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Lektorat: Gerd Fischer
Layout: Olaf Tischer
Bild Cover: © Manfred Neumann

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Der Krimi „Elektro-Schock“ ist im Rahmen der Schreibwerkstatt „Tod im Turm“ der KVHS Groß-Gerau entstanden. Initiator: Heinrich Krobbach. Dozenten: Marc Rybicki und Gerd Fischer. Das Pseudonym „Viola Haas“ steht für „VHS“ und stellvertretend für folgende Autorinnen und Autoren (in alphabetischer Reihenfolge):

Oliver Baier

Annette Berg

Christiane Gagel

Stefan Grossmann

Anke Jentsch

Malin Kröcker

Sandra Leutner

Marion Liebrich

Andrea Neumann

Christina Pils

Andreas Raab

Ulrike Reich

Elke Rödner-Kraus

Hanni Roth

Norbert Schätzlein

Karolin Seidel

Claudia Töffke-Stumm

Claudia Traser

Heike Wetzel

Klaus Weyrauch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

1

Donnerstag, 14. September 2017

Das Schönste an der Nachtschicht war immer der Heimweg, wenn er aus Rüsselsheim nach Hause fuhr in seinem alten Opel Rekord. 78er Baujahr, gehegt und gepflegt. Das orangefarbene Juwel mit dem schwarzen Dach war seit seiner Fabrikation in seinem Besitz. 40 Jahre Opel und das mit ganzem Herzen und vollem Einsatz. Einmal Opel, immer Opel! So war das in der ganzen Region. Herrje, was waren das für Zeiten, als er beim Opel angefangen hatte. Nach den Amis hatte er jetzt die Franzosen am Hals, aber arrangieren konnte und musste er sich immer. Mit Uschi war es ja auch nicht immer einfach gewesen, aber sie hatten in den 35 Jahren auch gute Zeiten gehabt und dank seiner motorisierten Schönheit konnte er sich öfter mal abseilen, um zu werkeln.

Jürgen passierte das neu entstehende Logistikzentrum an der B40. Das wird Alcatraz, dachte er kopfschüttelnd. Naja, denen in Gere gehört es auch nicht anders. Wir in Wallerstädten müssen auch genug aushalten. Heute Abend würden sie sich alle noch im Löwen treffen und ihr Vorgehen besprechen, wie sie den zunehmenden Verkehrsstrom nach Geinsheim etwas begrenzen könnten.

An der Aral Tankstelle nahm er, wie immer, die Abkürzung, um nicht an der Ampel stehen zu müssen. Er blickte über das nebelverhangene Feld, auf dem sich zwei Rehe tummelten. Rehbraten hatte die Uschi früher auch gemacht, ging es ihm durch den Kopf. Gleich würde er daheim sein und dann schnell noch die Kontaktanzeigen checken, vielleicht hatte ja dieses Mal eine angebissen. Sein Bild war zwar nicht brandaktuell, aber das würde den Damen hoffentlich nicht auffallen, wenn er mit seinem Schlitten vorfuhr.

Als er sich im Rückspiegel betrachtete, fiel ihm sein etwas fahler Teint und die grobporige Nase auf, dennoch musste er sich loben. Mit seinen 61 Jahren wirkte er deutlich attraktiver als Alois, dieser Säufer, der ein Riesengroßmaul war und sich in den Besprechungen immer aufspielte. Und dieses hämische Grinsen in seine Richtung, weil ihm seine Uschi mehr als einmal auf den Leim gegangen war. Dem würde er heute Abend ordentlich Kontra geben!

Er parkte sein Auto im Hof, nahm das Echo aus der Zeitungsbox und legte es auf der Motorhaube ab. Als er die Schlagzeile überflog, kappte etwas seine Sicherungen. Ihm wurde heiß und kalt. Und er tat etwas, wozu er niemals dachte fähig zu sein: Er kotzte auf seinen Opel!

2

„Einen Moment, ich bin gleich für Sie da“, sagte die dunkelhaarige Frau am Empfang, ohne aufzusehen. Sie saß am Rechner, den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, während ihre Finger über die Tastatur des Computers flogen. Ihr Gesprächspartner schien einen enormen Redebedarf zu haben, denn sie kam kaum dazu, etwas einzuwerfen und mehr als ein „Da stimme ich Ihnen vollkommen zu“, war von ihr nicht zu vernehmen. Nachdem sie sich verabschiedet hatte, legte sie den Hörer auf und schaute freundlich lächelnd zu Joe auf. Beim Anblick der Uniform erstarb das Lächeln.

„Hat einer unserer Gäste die Polizei gerufen?“ Ihr Blick glitt an Joe vorbei. Unruhig musterte sie die menschenleere Halle des Hotels Adler.

Joe schüttelte den Kopf. „Ich bin wegen des Vortrags der Polizei Groß-Gerau hier – Enkeltrick 2.0.“

Das Lächeln der Empfangsdame kehrte zurück. Sie tippte einige Befehle auf ihrer Tastatur ein und starrte auf den Bildschirm. Stirnrunzelnd schaute sie vom Flatscreen auf. Ihr Blick ging von Joes dunklem Pagenkopf mit den rotgefärbten Spitzen über das ovale Gesicht bis hin zu der Stelle der Uniform, wo Joes Name stand.

