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Über dieses E-Book

England, 1290: Als die junge Rachel de Anjou mit ihrer Familie aus London verbannt wird, bricht es ihrer besten Freundin Isabel de Burke das Herz. Jedoch hat sie kaum Zeit für ihren Kummer, denn als sie überraschend an den englischen Hof gerufen wird, sieht sie sich mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Sie gerät in ein Spiel aus Verführung und Intrigen – und plötzlich muss die junge Frau um ihr Leben fürchten. Nur der Schotte Rory MacGannon steht ihr zur Seite und kann ihr zur Flucht verhelfen. Unterdessen lässt sich Rachel in der ruhigen schottischen Stadt Berwick nieder. Dort lernt sie den attraktiven Kieran MacGannon kennen und trifft schließlich sogar Isabel wieder. Endlich scheint die Welt der beiden Freundinnen in Ordnung zu sein. Doch der Friede hält nicht lange an, denn ein Kampf um die schottische Krone bricht aus und die jungen Frauen befinden sich zwischen den Fronten ...

Impressum

dp Verlag

Erstausgabe 2006
Überarbeitete Neuausgabe März 2019

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-651-9
Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-772-4

Copyright © 2006 by Pocket Books, a division of Simon & Schuster Inc., New York
Titel des englischen Originals: Rivals for the Crown

Copyright © September 2008, Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits September 2008 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München erschienenen Titels Das Herz der Highlands (ISBN: 978-3-442-36818-1).

Übersetzt von: Katharina Volk
Covergestaltung: Cover Up Buchcoverdesign
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © David Ryznar, © Shunevych Serhii, © Ironika
Korrektorat: Susanne Meier

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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dp Verlag

Liste der wichtigsten Personen

In England

Isabel de Burke – Urenkelin eines Königs, Hofdame von Königin Eleanor von England

Isabels Großmutter – uneheliche Tochter eines Königs

Rachel de Anjou – Isabels beste Freundin

Sarah de Anjou – Rachels Schwester

Jacob de Anjou – Rachels Vater

Edward Plantagenet – König von England, auch bekannt als Longshanks („Langschenkel“) oder Edward von England

Eleanor Plantagenet – Königin von England

Walter Langton – Bischof und Kämmerer, später Lordschatzmeister

Alis de Braun – Hofdame von Königin Eleanor

Lady Dickleburough – Hofdame von Königin Eleanor

Henry de Boyer – Ritter im Gefolge König Edwards

 

In Schottland

Margaret MacDonald MacMagnus – Lady of Loch Gannon, verheiratet mit Gannon MacMagnus

Gannon MacMagnus – halb Ire, halb Nordmann, Krieger, Clanoberhaupt und Laird of Loch Gannon, verheiratet mit Margaret

Rory MacGannon – jüngerer Sohn von Margaret und

Gannon Magnus MacGannon – älterer Sohn von Margaret und Gannon

Drason Anderson – Nordmann von Orkney, ein Freund von Margaret und Gannon

Nell Crawford – Margarets Schwester, verheiratet mit Liam Crawford

Liam Crawford – Nells Ehemann, Neffe von Ranald

Crawford und Cousin von William Wallace

William Wallace – Liams Cousin, der zum Wächter von Schottland und Anführer der schottischen Armee ernannt werden soll

Ranald Crawford – Onkel von Liam und William, Sheriff von Ayr

Davey MacDonald – jüngerer Bruder von Margaret und Nell

Kieran MacDonald – Daveys ältester Sohn, Rorys Cousin 

Edgar Keith – jüngerer Sohn eines Wollhändlers

Robert Bruce der Jüngere – Enkel von Robert, der Anspruch auf den Thron von Schottland erhob, später Robert I. von Schottland

Erster Teil

The holly and the ivy
Are plants that are well known
Of all the trees trat grow in the woods
The holly bears the crown.
Stechpalme und Efeu Sind wohlbekannte Pflanzen
Von allen Bäumen in den Wäldern Trägt die Stechpalme die Krone.

