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Alain Mabanckou

Petit Piment

Roman

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Petit Piment« bei Éditions du Seuil, Paris.

© Éditions du Seuil 2015

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Pascal Deloche / Getty Images

Umschlaggestaltung: Sieveking · Agentur, München

eISBN 978-3-95438-113-5

Zum Gedenken an die Herumtreiber von der Côte
Sauvage, die mir während meines Aufenthalts in
Pointe-Noire einige Kapitel aus ihrem Leben
erzählten, und vor allem an »Petit Piment«, dem
viel daran lag, eine Romanfigur zu werden, weil
er genug davon hatte, im wirklichen Leben
eine zu sein …

A. M.

Inhalt

Loango

Pointe-Noire

Der Marokkaner

Loango

Loango

Alles begann zu der Zeit, als ich alt genug war, den Namen zu hinterfragen, den Papa Moupelo, der Priester im Waisenhaus von Loango, mir gegeben hatte: Tokumisa Nzambe po Mose yamoyindo abotami namboka ya Bakoko. Dieser lange Familienname bedeutet in Lingala: »Wir wollen Gott dafür danken, dass der schwarze Moses im Land seiner Vorfahren geboren wurde«, und er ist noch immer auf meiner Geburtsurkunde eingemeißelt …

Papa Moupelo war anders als die anderen, zweifellos eine der Persönlichkeiten, die mich während meiner Jahre in diesem Waisenhaus am meisten geprägt haben. Er war sehr klein, ein Wicht, trug Salamander-Schuhe mit dicken Sohlen – wir nannten sie »Etagenschuhe« – und weite, weiße Boubous, die er sich bei den westafrikanischen Händlern auf dem Grand Marché in Pointe-Noire besorgte. Er sah darin aus wie eine Vogelscheuche in einem Maisfeld, besonders, wenn er den mittleren Hof überquerte und der Wind die Kasuarinen entlang der Umfassungsmauer des Waisenhauses durchschüttelte.

Jedes Wochenende warteten wir ungeduldig auf seine Ankunft und klatschten in die Hände, sobald wir seinen alten R4 sahen, dessen Motor an chronischer Tuberkulose litt, wie wir sagten. Der Priester mühte sich ab, um im Hof einzuparken, benötigte dafür fünf bis sechs Anläufe, dabei gab es so viel Platz, dass jeder Sonntagsfahrer dort blind hätte parken können. Diesen grotesken Kampf focht er nicht zum Vergnügen aus, sondern weil er wollte, wie er zu seiner Rechtfertigung anführte, dass »die Schnauze Richtung Ausfahrt zeigt«, damit er sich zwei Stunden später das Leben nicht unnötig schwer machte, wenn er ins zehn Kilometer entfernte Diosso zurückfuhr, die Ortschaft, in der er wohnte …

Im Raum, den ihm das Waisenhaus zur Verfügung gestellt hatte und der gegenüber von den Gebäuden mit den Klassenzimmern lag, bildeten wir einen Kreis um ihn, während er die Blätter verteilte, auf denen wir den Text des Liedes fanden, das wir lernen sollten. Sogleich erhob sich ein Heidenlärm, denn den meisten von uns fiel es schwer, sich mit dem preziösen Vokabular jenes Lingala vertraut zu machen, das aus Büchern stammte, die europäische Missionare verfasst hatten, um unsere Glaubensüberzeugungen, Legenden, Sagen und Lieder aus uralten Zeiten zu sammeln.

Wir strengten uns an, und es dauerte keine Viertelstunde, bis wir mit dem Lied zurechtkamen und unsere Stimmen so modulierten, wie Papa Moupelo es wollte, der die Mädchen dazu anhielt, Youyous auszustoßen, und die Jungen dazu, ihnen in ihrer tiefsten Tonlage zu antworten, während er selbst sich mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen in den Hüften wiegte, die Beine spreizte, sie dann überkreuzte und aufs Neue spreizte. Er bewegte sich so rasch, dass wir überzeugt waren, er sei der schnellste Mann der Welt.

