image

STUTTGARTER BIBELSTUDIEN 239

Begründet von Herbert Haag, Norbert Lohfink und Wilhelm Pesch Fortgeführt von Rudolf Kilian, Hans-Josef Klauck, Helmut Merklein und Erich Zenger

Herausgegeben von Christoph Dohmen und Michael Theobald

Debora Tonelli

Der Dekalog

Eine retrospektive Betrachtung

Aus dem Italienischen von Alexandra von Teuffenbach

image

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller

www.bibelwerk.de

Danksagung

Dieses Buch ist aus einem Doktorat in politischer Philosophie an der Universität Roma Tre entstanden, das ich dort 2005 verteidigt habe. Diese Forschung hätte ich nicht begonnen, wenn Giacomo Marramao nicht auf ein interdisziplinäres Thema gesetzt hätte, und Jean Louis Ska mich nicht durch die Studien der biblischen Exegese geführt hätte. Ihnen beiden gilt mein Dank.

Die Umwandlung der These in ein Buch wäre ohne das Vertrauen und die Hilfe von Prof. Antonio Autiero, Direktor des Centro per le Scienze religiose der Trienter Bruno Kessler Stiftung nicht möglich gewesen. Dort habe ich meine Forschungen seit Ende des Doktorats fortgesetzt. Ich danke ihm, dass er an diese Arbeit geglaubt und sie in die neue renommierte Serie „Scienze religiose. Nuova serie“ aufgenommen hat.

Teile des zweiten und vierten Kapitels sind schon in leicht anderer Form in den „Annali di Studi religiosi“ der Bruno Kessler Stiftung, herausgegeben von Edizioni Dehoniane, und in den „Materiali per una storia della cultura giuridica“ der Società editrice il Mulino erschienen. Ich danke beiden Herausgebern, dass sie mir erlaubt haben, die Texte noch einmal zu verwenden.

In diesen Jahren haben mir wirklich viele Menschen geholfen und ich werde sie nicht alle nennen können. Ein besonderer Dank geht an Jean Louis Ska, der mich nach dem Doktorat weiter zu dieser Arbeit ermutigt hat, und mir mit Sorgfalt und Geduld zur Seite stand.

Eine interdisziplinäre Arbeit verlangt Kompetenzen in verschiedenen Bereichen und die Fähigkeit, diese untereinander auszugleichen: die Unterstützung von Andrea Grillo war unentbehrlich, um die Knotenpunkte festzuhalten und mich nicht in der Weite des Feldes zu verlaufen. Die mit ihm geführten Diskussionen haben mir neue Perspektiven eröffnet und ich bin ihm dankbar. Ein herzlicher Dank geht auch an Francesco Riccobono, der mich in die juristische Welt eingeführt und geduldig mit mir die verschiedenen Phasen des Manuskripts diskutiert hat. Fruchtbar für diese Arbeit war auch der Studienaufenthalt an der Goethe Universität Frankfurt, dank eines Stipendiums des DAAD. Die von Prof. Axel Honneth koordinierten Seminare und die mit ihm zum Thema meiner Forschung geführten Diskussionen haben mir erlaubt, mögliche andere Wege zu sehen.

Das Seminar in Kritischer Theorie, das von Marina Calloni, Stefano Petrucciani und Walter Privitera koordiniert wurde, war eine ausgezeichnete Gelegenheit, einige Themen zu besprechen, die ich in dieser Forschung angehe. Ich danke meinem Freund und Kollegen Paolo Costa, der die erste Fassung dieses Manuskripts gelesen und beurteilt hat, und mir so wertvolle Hinweise gab.

Es sind viele Menschen, die mir in diesen Jahren Denkanstöße gaben und fruchtbare Kritik formulierten und somit dazu beitrugen, die Arbeit zu verbessern. Unter ihnen möchte ich Julie Clague, Gerard Mannion, Gian Luigi Prato, Elmar Salmann, Lorenzo Zani und Erich Zenger nennen. Zengers Tod (2010) hat die biblischen Studien um einen wichtigen Gesprächspartner beraubt. Ich danke meinem Freund und Kollegen Davide Zordan, der meinen Weg durch unsere unterschiedlichen Ausbildungen und Perspektiven bereichert hat.

Trotz der Unterstützung vieler so wertvoller Menschen und den vielen Anregungen, die ich bekommen habe, weiß ich, dass die Untersuchung, die ich hier vorstelle, viele Grenzen und Ungenauigkeiten hat, an denen nur ich Schuld trage.

Ich danke der Redaktion der Stiftung Bruno Kessler, insbesondere Alessandro Genovese für die Arbeit am Manuskript.

Ein weiterer und besonderer Dank geht an meine Eltern, an meine Schwester und an meinen Mann, die mich in diesen Jahren unterstützt und ermutigt haben. Ich widme diese Arbeit dem Andenken von Francesco Valentini, der vom ersten Jahr der Universitätsstudien für mich ein menschlicher und wissenschaftlicher Bezugspunkt war. Ich würde gerne vollendeter ausdrücken, was mich an ihn bindet, aber jedes Wort entpuppt sich als ungeeignet. Daher kann ich nur hinzufügen, dass ich die Erinnerung an ihn in mir trage, jeden Tag.

Für die Aufnahme meines Buches in die Reihe der „Stuttgarter Bibelstudien” danke ich Prof. Dr. Christoph Dohmen. Es ist eine Ehre für mich. Dr. Alexandra von Teuffenbach hat lange an der Übersetzung des Buches gearbeitet, wofür ich ihr sehr danke. Schließlich möchte ich mich bei meinem Freund und Kollegen Andrea De Santis bedanken, der eine wichtige Rolle bei der Realisierung gespielt hat. Zuletzt danke ich den Mitarbeitern am Regensburger Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments, Hubertus Kerscher und Martin Seiberl, die sich intensiv um Korrektur und Verbesserung der deutschen Fassung meines Buches bemüht haben.