Traditionelles englisches Volkslied

Prolog

London

Juli 1290

»Rachel! Rachel, wach auf!«

Anfangs fügte sich Sarahs Flüstern in ihren Traum ein. Rachel wandte sich von der Angst in der Stimme ihrer Schwester ab. Sie hatte vom Winter geträumt, von Schnee, der sacht aus einem hellen Himmel fiel. Sie und Sarah hatten als kleine Mädchen darin getanzt und lachend die Flocken mit ihren kleinen Händen aufgefangen. Dann war ein gequälter Schrei aus Sarahs Mund gedrungen, der Himmel hatte sich verdunkelt, und der Schnee war zu Regen geworden. Rachel kletterte mühsam zurück in die Welt. Ihr Geist sträubte sich dagegen, denn was auch immer Sarah Angst gemacht hatte, würde auch sie ängstigen.

»Wach auf!« Sarah rüttelte Rachel an der Schulter.

Rachel schlug die Augen auf. Es war noch dunkel. Und obgleich Sommer war, lag ein kalter Hauch in der Luft. Draußen trommelte der Regen auf das Dach unmittelbar über ihren Köpfen, und die Fensterläden klapperten, wenn der Wind sie gegen die hölzernen Fensterrahmen schlug. Jetzt hörte sie es auch – ein schreckliches Hämmern an der Tür und laute, zornige Männerstimmen.

»Sie sind hier«, flüsterte Sarah.

Rachel richtete sich auf, mit einem Schlag hellwach. Sie wusste, wen Sarah meinte: Die Männer des Königs waren gekommen, um sie aus ihrem Haus zu vertreiben. Eben das, was Mama vorhergesagt hatte, war eingetreten. Und Mama hatte Vorbereitungen getroffen. Papa, stets zuversichtlich, hatte behauptet, ihre Familie würde von alledem unberührt bleiben, ganz gleich, was in König Edwards Edikt stand.

Sie konnte die Stimme ihres Vaters aus dem Schlafgemach der Eltern unter ihnen hören. Das Hämmern an der Tür brach ab. Der Regen war zu laut, als dass sie die Worte hätte verstehen können, doch Papa sprach einige Augenblicke, ehe hastige Schritte auf der Treppe seine Stimme übertönten. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer wurde aufgestoßen, und Mama eilte herein.

»Zieht euch an, Mädchen«, sagte sie beinahe flüsternd, noch damit beschäftigt, ihre eigenen Gewänder zu schließen. »Denkt an die Bündel unter euren Kleidern. Sagt nichts. Ganz gleich, was geschieht, widersprecht den Männern nicht. Und falls … falls es zu Gewalttätigkeiten kommen sollte … lauft weg. Denkt an den Plan.«

Sarah nickte. Sie war bereits aus dem Bett gesprungen und zog mehrere Röcke über das Hemd, in dem sie geschlafen hatte.

»Mama«, sagte Rachel, doch ihre Mutter schüttelte hektisch den Kopf.

»Zieh dich an. Kein Wort mehr. Los doch, Rachel! Bitte widersprich mir dieses eine Mal in deinem Leben nicht. Tu einfach, was ich dir sage.« Damit war sie verschwunden.

Die nächsten Augenblicke verschwammen in Hast, als sich Rachel und Sarah anzogen und die vorbereiteten Bündel unter ihre Kleider stopften; sie banden einander kleine Säckchen um die Knie, wo sie unter ihren Röcken verborgen sein würden. Die Bündel, die sie sichtbar bei sich tragen würden, enthielten nur Kleidung und ein paar kleine Schätze, die niemanden verwundern würden: Bänder für ihr Haar, einen Glücksstein, einen Spitzenkragen, eine Umhangfibel. Nichts, was Verdacht erregen könnte. Man hatte sie gut unterwiesen. Doch Rachel hatte nicht geglaubt, dass es je so weit kommen würde. Trotz all ihrer Vorbereitungen, trotz Mamas Anweisungen und Ermahnungen, hatte Rachel nicht geglaubt, dass sie tatsächlich würden gehen müssen.