„Sie sind nicht Hauptkommissar Schröder?“, fragte sie zu allem Überfluss.

„Das letzte Mal, als ich in meinen Personalausweis geschaut habe, stand da ein anderer Name“, sagte sie und grinste. „Ich bin Polizeioberkommissarin Johanna Kramer. Hauptkommissar Schröder ist krank geworden und man hat mich gebeten, einzuspringen. Die Kollegen werden vergessen haben, das bekanntzugeben. Ich weiß auch erst seit heute Morgen davon.“ Das Lächeln der Rezeptionistin kehrte erneut zurück. Bekam man das auf der Hotelfachschule beigebracht?

„Sie sind früh dran. Es ist kurz nach drei und der Vortrag beginnt erst um halb vier.“

Nein, sie würde der souverän wirkenden Dame nicht auf die Nase binden, dass sie mit Lampenfieber zu kämpfen hatte und sich mit der Umgebung vertraut machen wollte, um dann ihren Vortrag ein letztes Mal in Ruhe durchzugehen. Niemand sollte merken, dass sie nur die Notlösung war.

Stattdessen hob sie die Laptoptasche in die Höhe. „Ich muss noch einiges vorbereiten“, fügte sie erklärend hinzu.

Die Rezeptionistin, Frau Weber, wie ihr Namensschild verriet, stand auf und stellte eine Tafel mit der Aufschrift ‚Wir sind gleich wieder für Sie da‘ auf die nussbaumfarbene Theke. Dann öffnete sie eine Schublade, aus der sie einen Schlüssel hervorholte, und trat hinter dem Tresen hervor.

„Ich bringe Sie schnell nach unten. Viel Zeit habe ich allerdings nicht. Mir geht es wie Ihnen, mein Kollege ist krank geworden. Seine Vertretung ist noch unterwegs.“

Während sie sich darüber unterhielten, dass Krankheiten von Kollegen Segen und Fluch zugleich sein konnten, gingen sie über die Treppe ein Stockwerk tiefer. Frau Weber schloss die Tür auf und übergab ihr die Schlüssel. Nach einer kurzen Einweisung zur Funktionsweise des Beamers verschwand sie wieder.

Joe schaute sich im mit kirschbaumfarbenem Holz verkleideten Raum um.

„Verdammter Mist“, fluchte sie. Sie hatte ihren Rechner an den bereitstehenden Beamer anschließen wollen, doch das vorhandene Kabel erwies sich als zu modern für den antiquierten Laptop der Groß-Gerauer Dienststelle. Daran hatte natürlich keiner gedacht und sie hatte kein passendes Kabel eingesteckt.

Sie blickte auf die Uhr. Um ins Revier zu fahren und die fehlende Ausstattung zu holen, war die Zeit zu knapp.

Seufzend schnappte sie sich die Schlüssel, schloss den Raum ab und ging zum Fahrstuhl. Die Türen des Aufzugs öffneten sich beim Erreichen des Erdgeschosses mit einem leisen Quietschen und gaben den Blick auf die mit Menschen überfüllte Lobby frei. Stimmengewirr aus aller Herren Länder begrüßte sie. Woher kamen die alle so plötzlich? Vor nicht einmal zehn Minuten war kein einziger Gast zu sehen gewesen und nun sah die Halle aus, als wäre ein Bus mit Rentnern auf Kaffeefahrt eingetroffen. Wobei die Wartenden nicht aussahen, als seien sie im Seniorenalter. Die meisten von ihnen waren Männer, die Business-Anzüge trugen, was Joe entfernt an die grauen Herren aus Michael Endes ‚Momo‘ denken ließ. Etliche hatten Handys in der Hand und telefonierten in übertriebener Lautstärke, um den Nachbarn, der mindestens genauso laut sprach, zu übertönen oder um die anderen damit zu beeindrucken, wie wichtig sie selbst waren.

„Ja, den Deal haben wir in der Tasche.“

„Keine Sorge, wenn wir sagen, dass wir Berger mit an Bord haben, dann werden sie mit einsteigen.“

„Bis heute Abend haben wir das Angebot.“ Solche und weitere Phrasen schwirrten durch den Raum.

Am Empfang stand Frau Weber, die nun gar nicht mehr so besonnen wirkte, sondern hektisch gestikulierte. Ihre Wangen zierten zwei rote Flecken.

Geduldig wartete Joe, bis der Gast vor ihr seine Sachen nahm und ging.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte die Empfangsdame bei Joes Anblick.

„Ich befürchte, die Polizei Groß-Gerau ist nicht so fortschrittlich wie Ihr Haus. Haben Sie irgendwo einen DVI-Anschluss übrig? HDMI kann mein Laptop noch nicht.“

Erschöpft sah Frau Weber sie an. „Ich müsste den Techniker fragen, aber im Moment ist hier die Hölle los. Die Fachbesuchertage auf der IAA fangen morgen an und alle wollen genau jetzt einchecken. Geben Sie mir ein paar Minuten, dann kümmere ich mich um Ihr Anliegen.“

„Gut, ich warte hier.“ Sie deutete auf die roten Ledersessel unweit des Tresens, was Frau Weber mit einem abwesenden Gesichtsausdruck zur Kenntnis nahm. Sie hatte sich bereits dem nächsten Gast zugewandt.