Debora Tonelli

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Zum Geleit von Davide Zordan

Einleitung

Erstes Kapitel: Der aktuelle Forschungsstand

1.Hauptfragen zur Redaktion des Dekalogs und zum dtr. Einfluss

2.Die Geburt der historisch-kritischen Methode: von Hobbes bis Wellhausen

3.Der hebräische Text: Überblick über den aktuellen Stand der Wissenschaft

4.Der aktuelle literarische Kontext des Dekalogs

Zweites Kapitel: Exegetisch-juridischer Kommentar

1.Der Text von Ex 20,1-17: Übersetzung und Analyse

2.Der Name Gottes

3.Kurzes juridisches Vokabular

4.„Dabar, torah“

5.„Mishpat, Halakah, Haggada, zdk“

Drittes Kapitel: Ein Rückblick aus politischer Sicht

1.Der Glaube an JHWH als Eroberung der politischen Unabhängigkeit

2.Die theologische Neubegründung der sozialen Ordnung

3.Die Rolle des Dekalogs im Pentateuch

4.Die Entstehung der modernen Rechtswissenschaft: von der Erfahrung zu den normativen Systemen

5.Schlussfolgerungen

Viertes Kapitel: Fragen aus dem Text: Bund, Isonomie und Schutz des politischen Lebens

1.Die Grundlage der Worte: die „berît“

2.Die Isonomie

3.Schlussfolgerungen: Der Schutz des politischen Lebens

Bibliographie

I.Abkürzungen

II.Alttestamentliche und altorientalische Studien

III. Allgemeine Werke

Zum Geleit

Der bekannte Hollywood Kolossalfilm „Die zehn Gebote“ aus dem Jahr 1956 hatte einen ungewöhnlichen Vorspann; denn der Regisseur, der einflussreiche Cecil B. DeMille, erschien vor einem noch geschlossenen Vorhang, um den Film einzuführen. Seine kurze Vorrede in der Form einer Predigt unterstreicht die historische Verwurzelung der im Film beschriebenen Ereignisse und fordert die Zuschauer auf, den moralischen Inhalt wahrzunehmen.

Die Geschichte, die erzählt werden soll, so versichert DeMille, ist nicht irgendeine Geschichte sondern „die Geschichte der Geburt der Freiheit“. Im Grunde stellt sie die Frage: „Ob die Menschen von göttlichen Gesetzen oder von den Launen eines Diktators regiert werden müssen; ob die Menschen Eigentum des Staates sind oder freie Seelen nach dem Abbild Gottes“, eine Frage „die bis heute durch die ganze Welt geht“.

Die Aktion, die so überzeugend und geschickt von dem amerikanischen Regisseur durchgeführt wurde, sagt nicht nur, bis zu welchem Punkt die abendländische Kultur in all ihren Formen weiterhin von biblischen Elementen geprägt ist, sondern vor allem wie sehr diese Elemente ohne Unterlass sowohl nach den sozialen Erfordernissen wie auch nach den politischen Verhältnissen umgemodelt werden. In diesem besonderen Fall scheint es, dass die Betonung des Wertes der ‚Freiheit‘, die dem mosaische Gesetz eingeschrieben ist, als explizite Förderung der „privaten Freiheit“ zu verstehen ist, die zusammen mit der vom Gesetz garantierten Sozialordnung die Grundlage für das amerikanische System und seinen Erfolg ist. Sicherlich muss man über die Leichtigkeit und den Mut, mit denen die mosaischen Wurzeln ins Spiel gebracht wurden, d. h. in den Rahmen der filmischen Volkskultur, ein wenig lächeln. Aber einmal abgesehen davon, dass es für Generationen von Zuschauern nicht so war und dass die Worte von DeMille lange als Legitimation für eine intensive emotionelle und ideologisch überzeugte Teilnahme galt, muss man auch anerkennen, dass der starke kulturelle und politische Einfluss des Dekalogs sich speist, und sich immer zum größten Teil gespeist hat – aus einem Teilverständnis des biblischen Textes und einem äußerst mangelnden Verständnis des Kontextes.

Auch wenn es sehr leicht ist, die exegetische Parteilichkeit DeMilles zu erfassen, kann man sich der Aufgabe nicht entziehen, andere Einseitigkeiten aufzudecken, die auf solideren begrifflichen Fundamenten gründen. Aufgrund von kultureller Gewohnheit oder auch Unachtsamkeit sind wir ja fast unfähig geworden, zu erkennen, welche Gedanken bezüglich des biblischen Dekalogs im Hinblick auf Recht und Gerechtigkeit in uns tiefer verwurzelt sind. So projizieren wir auf eine Weise, die sich von der DeMilles gar nicht so sehr unterscheidet, den Dekalog immer auf unsere Art zu denken und voranzugehen, und rühmen dann seinen grundlegenden und unerschütterlichen Wert. Aber so sprechen wir mehr über uns selbst als über den Dekalog.

Was die Untersuchung von Debora Tonelli geprägt hat, scheint mir der Gedanke zu sein, einen Mechanismus des Rückblicks aufzudecken, der hinterhältiger erscheint, weil er unbewusst ist. Um ihm entgegenzutreten, nimmt sich die Autorin vor, eine bessere Kenntnis der Perikope Ex 20,1-17 wiederzugewinnen. Dadurch hat sie eine neue Basis, die es ihr ermöglicht, Grundfragen wieder zur Diskussion zu stellen, die die augenblickliche gesellschaftspolitische Debatte bewegen und diese auf der neuen Grundlage zu verifizieren. Dazu benutzt sie Analogien und Unterschiede zum biblischen Dekalog und der religiösen und politischen Erfahrung, die sich widerspiegeln. Diese Aufgabe ist heikel, da sie Sachkenntnis auf verschiedenen Ebenen erfordert, darüber hinaus Zusammenarbeit und die Fähigkeit sich anzugleichen. Eine gute Kenntnis des aktuellen Standes der historisch-exegetischen Forschung zum Dekalog ist ebenso erforderlich wie eine gewisse Vertrautheit mit den juridischen Wissenschaften und eine nicht nur oberflächliche Sachkenntnis der gegenwärtigen politisch-philosophischen Debatte. Aber damit nicht genug: im Dialog dieser verschiedenen „Wissensgebiete“ ist es auch nötig, die Eigenarten eines jeden zu respektieren, ohne jedoch die schlechthin theologische Zielsetzung zu vergessen, die diese Arbeit bewegt. Genau mit diesem Aspekt möchte ich mich nun im Folgenden beschäftigen.

Die christliche Theologie hat großes Interesse, Fragen der Texthermeneutik zu behandeln, weil das Christentum, wie das Judentum vor ihm aus der Interpretation eines Wortereignisses entstanden ist, die auch Sinn einer Schrift wurde. „Aus der Interpretation geboren werden“ ist ein Gedanke, der gleichzeitig sagt, dass es nichts vor der Interpretation gibt und dass aus der Interpretation alles Mögliche hervorgeht, auch die Möglichkeit der Erfahrung selbst.

Bevor der Leser aktiv wird, ist die Interpretation zunächst ein Werk des Textes, es ist der Text selbst, der am Werk ist. Die Arbeit des Interpreten besteht dann darin, die Eigendynamik des Textes herauszuheben und sich dabei so auszurichten, dass man ein neues Verständnis von sich und der Welt gewinnen kann. Und wenn der Interpret sich von den eigenen Vorurteilen befreit hat, kann er, über den ‚ursprünglichen‘ Sinn des Textes hinaus, auch eine Veränderung bei sich selbst, eine neue Geburt erleben.