König Edward hatte am 18. Juli sein Edikt verkündet, mit dem er alle sechzehntausend Juden, die in England lebten, aus seinem Königreich auswies. Binnen weniger Tage hatten sich die Straßen Londons mit jenen gefüllt, die den Exodus anführten. Manche hatten einfach alles zurückgelassen, was sie nicht tragen konnten, und ihre Häuser und Läden so verlassen, wie sie waren. Andere hatten versucht, ihre Geschäfte und Wohnhäuser zu verkaufen, und einige hatten auch einen fairen Preis bekommen, die meisten hatten sich jedoch mit einem Bruchteil des Wertes abspeisen lassen. Sie zerstreuten sich in alle Winde, kleine Stadtviertel und Familien wurden auseinandergerissen, vielleicht für immer.

Viele Juden hatten aber auch erklärt, dass sie nicht fortziehen würden, weil König Edward in der Vergangenheit als ihr Beschützer aufgetreten war. Hatte er sie nicht erst vor wenigen Jahren hinter den Mauern des Tower of London in Sicherheit gebracht und beschützt? Er würde sie jetzt nicht im Stich lassen. Das Ausweisungsedikt, hatten sie behauptet, sollte nur die Gemüter derjenigen besänftigen, die die Stimme gegen die Juden erhoben hatten – ein politisches Manöver Edwards. Weiter nichts. Doch andere erinnerten sich noch an damals, als Edward die Geldverleiher im Tower eingekerkert hatte. Hunderte waren gestorben.

Zunächst hatte man die Juden nicht massenweise zusammengetrieben, und niemand hatte jene massakriert, die nicht auf der Stelle fortgezogen waren. Doch manche hatte es härter getroffen als die meisten anderen. Mehrere Familien waren bereits mitten in der Nacht aus den Betten gerissen, aus ihren Häusern geworfen und zum Stadttor eskortiert worden; man hatte sie aus der Stadt gejagt und sich selbst überlassen. Diese Vorfälle schienen keinem bestimmten Muster zu folgen, doch seit beinahe zwei Wochen geschah so etwas täglich. Und nun, am 30. Juli, waren sie an der Reihe. Ihr Vater war so sicher gewesen, dass man sie verschonen würde.

Dies hier ist nicht wirklich. Ich bin in einem Traum, und wenn ich aufwache, tanze ich mit Sarah in einem Schneesturm. Dies hier ist nicht wirklich.

»Beeile dich!«, sagte Sarah. »Schneller! Ich kann sie schon auf der Treppe hören.«

Sie waren kaum fertig angekleidet, als der erste Soldat vor ihrem Schlafgemach erschien. Er war älter, und sein grau meliertes Haar ringelte sich störrisch unter dem Helm der königlichen Wache hervor. Er salutierte.

»Meine Damen. Man hat Euch bis Tagesanbruch Zeit gewährt, Eure Habseligkeiten zu packen.« Er blickte auf das dunkle Fenster. »Nicht mehr lange.«

»Und wenn wir bis dahin nicht reisefertig sind?«, fragte Rachel.

»Rachel!«, rief Sarah.

»Mein Befehl lautet, dafür zu sorgen, dass Ihr die Stadt verlasst. Wenn Ihr weiterleben wollt …« Er zuckte mit den Schultern, als sei ihm das völlig gleichgültig.

Rachel nickte knapp. Von diesem Mann konnten sie keinerlei Gnade, keinen kleinen Akt der Güte erwarten. Er beobachtete mit steinerner Miene, wie sie das Bett abzogen und die Laken verknoteten. Sarah, den Kopf noch über das Bündel Leinen gebeugt, griff nach ihrem Ränzel. Sie hielt den Blick gesenkt, schob sich an dem Mann vorbei und lief die Treppe hinunter.