Nach einigen Minuten geriet er ins Schwitzen, wischte sich völlig außer Atem, den Mund weit geöffnet, mit dem Handrücken das Gesicht ab und bedeutete uns mit einem Handzeichen:

»Jetzt seid ihr dran!«

Da wir zögerten, kam uns der Priester zu Hilfe, indem er seine Bewegungen mit Worten begleitete:

»Kommt, Kinder! Nur zu! Nicht so schüchtern! Ich will, dass jeder mitmacht! Bewegt eure Schultern von oben nach unten! Ja, genau so! Sehr gut! Stellt euch vor, eure Schultern wären Flügel und ihr wolltet davonfliegen! Jawohl! Wackelt dazu mit dem Kopf wie aufgeschreckte Agamen! Prima, Kinder! Genauso tanzen die Leute aus dem Norden des Landes!«

Im Jubel dieser ausgelassenen Momente, in denen wir dachten, dieser Gottesdiener sei nicht dazu da, um uns das Evangelium zu verkünden, sondern damit wir die Strafen vergaßen, die uns an den Tagen zuvor auferlegt wurden, streiften wir alles ab, was uns hemmte, und manchmal auch etwas zu viel, bevor wir begriffen, dass uns nicht alles erlaubt war, dass wir nicht am sagenhaften Hof König Makokos waren, wo die Batéké ununterbrochen feierten, während ihr Herrscher, von den Liedern seiner Sänger gewiegt, Tag und Nacht vor sich hin schnarchte.

Papa Moupelo hatte immer ein Auge auf uns und schritt ein, sobald wir versucht waren, die rote Linie zu überschreiten. Es kam zum Beispiel nicht infrage, dass wir uns den Mädchen näherten, um ihre Taillen zu umfassen, wovon wir träumten, und uns an sie zu hängen wie Blutegel. Ebenso unnachsichtig war er gegenüber hinterhältigen Zöglingen wie Boumba Moutaka, Nguéken Sonivé und Diambou Dibouiri, die den Mädchen mit Spiegelscherben unter die Röcke schielten, um sie dann mit der Farbe ihrer Unterwäsche aufzuziehen.

Papa Moupelo rief sie rasch zur Ordnung:

»Vorsicht, Kinder! Das will ich hier nicht haben! Mit dem Spaß kommt oft die Sünde!«

Während der zwei Stunden vergaßen wir, wer wir waren und wo wir uns befanden. Wenn Papa Moupelo richtig in Fahrt kam und die Sprünge eines Frosches nachahmte, um uns den berühmten Pygmäentanz aus seinem Heimatland Zaire vorzuführen, drang unser Gelächter bis nach draußen vor das Waisenhaus. Es war ein technisch sehr anspruchsvoller Tanz, ganz anders als der aus unserer nördlichen Heimat, denn er erforderte die Geschmeidigkeit einer Katze, die Flinkheit eines Eichhörnchens, das von einer Boa verfolgt wird, und vor allem jenen unglaublichen Hüftschwung, der damit endete, dass der Priester sich hinkauerte und dann mit einem kleinen Kängurusprung einen Meter weiter hüpfte. Daraufhin streckte er unter fortwährendem Wiegen der Hüften die Arme hoch, stieß aus der Tiefe seiner Brust einen Schrei aus und blieb schließlich starr stehen, die großen roten Augen weit aufgerissen und auf uns gerichtet. Genau in diesem Moment mussten wir ihm applaudieren, worauf er eine weniger lachhafte Haltung einnahm und wir uns einer nach dem anderen auf die Bambushocker setzten, die bei der geringsten Bewegung quietschten. Wir strahlten vor Freude, waren beflügelt von dem Erlebnis, das wir am nächsten Tag in der Kantine, in der Bibliothek, auf dem Spielplatz, auf dem Pausenhof kommentierten, vor allem aber im Schlafsaal, wo wir die Schrittfolgen nachahmten, bis die sechs Männer von der Aufsicht in ihrer Eifersucht auf den Einfluss, den der Gottesdiener auf uns hatte, ihre Peitsche schwangen und uns unter die Bettdecke trieben. Wir nannten sie die »Fluraufseher«, weil sie sich in den Fluren auf die Lauer legten, uns bespitzelten und ihre Informationen in den ersten Stock trugen, zum Leiter des Waisenhauses, Dieudonné Ngoulmoumako. Die strengsten Aufseher waren Mpassi, Moutété und Mvoumbi, allesamt Verwandte des Direktors mütterlicherseits, die sich deshalb wie seine Stellvertreter aufführten, sodass selbst Dieudonné Ngoulmoumako ihnen bisweilen sagen musste, sie sollten mal halblang machen. Die anderen drei, Mfoumbou Ngoulmoumako, Bissoulou Ngoulmoumako und Dongo-Dongo Ngoulmoumako, waren stolz auf den Familiennamen, den sie in der väterlichen Linie des Direktors geerbt hatten, und sahen auf alle herab, dabei hatten sie ihre Anstellungen nur ihrem Onkel zu verdanken, denn sie besaßen keinerlei Erfahrung in der Erziehung von Kindern, die sie wie Vieh behandelten.