Joe schlenderte auf die Sitzgelegenheiten zu, die bis auf zwei verwaist waren, und setzte sich. Sie hätte ihren Laptop mitnehmen sollen, dann hätte sie die Präsentation ein letztes Mal anschauen können. Sie war sie zwar mehrfach durchgegangen und hatte eine Trockenübung gemacht, doch sicher war sicher.

Der Strom der Anreisenden schien nicht abebben zu wollen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass kein Grund zur Panik bestand.

„Mais, bien sûr, mon cher“, drang die rauchige Stimme einer Frau, die in ihrer Nähe stand, zu ihr.

Klasse Beine, dachte Joe. Bewundernd musterte sie die attraktive Brünette. Der Rock ihres blauen Businesskostüms war so kurz, dass er in anderen Kulturkreisen vermutlich als Gürtel bezeichnet worden wäre. Die Figur dazu hatte sie, vor allem einen süßen Hintern. Und erst diese langen Beine auf den High Heels, die diese Fremde trug. Sie selbst stand mit derartigen Folterinstrumenten auf Kriegsfuß und begnügte sich mit knöchelfreundlicheren Pumps.

„Yes, I’ll be there. Can’t wait for it.“ Die dunkelhaarige Schönheit war unvermittelt ins Englische gewechselt, das zwar gut, aber doch mit dem unverwechselbaren Akzent einer englischsprachigen Französin gefärbt war.

Ob sie sich am Abend für ihr Date mit ihrem Gesprächspartner noch mehr in Schale werfen würde? Denn dass es ein Mann war, hatte das mon cher – so viel Französisch verstand Joe – verdeutlicht.

Am Tresen war eine zweite Frau aufgetaucht, die nun gemeinsam mit Frau Weber die Gäste begrüßte; die Halle begann sich zu leeren.

Joe entschied sich, erneut nach dem Kabel zu fragen. Sie erhob sich von ihrem Platz und warf einen letzten Blick auf die Brünette, die sie entfernt an Angelina Jolie erinnerte.

Noch bevor Joe ihr Anliegen erneut vortragen konnte, hatte Frau Weber bereits zum Hörer gegriffen und eine kurze Nummer eingegeben.

„Ja, ein Kabel, DTM oder so“, erklärte sie der Person am anderen Ende. Pause. „Er fragt, ob es ein DVI- auf HDMI-Adapter sein soll oder …?“

„Geben Sie ihn mir, ich erklär es ihm schnell!“ Joe nahm das Mobilteil des Telefons entgegen. „Also, ich brauche …“

Es dauerte nicht lange, bis sie dem Techniker erzählt hatte, was sie benötigte. Er glaubte sich daran zu erinnern, so etwas in seiner Kabelsammlung zu haben und würde es ihr schnellstmöglich in den Konferenzraum bringen. Sie bedankte sich bei ihm und überreichte Frau Weber das Telefon.

Joe ging rasch zurück ins Kellergeschoss. Dort waren inzwischen einige der Senioren eingetroffen. Sie standen um die bereitgestellten Bistrotische und unterhielten sich.

Sie musste wieder an die brünette Fremde denken. Konzentrier dich auf den Vortrag, mahnte sie sich selbst. Schließlich wollte sie nicht, dass man in Darmstadt über einen völlig inadäquaten Ersatz für den Kollegen Schröder berichtete. Auch wenn man sie nur ausgewählt hatte, weil sie die Einzige ihrer Dienststelle war, die sich mit Computern auskannte, so war es ihre Chance, dass man auf sie aufmerksam wurde. Das durfte sie nicht vermasseln.

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Nach einer knappen Stunde bestätigte ihr der Applaus der Senioren, dass sie ihre Sache gut gemacht hatte. Als sie mit dem geliehenen Kabel zurück zur Rezeption kam, bemerkte sie einen Mann mittleren Alters in einem olivgrünen Parka, der mit einem Schild in der Hand in der Hotelhalle stand:

In Gier verendeter Verstand, bringt Unheil Mensch und Land! Kein Autobau/ Fabrikneubau in Groß-Gerau!, las Joe.

Die Rezeptionistin ging gerade auf den Demonstranten zu und bat ihn dezent, bitte das Hotel zu verlassen.

Der Angesprochene ignorierte Frau Weber und schrie stattdessen: „Keine neuen Fabriken, kein Landraub durch Alva, wehret den Anfängen!!!“

Die Empfangsdame plusterte sich nun vor ihm auf. „Bitte verlassen Sie jetzt sofort dieses Hotel! Sie stören unsere Gäste, so geht das nicht!“

„So geht das nicht, so geht das nicht“, wiederholte der Demonstrant gehässig. „Wir dürfen so lange wegschauen, bis Fakten geschaffen sind. Die wollen eine riesige Fertigungsfabrik vor unserer Haustür bauen, das wird so groß wie Opel in Rüsselsheim. Das darf nicht sein!“