Rachel ließ ein letztes Mal den Blick durch den Raum schweifen, in dem sie ihr Leben lang geschlafen hatte – über die leere Bettstatt, deren Matratze in den Seilen durchhing, über die leeren Haken an der hölzernen Wand, an der ihre Kleider gehangen hatten. Über den schmiedeeisernen Kerzenständer auf dem Tischchen in der Ecke, mit der einen kostbaren Kerze darin, die ihnen an Winterabenden erlaubt war. Sie griff nach dem Kerzenhalter und hörte, wie sich der Mann von der Wache räusperte. Sie blickte über die Schulter zurück. Er fing ihren Blick auf und schüttelte den Kopf. Sie zog die Hand zurück, als würde sie der Kerzenständer verbrennen, und spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Einen verrückten Augenblick lang wollte sie ihn anschreien, wie erbärmlich es sei, dass er ihr ein so kleines Ding wie diesen Kerzenständer wegnahm, da er ihr doch schon ihr Zuhause und ihre Vergangenheit entriss, doch sie blieb still und lief ihrer Schwester nach.

Unten packte ihr Vater seine Bücher in eine Tasche aus Öltuch, darunter seinen Sidúr, das Gebetbuch, und den Tanach, das Alte Testament, das sein Großvater ihm geschenkt hatte. Die Menora und der Talít, der Gebetsmantel, den er am Sabbat brauchte, lagen schon in einem Holzkästchen zu seinen Füßen. Draußen hörte sie das Rattern des Karrens, den ihre Mutter bereits bestellt hatte, nur für alle Fälle. Sie konnte Tränen in den Augen ihres Vaters erkennen, während er emsig packte, doch er sah sie nicht an. Auch die beiden jüngeren königlichen Wachen, nur wenig älter als sie und Sarah, wichen ihrem Blick aus. Einer bedeutete ihr, ins Hinterzimmer zu gehen, auch das, ohne sie anzusehen. Rachel blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Er wollte, dass sie in das dunkle Hinterzimmer ging. Mit ihm. Allein. Sie spürte eine Hand auf der Schulter, drehte sich um und blickte in die Augen ihrer Mutter, in denen gut verborgener Zorn glomm.

»Der Karren ist hier«, sagte Mama leise, in einem zaghaften, bescheidenen Tonfall, den Rachel noch nie von ihr gehört hatte. »Dürfen wir ihn bitte beladen?«

Der Soldat musste genickt haben, denn Mama hob eine Kiste hoch und trug sie zur Haustür hinaus. Rachel tat es ihr gleich und war froh, nach draußen zu kommen, wo sich der Regen zu einem leichten Nieseln abgeschwächt hatte. Der Fuhrmann hielt sie mit erhobener Hand zurück. »Erst wird bezahlt«, knurrte er.

»Wir werden Euch bezahlen, sobald wir sicher aus der Stadt gelangt sind«, sagte Mama. »So war es vereinbart.«

Der Fuhrmann lachte kehlig. »Dann tragt Eure Kisten selber, Madam. Ihr habt ja noch bis Tagesanbruch Zeit.«

Ihre Mutter straffte die Schultern, gab jedoch mit einem Nicken nach und reichte dem Mann die Münzen aus ihrer Rocktasche. Er schüttelte den Kopf und nannte einen exorbitanten Preis.

»Das entspricht nicht unserer Abmachung!«, sagte Mama, die nun ein wenig ängstlich klang.

»Tagesanbruch«, wiederholte der Fuhrmann. »Überlegt es Euch.«

»Wir nehmen den Karren«, sagte Jacob de Anjou und beugte sich an Mama vorbei, um dem Mann das restliche Geld zu geben. Der Fuhrmann überprüfte jede Münze mit einem kräftigen Biss und brummte dann.

