BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2017

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia AG, Bozen

Erstlektorat: Marion Voigt

Titelbildmontage: Fotolia (T. Linack, Marco Monticone);

Sibylle Leimeister

Autorenfoto Umschlagrückseite: © Glasow

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Die Publikation dieses Werks erfolgt auf Vermittlung von

Marion Voigt · Lektorat | Text | Agentur · Zirndorf

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-259-8

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Zu diesem Buch:

Dieser Roman basiert in weiten Teilen auf wahren Begebenheiten, die ich während mehrerer Aufenthalte auf verschiedenen Almen und Hütten im Alpenraum erlebt habe.

Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Ein Teil des Erlöses dieses Buches wird von der Autorin dem Verein „Bäuerlicher Notstandfonds“ in Südtirol gespendet.

Auf der Welt gibt es nichts, was weicher und

dünner ist als das Wasser.

Doch um Hartes und Starres zu bezwingen,

kommt nichts diesem gleich.

Dass das Schwache das Starke besiegt

und das Harte dem Weichen unterliegt,

jeder weiß es – doch keiner handelt danach.

(Laotse)

Inhalt

Hoakel brauchscht net sein oder
Die Hergelaufene aus der Stadt

Heute reist Klaus ab. Ich begleite ihn ein gutes Stück hinunter ins Tal, in der Gewissheit, diesen Weg in den nächsten Wochen nicht mehr anzutreten. Der Pfad ist steil und nach einer Weile können wir auf den breiten Fahrweg wechseln oder direkt den Steig nach unten weiterverfolgen. Wir wählen die kürzere Route. Holprig zieht sich der Weg über steinige Wiesen und verschwindet zwischen dem Waldsaum. Mir ist heiß und ich bin durstig. Lange bevor wir die ersten Schatten spendenden Bäume erreichen, läuft mir Schweiß übers Gesicht und vermischt sich mit den unaufhaltsam rinnenden Tränen.

Als wir das Dorf tief unter uns auftauchen sehen, verabschieden wir uns schnell. Unsere hastigen Küsse schmecken salzig.

Klaus ist ratlos: »Du hast es dir doch so gewünscht!«

Ja, ich wollte das. Für drei Monate auf eine Südtiroler Alm in knapp zweitausend Meter Höhe ziehen, allein mit zwei einheimischen Hütebuben. Ich reiße mich los, bloß nicht mehr heulen, den Blick in die Höhe gerichtet, noch einmal winken und fort.

Diesmal nehme ich den Fahrweg, in der Hoffnung, dass der Altbauer Alfons mit dem Auto vom Hof heraufkommt und mich mitnimmt. Er hat mein restliches Gepäck dabei. Ich laufe und laufe. Der Pfad unter meinen Füßen wird zugewachsener und steiler. Als ich ein Bachbett überquere, fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Hier ist lange keiner mehr gewesen, das Gras steht viel zu hoch. Der Weg ist falsch.

Am Bach lasse ich mich in die Wiese fallen. Ich fühle mich zu schwach, um noch einen einzigen Schritt weiterzugehen. Gott sei Dank gibt es Wasser. Mit der hohlen Hand schöpfe ich mehr daneben, als ich in den Mund bekomme.

In solchen Fällen zog mein Vater einen faltbaren Plastiktrinkbecher mit abnehmbarem weinrotem Deckel aus der Tasche. Wieso fällt mir jetzt dieses vom vielen Auseinanderziehen milchig trüb gewordene Teil ein, das wir als Kinder so oft malträtiert haben, und wie habe ich es gehasst, als Jüngste immer zuletzt daraus zu trinken.

»Es geht nach Würde, Rang und Alter, zuerst da kommt der Onkel Walter«, höre ich Vaters Stimme. Den Onkel gab es wirklich, er war ein älterer Bruder meines Vaters.

Wo befand sich der Becher bei der Haushaltsauflösung nach Vaters Tod? Den hätte ich bestimmt nicht weggeworfen, und was soll das jetzt mit Onkel Walter, an den ich jahrzehntelang nicht gedacht habe?

Frühe Anzeichen von Beunruhigung gepaart mit Höhenkoller scheinen sich einzustellen. Mein Gehirn spielt verrückt und zieht mich mit Macht in meine Kindheit. Bin ich deshalb hier, um in den ersten Stunden des Alleinseins mit meinen Gedanken so weit abzutauchen?