Jetzt mischte sich ein älterer Herr im schwarzen Anzug ein: „Wie Sie hier rumpöbeln, hört Ihnen doch sowieso keiner zu. Hauen Sie ab!“ Er fasste den Demonstranten am Arm und wollte ihn Richtung Ausgang schieben. Zwei weitere Männer mischten sich in das Geschehen ein: „Los, geh jetzt! Du bist hier nicht erwünscht!“

„Aber bitte meine Herren!“, griff Frau Weber ein. „Machen Sie hier keine Szene, sonst muss ich die Polizei rufen.“

Joe hatte die Auseinandersetzung mit etwas Abstand verfolgt, aber jetzt musste sie eingreifen. „Die Polizei ist schon da! Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Weber?“

Kaum hatte sie sich zu erkennen gegeben, drehte sich der Demonstrant mit dem Schild blitzschnell herum und rannte durch die Eingangstür aus dem Hotel hinaus.

Joe warf das Verbindungskabel in Richtung Rezeption und rannte hinterher. Draußen stoppte sie und blickte sich nach ihm um. Wo war der Kerl nur hin? Lief da nicht jemand an der evangelischen Kirche vorbei? Sie spurtete los. Das war einer der seltenen Momente in ihrem Leben, wo sie sich wünschte, eine Mischung aus Claudia Schiffer und Nicole Best zu sein. Die langen Beine des 1,80m Models gepaart mit der Schnelligkeit und Ausdauer der Groß-Gerauer Triathletin. Das wär‘s jetzt. Als sie zur Schulstraße gelangte, war der Mann nirgends zu sehen, auch in der Helwigstraße Fehlanzeige.

„Mist!“, rief Joe enttäuscht. Irgendetwas war merkwürdig an seinem Auftritt und der plötzlichen Flucht. Ihr Polizeiinstinkt war geweckt.

Ich werde schon herausfinden, was du mit deinem Schild im Schilde führst, dachte sie.

3

Kleinert und Kugler standen vor dem Hotel Adler und lutschten an ihren E-Zigaretten. „Stecken uns mit der schlimmsten Konkurrenz in dieses Provinz-Hotel! Und auch noch in Groß-Gerau! Die ticken doch nicht mehr richtig.“

„Zur IAA wird in Frankfurt nix mehr frei gewesen sein“, erwiderte Kugler.

Kleinert nickte. Genüsslich nebelten sie weiter und betrachteten das morgendliche Treiben vor dem Hotel Adler.

„Ausgerechnet hier will Alva einen neuen Produktionsstandort eröffnen. Wie das klingt: Elektroauto-City Groß-Gerau!“, frotzelte Kleinert.

Kugler lachte und knuffte seinen Kollegen jovial in die Seite. Synchron zogen sie an ihren Glimmstängeln und bliesen Rauchwolken in die kühle Herbstluft.

„Aber mal ernsthaft; glaubst du, die Amerikaner werden PSA in der Software-Entwicklung endgültig ausstechen und wir müssen um unsere Jobs fürchten?“

In diesem Moment fuhr ein Auto aus der Tiefgarage des Hotels heraus und die beiden erkannten sofort den Alva-Prototyp.

„Wow!“, entfuhr es Kleinert und Kugler fügte ein „Wahnsinn“ hinzu.

Das Fahrzeug hielt in Höhe des Hoteleingangs an und wartete – nicht lange.

Die Eingangstür des Hotels schob sich auf und Jeanne Cassel stöckelte heraus.

„Bonjour Messieurs.“

Kleinert und Kugler schauten ihr bewundernd nach, wandten jedoch ihre Blicke sofort wieder dem Alva zu.

Die Französin winkte dem Fahrer zu und streckte ihre Rechte gerade nach dem Türgriff aus, als sie Michael Richter aus dem Hotel kommen sah. Ruckartig zog sie die Hand zurück, schwankte auf den Bürgersteig und wühlte fahrig in ihrer Handtasche. Der Fahrer trat das Gaspedal durch. Lautlos wie ein Hai glitt das Auto an Jeanne vorbei der Hauptverkehrsader zu.

Jeanne beeilte sich, die Straße zu überqueren und in einer Bankfiliale zu verschwinden.

Kugler und Kleinert entdeckten Richter.

„Unser Genie“, raunte Kleinert Kugler zu. Die beiden grinsten verschwörerisch und winkten ihren Kollegen zu sich heran.

Richter blieb stehen und starrte Jeanne hinterher. Er war blass, blasser als sonst. Als Kleinert erneut winkte, ging er widerstrebend auf die Männer zu.

Kleinert begrüßte ihn. „Morgen, Mister Hightech. Bisschen viel getrunken gestern, was?“

Kugler kam direkt zur Sache. „Habt ihr das auch gesehen? Wollte unser Zuckerstückchen aus dem Marketing etwa gerade bei der Konkurrenz einsteigen?“

Kleinert fügte hinzu: „Oder war das Groß-Gerauer Pflaster zu uneben für Pariser Schuhe?“ Beide schauten Richter erwartungsvoll an.