Sie schüchterten uns ein, doch kaum waren sie gegangen, warf einer von uns ein lustiges Wort im Lingala von Papa Moupelo in die Runde, und schon krochen wir aus den Betten, bildeten einen Kreis und tanzten weiter nach dem Rhythmus, der uns noch bis in unsere Träume verfolgte. Es war nicht ungewöhnlich, dass man mitten in der Nacht Zöglinge des Waisenhauses, die unruhig schliefen, alte Lieder in der ungebräuchlichen Sprache jenes gütigen Mannes summen hörte, der uns zu einem für jeden erschwinglichen Preis Hoffnung auf ein besseres Leben machte, weil er überzeugt war, seine Mission bestehe darin, Seelen zu retten, und zwar alle Seelen unserer Einrichtung …

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Papa Moupelo gestand mir nie, dass er es war, der mir diesen kilometerlangen Namen gegeben hatte, der im Waisenhaus von Loango und sicher auch in der ganzen Stadt, wenn nicht sogar im ganzen Land, einzigartig war. Lag es am Brauchtum seiner zairischen Landsleute, die ebenso endlose wie unaussprechliche Namen hatten, angefangen bei dem ihres eigenen Präsidenten Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Zabanga, was so viel bedeutete wie »der Krieger, der unaufhaltsam von Sieg zu Sieg eilt«?

Wenn ich mich beklagte, weil irgendwer meinen Namen nicht richtig oder unvollständig ausgesprochen hatte, riet Papa Moupelo mir, ich solle mich nicht darüber ärgern, sondern am Abend vor dem Schlafengehen beten, um dem Allmächtigen zu danken, denn man könne das Schicksal eines Menschen an seinem Namen ablesen. Um mich zu überzeugen, führte er sein eigenes Beispiel an: »Moupelo« bedeute auf Kikongo »Priester«, und so sei es kein Zufall, dass aus ihm ein Bote Gottes geworden sei, wie sein Vater vor ihm einer gewesen war. Er war erfreut über den Umstand, dass meine Verleumder sich damit begnügten, mich »Moses« oder »Mose« zu nennen. Moses, führte er aus, um mir zu schmeicheln, sei nicht irgendein Prophet gewesen, und alle anderen Propheten aus dem Alten Testament, einschließlich derer, die einen längeren, grau melierten Bart trugen als er, hätten ihm nicht das Wasser reichen können: Immerhin habe Gott ihn ausgewählt, um die Kinder Israels aus Ägypten ins Gelobte Land zu führen. Empört über das tägliche Elend seines Volks, habe Moses mit vierzig Jahren einen ägyptischen Aufseher getötet, der einen Hebräer geschlagen hatte. Nach dieser Tat sei er gezwungen gewesen, in die Wüste zu fliehen, wo er Hirte wurde und eine Tochter des Priesters heiratete, der ihn bei sich aufgenommen hatte. Als er achtzig Jahre alt war, rief Gott ihn von einem Dornbusch aus, während er die Schafe seines Schwiegervaters hütete, und übertrug ihm die Aufgabe, das Volk der Hebräer aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien. Wer unter denen, die sich über meinen Namen lustig machten, fragte mich der Priester, trug einen so bedeutungsvollen Namen?

Während ich an diesem einst vertrauten, heute jedoch so anderen Ort, wo ich eingeschlossen bin, diese Zeilen niederschreibe, höre ich noch die Stimme Papa Moupelos, die nur für mich die Bibelstelle rezitiert, in der sich Gott Mose offenbart:

»Der Engel des Herrn erschien ihm in einer Flamme, die aus einem Dornbusch emporschlug. Moses schaute hin: Da brannte der Dornbusch und verbrannte doch nicht …«

Ich sehe ihn den Himmel mit den Augen absuchen, dann betrachtet er mich einige Sekunden und gibt seiner Stimme einen tiefen Ernst:

»Ja, mein kleiner Moses, der Engel des Herrn wird auch dir erscheinen. Erwarte nicht, dass er einem Dornbusch entsteigt, das ist bereits geschehen, und Gott findet es furchtbar, sich zu wiederholen. Er wird aus deinem eigenen Körper zu dir sprechen, du wirst ihn vielleicht nicht erkennen, denn er wird so schauderhaft aussehen, dass er dir Abscheu einflößen wird. Dennoch wird er da sein und dich retten …«

Bei unseren folgenden Begegnungen heftete ich mich an Papa Moupelos Fersen und steckte sogar die Bemerkungen einiger Mitschüler weg, die mich als Arschkriecher bezeichneten oder mich schmähten, sein »Fünf-nach-zwölf«-Schatten zu sein. Dabei bat ich ihn nur darum, mich hinten im Saal in die letzte Reihe setzen zu dürfen, denn ich erinnerte mich, dass er uns in den Unterrichtsstunden zuvor mit der Parabel von den Arbeitern im Weinberg begeistert hatte, die erst zur elften Stunde bei der Arbeit erschienen, ihren Lohn aber vor ihren Kollegen erhielten, obwohl diese schon seit drei Uhr oder sechs Uhr früh arbeiteten.