»Aufladen müsst Ihr schon selber. Nur zwei fahren mit. Die anderen laufen.«

Sie brauchten keine Stunde, um alles aufzuladen. Sarah und ihre Mutter fuhren hinten auf dem Karren mit, und sie machten sich auf den Weg durch die feuchten Straßen. Als der Himmel heller wurde, konnte Rachel die Angst in den Gesichtern ihrer Eltern deutlich erkennen. Der Tag war beinahe angebrochen, und sie mussten noch einen weiten Weg innerhalb der Stadt zurücklegen.

Sie hatte sich nicht nach ihrem Haus umgeblickt, denn sie wollte nicht einmal insgeheim daran denken, dass sie vielleicht nie hierher zurückkehren würde. Sie hatte die wenigen Gesichter hinter den Fenstern über der Straße nicht zur Kenntnis genommen, als sie das Haus verlassen hatten. Sie hatte diese Menschen seit ihrer Kindheit gekannt, doch keiner von ihnen hatte ihnen beigestanden, niemand hatte auch nur Bestürzung kundgetan. Niemand hatte ein Wort zu ihnen gesprochen, nicht einmal Lebewohl. Es war, als hätte sie diese Menschen nie gekannt.

Ihre Familie hatte viel zurückgelassen – sämtliche Möbel, bis auf ein paar Hocker –, aber sie hatten die Bücher ihres Vaters, den kostbaren Servierteller ihrer Mutter, die kleine Aussteuertruhe ihrer Schwester und drei weitere Truhen voll Habseligkeiten. Ihre Mutter hatte sich seufzend in der Küche umgeblickt und ein letztes Mal den Tisch getätschelt, an dem sie Tag für Tag gearbeitet hatte. Rachel hatte sich von diesem Anblick abgewandt, denn der Zorn drohte sie zu überwältigen. Was hatten sie und ihre Familie getan, dass sie so etwas verdienten? Sie waren gute Bürger Londons gewesen, gute Untertanen des Königs. Ihre Gebräuche und ihr Glauben mochten sich von jenen der Christen unterscheiden, doch sie beteten zu demselben väterlichen Gott, gehorchten denselben Gesetzen. Welche Sünden sollten sie an dieser Gesellschaft begangen haben, dass sie nun zu Ausgestoßenen wurden?

Und was würde aus jenen Juden werden, die allen Warnungen zum Trotz in der Stadt blieben, denjenigen, die sie nun beobachteten – würden sie für diese Entscheidung teuer bezahlen? Würden die Soldaten wahrhaftig all jene töten, die zurückblieben? Sie wollte nicht daran denken, wollte sich ihre Namen nicht ins Gedächtnis rufen. Sie wollte nicht an den Jungen denken, der versprochen hatte, um sie zu werben, wenn sie älter waren – auch er hatte schweigend zugesehen, als sie mit ihrer Familie aufgebrochen war. Sie wollte nicht an Isabel denken, ihre liebste Freundin, die nie erfahren würde, was aus ihnen geworden war – die nur wissen würde, dass Rachel sie ohne ein Wort des Abschieds verlassen hatte.

Es wurde heller, und es hatte aufgehört zu regnen. Doch noch immer befanden sie sich in London. Weitere jüdische Familien waren auf dem Weg aus der Stadt, Menschen mit Bündeln und Babys in den Armen eilten der Stadtmauer zu. Karren wie der ihre bedrängten einander um bessere Plätze in der Schlange, die sich vor dem Aldgate gebildet hatte. Ihr Fuhrmann fluchte und trieb sein Pferd mit der Peitsche auf das Tor zu. Rachel und ihr Vater hielten sich mit einer Hand am Wagen fest, beunruhigt von dem Gedränge um sie her und der Angst, die plötzlich in der Luft lag.

