachmittags setzte sie sich dann in den Garten und las etwas »zum Spaß«, wie sie es nannte. Wobei diese Bücher meistens auch kaum leichter als ein Ziegelstein waren.

Dass sie anders war als andere Mütter hatte Leonard schon vor ein paar Jahren bemerkt, als er von einem Freund aus dem Internat nach Hause eingeladen wurde. Dort hatte es Ansagen und Regeln gegeben, aber eben auch keine Pflichten für die Kinder. Seine Mutter hingegen schrieb ihm nichts vor, war immer ansprechbar und behandelte ihn wie einen Erwachsenen. Sie kontrollierte seine Hausaufgaben auch nicht und ließ ihn sein Essen meistens selbst zubereiten. Mittlerweile wusste Leonard, dass sie sich für alltägliche Dinge wie Kochen einfach nicht interessierte, dafür war sie gerade wegen ihrer Schrullen besonders unterhaltsam und jederzeit bereit, auch tagsüber ins Kino zu gehen oder ihm zwei Stunden von ihrem aktuellen Lieblingsbuch zu erzählen. Wenn sie ihn allerdings »Leolino« nannte, hatte sie meist ein schlechtes Gewissen, und Leonard stellte sich auf das Schlimmste ein.

»Ich sortiere die Sachen für den Flohmarkt schon mal vor«, antwortete sie betont beiläufig. »Schlaf ruhig weiter, du kannst auch später noch drüberschauen.«

Dass sie zum Flohmarkt wollten, hatte er ganz vergessen. Seine Mutter tat zwar so, als machte ihr das Spaß, doch er wusste, dass sie dringend Geld brauchten, wenn es wieder einmal so weit war. Früher hatten sie auf dem Flohmarkt ab und an eines ihrer langen Abendkleider verkauft, doch das war lange her, und mittlerweile war in ihrem Haus nicht mehr viel übrig, was sich noch zu verkaufen lohnte. Angefangen hatte es mit dem schönen Porzellan, das plötzlich verschwunden war. Dann hatten Antiquitätenhändler die schweren Möbelstücke und Bilder abgeholt. Jetzt waren also seine Spielsachen dran. Auch egal, dachte Leonard und schlug die Bettdecke zurück, ich spiele sowieso nur noch selten damit. Er stieg aus dem Bett und betrachtete den kleinen Haufen, den seine Mutter auf dem Fußboden stapelte. Mehrere Rennautos, zwei alte Plüschtiere und sein Xylofon lagen neben dem großen Chemiekasten, der zwar noch wie neu aussah, in dem aber zwei Phiolen und die kleine Messingwaage fehlten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand dafür Geld ausgeben würde.

»Weißt du, eigentlich könnten wir auch ein paar der Star-Wars-Figuren mitnehmen«, sagte Leonard und holte nacheinander C-3PO, Boba Fett und Obi Wan aus dem Regal. Behutsam stellte er sie zu den anderen Sachen auf den Boden.

»Bist du sicher, dass du die nicht mehr haben willst?«, fragte seine Mutter und blinzelte. Das tat sie immer, wenn sie ihm nicht glaubte.

»Wann habe ich denn zuletzt mit denen gespielt?«, entgegnete er und strich sich eine lange Strähne aus der Stirn. Entschlossen stellte er noch R2-D2 zu den anderen.

»Da hast du auch wieder recht«, sagte seine Mutter und streichelte ihm zärtlich über den Kopf. »Was würde ich nur ohne dich tun?«

Doch statt es dabei zu belassen, griff sie jetzt selbst in das Regal, um auch Han Solo und den Millenium-Falken hervorzuziehen.