»Wie im Weinberg«, hatte er hinzugefügt, »werden im himmlischen Königreich die Letzten die Ersten sein, und die Ersten die Letzten. Aber mach dich nicht verrückt: Gott vergisst seine Kinder nicht, auch wenn sie nicht in der letzten Reihe sitzen.«

Nein, ich machte mich nicht verrückt: Es regte mich nur auf, dass der Allmächtige, wenn der Direktor seine Hand gegen uns erhob und ich auf seinen Beistand wartete, keinerlei Zeichen sandte, das uns beruhigt hätte. In meinen Augen verkörperte der Direktor den bösen Pharao aus der Bibel, der das Volk der Hebräer schikanierte, und ich fragte mich, warum Gott nur so lange zögerte, unser Waisenhaus mit den zehn fürchterlichen Plagen zu überziehen, die diesen ägyptischen Monarchen dazu getrieben hatten, Seine Überlegenheit und Seine Allmacht anzuerkennen. Hatte Gott Sein Wort zurückgenommen und einen anderen Moses ausgewählt, der schwärzer, schöner, größer, klüger, freier war und in einem anderen Land lebte, wo mehr gebetet, getanzt und gesungen wurde als bei uns?

Die auf den ersten Blick vollkommen lächerlichen Sorgen, die mich quälten, bewegten mich gleichwohl dazu, selbst die Heilige Schrift zu lesen, und zwar sehr genau, in der Hoffnung, darin Brüche ausfindig zu machen, mit denen ich unserem Priester bei aller Liebe, die ich ihm entgegenbrachte, die Stirn bieten konnte. Mit Vergnügen sah er, wie ich von diesem Buch ausgehend die Welt verstand, auch wenn diese Suche eigentlich auf meine eigene Identität und die Bedeutung meines Namens ausgerichtet war. Ich konnte Papa Moupelo nicht erschüttern, indem ich mich auf dieses Buch stützte, das er in- und auswendig kannte. Außerdem schuldete ich ihm Respekt: Er war eine moralische Autorität, der geistige Vater dieser Kinder, die wie ich ihren biologischen Vater nicht kannten und deren einzige Vorbilder für väterliche Autorität bestenfalls dieser Priester, schlimmstenfalls der Leiter des Waisenhauses waren. Papa Moupelo stand für Toleranz, Absolution und Erlösung, während Dieudonné Ngoulmoumako Bosheit und Missachtung verkörperte. Die Zuneigung, die wir unserem Priester entgegenbrachten, kam aus tiefstem Herzen, und die einzige Belohnung, die wir uns erhofften, war sein sanfter Blick, der uns dort wieder Mut gab, wo die mürrische Miene des Direktors uns auf die Ohnmacht von Kindern zurückwarf, die nicht das Glück eines normalen Starts ins Leben hatten. Die Blicke, die uns galten, logen nicht: In den Augen der Pointenegriner reimte sich »Waisenhaus« auf »Zuchthaus«, und ins Zuchthaus kam man nur, weil man sich eines schlimmen Vergehens schuldig gemacht hatte, eines Verbrechens …

Von allen Fragen, die ich mir in dieser Zeit des inneren Aufruhrs stellte, der den Beginn meiner Adoleszenzkrise markierte, kehrte eine Tag und Nacht wieder und hinderte mich daran, alles zu schlucken, als steckte mir eine Gräte im Hals: War ich der einzige Tokumisa Nzambe po Mose yamoyindo abotami namboka ya Bakoko auf der Welt? Angesichts der Länge dieses Namens war ich geneigt, das zu bejahen und mich darüber zu freuen, ein einzigartiger Junge zu sein. Allerdings besuchte Papa Moupelo auch andere Waisenhäuser in Pointe-Noire wie Tchimbamba oder Ngoyo. Ich konnte also nicht umhin, Zweifel an der Originalität dieses Familiennamens zu hegen. Allein bei der Vorstellung, dass ich nur einer unter Hunderten oder Tausenden anderer Moses sein könnte, die von Papa Moupelo möglicherweise mehr geliebt wurden als ich, befiel mich eine gewisse Eifersucht.