Von oben bewarfen Jungen sie mit verfaultem Obst, doch niemand beklagte sich. Alle dachten nur an den bevorstehenden Sonnenaufgang und die Schlange, die sich nur langsam durch das Tor nach draußen wälzte. Und dann wurde ihre Mutter mit Kot beworfen, und ein dunkler Fleck breitete sich an der Schulter ihres Kleides aus. Ihr Vater wirbelte herum, das Gesicht vor Zorn verzerrt.

»Nein!«, rief Mama. »Jacob, nein! Achte gar nicht darauf.«

Jacob wurde als Nächster getroffen, und sein Gesicht verfärbte sich scharlachrot. »Ist es nicht genug, dass wir aus unseren eigenen Häusern vertrieben werden? Ist es nicht genug, dass wir wie Vieh durch die Straßen gejagt werden? Müssen wir auch noch diese Demütigung hinnehmen? Das ist mehr, als ich ertragen kann!«

Ihre Mutter packte ihn am Arm. »Jacob, sei vernünftig! Sie sind gar nichts, diese Jungen, die uns mit Mist bewerfen. Sie wollen, dass du zornig wirst. Sie wollen, dass du ihnen nachläufst, um sie zur Rede zu stellen. Und was dann? Wir wären bei Tagesanbruch immer noch hier. Und was wird dann mit dir, mit uns geschehen? Achte nicht auf sie. Sie sind nichts. Dies hier ist nichts. Wir werden diesen Tag überleben.«

Sie starrten einander in die Augen. Und dann nickte Jacob. Plötzlich brach hinter ihnen ein kleiner Aufruhr aus, und eine Truppe der königlichen Kavallerie sprengte durch die Menge. In einer prunkvollen Zurschaustellung von Waffen und Rüstungen bildeten sie eine Gasse vor dem Tor, und die Atemwolken der Pferde wirkten in der ungewöhnlich kühlen Morgenluft wie Rauch von kleinen Höllenfeuern. Rachel blickte den Männern des Königs ins Gesicht, sah in den Himmel und beobachtete die Blicke, die die Reiter wechselten. Würden die Soldaten Befehl erhalten, über jene herzufallen, die bei Sonnenaufgang noch in London waren? Sie begann für ihre Familie und für die vielen Menschen hinter ihnen zu beten. Noch zehn vor ihnen in der Schlange, dann sechs.

Und dann hörte sie Isabels Stimme.

»Rachel! Rachel!«

Nur Isabel de Burke war tapfer genug, sich diesem Irrsinn zu stellen, dachte Rachel und schöpfte ein wenig Mut. Ein Mensch in ganz London scherte sich noch darum, ob sie lebte oder starb.

»Isabel!«, rief sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Freundin zu entdecken. »Isabel!«

Die Schlange rückte weiter, und Jacob packte sie am Arm.

»Nicht stehen bleiben, Rachel.«

»Aber Papa, Isabel ist hier! Woher kann sie das wissen?«

»Sie lebt bei Hofe«, sagte er. »Dort wissen es wohl alle.«

»Rachel!« Isabels Stimme klang nun lauter.

Eine schlanke Hand mit langen Fingern winkte verzweifelt über das Gedränge hinweg, und endlich entdeckte Rachel ihre Freundin. Isabels hellbraunes Haar war zerzaust und fiel ihr offen über die Schultern, als habe sie sich eben hastig aus dem Bett erhoben. Sie war wie eine Dienstmagd gekleidet, einfach und trist, doch die Verkleidung war wenig überzeugend. Dienstmägde hatten nicht so feine Gesichtszüge und strahlten keine so seltene Schönheit aus. Rachel stiegen Tränen der Dankbarkeit in die Augen, weil ihre Freundin nach ihr gesucht hatte.