»Ich habe ja nie verstanden, was du an denen findest. Aber einige Sammler sind angeblich ganz verrückt danach.« Entsetzt beobachtete Leonard, wie sie eine seiner geliebten Figuren nach der anderen aussortierte. Bevor er mitansehen musste, wie sie auch noch Meister Yoda aus dem Regal holte, ging er rasch aus dem Zimmer und sagte: »Ich mache schon mal Frühstück.«

»Ist gut, Leolino, ich komme gleich nach!«, rief sie ihm zwitschernd hinterher. »Schau mal nach, ich meine, es müsste noch ein Joghurt im Kühlschrank stehen.«

Im Treppenhaus wischte sich Leonard mit dem Ärmel seines Pyjamas eine Träne aus dem Augenwinkel. Dass er auf einen Schlag die gesamte Sammlung verlieren sollte, hatte er nicht kommen sehen. Andererseits war es seine Idee gewesen, und jetzt brachte er es nicht mehr übers Herz, seine Mutter zu bremsen. Ihre Augen hatten beim Ausräumen der Figuren geleuchtet, und er bezweifelte, dass das nur am Geld lag. Vielleicht war sie auch froh, die Sachen loszuwerden. Schließlich waren die Figuren ein Geschenk seines Vaters gewesen, der vor sechs Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Leonard erinnerte sich kaum noch an ihn. Und da seine Mutter immer so traurig wurde, wenn sie von ihm sprach, vermied er das Thema. Draußen dämmerte es, und das schwache Licht, das durch die großen Kastenfenster hereinfiel, färbte das Treppenhaus bläulich. Der hohe Raum war früher einmal schön dekoriert gewesen und wirkte nun kahl und unbewohnt. Im Morgengrauen gefiel er Leonard viel besser als bei Tageslicht. Wahrscheinlich weil dann die leeren Stellen nicht so auffielen. Diese leeren Stellen machten Leonard Angst, weil sie ihn daran erinnerten, wie schlecht es um sie stand.

Die Küche war der gemütlichste Raum im ganzen Haus, und die Espressomaschine verströmte schon bald einen vertrauten Kaffeeduft. Der Kühlschrank allerdings war so gut wie leer. Nur ein trockenes Stück Parmesankäse, eine zerdrückte Tube Tomatenmark und ein angelaufenes Glas mit einem letzten Rollmops lagen noch darin. Leonard stellte einen Kessel Wasser auf und hoffte, irgendwo noch einen Teebeutel zu finden. In den Sommerferien hatte er immer mehr Arbeiten im Haus übernommen, und dieses Jahr würden sie besonders lang werden, da er vom Internat auf eine Schule vor Ort wechselte, wo die Ferien erst begannen. Es machte ihm nichts aus, zu kochen, die Wäsche zu waschen und zu bügeln. Zumindest sahen ihre abgetragenen Sachen dann einigermaßen ordentlich aus. Wie seine Mutter in den Internatszeiten ohne ihn zurechtgekommen war, blieb ihm allerdings ein Rätsel.

»Der Kaffee duftet aber herrlich!«, sagte sie und trat mit einer großen Kiste in der Hand in die Küche. »Schau mal in meiner Tasche nach, da müsste eine Packung Bernsteintee drin sein. Den hat mir die neue Nachbarin gestern auf Frau Delmonts Party für dich mitgegeben. Ich wusste nicht einmal, dass es so was gibt. Du etwa?«

Leonard traute seinen Ohren nicht. Hatte seine Mutter gerade wirklich Bernsteintee gesagt?

»Ich stell die eben schnell ins Auto!«, rief sie und verschwand mit der Kiste nach draußen, bevor er nachfragen konnte. Leonard hob die Tasche mit beiden Händen auf den Tisch. Was, wenn ich wirklich Bernsteintee darin finde? Bedeutet das, dass es Philomena und diese Kieferlinge tatsächlich gibt? Und wer war eigentlich die Nachbarin, von der seine Mutter gesprochen hatte? Ich habe mich bestimmt verhört.

»Was ist denn, Leolino?«, sagte seine Mutter, als sie wieder in die Küche kam. »Du bist doch sonst nicht so zögerlich.« Leonard beobachtete gespannt, wie sie ihr Portemonnaie herausfischte und auf den Tisch legte. Es folgten das Sonnenbrillenetui und der große Schlüsselbund. »Ich war mir sicher, dass ich die Packung eingesteckt habe …« Zwei Taschenbücher, eine Apfelsine und eine Bürste gesellten sich zu den anderen Dingen, und als Leonard die Hoffnung schon aufgeben wollte, förderte seine Mutter eine kleine honigfarbene Schachtel zutage und drückte sie ihm in die Hand. »Da ist er ja. Etwas zerdrückt zwar, aber … na ja.«