Er allein konnte mich beruhigen. Und wenn erst Mittwoch war, wartete ich ungeduldig auf den Samstag, um ihm ohne Umschweife diese Frage zu stellen. Leider dachte ich an alles Mögliche, nur nicht daran, dass ein ungeahntes Ereignis unser Leben in diesem verlorenen Winkel der Provinz Kouilou auf den Kopf stellen könnte. Ich war auf alles gefasst, nur nicht auf eine solche Umwälzung.

Seltsamerweise, und das beunruhigte mich am allermeisten, hatte auch Papa Moupelo dieses Ereignis nicht kommen sehen, obwohl er mit dem Himmel auf Du und Du stand …

Bonaventure Kokolo, damals dreizehn Jahre alt wie ich, war völlig aus dem Häuschen:

»Das ist schlimm, Moses! Das ist echt schlimm!«

Verärgert, weil er mich Moses genannt hatte, versetzte ich ihm einen Stoß mit dem Ellbogen und entfernte mich ein paar Schritte. Aber ich hatte nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet, er hängte sich an mich wie eine Klette:

»Wohin gehst du, Moses, ich sage dir, es ist wirklich schlimm!«

»Das sagst du jedes Mal, ich kenne dich!«

»Schau nur, was für Gesichter die Aufseher machen! Sie verheimlichen uns etwas! Wir sollten anfangen zu weinen, denn ich sage dir, Papa Moupelo ist tot!«

Als er dazu einen Seufzer ausstieß, fuchtelte ich mit der Faust vor seinem Gesicht herum:

»Wenn du herumheulst, haue ich dir eins in die Fresse, dass du erst in der Krankenstation wieder aufwachst!«

»Aber er ist tot! Es wird hier keine Bibelstunde mehr geben!«

»Und wie, bitte schön, ist er gestorben?«

»Durch einen Unfall! Du wirst sehen, sie werden uns sagen, er ist von uns gegangen, um bei Gott zu wohnen, und dass man einen anderen Papa Moupelo für uns gefunden hat!«

Bonaventure war mein bester Freund. Während ich eher introvertiert war und meine Gefühle nicht so schnell offenbarte, war er so gesprächig, dass er sich den Spitznamen »Baumwollschlucker« verdient hatte, der vom Namen jener Vögel herrührte, die Baumwollkügelchen ins Waisenhaus brachten, mit denen sie ihre Nester im Dachstuhl über unserem Schlafsaal bauten.

Sobald er den Mund aufmachte, brüllten die anderen im Chor:

»Halt den Schnabel und schluck Baumwolle!«

Er beugte sich zu mir:

»Siehst du, außer dir hört mir niemand zu, wenn ich etwas sage. Warum sind die anderen noch boshafter als der Direktor? Habe ich ein einziges Mal gelogen? Was ich sage, das passiert, und zwar immer!«

Da ich nicht reagierte, sah er mir direkt in die Augen:

»Als ich das letzte Mal träumte, dass wir Fleisch essen würden, haben wir da nicht zwei Tage später in der Kantine Fleisch bekommen?«

»Ja, wir haben zwei Tage später Fleisch gegessen …«

»Und als ich träumte, dass der Direktor krank ist, hatte er da nicht zwei Tage später ein geschwollenes Auge, hm?«

»Ja, er hat sich selbst wehgetan mit seiner Bürotür …«

»Warum nennen sie mich dann Baumwollschlucker, wenn sie selbst nicht in der Lage sind zu träumen, dass wir Fleisch bekommen oder dass der Direktor ein schwarzes Auge hat wie ein Ochse, hm?«

»Du meinst ein ›blaues Auge‹?«

»Nein, ich meine, was ich gesagt habe, oder hast du schon mal blauäugige Ochsen gesehen?«

»Bonaventure, du redest zu viel. Halt endlich mal den Mund, oder willst du, dass ich dich zum Baumwolleschlucken schicke!«

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An jenem Samstag also standen wir weiß gekleidet wie gewöhnlich, die Mädchen auf der einen, die Jungen auf der anderen Seite, auf dem Hof und warteten auf die Ankunft von Papa Moupelo. Ich hatte dieses Mal mehr Gründe, auf ihn zu warten, als die anderen Waisenkinder, die nur an die Freude dachten, die wir im Bibelunterricht haben würden.

Ich wollte aber auf keinen Fall, dass der Priester meine Absichten erriet, sobald er mich sehen würde. Deshalb übte ich, meine Atmung zu kontrollieren, und murmelte vor mich hin, was ich ihm sagen wollte, wenn er mich zur Seite nehmen und mich auffordern würde, zu beten und dem Herrn zu danken. Vor unserem Gespräch musste ich jeden Blickwechsel vermeiden, sonst würde ich unter dem Einfluss seiner frohen, väterlichen Art die unerlässliche Frage, die ich ihm zum ersten Mal stellen wollte, womöglich auf die nächste Woche verschieben.