Der Weg der Forschung, der hier vorgestellt wird, besteht darin, sich auf die Sicht des ‚Interpretierend-geboren-Werden‘ einzulassen, das nicht anders als ein ‚Interpretierend-wiedergeboren-Werden‘ verstanden werden kann. Denn diese Arbeit muss ja der Last eines stark aus dem Zusammenhang gerissenen Vorverständnisses standhalten, das besagt, der Dekalog sei der Ausdruck von ewigen Wahrheiten, ein allgemein gültiges Gesetz, das in das menschliche Herz eingeschrieben ist. Gegen einen solchen „Essen-tialismus“ bemüht sich die Autorin, den kulturellen Wert der „Zehn Worte“ hervorzuheben und auf diesem Hintergrund ihre – vor allem politische – Aktualität zu messen. Wenn ihre Schlussfolgerungen sicherlich frei sind und wenn ihre Entwicklung gewollt partiell ist, so ist doch der Aufbau klar, gerade bei der ausgiebigen Beschäftigung mit der Interpretation und der Analyse des Textes, der dann wieder unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Das, was eine erneute Lesung uns eröffnet, ist zunächst die Vorstellung, dass die Verbote des Dekalogs eine normative Leere öffnen, die sich als Anlass zur Freiheit darstellt. Die Verneinung, die dem Ausdruck des göttlichen Willens vorausgeht, lässt einen Spielraum bezüglich seiner Reichweite, die genau den Schutz der menschlichen Freiheit bietet. Die Negativform des Dekalogs stiftet einen Spielraum für Autonomie und Erfindung. Wenn einmal die Liste der Dinge, die man nicht tun soll, zusammengestellt ist, sind, anders gesagt, die ‚Gebote‘ auch schon zu Ende. Sie zwingen nicht, sie verbieten nur, mit Ausnahme des Sabbats und der Ehre, die man den Eltern zollen soll. Aber wenn einmal diese Befehle ausgeführt sind, was ist dann positiv zu tun? Kein anderes „Wort“ wird darauf verwendet, um das freie Feld der Freiheit zu begrenzen. In der Version des Deuteronomiums präzisiert der Dekalog noch: „diese Worte und sonst nichts“ (Dtn 5,22). Das, was sicher verwundert, ist, dass derselbe Text dann für viele Kapitel weitergeht mit vielen detaillierten ‚Vorschriften‘ der Torah, die die Originalität des Dekalogs unter den Verträgen der Beziehung von Israel mit seinem Gott noch auffälliger macht.

Wir können also sagen: bevor dem Volk Israel gesagt wird, was es tun soll und wie es sein soll, wird es daran erinnert, was es schon ist: ein freies Volk. Die Freiheit hat gleichzeitig die Form eines freien Raums und der Mahnung, und die Art der Mahnung selbst (mit Verben im Indikativ und nicht im Imperativ) führt zu diesem offenen und unverzichtbaren Raum zurück. Der Text trägt so in sich eine nicht lösbare Spannung. Er ist normativ formuliert, doch keine Form von Erfüllung, wenn sie sich an die Parameter des Verbots hält, befriedigt ihn wirklich. Er scheint ein „mehr“ zu fordern, was jedoch ungesagt bleibt, formal nicht gefordert, an den Rand des Textes gedrängt, und doch belebt es ihn grundlegend.

So ist klar, dass dieser Spielraum, dieses ‚mehr‘, sofort verschwindet, wenn man den Dekalog als modernen Text einer deontologischen und vorschreibende Ethik liest. So wird auch der ganze Dynamismus aufs Spiel gesetzt, der den Text stützt, und den die jüdische Tradition im Gegensatz zur christlichen in ihren Institutionen lebendig erhalten hat, durch eine stark gegensätzlichen Kombination von der mehr narrativen und phantasievollen Haggadah, und der mehr normativen Halakhah. Der zugrundeliegende Gedanke ist, dass wenn auch die Normen des Gesetzes (613 nachr rabbinischer Zählung) stark vermehrt werden, sie doch nicht in der Lage sind, das auszuschöpfen, was in der Beziehung mit Gott und den anderen Individuen eine Rolle spielt. Einst sagte Paul Ricoeur, dass die Gerechtigkeit mit der begrifflichen Reduktion arbeitet, die Liebe jedoch mit poetischer Erweiterung. Die Notwendigkeit, auszuwählen und genau das eine vom anderen zu trennen, ist im Grunde eine moderne Erfindung.

Die Anwendung auf den Dekalog erlaubt ohne Zweifel, einige Elemente ans Licht zu holen, aber es verdunkelt auch andere, und das muss man in Rechnung stellen, vor allem dann, wenn man mögliche Analogien zwischen dem politischen und religiösen Empfinden aufzeigt, das den Hintergrund für den Dekalog selbst und gewisse Elemente oder grundlegende Institutionen der politischen und juridischen Tradition des Abendlandes bildet.

Wegen der Sorgen, die es angeregt haben, und noch mehr wegen der behandelten Themen, ist das Buch nicht frei von Verbindungen zu einigen neuen Entwicklungen der sogenannten öffentlichen Theologie, besser public theology, wie sie im englischsprachigen Raum verstanden wird. Man versteht darunter eine lange Serie von Reflexionen, die die biblisch-theologische Überlieferung, die philosophische Analyse, das historische, rechtliche und gesellschaftspolitische Urteilsvermögen und die praktische Dimension der Existenz verschiedentlich durchkreuzen. Als Theologie stellt sie ein Projekt der Interpretation und der Konstruktion dar, das aus der Glaubenserfahrung eines bestimmten religiösen Bekenntnisses gespeist wird und zum Ziel hat, die öffentliche Relevanz des theologischen Wissens im Kontext der heutigen Fragenkomplexe zu zeigen. Wenn die Grenzen der Disziplin unscharf scheinen und die angewendeten Methoden verschieden sind, bezweifelt niemand, zumindest nicht prinzipiell, die Möglichkeiten dieses Studienfeldes zu einer Zeit, in der es wichtig ist für ein neues Verständnis der religiösen Erfahrung und ihrer bleibenden Dynamik – trotz der gleitenden Praktiken und ihrer symbolischen Grenzen – zu arbeiten.

Im Buch spricht man, wohlgemerkt, von alledem nicht. Aber man kann das eine oder andere Echo wahrnehmen, zum Beispiel in der Art, wie die Exegese als Spezialwissenschaft vorgestellt wird, die eine besondere Kompetenz erfordert, aber deswegen nicht schon sich selbst genügt. Allgemeiner spürt man etwas davon in der Art, wie die Einzeldisziplinen ohne Unterordnungen auf einem theologischen Weg zusammengeführt werden, mit einem besonderen Augenmerk auf die gegenwärtigen Dringlichkeiten und die gesellschaftspolitische Debatte.