„Wenn ihr zwei Flachpfeifen genauso gut Autos bauen würdet, wie ihr blöde Witze reißt, müssten wir uns keine Sorgen um unsere Jobs machen“, sagte Richter. „Wenn der neue Alva tatsächlich 600 Kilometer Reichweite hat und die Batterieladezeit bei einer Viertelstunde liegt, dann können wir uns die Wartemärkchen bei der Agentur demnächst im Zehnerpack schicken lassen.“

Richter musterte Kleinert und Kugler kalt. Er hatte nicht laut gesprochen, aber seine Stimme hatte einen seltsam bedrohlichen Unterton bekommen. Beiden war das Lachen vergangen. Offenbar hatten sie den Bogen überspannt, wenn sie auch nicht so genau wussten warum.

„Tja, wie dem auch sei. Ich glaube, ich geh jetzt besser mal rein und mach mich fertig.“ Kugler machte einen Schritt in Richtung Eingang.

„Ich muss auch bald los“, beeilte sich Kleinert. Beide knipsten ihre E-Zigaretten aus und verschwanden Richtung Zimmer.

Michael Richter steckte die Fäuste in die Taschen seines Kaschmirmantels und wartete. Er beobachtete, wie seine französische Kollegin die Bankfiliale verließ und zögernd die Straße überquerte. Mit gesenktem Blick lief sie Richtung Hoteleingang. Sie musste auf alle Fälle an ihm vorbei.

„Nun“, er trat ihr direkt in den Weg.

„Du hier?“, entgegnete sie erstaunt. Sie blickte sich hilfesuchend um, entdeckte aber keine weiteren Kollegen.

„Was glaubst du eigentlich, was du da machst?“, knurrte Richter.

„Casse-toi! Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht“, zischte sie. Mit einer reflexartigen Geste strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Er ging nicht auf ihre Provokation ein. „Das sehe ich ein bisschen anders“, erwiderte er. „Egal wie. Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis, meine Liebe. Und ich bezweifle, dass dir klar ist, wie dünn es ist.“

4

„Großartig. Bis gleich, Bussi“, tippte Joe nach Feierabend im dm, grinste und freute sich auf Simone. Sie schob das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans und wandte sich den Duftkerzen zu, die im obersten Regalfach standen, konnte jedoch nur die in der ersten Reihe erreichen.

„Mist, kein Erdbeer-Vanille dabei!“

Mit dem Fuß schob sie die Teelichtpackungen aus dem untersten Regalfach mit dem Fuß auseinander, um es als Tritt zu benutzen. Sie stellte sich mit beiden Füßen ins Regal, hielt sich mit der linken Hand fest und hangelte mit der rechten nach den Kerzen.

Als sie nach dem zweiten Anlauf endlich die richtige Duftnote in der Hand hielt, tönte es hinter ihr „Zwerge haben`s schwer!“

Joe drehte sich um und sah einen hochgewachsenen Typen grinsend an ihr vorbeigehen. Wäre er stehengeblieben, hätte sie es als Anmache sehen und ihn so richtig abblitzen lassen können. Aber er war schon um die Ecke und der Ärger verschlug ihr die Sprache. Wütend schnappte sie sich im nächsten Regal noch eine Packung Küchenrollen und ging zur Kasse. Da stand der Typ und wollte gerade seinen Wagen ausräumen. Ohne lange nachzudenken, ging Joe an ihm vorbei, und platzierte Kerze und Küchenrollen ganz vorne auf dem Band. Sie zwinkerte der Kassiererin zu und drehte sich zu dem Typen um. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich beschweren wollte, aber Joe war schneller und sagte mit strahlendem Lächeln: „Zwerge haben Vorfahrt!“

Auf dem Parkplatz entriegelte Joe ihren Opel mit einem Hochgefühl, schwang sich auf den Sitz ihres berryfarbenen Adams und zog die Tür schwungvoll zu. Doch gleich wurde sie wieder runtergeholt, denn es knirschte.

„Himmelherrgottnochmal“, fluchte sie, öffnete die Tür einen Spalt und zog den Zipfel ihrer neuen Fleece-Jacke zu sich, an deren Ende der zertrümmerte Reißverschluss-Zipper baumelte.

Sie startete den Wagen und fädelte sich in den Feierabendverkehr ein. Immer wieder warf sie einen Blick in den Spiegel. Sie gefiel sich; was würde Simone sagen?

Zu Hause am Wasserturm angekommen schnappte sie sich die Küchenrollen und die Duftkerze. Der Tretroller des Nachbarjungen, Jasper, stand wie immer akkurat ausgerichtet an seinem Platz unter den Briefkästen. So ein intelligentes Kerlchen, schade, dass er nur spricht, wenn er will, dachte Joe.

Seit einem Jahr, als Jaspers Mutter Arbeit am Frankfurter Flughafen gefunden hatte, gingen die beiden bei Joe ein und aus und gehörten schon fast zur Familie.

Joes Blick fiel auf ihre Zeitungsrolle. Das Groß-Gerauer Echo fehlte. Auch darüber wollte sie sich nicht ärgern, heute nicht. Sie sprang die Stufen hoch.

Kaum in der Wohnung, huschten ihre Mitbewohner Chip und Chap vor ihre Füße und baten um eine Runde Kuscheln. Für die beiden Ragdoll-Katzen hatte Joe normalerweise immer Zeit. Heute nicht.