Während ich darüber nachdachte, welche Haltung ich ihm gegenüber einnehmen sollte, äfften einige Jungen, um die Zeit totzuschlagen, schon den stotternden Motor des R4 nach, während andere so taten, als würden sie den Wagen einparken und dieses Manöver erst nach fünf bis sechs Anläufen schaffen:

»Geschafft! Ruckzuck stehe ich Richtung Ausfahrt!«

Die Mädchen begnügten sich damit, die Tanzschritte der Zairer Pygmäen anzudeuten, da sie die mit ihrem Geschlecht verbundenen Verbote sehr ernst nahmen, von denen wir Jungs wussten, dass sie vor Urzeiten von Männern ersonnen worden waren, um den Frauen die kleinen Freuden des Lebens vorzuenthalten. Man riet ihnen zum Beispiel davon ab, das bei uns sehr geschätzte Boafleisch zu essen. Anderenfalls würden ihnen Brüste wachsen, die bis zu den Knöcheln herabfielen. Glaubten unsere Kameradinnen deshalb, dass ihnen ein Ziegenbärtchen sprießen würde, wenn sie sich ans Steuer eines Wagens wie dem von Papa Moupelo setzten, und dass ihr Geschlecht einen Wachstumsschub bekäme, bis es aussehen würde wie unseres? Jedenfalls hielten sie sich von denen fern, die Fahrer spielten, und bekreuzigten sich heimlich, als würde es ihnen schon Unglück bringen, wenn sie einige Sekunden einem Jungen zusahen, der so tat, als würde er Auto fahren.

Ein Stück weit im Hintergrund steckten die Wärter Vieux Koukouba und Petit Vimba, die Bonaventure solche Angst einjagten, die Köpfe zusammen. So oft hatten wir die beiden noch nie miteinander reden hören. Vieux Koukouba schnauzte seinen jungen Kollegen an:

»Du hörst jetzt sofort auf, mit dem Finger auf diesen Raum zu zeigen, sonst erraten sie noch alles, und ich muss beim Direktor den Kopf dafür hinhalten!«

Plötzlich wurden die Anwesenden unruhig. Die Wärter nahmen Habtachtstellung ein, als wären sie Soldaten. Bonaventure und ich waren die Letzten, die ihre Blicke auf das Hauptgebäude richteten, wo auf der Estrade soeben Dieudonné Ngoulmoumako mit den sechs »Fluraufsehern« im Schlepptau erschienen war, deren strenge Gesichter im Kontrast zur unbekümmerten Miene standen, um die der Direktor sich bemühte.

Dieudonné Ngoulmoumako war ein kahler, dicker alter Mann von der Ethnie der Bembe, einem Volk, das dafür bekannt war, jedwede Meinungsverschiedenheiten mit dem Messer auszutragen, sich von Kindheit an von Katzenfleisch zu ernähren und den Reichtum eines Menschen allein nach der Anzahl von Schweinen zu bemessen, die er für das Neujahrfest schlachtete, oder nach der Anzahl der Hochzeiten und Trauerfeiern, die er ausrichtete. Aber welche Ethnie im Land wurde nicht beschuldigt, seltsame Ernährungsgewohnheiten zu haben? Die Lari, ein Volk aus der Provinz Pool, wurden für Raupenfresser gehalten; die Vili aus Kouilou waren angeblich versessen auf Haifischfleisch, ein Ruf, den sie der Tatsache verdankten, dass sie an der Küste lebten; von den Teke, die man in verschiedenen Regionen antrifft, wurde behauptet, sie könnten nicht auf Hundefleisch verzichten, während sich eine größere Anzahl von Ethnien im Norden von Krokodilfleisch ernährt haben soll, obwohl ihnen dieses Reptil heilig war.

»Das ist nicht normal, dass er uns so zulächelt!«, begann Bonaventure, der wieder hinter mir stand und seine Schluchzer kaum unterdrücken konnte.

Ich drehte mich zu ihm um:

»Wenn man uns auspeitscht, das schwör ich dir, dann verprügle ich dich nachher im Schlafsaal!«

»Aber schau dir doch den Direktor an! Er tut so nett, damit niemand weint, wenn er den Tod von Papa Moupelo verkündet! Ich will jetzt weinen, nicht hinterher! Ich will der Erste sein, denn wenn ich mit den anderen weine, woher weiß man dann, dass ich geweint habe?«

In gewisser Weise hatte er recht: Wenngleich der Direktor seine schreckliche Nilpferdpeitsche nicht mit sich führte und die Rolle des Bösewichts der Fluraufsicht überließ, verlieh ihm seine zur Schau gestellte gute Laune keine Menschlichkeit. Es genügte zu beobachten, wie seine rechte Hand zitterte, um zu verstehen, dass ihm etwas fehlte zwischen den Fingern, die krumm waren und zupacken konnten wie Adlerklauen. Selbst wenn er sie in die Hosentasche steckte und so tat, als würde er sich am Schenkel kratzen, dauerte es nicht lange, bis er sie reflexartig wieder herauszog und sie wirkungslos und lächerlich an seinem Bein herunterbaumelte.