Er betrachtete das seltsame Päckchen, auf dessen Deckel ein großer Bernstein aufgedruckt war. Je nach Lichteinfall wechselte der Stein die Farbe in schillernden Gold- und Orangetönen. Darunter stand in geschwungener Schrift:

Bernsteintee

nach dem Originalrezept von Druidenmeister Hieronymus Dunkel

Löwengasse 1

Fünftes Quartier

Leonard drehte die Teepackung behutsam in alle Richtungen. Sie war etwas schwerer als die aus dem Supermarkt und mit Symbolen verziert, die entfernt an ägyptische Hieroglyphen erinnerten. Als er sie umdrehte, hörte es sich so an, als würden darin kleine Steinchen aufeinanderrieseln. Auf dem Boden der Kartonage prangte eine Art Wappen, ein geflügelter Löwe mit einem blühenden Zweig im Maul. Sonst nichts. Also öffnete er den Deckel, zog einen der hauchdünnen Teebeutel heraus und hielt ihn gegen das Licht. Tatsächlich funkelten darin winzige honigfarbene Kristalle.

»Lass mich mal sehen«, sagte seine Mutter und schnappte ihn sich.

»Das ist ja entzückend! Unglaublich, was es auf dem Lebensmittelmarkt inzwischen für Sachen gibt.« Damit stopfte sie den Beutel kurzerhand in eine Tasse, schüttete heißes Wasser darüber und stellte das dampfende Getränk vor Leonard auf den Tisch. Sich selbst schenkte sie Kaffee ein, den sie im Stehen trank. »Ganz ehrlich, den hätte ich gestern auch gebraucht. Es war so langweilig bei den Delmonts, dass mir fast die Füße eingeschlafen wären. Und? Wie schmeckt der Tee?«

»Also, ich …«

»Lass dir ruhig Zeit damit …«, unterbrach sie Leonard und schaute auf ihre Armbanduhr. »Sobald du fertig bist, zieh dich bitte an. Ich hole inzwischen die restlichen Kisten und parke schon mal aus.«

Sie verschwand, und Leonard hob die Tasse an seine Nase. Der Tee roch nach gebratenen Mandeln und Lebkuchen, und er probierte vorsichtig einen Schluck. Er schmeckte fantastisch, und so kippte er den Rest schnell hinunter. Da sich einige der Kristalle im Beutel noch nicht aufgelöst hatten, schüttete er heißes Wasser nach und rührte ein paarmal kräftig um. Das war das beste Getränk, das er in seinem ganzen Leben getrunken hatte. Zu seiner Überraschung schmeckte der Tee das zweite Mal nach Lasagne. Das ist nicht möglich, dachte er und zwang sich, den letzten Schluck für seine Mutter übrig zu lassen, bevor er nach oben lief, um sich anzuziehen.

Zweites Kapitel

Als Leonard wenig später auf dem Beifahrersitz saß, war er verwirrt. Seine Mutter hatte den Bernsteintee probiert und angewidert das Gesicht verzogen.

»Puh, der ist aber bitter. Konntest du den trinken, Schatz?«, hatte sie gefragt und sich den Mund mit Kaffee ausgespült. »Bei der fantasievollen Verpackung hatte ich ihn mir kindgerechter vorgestellt.«

Leonard betrachtete die abgeblätterte Farbe ihres Gartenhäuschens aus dem Autofenster und das Gras, das überall viel zu hoch stand. »Sag mal, woher kennst du eigentlich diese Nachbarin?«, fragte ihn seine Mutter gerade. »Sie sieht ja ein wenig seltsam aus, in den Hippieklamotten. Aber ihr Schmuck ist exquisit, die Ohrringe sind richtige Kunstwerke.«