Es handelt sich nicht um ein rein zufälliges Echo, dass die Idee, diese Arbeit zu veröffentlichen, innerhalb eines Forschungsprojektes zu Themen der öffentlichen Theologie entstand. Es ist ein Projekt der Bruno Kessler Stiftung Trient, das die Autorin des Buches und den Autor dieser Seiten genauso miteinbezieht. Obwohl es im Hintergrund bleibt, bieten dieses Projekt und die öffentliche Theologie gültige Indizien, um die Zielsetzung des Buches innerhalb des weiteren Verständnisses des theologischen Wissens zu verstehen.

In diesem Versuch von Tonelli bedeutet dies eine gewisse hermeneutische Disziplin, die nötig ist, um sich mit der nötigen Ausgeglichenheit und Demut ausdrücken zu können. Der Inhalt betrifft einige große Fragen, die unsere Kulturgeschichte kreuzen und die verschiedentlich auf die religiöse und politische Tradition des Dekalogs zurückführen. Ihn noch einmal neu zu lesen, ist eine Wette, die man annehmen sollte, um „interpretierend wiedergeboren zu werden“.

Davide Zordan

Einleitung

Ganz auf der Linie der neuesten kritischen Studien wird die Bibel auch in dieser Arbeit wie jeder andere antike literarische Text analysiert. Das bedeutet, dass man ihn aus einer anderen Perspektive – und nicht in Antagonismus zum sakralen Wert dieses corpus von Texten - betrachten möchte. Bei dieser Entscheidung spielt keine polemische Absicht mit, sondern das Bedürfnis, mit einem offeneren Blick auf ein Werk zu schauen, dessen Bedeutung in der Bildung der abendländischen Kultur auch für die, die die religiöse Botschaft nicht teilen, maßgeblich ist.

Der Wissenschaftler, der Platon und Aristoteles studiert, aber auch der moderne Jurist, wissen, wie bedeutsam die Untersuchung des Wortschatzes ist, um den Gedankengang zu verstehen, aber auch, wie sehr dies mehr Probleme schafft, als es löst. Dasselbe gilt für die Bibel, und wir müssen sicher anerkennen, dass ihr Einfluss auf die Kulturgeschichte des Abendlandes dem der griechischen und lateinischen Klassik ebenbürtig ist. Daneben muss man dem biblischen Text auch eine politische Funktion zugestehen, und daher erschien es mir angebracht, mich mit einem der am meisten missverstandenen Texte des ATes zu beschäftigen: dem Dekalog.

Der Dekalog ist bekannter als die „Zehn Gebote“, und sein Verständnis ist oft durch grundlegende Missverständnisse zunichtegemacht worden, die aus der ausschließlich religiösen Dimension seiner Zugehörigkeit und seiner Interpretation stammen und mit Kant deontologisch genannt werden können. Diese Studie will nicht eine Geschichte der Interpretation des Dekalogs sein. Sie will vielmehr durch Analyse und Diskussion einiger der vielen Fragen, die er stellt, schrittweise zum Bewusstwerden der Bedeutung dieses Textes führen.

Im Laufe der Studie fehlten mir Modelle, die mir die Synthese der theoretischen Aspekte mit den (unentbehrlichen) der literarischen Analyse hätten liefern können. Das Werk Crüsemanns, Bewahrung der Freiheit, hat mich in meinen Hypothesen bestärkt. Er versucht, jenseits der exegetischen Studie, Überlegungen weitgreifender gesellschaftspolitischer Art zu machen, aber diese Arbeit bleibt noch zu sehr einer theologischen Dimension verbunden. Ich habe mich dann mit der Studie von Marcello Gigante, Nomos Basileus, beschäftigen müssen, ein unverzichtbares Werk, um den Begriff nomos im alten Griechenland zu verstehen. Seine umfassende Untersuchung war auf das Objekt meiner Studie nicht anwendbar. Aus diesem Text habe ich wertvolle Klärungen und Ideen entnommen, aber er konnte kein Beispiel für die Untersuchung des biblischen Textes liefern. Noch weniger konnte ich als Beispiel die Texte zeitgenössischer Philosophen nehmen, die meistens den biblischen Text nicht genau untersuchen. Dennoch haben sie bei der Reflexion über den Begriff der Gleichheit und der Isonomie eine Rolle im Hintergrund gespielt. Im Laufe der Arbeit werden die griechische Tradition und die moderne Reflexion nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie dazu beitragen können, durch Analogien und Unterschiede die Inhalte von Ex 20, 1-17 besser zu verstehen, sie sind aber nicht Objekt einer eigenen Abhandlung.

Obwohl er innerhalb eines corpus von Texten erscheint, die für heilig gehalten werden, bin ich zutiefst überzeugt, dass der Dekalog ein hauptsächlich politischer Text ist: er ist das erste Manifest der politischen Unabhängigkeit Israels, und deswegen ist er so leicht zusammen mit dem Exodus in den entscheidenden Momenten der abendländischen Geschichte aufgetaucht. Walzer hat in seiner kurzen, aber glänzenden Studie zum Exodus, Exodus and Revolution, an diese historischen Momente erinnert und den biblischen Exodus als Modell späterer Revolutionen dargestellt. Was Walzer nicht geklärt hat, ist, warum der Exodus zum Modell schlechthin der Revolution geworden ist, und ähnliche andere Ereignisse dagegen nicht. Um auf diese Frage zu antworten, war es notwendig, nicht nur zu sehen, was der Text sagt, sondern auch, wie er es sagt. So hat die literarische Analyse hier ihre Daseinsberechtigung als Grundlage einer theoretischen Reflexion gefunden, die mit ihrem Studienobjekt kohärent sein möchte. Ohne den Anspruch, das Thema auszuschöpfen und alle Fragen zu lösen, die der Dekalog aufwirft, möchte mein Beitrag eine erste Reflexion sein und der Versuch, diesen wichtigen Text auf eine neue Weise zu verstehen und ihm den Platz zurückzugeben, der ihm im Bereich der abendländischen Tradition zusteht.