Die Inszenierung auf der Estrade war so schlecht, dass wir das abgekartete Spiel mühelos durchschauen konnten, als er den Wärtern, die sich vor ihm aufgestellt hatten, auf ungeschickte Weise zuzwinkerte.

Die Clowns unter uns, die Rennfahrer spielten, hatten ihre kleine Schau unterbrochen und taten wie brave Kinder, ohne den am meisten gefürchteten Mann der Einrichtung aus den Augen zu lassen.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Direktor wieder zu dem Mann wurde, den wir kannten und von allen Männern auf der Welt am meisten hassten: doppelt verschlossenes Gesicht, die Kiefer aufeinandergepresst und traurig herabhängender Schnurrbart. Wovor hätten wir uns fürchten sollen? Schließlich kam es nur selten vor, dass er sich am Wochenende über uns hermachte, denn er wollte sich keine Strafpredigt von Papa Moupelo einhandeln, der ihm einmal gesagt hatte, er werde sich für die Kindesmisshandlung dort oben im Himmel verantworten müssen, denn er quäle die, die dem Allmächtigen glichen wie ein Ei dem anderen.

Dieudonné Ngoulmoumako schickte sich an, etwas zu verkünden, und bis jetzt lag Bonaventure nicht falsch. Es war das erste Mal, dass unser Priester mehr als anderthalb Stunden Verspätung hatte, fast die Hälfte der Zeit, die er mit uns verbringen sollte.

Ich war trotzdem zuversichtlich und ließ den Kopf nicht hängen: Papa Moupelo würde jeden Moment eintreffen und sich unter unserem Beifall beim Einparken abmühen. Er würde frische Boubous tragen, die aus seinem Eisenkoffer stammten, wie er uns gerne erklärte, denn dank dieser metallenen Kiste waren sie vor Motten und Schaben geschützt.

»Auf meine Kleidung passe ich gut auf! Ich räume sie in einen Koffer und lege ein paar Mottenkugeln dazu, damit die Motten nicht über sie herfallen …«

Er roch nach Naphthalin, und dieser beißende Geruch vermischte sich mit unserem Schweiß. Dass wir nie auch nur eine einzige Motte im Katechismuszimmer gefunden hatten, lag an diesem Geruch, der stets im Raum lag.

Ja, Papa Moupelo würde bestimmt jeden Augenblick erscheinen, als wäre dies alles nur ein Albtraum Bonaventures, er würde Zettel mit den Texten alter Lieder an uns verteilen, und wir würden uns um ihn scharen, in die Hände klatschen und singen, bis wir heiser wären.

Meine Hoffnungen wurden durchkreuzt, als Dieudonné Ngoulmoumako mit feierlicher Miene und gefolgt von den »Fluraufsehern« auf den Raum des Priesters zusteuerte. Vieux Koukouba, der das Augenzwinkern seines Chefs richtig gedeutet hatte, schloss mit einem Hammer in der Hand zu ihm auf. Petit Vimba war schon eingetreten und kam mit einem voluminösen Karton zum Vorschein, den er nur sehr mühsam vor sich herschieben konnte.

Bonaventure fand eine weitere Gelegenheit, mir auf die Nerven zu fallen:

»Moses, in dem großen Karton steckt vielleicht Papa Moupelos Leichnam!«

»Nenn mich nicht ›Moses‹, Kokolo …«

»Und warum nennst du mich Kokolo, obwohl ich den Namen nicht mag?«

»Siehst du meine Faust? Willst du sie spüren?«

Obwohl wir vor Neugier platzten, fürchteten wir uns davor, diesem großen Karton näher zu kommen. Petit Vimba öffnete ihn übertrieben langsam mit einem Cutter, um die Spannung zu steigern.

»Kommt her! Wieso bleibt ihr so weit abseits stehen?«, befahl uns der Direktor.