„Keine Chance, ihr Süßen!“, sagte sie. Chip und Chap trollten sich. Joe überprüfte rasch Flur und Wohnküche, fegte Brotkrümel vom Esstisch und stellte ihren Kaffeebecher in die Spülmaschine. Ihr Herz hüpfte beim Gedanken an die kommenden Stunden. Der letzte Abend dieser Art war schon länger her.

Joes Handy vibrierte. Komme in 20 Minuten. Hab Deinen Schlüssel vergessen. Lässt du mich rein? Und ein augenzwinkernder Smiley.

Joes Mundwinkel zogen sich in die Breite. Auf dem Weg zum Bad schlüpfte sie aus ihren Kleidern und stieg in die Dusche.

Vorsichtig, um ihre neue Frisur nicht zu ruinieren, brauste Joe ihre Schultern ab. Das Wasser plätscherte leise, Dampfwolken vernebelten das Bad. Vom Flur her hörte sie ein Knacken.

Joe entspannte sich. Da hörte sie wieder ein Geräusch – es klang wie ein Tappen. Sie drehte das Wasser ab und lauschte. Schon wieder, direkt vor der Badezimmertür. Das Blut schoss ihr in die Wangen. So eine Frechheit. Na warte, Freundchen! Da hast du dir genau die richtige Wohnung ausgesucht. Joe sah bereits die Schlagzeile im Echo vor sich: Einbruch bei Polizistin: Johanna K. streckt Einbrecher mustergültig nieder.

Sie spannte alle Muskeln an, griff ein Handtuch und wickelte sich hastig ein. Mit pochendem Herzen, das Tuch fest vor der Brust, stieg sie aus der Dusche, als sich die Tür langsam öffnete. Joe ließ los, das Tuch glitt zu Boden. Den linken Arm zur Abwehr vor sich, hob sie den rechten zum Schlag. Ihr Arm flog durch die Luft. Ihr Handkantenschlag ging ins Leere. Trotzdem polterte ihr Gegner zu Boden. Joe wollte ihn am Kragen packen. Als sie nach unten griff, blickte sie in Jaspers schreckgeweitete Augen.

„Ach du!“, entfuhr es ihr. „Ich dachte, es ist ein Einbrecher. Hab ich dir wehgetan?“

Er antwortete nicht. Sie griff nach Jaspers Arm, doch der Junge entzog sich und starrte sie mit offenem Mund an. Joe erinnerte sich an ihre Blöße. Hoffentlich hat er beim Anblick meiner nackten Tatsachen keinen Schaden genommen, dachte sie, packte das Duschtuch und wickelte sich ein.

„Deine Mama hat dich reingelassen.“ Der Junge blieb stumm. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie Jaspers Mutter versprochen hatte, während ihrer Spätschicht, also heute, auf den Kleinen aufzupassen.

Himmelherrgottnochmal, ausgerechnet heute. Wie konnte sie das vergessen?

Joe lotste Jasper an den Küchentisch. Wie üblich setzte sich der Junge an seinen Platz. Sie nutzte die Chance und zog sich schnell an. Wenn es um Jasper ging, war Gurkenbrot Joes Geheimwaffe. Sie wusste, er würde die Scheiben mehrmals kunstvoll auf dem Teller arrangieren und sie danach einzeln wegknabbern. So blieb ihr Zeit, Simones Lieblingsessen zu zaubern: Spinatröllchen. Für sich selbst hatte sie ein Filetsteak besorgt. Sie platzierte die Erdbeer-Vanille-Kerze als Überraschung im Bad. Eigentlich war es gar nicht so schlimm, dass Simone sich heute verspätete, denn so gegen halb neun würde Jasper schlafen gehen und dann könnten sie noch einen schönen Abend zu zweit haben. So anstrengend Jasper sonst war, beim Thema Zubettgehen brauchte er nur seine Kuscheldecke und den Sessel in Joes Arbeitszimmer.

Er half ihr wie immer den Tisch zu decken. Danach holte er sein Autoquartett und begann die Karten zu sortieren.

Es klingelte. Hallo Schatz!

„Wow! Du hast die Haare schön.“

Joe schlang Simone die Arme um den Hals, zog sich aber schnell wieder zurück. „Puh, du riechst nach Pferd …“

„Naja, kein Wunder, ich musste das halbe Gestüt verarzten, irgend so ein komischer Ausschlag, hoffentlich breitet sich das nicht noch mehr aus, die Salbe ist echt schwer zu kriegen.“

Joe schüttelte sich bei dem Gedanken an Pferde voller Pusteln. Simone schnupperte in Richtung Küche: „Sag mal, hast du was gekocht? Ich sterbe vor Hunger …“ Sie winkte Jasper zu, der kurz aufschaute und sich wieder seinen Karten zuwandte.