Das Problem

Die philosophisch-politische Debatte der letzten Jahre ist von wichtigen Diskussionen zur Idee der Norm und den dazugehörigen Bereichen gekennzeichnet: das Recht, das Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre, von Ethik und Politik, und das von Religion und Politik. Man kann sagen: seit der Mensch begonnen hat, über das Sozialleben (gesellschaftliche Leben) nachzudenken, gibt es keine politische Theorie, die nicht auch eine anthropologische Theorie voraussetzt, eine Idee des Menschen eben, die die Notwendigkeit und den Vorzug eines bestimmten politischen Systems anstatt anderer rechtfertigt. Es ist nicht meine Absicht, die Geschichte des politischen Denkens nachzuzeichnen, ich nehme mir etwas viel Bescheideneres vor: eine Reflexion über die Entstehung des Begriffs der Norm, wie er in der Version des Dekalogs enthalten ist, die im Buch Exodus (20,1-17) steht. Die Wahl, gerade diese Version zu analysieren und nicht die in Deuteronomium (5,6-21), ist vor allem durch den Erzählkontext, auf den sie sich bezieht, gegeben. Im Buch Exodus wird der Dekalog gleich nach der Flucht aus Ägypten verkündet, und der Leser folgt dem Auf und Ab der Geschehnisse. Die Gleichzeitigkeit der Flucht und der Verkündigung hilft, dem Inhalt des Dekalogs einen bestimmten Nachdruck zu verleihen. Im Gegensatz dazu ist die im Deuteronomium enthaltene Fassung in die Erinnerung an diese Taten eingebettet und bietet einen Rückblick auf das, was schon erzählt wurde1.

Es handelt sich um einen biblischen Text, der einen Bezugspunkt im christlichen Katechismus hat, und so besteht das Vorurteil, dass das Verständnis des Dekalogs auf den religiösen Bereich beschränkt ist, und dass er mit dem literarischen oder philosophischen zu tun hat. Anders ausgedrückt wird der Dekalog seiner historisch-kulturellen Dimension beraubt, und als Wort Gottes wird er von der Welt getrennt. Die einzige Rolle, die ihm unter Menschen zuerkannt wird, ist eben die, ein Bezugspunkt der christlichen Moral zu sein, und genau das hindert daran, ihn wirklich zu kennen. Gleichzeitig ist das Buch Exodus, in das er eingebettet ist, in der menschlichen Geschichte lebendig geblieben, viele Denker haben sich mit seinem Sinn beschäftigt und viele Revolutionäre haben es benutzt, um die Menschenmenge aufzuwiegeln und ihr Tun zu rechtfertigen. All das ist Zeichen seiner unvergänglichen Kraft2. Wie alle größeren Revolutionen ist auch der biblische Exodus mit der Wiederherstellung der Legalität abgeschlossen, aber er hat nicht nur etwas Bedeutungsvolles behalten, das die historischen Unterschiede und die vergangenen Jahrhunderte überwindet, er hat verschiedentlich dazu geführt, die revolutionäre Erfahrung zu wiederholen. Eine erstaunliche Bedeutung, nachdem in dieser Revolution keine Helden aufscheinen. Kann sich vielleicht der Prophet Mose ein Held nennen, der seine Mission nur ungern annimmt (Ex 3,7-13) und dann von der Hand Gottes gehalten wird? Kann sich das Volk Israel heroisch nennen, das auf Initiative JHWHs aus Ägypten herausgeführt wird und sich die ganze Zeit über beschwert, so dass es sogar dem Sklavenhaus nachweint (Ex 16,2-3; 17,3)? Vielleicht liegt der einzige Akt wirklichen Heroismus in dem, was auf den Exodus folgt, nämlich dem Durchhalten im Glauben an JHWH, bis dahin, ganz allein zu bleiben, also ohne die Hilfe der großen Reiche der Zeit? Das Bedeutungsvolle des Exodus ist nicht sein glücklicher Ausgang, auch wenn er ermutigend und inspirierend ist, sondern die Art, wie man zu ihm kam: der erzieherische Prozess hat ein Sammelsurium von Sklaven in das erwählte Volk verwandelt, Arbeitswerkzeuge in Personen, Exilanten in Bürger. Die Verwandlung ist doppelt, religiös und politisch, und sie wurde durch das neue Bewusstsein ermöglicht, das die Israeliten sich mühsam angeeignet hatten, dank der Heilstat Gottes, d. h. dank der Sorge und der Anerkennung, die Er seinem Volk anbietet, aber auch dem Vertrauen, das dieses Volk in ihn setzt. Erst am Ende dieses Prozesses wird der Dekalog verkündet.

Außerhalb dieses Prozesses könnte es ein einfaches religiöses Credo sein, das an das Ende der Exoduserfahrung gesetzt ist, doch in Wirklichkeit ist es die erste soziale und politische Regelung Israels, in der die Anthropologie und die Religion eine wichtige Rolle spielen. Die Flucht aus Ägypten ist zunächst eine politische Aktion, sie ist die Ablehnung der Sklaverei und der Unterstellung unter einen fremden und irdischen Herrscher. Daher können wir das Vorurteil nicht annehmen, das uns überzeugen will, den Dekalog nur als „Zehn Gebote“ zu verstehen, wie es von der katholischen und evangelischen Kirche im Katechismus gelehrt wird. So würde dieser Beitrag die einfache Wiederholung der schon bekannten Dinge sein, ohne dem Reichtum der Perikope Rechnung zu tragen.

Das Ziel dieser Arbeit besteht zunächst darin, sich bewusst zu werden und zu zeigen, dass dieser Text sehr anders ist als das, was wir bislang gehört haben, wie wir ihn aus dem Zusammenhang gerissen nur als Liste von Vorschriften angesehen haben. Aus einer breiteren Perspektive hat diese Untersuchung einen Zweck, der den Text selbst übersteigt: sie entsteht dadurch, dass ein gewisser juridischer Formalismus nicht geteilt wird. Dieser entleert die Norm ihrer Bedeutung und entzieht ihr ihren Sinn, sie vergisst, dass die Erfahrung, die Vorgangsbezogenheit, die individuelle Beteiligung, die Verantwortung des Einzelnen und des Kollektivs ihre wesentlichen Charakteristika sind, sowohl die juridischen, als auch die ethischen. Um all das herauszuarbeiten, habe ich vorgesehen, eine Analogie vorzuschlagen, um den Dekalog zu untersuchen, der in der christlichen Tradition und der abendländischen Kultur als Modell (und manchmal als Grundlage) des ethischen und juridischen Formalismus angesehen wurde. Diese Arbeit besteht nicht in einer Untersuchung der mittelalterlichen oder modernen Rezeption des Dekalogs, sondern ist geschrieben aus dem Bewusstsein, dass der Dekalog im Laufe der Jahrhunderte seines historischen und politischen Sinns beraubt wurde. Es ist nicht einmal eine Studie über die allgemeine biblische Norm, sondern über das, was aus dem speziellen Text des Buches Exodus hervorgeht, das stark verwurzelt ist in dem neuen politischen Kontext, in dem Israel sich innerhalb der Erzählhandlung befindet, und in der Epoche, in der der Text redigiert wurde3. Der zeitliche Unterschied zwischen der Zeit der Ereignisse und der Zeit der Erzählung drängt dazu, den Text als Analogon der Ereignisse zu lesen, die zeitgleich mit dem Autor4 sind, der ihn in diesen Rahmen eingefügt hat. Die Arbeit bewegt sich also auf einer doppelten Ebene. Die erste ist der Dekalog in Bezug zu seinem historisch-literarischen Kontext, die zweite ist der Dekalog als Untersuchungswerkzeug für die Erforschung einiger Fragestellungen, die er hervorhebt und die in den zeitgenössischen Debatten wiederkehren.