Ich zwinge mich aufzustehen und meinen Weg fortzusetzen. Wenn ich nur irgendetwas hätte, um Wasser vom Bach mitzunehmen. Suchend schaue ich mich um. Der Wald ist unberührt, wie leer gefegt streckt er sich neben mir aus und behält seine Schätze für sich. Jede weggeworfene Bierdose wäre mir recht, aber es findet sich nichts.

Als Schulkinder haben wir auf einem langweiligen Wandertag einmal Sachensuchen gespielt und ich war mit einer gefundenen Kloschüssel die unschlagbare Siegerin. Schon wieder, merke ich, ist mein Kopf sonst wo, und eine vage Besorgnis beschleicht mich, wohin mich der gedankliche Freilauf in den kommenden Wochen noch führt.

Es geht ohne Trinken vorwärts. So oder so, von einer unbedarften Touristin ohne Ausrüstung, allein unterwegs in den Bergen, unterscheide ich mich nur geringfügig. Keine Trinkflasche, keine Verpflegung, Sandalen. Dafür eine dicke Strickjacke, aber die ist das Letzte, was ich bei diesen Temperaturen heute gebrauchen kann. Im Gegenteil, ich mache mir meine Bluse weit auf und laufe, laut mit mir selbst sprechend, den ganzen Weg zurück.

Endlich erreiche ich die Stelle wieder, wo wir uns verabschiedet haben. Es kann nur eine kurze Zeit vergangen sein, und doch erscheint es mir Stunden her, dass ich hier war.

Mein Atem geht flach und stoßweise, denn jedes tiefe Luftholen brennt in den Lungen. Jetzt also langsamer, Schritt für Schritt, und auf dem direkten Weg wieder hinauf. Ein rissiger Baumstamm mit aufgemalter Markierung kommt mir bekannt vor und ich fühle mich sicherer. Weit über mir höre ich Motorengeräusche und stelle mir Alfons in seinem klapprigen Fiat vor, wie er die Fahrspur entlangkurvt. Soll er doch fahren.

Mit etwas über 60 Jahren ist er schwer herzkrank, was man ihm bei seiner ungesunden Gesichtsfarbe auch sofort ansieht. Eine Manschette am Arm beobachtet seinen Blutdruck dauerhaft und bläst sich regelmäßig geräuschvoll auf. Auf der Alm ist ihm die Luft zu dünn und er kann nicht länger als ein paar Stunden bleiben. Sind die Werte schlecht, treibt es ihm das Wasser in den Kopf, wie die Bäuerin sagt. Lieber laufe ich sofort noch einmal alles rauf und wieder runter, als an so einem Kästchen zu hängen.

Der Wald wird lichter und der Weg führt ins Freie. Wie planlos hingeworfene Stoffbahnen faltet sich eine Almwiese an die andere. Kleine Steine und gewaltige Felsbrocken bilden das Muster darauf und je nach Licht und Schatten wechselt das frische Grün des Grases zu düsterem Grau. Schroffe Bergketten mit schneebedeckten Gipfeln begrenzen die Aussicht in alle Himmelsrichtungen und gebieten dem Blick Einhalt, der nach der Enge des Waldes Reißaus nehmen will. Brütende Hitze schlägt mir entgegen. Unvermutet taucht ein Fahnenmast neben dem Giebel eines Dachs auf und zentimeterweise wächst die Alm mit ihren drei Gebäuden in mein Blickfeld.

Als ich endlich am Haus bin, herrscht dort schon helle Aufregung über mein langes Ausbleiben. Bäuerin Bernadette hat sich mit ihrem schweren Körper drinnen auf die schmale Eckbank gelegt. Brust und Bein der einen Körperhälfte haben der Schwerkraft nachgegeben und sind von der Sitzfläche geglitten. Der wollige Stoff des Rocks ist nach oben verschoben und gibt den Blick frei auf fleischige Schenkel, deren milchiges, durchscheinendes Weiß im krassen Gegensatz zum runden, wettergegerbten Gesicht stehen. Der eine Arm ist herabgesunken, und mit dem anderen hält sie sich den Kopf, auf dem unter ihrem verwaschenen, im Nacken gebundenen Tuch eine Welle schwarzgrauer Haare hervordrängt. »Nie nicht mehr« hat die Einundsechzigjährige mit meiner Rückkehr gerechnet, und sie kann es kaum fassen, dass ich wieder da bin. Der ganze vor ihr liegende Sommer ist mit all seiner Arbeit vor ihrem inneren Auge aufgestiegen und hat sie kummervoll, mutlos zusammenbrechen lassen.