»Hier! Isabel, hier bin ich!«

»Dafür haben wir keine Zeit, Rachel!«, schalt Jacob. Rachel blieb stehen, wo sie war, und winkte mit dem hochgereckten Arm. Die Gruppe vor ihrer Familie verhandelte mit den Torwächtern, und nun wurde ihr klar, warum sie so lange warten mussten. Die Neuigkeit verbreitete sich unter den Wartenden hinter ihr, und sie konnte die Wut und Angst der Leute beinahe riechen. Die Männer des Königs ließen ihre Pferde auf dem Boden scharren, als warteten sie ungeduldig darauf, sich an die Arbeit zu machen.

»Ich dachte schon, ich würde euch nie finden!« Isabel schob sich durch die Menge und umarmte Rachel.

»Ich konnte dir keine Nachricht mehr schicken! Soldaten kamen und –«

»Ich habe gehört, was vor sich ging, und bin zu eurem Haus gelaufen«, erklärte Isabel keuchend, »aber ihr wart nicht mehr da. Ach, Rachel! Wo wollt ihr hin? Sir, wohin werdet Ihr Euch wenden?«

Jacobs Miene wurde weicher. »Ich weiß es nicht, Isabel. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Ich hätte nie gedacht, dass der König sein Edikt mit Gewalt durchsetzen würde!« Isabels Augen waren vor Sorge weit aufgerissen. »Ihr habt im ganzen Land kein sicheres Geleit mehr. Ihr steht unter keinerlei Schutz! Die Reise wird gefährlich sein. Ihr wisst ja, wie gefahrvoll die Straßen ohnehin schon sind!«

»Uns bleibt keine andere Wahl«, entgegnete Jacob.

»Ich wünschte, ich hätte wenigstens Geld oder die Macht, euch Männer mitzugeben! Gebt acht, gebt gut auf euch acht!« Isabel weinte und drückte Rachel fest an sich. »Ich kann es nicht ertragen! Es wird unendlich lange dauern, bis wir uns wiedersehen!«

»Isabel, wir werden einander niemals wiedersehen!«

»Nein, nein, das darfst du nicht sagen!«, rief Isabel. »Wir werden uns wiedersehen. Du musst daran glauben! Wir müssen beide fest daran glauben! Wir werden auf ewig Freundinnen sein. Nichts, nicht einmal dies hier, wird etwas daran ändern!«

»Rachel, komm!«, sagte Jacob, als sie an der Reihe waren, das Tor zu passieren. Er reichte dem Torwächter einige Münzen und drehte sich zu Rachel um. »Lebt wohl, Isabel. Ich danke Euch dafür, dass Ihr meiner Tochter eine Freundin wart. Komm.«

Rachel riss sich aus Isabels Umarmung los. Beide Mädchen schluchzten.

»Sichere Reise, liebste Freundin«, sagte Isabel. »Rachel, o lieber Gott, beschütze sie! Ich werde jeden Tag für dich beten! Für euch alle!«

»Und ich für dich, Isabel! Ich werde an dich denken, in deinem neuen Leben bei Hofe!«

»Rachel, nun komm!«

Rachel trat mit ihrer Familie durch das Stadttor. Sie drehte sich nach Isabel um, konnte sie aber nicht mehr sehen, denn hinter ihnen drängte sich eine verzweifelte Menschenmenge zu dem Tor. Die Strahlen der Sonne trafen die Dächer Londons, und ihr Vater wandte sich von dem Anblick ab und scheuchte sie hinter dem Karren her die Straße entlang. Ihre Tränen, die Isabels Erscheinen zum Fließen gebracht hatte, wollten nicht mehr versiegen.

»Rachel«, sagte Jacob tröstend, »wir haben London rechtzeitig verlassen, und es liegt noch viel vor uns. Trockne deine Tränen. Wir werden uns gemeinsam der Zukunft stellen.«

Rachel schniefte. Nun lagen die Gefahren der Straße vor ihnen. Sie schlang die Arme um sich und starrte auf den Fleck an der Schulter ihrer Mutter. Ein Teil von ihr würde sich niemals wieder sicher fühlen, nirgendwo.