Allgemein denkt man an den Dekalog als eine Abfolge von Geboten, die im Bereich der christlichen Kultur auswendig gelernt werden müssen. Sie werden als etwas Unbestreitbares und Unbewegliches verstanden, und diese Perspektive erlaubt ihre Ent-Kontextualisierung. Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Dekalog zum Paradigma des ethischen und politischen Formalismus, es war nur wichtig, dass er befolgt wurde5. Seine Handlung auf den Gehorsam zu beschränken, bedeutet, darauf zu verzichten, bewusst den Wert und die Bedeutung der Gesetze zu entdecken, die nicht nur alt sind, sondern auch zeitlich unbeschränkt. Wenn das normenkonforme Handeln bedeutet, sich einfach dem anzupassen, was vorgeordnet ist, wie kann man da von Verantwortung und Freiheit sprechen? Welche Rolle spielen Verantwortung und Freiheit in der Beziehung zwischen den Einzelnen und der Gemeinschaft?

Dieser Ansatz verrät nicht nur den Sinn des Textes, sondern verhindert es auch, die fruchtbaren Momente herauszuarbeiten. Er verrät ihn, weil er der Rolle widerspricht, die er im literarischen Kontext spielt, in dem die Redakteure ihn überlieferten. An das Ende eines Befreiungsweges gestellt und als Angelpunkt des Prozesses des religiösen und vor allem politischen Selbstbewusstseins Israels, wäre es ein interner Widerspruch, den Dekalog wie eine neue Form von Zwang zu lesen, wie eine Sklaverei. Ich möchte den gebieterischen und verpflichtenden Aspekt des Dekalogs nicht leugnen, sondern ich möchte zeigen, dass der Dekalog in einem anderen Sinne so ist, ich möchte seine Tiefe und seinen letzten Grund ans Licht holen. Um all das wiederzuentdecken, ist es nötig, diesen Text im Inneren eines historisch-politischen Weges, bei dem die innere Zustimmung des Individuums eine entscheidende Rolle spielt, neu zu verstehen. Das festgelegte Gesetz ist ein Befehl, aber sein Sinn ist von der Geschichte gegeben, die ihm vorausgeht: sie ist das Ergebnis des Wachstums einer Beziehung zwischen Gott und seinem Volk und der Befreiung aus der Sklaverei. Die Ethik wächst aus dem Geschenk der Befreiung und nicht umgekehrt, so wie das Gesetz nach der Erfahrung des Exodus gegeben ist, nicht vorher, und daher ist es wirklich eine Gabe: Israel soll das Gesetz beachten, nicht um gerettet zu werden, sondern weil es gerettet ist.

Die Zehn Worte, fernab davon, eine schwere Bürde zu sein, sind das Zeichen und der Ausdruck eines neuen Lebens, eines Weges, der den Menschen in der Freiheit bewahrt: die Normen reduzieren sich nicht auf die bloße Auferlegung von Verboten, sondern begrenzen und garantieren einen Raum für die Freiheit. Nicht das Fehlen von Regeln, sondern ihre weise Koordination, zusammen mit der Erinnerung an die Erfahrung der Befreiung, machen die Freiheit möglich und nutzbar. Die Freiheit und die Normen, die die Erhaltung garantieren, sind nur in einem gemeinsamen Raum möglich, d. h. in einem Raum der Beziehung: “Freiheit – schreibt Hannah Arendt – ist tatsächlich der Grund, warum Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben. Der Sinn von Politik ist Freiheit, und ohne sie wäre das politische Leben sinnlos.”6.

In der alten griechischen und hebräischen Welt bestand die Alternative nicht zwischen Gesetz und Freiheit, sondern zwischen Gesetz und Anarchie (und zwischen Gesetz) oder Tyrannei. Das Gesetz wurde also als wirksames Werkzeug zum Schutz der Freiheit und des Individuums verstanden, und das ist, was auch im Dekalog geschieht7. Im Gegensatz zur biblischen Welt gab es in der griechisch-römischen Welt eine klare Trennung zwischen jus und fas, zwischen Zivilrecht und göttlichem Recht, während in den Kodizes des Alten Orients nur das erste behandelt wurde.

Der Text, den ich analysiere, weist wichtige Unterschiede im Vergleich zu den Kodizes der jüdischen Tradition des Alten Orients auf, zu der er gehört: die Redaktion des Dekalogs, die im Exodus enthalten ist, erscheint nämlich im Kontext einer Theophanie. Die Wissenschaftler halten dies für eine spätere redaktionelle Einfügung in den Text, aber das tut dem Staunen des Lesers keinen Abbruch. Der theophanische Rahmen verleiht den zehn Worten den Status des Gesetzes Gottes, der Offenbarung, und gleichzeitig verdoppelt er die Verständnisebenen, weil er zu der historischen auch die metaphysische Ebene ergänzt, die die Wahrheit über die historische Ebene aussagt. Auf den ersten Blick bereitet der theophanische Rahmen Schwierigkeiten aufgrund der Koexistenz der beiden ähnlichen Texte (Ex 20 und Dtn 5) mit demselben Ziel (der Bewahrung eines freien Lebens): Welche Rolle hatte das Gesetz und welchen Sinn hat es, dass es geoffenbart wurde, es also als ewig und unveränderlich verstanden wird? Die zwei Versionen des Dekalogs enthalten einige Unterschiede, die die Bedeutung des Kodexes (im modernen Sinn) für die legislativen Sammlungen des Pentateuchs schwierig machen, und dennoch können wir nicht darauf verzichten, sie heute zu definieren. Um auf diese Fragen zu antworten, werde ich den Text, auf der Linie der zeitgenössischen Exegese, in seiner Endfassung analysieren, insbesondere der im Buch Exodus enthaltenen, weil – wie ich schon angedeutet habe – diese klarer die Verbindung zwischen Gesetz und Erfahrung der Freiheit herausstellt.