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, von wem du sprichst«, antwortete Leonard. »Du musst dich anschnallen, das ist in der Straßenverkehrsordnung festgelegt, kostet sonst 60 Euro Bußgeld.« Er beobachtete, wie sie nach dem Gurt nestelte, sich einen Moment sammelte, und dann fuhren sie langsam aus der Einfahrt und den Kastanienweg entlang. Dass er im Herbst auf eine neue Schule kommen sollte, hatte seine Mutter ihm erst vor wenigen Tagen erklärt. Er würde dann zu Hause wohnen und mit dem Bus hinfahren. Ihm war das recht, denn schlimmer als bisher konnte es eigentlich nicht werden. Er war im Internat sehr unglücklich gewesen – keine Freunde und kein bisschen Abenteuer, wie er es sich erhofft hatte. Doch wenn seine Mutter anfing, an seiner Ausbildung zu sparen, musste es finanziell noch viel schlimmer um sie stehen, als er sowieso schon angenommen hatte. Leonard betrachtete die Villen, die an ihnen vorbeizogen. Die sind bestimmt komfortabel eingerichtet, dachte er. So wie es sich gehört. Mit Teppichen und schönen Möbeln, wie in einem richtigen Zuhause, in das man auch mal jemanden einladen kann. Wenn es nach ihm ginge, hätten sie die Villa längst verkauft und wären stattdessen in eine nette Wohnung in der Stadt gezogen. Vielleicht in eine Straße, in der viele Kinder in seinem Alter lebten und wo sie es sich wieder schön machen konnten. So wie früher. Doch das würde eher nicht passieren. Seine Mutter hing an ihrem Zuhause und würde niemals wegziehen. Vielleicht, weil sie hofft, dass Papa doch noch einmal zurückkommt, vermutete er.

»Wo wohnt eigentlich die Nachbarin, die mir den Tee geschenkt hat?«, fragte Leonard unvermittelt und richtete sich auf dem Beifahrersitz auf.

»Oh, das habe ich sie gar nicht gefragt.« Seine Mutter legte die Stirn in Falten, während sie die Abzweigung Richtung Festhalle nahm. »Aber das kann eigentlich nur das Haus mit dem verwilderten Garten sein, das so lange leer gestanden hat. Willst du dich etwa für den entsetzlichen Tee bedanken? Das ist aber lieb von dir.«

»Ich dachte nur, das wäre höflich«, antwortete Leonard und hörte für den Rest der Fahrt den Tagesplänen seiner Mutter zu. Merkwürdig, dachte er, ich bin pappsatt, obwohl ich nichts im Magen habe. Ob das am Bernsteintee liegt? Am liebsten hätte er sofort diese mysteriöse Nachbarin besucht und sie ausgefragt.

 

An ihrem Flohmarktstand war den ganzen Tag Betrieb. Seine Mutter legte Preise nach dem Zufallsprinzip fest, und Leonard, der an der Kasse saß, versuchte, den Überblick zu behalten. Anfangs war es ihm noch peinlich, dass sie seine Spielsachen verkauften, doch nachdem sogar der Chemiekasten einen guten Preis erzielte, fand er die Idee gar nicht mehr so schlecht. Außerdem war es heute lustiger als sonst. Manche Besucher trugen seltsame Umhänge, spitze Hüte und grünen Glitter in den Haaren. Einige winkten ihm beim Vorbeigehen verstohlen zu, andere steckten weiter weg tuschelnd die Köpfe zusammen. Zwei kleine Frauen krachten sogar ineinander, als sie an ihrem Stand vorbeigingen, und wirkten dabei fast ein wenig beschwipst. Leonard konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen.

»So nette Spinner habe ich noch nie erlebt«, sagte seine Mutter, nachdem ein älterer Herr ihr zuerst die Hand küsste und für das Xylofon dann doppelt so viel bezahlte, wie sie verlangt hatte.

In dem Moment drängelten sich vier Männer in schmalen Anzügen und ordentlich gescheiteltem Haar um ihren Stand, auf dem nur noch die Star-Wars-Figuren standen. Bevor Leonard oder seine Mutter etwas sagen konnten, begannen die Männer, sich gegenseitig in einer seltsamen Sprache zu überbieten. Es hörte sich ein bisschen so an, als würden sie rückwärts sprechen, vielleicht war es aber auch ein skandinavischer Dialekt. Fasziniert beobachtete Leonard die dicken Siegelringe, die an ihren Daumen funkelten. Dann schien die Diskussion mit einem Mal beendet, und einer der Männer schob einen dermaßen dicken Stapel Geldscheine über den Tisch, dass Frau Dursted am Stand neben ihnen ein spitzer Schrei entfuhr. Leonards Mutter hingegen reagierte gefasst.