„Überraschung Liebes, es gibt Spinatröllchen! Aber mit meinem Steak bin ich noch nicht ganz fertig. Du kannst ruhig noch duschen gehen.“ Eigentlich stimmte das nicht, aber so sehr Joe Simone auch liebte, mit ihrem Beruf hatte sie so ihre Probleme: wie sie manchmal roch! Erleichtert atmete sie auf, als sich Simone tatsächlich in Richtung Bad bewegte. Aber kaum war sie hinter der Tür verschwunden, schoss sie schon wieder heraus und hüllte Joe erneut in eine Pferdeduftwolke ein: „Die Kerze – wie gut das riecht!“

Endlich, nach einer Viertelstunde, saßen sie zusammen am Tisch und genossen das Abendessen. „Wie ist dein Vortrag gelaufen?“

„Ach, nichts Besonderes. Ich musste nur danach noch eine sportliche Einlage hinlegen. Da stand doch glatt ein Typ mit einem Schild im Adler-Foyer. Ein-Mann-Demo! Als sie ihn rausschmeißen wollten, ist er erst zickig geworden und dann hat er einfach sein Schild fallen lassen und ist weggerannt. Ich hinterher, konnte ihn aber nicht schnappen.“ Joe schüttelte den Kopf. „Er hat irgendwas von Landraub in Groß-Gerau gefaselt. Ich hab nicht verstanden, was er damit gemeint hat.“

„Mmmh, da geht´s wohl um die Baupläne von diesem amerikanischen Elektroautobauer. Der Rasende Roland hat im Echo schon was drüber geschrieben“, entgegnete Simone. „Die planen eine neue Fertigung in Europa und man munkelt, sie werden von Groß-Gerau hofiert. Die Stadt sucht händeringend nach Quellen für Gewerbesteuern. Die üblichen Totschlagargumente, Arbeitsplätze, Ausbau der Infrastruktur et cetera. Ich finde das auch nicht toll.“

„Gerade du müsstest doch für Elektroautos sein. Du würdest doch am liebsten mit einem Pferd durch die Stadt reiten.“

„Und du nimmst das Autos sogar zum Brötchen holen.“

In diesem Moment hielt Jasper Simone eine Karte aus seinem Quartettspiel vor die Nase. „Das ist ein Alva 1.1.“

Verblüfft schauten beide ihn an. „Du hast ja wieder gut zugehört.“ Sie nahm die Karte und betrachtete sie nachdenklich.

„Noch ist nichts spruchreif, aber du weißt ja, wie die Leute sind. Wenn sie jetzt schon im Adler stehen, formiert sich erster Widerstand. Es gibt hier so viele unterschiedliche Interessengruppen. Hoffentlich eskaliert das nicht!“

5

Jeanne Cassels Blick glitt suchend über die Köpfe der Barbesucher.

Die moderne Bar im Hotel Adler war gut besetzt. Dunkles Mahagoni und Stein in angenehmes Licht getaucht. Die langsam wechselnden Farben schufen auf den Klinkersteinen eine Illusion von Mondlicht auf dem Meer. Mehrere anerkennende Blicke einer Männergruppe am Tresen fielen auf Jeanne. Sie trug ihr schwarzes Kleid so natürlich wie eine zweite Haut. Für einen Moment sank der Geräuschpegel und im Hintergrund war Dave Stewarts „Lilly was here“ zu hören.

Jeanne gratulierte sich innerlich. Die Investition in dieses Kleid hatte sich gelohnt.

Hilfreich unterstützten gut zehn Zentimeter High Heels ihren ohnehin großen schlanken Körper bei der Suche. Ein erkennendes Lächeln und Jeanne bewegte sich geschmeidig in den hinteren Bereich der Bar. Dabei strich sie sich verführerisch über ihre langen dunkelbraunen Haare. An einem Bistrotisch wurde sie von einem großen dunkelhaarigen Mann begrüßt. Sein maßgeschneiderter Anzug betonte seine stattliche Erscheinung.

„Endlich, meine Liebe!“

Maxims Arme umschlangen ihre Schultern. Es war ein gutes Gefühl, sich an seine muskulöse Brust zu schmiegen. Sein Duft nach Zedernholz und Limette weckte Verlangen in ihr.

Maxim neigte den Kopf und küsste sie sanft. Seine tiefblauen Augen musterten sie begeistert. „Du siehst bezaubernd aus.“

„Merci, mon cher“, erwiderte Jeanne.

„Nimm Platz, Honey.“ Maxim deutete auf das halbrunde Clubsofa. „Ich habe mir erlaubt, dir etwas zu trinken zu bestellen.“ Maxims Gesichtsausdruck verriet gespannte Erwartung. Flüssiger Rubin schimmerte in zwei bauchigen Gläsern. „Auf uns!“ Das dünne Glas entließ beim Anstoßen einen wundervollen, tiefen Ton.

Jeanne fixierte Maxims Blick und führte das Glas an ihre Lippen. Mit dem ersten Schluck kamen die Erinnerungen wie ein Film. Reife, volle Beeren. Genf im Frühling, Morgensonne auf zerwühlten Laken. Maxim nur mit einem Handtuch um die schmalen Hüften und nassem Haar. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper.

Dieser Mann kann sich an den Wein erinnern, den ich liebe! Mon Dieu, wo soll das nur hinführen? Maxim hat in Kalifornien seine Familie! In Genf schien alles noch so einfach, eine kleine Affäre, um einen Job im Marketing bei Alva zu bekommen. Ich fasse es nicht! Habe ich mich etwa in diesen Guy verliebt? Das war nicht der Plan … Ja, dann: Vive l‘amour.