Dann entdeckten wir in dem Karton rote Halstücher und vor allem eine Plakette, auf der zu lesen war:

QUARTIER DER NATIONALEN PIONIERBEWEGUNG DER SOZIALISTISCHEN REVOLUTION IM KONGO

Aufgewühlt raunte Bonaventure mir zu:

»Das ist die Plakette, die sie auf Papa Moupelos Grab anbringen wollen!«

Wie ein überforderter Zeremonienmeister bellte der Direktor seinen Aufsehern Befehle zu, bevor er Petit Vimba die Stelle zeigte, wo das Schild angebracht werden sollte, damit es jeder lesen konnte, der das Waisenhaus betrat. Danach war es an Vieux Koukouba, die Nägel mit dem Hammer einzuschlagen, legte der Direktor doch großen Wert darauf, dass dem »Dienstältesten« seines Personals das Vorrecht zukam, dieses Schild zu befestigen. Mit seinem gebeugten Rücken und den Augen, die nach allen Seiten sahen, ohne dass er dazu den Kopf bewegte, ähnelte der Aufseher, der unter uns den Spitznamen »Australopithecus« trug, einem alten Chamäleon.

Doch es gelang Vieux Koukouba nicht, die Nägel einzuschlagen. Jedes Mal fielen sie ihm vor die Füße. Wenn er sich bückte und die Zähne zusammenbiss, um die Nägel aufzusammeln, ahnten wir den Schmerz, den er verspürte, weil sein Skelett seit einer Ewigkeit verknöchert war.

Dieudonné Ngoulmoumako herrschte ihn an:

»Was treibst du da?«

Der Alte erging sich in Entschuldigungen:

»Chef, es liegt an der Sonne, die meine Augen ärgert. Statt einen sehe ich vier oder fünf Nägel, und dann weiß ich nicht, auf welchen ich mit dem Hammer schlage, aber ich schlage trotzdem. Überdies ist es ein Problem, dass die Nägel heute gewissermaßen viel kleiner sind als die Nägel, mit denen man früher Särge zimmerte, und die Leichen selbst beschwerten sich nicht, denn jene Nägel …«

»Willst du mir etwa wieder etwas von deinem früheren Arbeitsplatz im Leichenschauhaus erzählen? Keine Sorge, wenn es dir so sehr fehlt, wirst du bald dorthin zurückkehren!«

Wir verstanden nicht, was der Direktor damit sagen wollte, aber Vieux Koukouba richtete sich schlagartig auf, er rollte mit den Augen, während er sich konzentrierte, um den einzigen Nagel einzuschlagen, den er vom Boden hatte aufheben können. Zuerst befeuchtete er mit seinem Speichel die Stelle, wo er den Nagel einschlagen wollte, dann holte er aus und schwang den Hammer hoch über seinem Kopf. Leider verfehlte er einmal mehr sein Ziel …

Aufgebracht riss Dieudonné Ngoulmoumako ihm den Hammer aus der Hand, schnappte sich selbst einen Nagel und tat einen ersten, kräftigen Schlag, dessen Echo die dreihundertdrei Kinder des Waisenhauses und sogar die Baumwollschlucker-Kolonie, die auf den Kasuarinen hockte, in Angst und Schrecken versetzte. Nach einem Dutzend Schläge trat er einige Schritte zurück und betrachtete zufrieden das Schild, das jetzt an der Tür zu Papa Moupelos Zimmer hing. Er rief die Fluraufseher zu sich, die ihn umringten, während er ihnen etwas zuflüsterte. Die sechs Männer überboten sich an Diensteifer, um die roten Tücher an uns zu verteilen und uns zu zeigen, wie wir sie um den Hals legen sollten. Jeder betrachtete seines und dachte, dass es der Fahne ähnelte, die dieselben Aufseher einen Monat zuvor an den Fahnenmast gehängt hatten und die jetzt in der Mitte des Hofs flatterte, mit Emblemen, die unsere Neugier weckten: Zwei grüne Palmen umrahmten eine gelbe Hacke und einen gelben Hammer, die über Kreuz lagen, und oben strahlte ein fünfzackiger Stern.

»Na, Moses, ist Papa Moupelo jetzt tot oder nicht?«

»Sei still, Kokolo!!!«

Zurück auf der Estrade und immer noch von den Aufsehern eskortiert, warf sich Dieudonné Ngoulmoumako in die Pose eines großen Redners und erklärte uns, dass wir die Erbauer und Garanten der wissenschaftlichen sozialistischen Revolution seien. Auf seinem Jackett funkelte, »genau über der Stelle, wo sein Herz schlägt«, wie manche meinten, eine rote Anstecknadel mit den drei Buchstaben PCT. Kam man nahe genug heran, konnte man lesen, was in winzigen Buchstaben darunter stand: »Parti congolais du travail«, Kongolesische Arbeiterpartei …