»Ich bitte Sie, meine Herren, das kann ich nicht annehmen«, sagte sie und schob den Stapel zurück. »Verzeihen Sie die Bemerkung, aber falls Sie unsere Währung nicht kennen sollten, dafür bekommen Sie … na ja, jedenfalls sehr viel mehr.«

»Dafür bekommen Sie die Figuren zwanzig Mal, originalverpackt!«, platzte Leonard heraus und biss sich auf die Zunge, weil er mit der Bemerkung das Geschäft bestimmt ruiniert hatte.

Zu seiner Überraschung antwortete ihm der Mann akzentfrei. »Wenn wir die Raumschiffe und Figuren originalverpackt kaufen wollten, würden wir das tun. Stattdessen würden wir gern diese hier haben.«

»Wenn Sie gestatten«, ergänzte der Zweite. »Und das zu einem Preis, der uns angemessen scheint.«

»Frau Federspiel?«, fragte der Dritte.

»Sind wir im Geschäft?«, der Vierte.

Es war, als hielten alle um sie herum die Luft an, und Leonards Bauch verkrampfte sich. Das ergab alles keinen Sinn.

»Nimm an, Erika, nun mach schon!«, soufflierte Herr Dursted von der Seite. Leonard schwieg. Er wusste nicht, warum, aber die Männer waren ihm unheimlich.

»Tut mir leid, aber das fühlt sich einfach falsch an«, sagte seine Mutter, und Leonard hätte sie am liebsten umarmt vor Freude darüber, dass sie das aussprach, was er fühlte.

»Es fühlt sich falsch an?«, wiederholte der Erste den Satz.

»Das ist bedauerlich«, sagte der Zweite.

»Vielleicht kann man es ja noch drehen?«, fragte der Dritte.

»Aber wenn ja, dann wie?«, überlegte der Vierte laut, als wären sie nicht von einem Dutzend Neugieriger umringt.

»Also, wissen Sie!«, protestierte seine Mutter, und Leonard erkannte an ihrem Ton, dass ihr die Unterhaltung langsam zu bunt wurde. »So viel für den alten Kram zu bezahlen, ist doch nicht normal.«

»Normal?«, lachte der Erste.

»Ganz und gar nicht«, kicherte der Zweite.

»Normal zu sein, ist nicht immer erstrebenswert«, sagte der Dritte und klang ein bisschen beleidigt.

»Eine gute Geschäftsfrau sind Sie jedenfalls nicht, Erika Federspiel, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben«, sagte der Vierte.

»Also schön, ich nehme das Angebot an«, antwortete seine Mutter pikiert, und damit war das Geschäft besiegelt. Nachdem die Männer abgezogen waren, umarmte sie Leonard so überschwänglich, dass er vor Freude rot wurde. Anschließend bestellte sie eine Flasche Sprudelwein, und kurz darauf klirrten an ihrem leer gefegten Verkaufsstand die Gläser.

»Auf seltsame, spendable Fremde!«, rief Erika euphorisch. Alle waren sich einig, dass so etwas Verrücktes hier noch nie passiert war. Langsam stapelte Leonard die leeren Kisten ineinander.

»Hier, den habe ich ganz vergessen«, sagte seine Mutter und zog einen Koffer unter dem Tisch hervor. »Der ist für dich.«

Leonard traute seinen Augen nicht. Er sah genauso aus wie der Koffer aus der Lodernden Sichel. »Wo hast du den denn her?«, flüsterte er und spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Zögernd nahm er ihn entgegen, und tatsächlich, er fühlte sich genauso an wie in dem Traum. Es erschien unmöglich, aber es war der Koffer aus Sansaria.

»Ein freundlicher Herr hat ihn heute Morgen vorbeigebracht«, antwortete seine Mutter, während sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel kramte. »Als du noch auf dem Parkplatz warst. Er meinte, du brauchst ihn für das Sansariaprojekt. Ich wusste gar nicht, dass du dich für Theater interessierst.«

»Für Theater?«, wiederholte Leonard.

»Na, für diese Theatergruppe. Spielst du da mit?«

»Ähm, ja also, das überlege ich mir eigentlich noch«, stammelte er.

»Wie wunderbar, Leolino.«