Seine Hand umfasste ihre Wange und ein weiteres Mal spürte sie seine vollen Lippen. Sanft streichelte seine Zunge ihren Mund und Jeanne öffnete ihn, ließ ihn nur zu gerne gewähren.

Jeanne berührte ihre Lippen mit den Fingern, wie um seinen Kuss zu halten, bevor er verflog.

„Du bist aufmerksam, du bist romantisch, Maxim, bist du dir sicher, dass du aus Kalifornien kommst?“ Jeanne strahlte.

„Nicht jeder Amerikaner ist oberflächlich. Wie du siehst, verstehen wir auch etwas von Wein – zumindest wir in Kalifornien.“ Maxim grinste frech. „Ich bin glücklich, dich zu sehen. Glücklich, dich spüren zu dürfen. Die Zeit nach dem Genfer Salon bis heute erschien mir ewig.“

„Mir auch“, erwiderte Jeanne.

„Ich bedaure es sehr, dass uns der Atlantik trennt“, beklagte sich Maxim.

„Das muss nicht ewig so bleiben.“

„Ich bin verheiratet, Jeanne“, erinnerte Maxim sie. „Haben wir das nicht schon in Genf geklärt?“

Sie sah für einen Moment betroffen drein, als ihr Glück, ihn wiederzusehen, von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Maxims Familie war so weit weg, dass sie für sie gar nicht existierte. Für sie zählte nur seine Gegenwart. Sie so aus ihrer Seligkeit zu reißen, war unfair. Doch davon wollte sie sich nicht den Abend verderben lassen.

Jeanne nahm sich zusammen: „Wie sieht es aus, mon cher, hast du im Anschluss ein paar Tage Zeit, um mit mir gemeinsam wegzufahren? Oder werdet ihr Typen von Alva nur einfach aufgeladen und optimiert weiter den Umsatz?“

Maxim unterdrückte ein Lachen bei ihrer Frage. „Mach nur deine Witze … Aber bei Alva tut sich was. Wenn die Gespräche positiv verlaufen, werde ich schon nächstes Jahr sehr, sehr viel Zeit in Europa verbringen.“

„Erzähl mir mehr!“, forderte Jeanne.

Maxim vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass keine ungebetenen Zuhörer in der Nähe waren. Er neigte sich zu ihr. „Alva wird europäisch. Wir erhöhen die Akzeptanz unserer Elektroautos, indem wir hier in Deutschland produzieren. ‚Made in Germany‘ ist wieder im Trend. Alva ist Marktführer und hat klar die besten Produkte auf dem Markt, aber um hier in Europa Marktanteile zu gewinnen, gehen wir einen neuen Weg.“

„Klingt spannend. Und wie soll der neue Weg aussehen?“, fragte Jeanne.

„Keine Konkurrenz aus Asien oder USA. Wir werden künftig hier, genau hier vor den Toren Groß-Geraus produzieren. Wir werden französisch, spanisch und deutsch. Und da kommst du ins Spiel: Wir bauen eine europäische Marketingabteilung auf. Wie sieht es aus – bist du an dem Job als Leiterin dieses Bereiches interessiert?“

Jeanne betrachtete Maxim fasziniert, sein offenes weißes Hemd ließ ein paar seiner Brusthaare sehen und brachte seine gebräunte Haut besonders gut zur Geltung; er sah einfach verdammt gut aus … Keine Unsicherheit, klares Statement, Charisma. Sicher sehr überzeugend in Verhandlungen. Diese Mischung aus äußerer Attraktivität und souveränem Auftreten war es gewesen, die sie bereits in Genf ein Auge auf ihn hatte werfen lassen. Gewiss, am Anfang war es Kalkül gewesen, sich mit ihm einzulassen, aber jetzt …

Sie fasste Maxims Hand. „Du hast schon in Genf diese Andeutungen gemacht, und ich danke dir für dein Vertrauen. Aber eigentlich wollte ich mehr von deinen Plänen hören.“ Ihre Augen suchten seine.

Maxim drückte beruhigend ihre Hand. Sein Daumen rieb zärtlich über ihren Handrücken. „Sag mal, kennst du jemanden von den Typen, die da an der Bar hocken?“

Jeannes Augenbrauen hoben sich fragend. Langsam, wie zufällig, ließ sie ihren Blick über den Eingangsbereich mit seinen hinterleuchteten Bildern und den Gästen am Tresen gleiten. „Einige hab ich bereits auf der Messe gesehen. Opel glaub ich. Warum fragst du?“

„Nur so ein Gefühl … egal.“ Wieder zeichnete sein Daumen kleine Kreise sanft auf ihrem Handrücken. „Um auf deine Frage zurückzukommen: Nach der IAA werde ich hier in Groß-Gerau an Gesprächen teilnehmen. Ich denke, dass wir noch diesen Monat zu einem Abschluss kommen. Danach könnte ich mich für eine Weile freimachen. Wird mein wunderbarer französischer Engel solange auf mich warten können?“

Jeannes Herz klopfte bei Maxims Worten. „Was glaubst du, wie lange es dein französischer Engel noch aushält, ohne dich spüren zu dürfen?“, flüsterte sie.