Der Zweck dieser Arbeit besteht in einem Versuch, die Abstammung des Normenbegriffs in Ex 20,1-17 zu verstehen, d. h. den Ursprung des normativen Sinns des Textes, die Weisen, in denen er sich ausdrückt, und die besonderen Nuancierungen, die ihn charakterisieren. Es ist keine Studie zum Ursprung des Textes als solchem, aber seines Sinns – was er uns anzubieten scheint, was der Leser ihm zuschreibt, ausgehend von seiner Zeit und sich selbst –, also werde ich mich nur kurz mit den Hypothesen über seine Entstehung aufhalten. Die Frage zum Ursprung des Dekalogs bleibt immer offen, aber ich bin hauptsächlich an seinem Ergebnis interessiert, also an der Bedeutung und der Rolle seiner Endfassung, die uns die Tradition ausgehändigt hat: Warum diese und keine andere?

Dieser Text gehört zu zwei religiösen Traditionen, dem Judentum und dem Christentum, die zusammen Anteil an der abendländischen Kultur haben und den Dekalog im Laufe der Jahrhunderte verschiedentlich interpretiert haben. Im Inneren dieser Traditionen ist Ex 20,1-17 einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste unter den normativen Texten im ethischen und religiösen Bereich. Eine eingehende Untersuchung der Verse lässt aber verstehen, dass er nicht einfach auf eine Reihe von Versen zurückgeführt werden kann. Auf welche Weise ist diese Reduktion möglich gewesen? Wie kann man zeigen, dass er zwar normativ ist, aber in einem anderen Sinn als es ein nur äußerlicher, formaler Befehl ist? Was hilft es, die Komplexität des Textes wiederzugewinnen, wenn wir schon wissen, dass wir davon letztlich den imperativen Sinn annehmen? Schließlich: welchen Sinn kann heute das Studium des Dekalogs haben? Kann es uns die Werkzeuge geben, um auf analoge Weise die heutige ethisch-politische Debatte bezüglich der Achtung der ethisch/juridischen Norm und der Komplexität der Beziehungen, die das handelnde Subjekt und das Recht binden, Form und Inhalt, Verantwortung und Aktion, besser zu verstehen?

Um auf all diese Fragen zu antworten, ist es nötig, die Untersuchung auf zwei stark verflochtenen Ebenen zu führen: eine ist die literarische und historisch/kulturelle, die andere ist die spekulative. Die erste erlaubt uns, die Perikope an ihren ursprünglichen Kontext zurückzugeben und die unwesentlichen Elemente von denen zu unterscheiden, die bleibenden Wert haben; die zweite besteht in der Reflexion zur weiteren Bedeutung des Textes im philosophischen und theologischen Bereich.

Die Voraussetzungen, von denen die Forschung ausgeht, sind wenigstens zwei: die erste besteht in der Überzeugung, dass die abendländische Kultur aus diesem Text eine komplexere Normenidee erbt, als aus einer oberflächlichen Lesung der Perikope und den Vorurteilen, die sie begleiten, hervorgeht. Der Dekalog ist das Ergebnis eines historischen Weges, der seinen tieferen Sinn aus einem weiteren Kontext holt. Er ist Erlebnis im phänomenologischen und in Gadamers Sinn, „[Etwas wird zum Erlebnis,] sofern es nicht nur erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung verleiht.“8. Gleichzeitig ist er Erfahren im Sinn von „eine Reise antreten“9, weil er etwas Wesentliches der Erfahrung berührt, drängt er die Menschheit, diesen Weg fortzusetzen.

Unter den Erfahrungen, die Israel erlebt, nimmt nur der Exodus diese zwei Bedeutungen des Erfahrens auf. Die Überquerung des Jordans, der der Anfang der Monarchie Davids ist, und die Einweihung des Tempels unter Salomo sind nur möglich, weil sie Folge der Entstehung des Volkes und seiner politischen Organisation sind. JHWH selbst bezeichnet sich – hinsichtlich Israels – als „der die Söhne Israels aus Ägypten herausgeführt hat“ (vgl. Jer 23,7) und nicht, zum Beispiel, als „derjenige, der dich in das verheißene Land geführt hat“. Allgemein bezieht sich das ganze Alte Testament auf den Exodus als das Hauptereignis der Geschichte Israels, und der Dekalog, der darin enthalten ist, markiert eine Etappe des politischen und moralischen Fortschritts Israels, einer Wandlung vom Slaven zum Volk (Nation), eine Wandlung die nicht nur äußerlich, formal ist, sondern – ich würde sagen – ontologisch, weil Israel durch sie zu existieren beginnt. Die bevorzugte Beziehung mit JHWH macht aus Israel das auserwählte Volk und nur Gott gegenüber kann sich dieses bevorzugte Verhältnis Erwählung nennen. Israel ist nicht das Kleinste unter allen Völkern, aber es ist das Volk Gottes und das ist das einzig gültige Kriterium, um das Verhalten seiner Mitglieder zu regeln.

Die zweite Voraussetzung dieser Forschung ist die Überzeugung, dass der biblische Text, auch wenn er nicht direkt zitiert ist, ein integraler Bestandteil der abendländischen Tradition, der gängigen Mentalität und der ethisch-politischen Kultur ist:

„Der Exodus – oder die spätere Interpretation des Exodus – legt das Muster fest. Und dadurch, daß die Bibel im westlichen Gedankengut eine zentrale Rolle spielt und die Geschichte endlos wiederholt wurde, hat sich das Muster tief in unsere politische Kultur eingegraben.“10.

Das war möglich, weil die Bibel für viele Jahrhunderte die Quelle war, aus der ein Teil der Welt das Recht geschöpft hat. Einige Voraussetzungen, Ideen und grundlegende Konzepte des biblischen Rechts erscheinen in verschiedenen Formen in der christlichen Tradition und allgemeiner, in der abendländischen11.

Die Erfahrung des Exodus, zu dem der Dekalog gehört, wird als Sinnbild der sozialen Emanzipation auch in den folgenden Jahrhunderten und für andere Völker bleiben12. Die Revolution als ‚Bruch‘ hat die Kreisförmigkeit der Zeit, wie sie von den Griechen konzipiert war, durchbrochen13. In der Bibel sind die Flucht aus Ägypten und die Gabe des Gesetzes die Ereignisse, durch die eine lineare Zeitauffassung in die Geschichte tritt. Eine Zeit, um vorwärts zu gehen, nicht, um sich zu wiederholen. Die ‚Nicht-Rückkehr‘ offenbart, dass die Dinge sich ändern können, dass der Mensch mit der Hilfe Gottes das verändern kann, was verfestigt schien. Daher kann das Gesetz nicht ein weiteres Gefängnis sein, eine weitere Form der Sklaverei, sondern zeichnet sich als Werkzeug zur Bewahrung der Freiheit ab.

Dies sind also die Voraussetzungen, die diese Wahl des biblischen Textes in einem politischen Kontext legitimiert haben: die Tatsache, dass der Normenbegriff, den der Dekalog ausdrückt und den die westliche Kultur erbt, komplexer ist als auf den ersten Blick scheint, und dass die biblische Tradition ein integraler Bestandteil der westlichen Kultur ist. Bevor wir zum Thema der Arbeit kommen, ist es nötig, kurz die verwendete Forschungsmethode zu klären.

Die Methode

Bei der Vorstellung dieser Arbeit habe ich auf verschiedene Leseebenen hingewiesen, die für den Text geeignet erscheinen: eine literarische, eine historische, eine kulturelle, eine politische und eine spekulative Ebene. Sie bieten unterschiedliche Blickwinkel auf dasselbe Objekt an, und gleichzeitig erfordern sie unterschiedliche Analysemethoden. Für die Ziele, die ich verfolge, ist es möglich, zwischen zwei Wegen zu wählen: der erste ist historischer Natur, er beginnt beim alttestamentlichen Text und hält sich mit einigen Momenten der Geschichte des abendländischen Denkens auf, um bis zu unseren heutigen Debatten zu gelangen. Indem wir diesen Weg gehen, besteht das Risiko darin, dass wir uns nicht ausreichend dem Text widmen können und den Zweck des gesamten Weges aus den Augen verlieren.

Der zweite konzentriert sich auf den ausgewählten Text, sucht die wesentlichen Fragen und geht sie an, indem er auch die Gesprächspartner anderer Epochen herbeiruft, so dass die Analogien mit einigen Fragestellungen, die in der modernen Debatte auftreten, aber auch die Grenzen der begrifflichen „Kontinuität“ und der „Abweichungen“ klar werden, die größere Umsicht verdienen würden.

Beide Wege können nicht erschöpfend sein und ihre Wirksamkeit hängt ausschließlich vom erzielten Ergebnis ab. Ich bevorzuge den zweiten Weg, weil er den Kontakt mit dem Text konstant hält und den Akzent auf einige der wesentlichen Momente seines begrifflichen Erbes legt. Ich werde daher meine Aufmerksamkeit auf die Textanalyse legen und in einem zweiten Schritt einige Hauptfragen ermitteln, die dadurch angegangen werden, dass wir auch Gesprächspartner späterer Epochen hinzuziehen.

Auf literarischer Ebene werde ich den hebräischen Text analysieren, wie er zu Zeiten Qumrans14 fixiert und im Laufe der ersten Jahrhunderte des Christentums mehrfach neu erarbeitet wurde15. Durch die narrative, d. h. synchrone Lesart, die den Text in seiner Gesamtheit wertet und die einzelnen Teile mit dem Ganzen in Beziehung setzt, wird es möglich, gleichzeitig die Einheit und die Widersprüche im Text zu erfassen. In manchen Fällen werde ich die kritisch-exegetische Lesart gebrauchen, vor allem wenn der synoptische Vergleich beider Fassungen des Dekalogs im Kontext des Kanons notwendig ist (Ex 20 und Dtn 5). Mit diesen beiden Methoden möchte ich wenigstens zwei Ziele erreichen: 1) die Fixierung und das Verständnis des Textes; 2) die Klärung einiger Aspekte, die uns helfen, den Text von Vorurteilen zu befreien, die ihn begleiten. Das Studium des Wortschatzes und des Kontexts ist daher die Basis jeder Abwägung: jede Interpretation kann die Fragen und die Methoden der Exegese vertiefen und vervollständigen, vielleicht kann sie sie auch korrigieren, aber nie ersetzen.

Die direkte Lesart des Textes bleibt ein grundlegender Fixpunkt dieser Forschung, auch wenn sie sich als Werkzeug zeigt und nicht als Schluss. Es ist nicht Ziel dieses Beitrags neue exegetische Hypothesen zu formulieren, vielmehr gilt es, das Bewusstsein für einen Text zu schärfen, der, gerade weil er bekannt ist, unbekannt bleibt. Die Haltung, mit der man sich auf den Dekalog einstellen muss, besteht nicht darin, ihn an einen schon gemachten Gedankengang anzupassen, sondern darin, dass er es ist, der uns anfragt. Sicherlich ist das in dem Maß möglich, in dem man für gewisse Fragen sensibler ist als für andere, aber das will die einzige Bedingung sein, die außerhalb des Textes gestellt wird.

Im Laufe der Untersuchung ist die größte Gefahr, die biblische Exegese und die historische Rekonstruktion stärker als die theoretische Reflexion zu gewichten. Die ersten beiden dürfen nur eine Nebenrolle haben. „Nichts in der Bibel ist Zufall“ sagen die Rabbinen, so wird die Untersuchung des hebräischen Textes der erste notwendige Schritt zu seinem Verständnis, weil der Gebrauch der Wörter und die sprachlichen Übereinstimmungen zwischen den Texten nie zufällig sind16. Das alte Israel, in dem der Dekalog seinen Ursprung hatte, bearbeitet viele Elemente der ägyptischen, babylonischen und kananäischen Tradition und verleihen ihnen neuen Sinn, indem sie in göttliche Handlungen verwandelt werden. Die Erzählung, die sich oft durch einen mythischen Sprachgebrauch kennzeichnet, wird zum Ort der Offenbarung. Es ist daher nötig, uns ihr zu nähern, indem wir auf die typischen Kriterien und Kategorien des Wissens, die aus der griechischen und lateinischen Tradition kommen, verzichten, um geeignetere für das Verständnis des biblischen Textes anzunehmen.

Konkret ist die Arbeit in vier Teile gegliedert, die ebenso vielen Kapiteln entsprechen. Im ersten Teil sollen zunächst die wesentlichen Punkte der gegenwärtigen Exegese fixiert und die wichtigsten Fragenkomplexe isoliert werden. Das Ziel besteht auf der einen Seite darin, die Komplexität des Textes und die Möglichkeiten aufzuzeigen, die es erlauben, zu verstehen, um welche Themen er organisiert ist, auf der anderen Seite zu vermeiden, Themen auf ihn zu projizieren, die ihm fremd sind. Daraus folgt, dass das Arbeitsgebiet durch Fragen abgegrenzt ist, die an den Text gestellt werden (und nicht die vom Text gestellt werden). Dieser erste Teil ist wichtig, um die Werkzeuge für eine Reflexion zu sammeln, die ihr Fundament in der gewählten Perikope hat, um die Forschung in einen weiteren Kontext einzufügen und schließlich einige Problematiken aufzuzeigen, die leicht einer oberflächlichen Lektüre des Textes entgehen.

Der zweite Teil handelt direkt von Ex 20,1-17: Er beginnt mit einer Textanalyse und hält sich mit einigen Fragen des Wortschatzes auf, die besonders interessant sind. Der Zweck dieses Teils besteht darin, Licht auf die Bedeutung des Wortschatzes beim Ausdruck der Inhalte zu werfen, sowie die Grenzen und die Hilfe der Übersetzungen zu verstehen.