In ihrer Not, nach meiner vermeintlichen Flucht ohne mich auskommen zu müssen, hat sie sogar in meiner Kammer nachgeschaut, ob meine Sachen noch da sind. Ein absolutes Tabu, wie ich hören darf, denn die Kammern von anderen werden auf keinen Fall betreten. Da muss schon die Hütte brennen, und selbst das bekommt man eher durch die dünnen Holzstellwände zwischen den Zimmern zugerufen, als dass jemand hereinkäme.

Doch auch das in meiner Stube vorgefundene Gepäck, mein Geld und meine Papiere konnten sie nicht beruhigen. Wer so lange wegbleibt, ist zweifelsohne nach draußen – nach Deutschland – zurückgefahren.

Ungeachtet meiner glücklichen Rückkehr gibt es kein Wort der Freude. Mein langer Weg ist ihr einerlei und ein gerauntes »Bischt selber schuld« bleibt die einzige Anteilnahme. Wer ohne Grund freiwillig in den Bergen herumläuft, verdient es nicht anders, jeder unnütze Gang ist zu vermeiden. Schweigend höre ich zu, während klares Quellwasser aus einem Glas durch meine Kehle fließt.

Bernadette rührt sich auf ihrer Bank und weist mit schlaffen Fingern auf den vor dem Fenster aufsteigenden Höhenzug. »Dort kommt unser Wasser her«, bemüht sie sich, betont nach der Schrift zu sprechen. »Kannscht trinken, so viel wiesd magscht. Wasser und Holz sind das Einzige, womit du nicht sparen brauchst«, fügt sie in gequältem Hochdeutsch dazu, und ich beginne, den Unterschied zu begreifen. Klare Ansagen und wirklich wichtige Wörter wie »sparen« gibt es auf Deutsch. Der Rest ist Dialekt, ein zusammengewürfeltes Gemisch aus verschiedenen Sprachen und nicht durchgängig für meine Ohren gedacht.

Ich blicke den Hang hinauf und sehe eine Schneise mit niederem Bewuchs bis zum Joch. Darunter verläuft das Rohr, das unser Wasser bis zum Haus leitet. Mehrere Untersuchungen durch ein staatliches Institut haben die Bäuerin viel Geld gekostet, dem hiesigen Wasser aber schließlich eine einwandfreie Qualität bescheinigt. Darauf verlasse ich mich und nehme mir vor, in den nächsten Tagen einmal bis zur Quelle hinaufzusteigen.

Wasser ist mein Element. Wie glücklich war ich zu Hause, als ich auf der Landkarte oberhalb der Alm einen See entdeckte. Ich packte meine Badesachen ein, in Vorfreude darauf, dort zu schwimmen oder mich in die Sonne zu legen. Die Ernüchterung ist bereits da, denn auf der Höhe des Sees liegt jetzt noch Schnee, und ich bin mir keineswegs sicher, dass der Firn im Lauf des Sommers schmilzt.

Beim Blick aus dem Fenster muss ich schlucken. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Die Stirn gegen das kühle Glas gepresst, hoffe ich darauf, dass Bernadette mein Zagen nicht bemerkt. Doch die ist längst auf ihrer Bank eingeschlafen.

Zweifel steigen in mir auf wie lästige Fliegen und lassen sich nur schwer verscheuchen. Was soll ich hier, als eine von draußen und ohne jede Bergerfahrung? Nach kurzer Einarbeitung allein in dieser Höhe mit zwei Kindern als Hirten und neunundsechzig Stück Vieh. Einen Sommer lang ohne Strom und fließendes warmes Wasser, getrennt von meinem Mann und meinen Kindern.

Was war das für ein Lebenstraum, der sich so viele Jahre nicht erfüllen ließ und mich jetzt, schon nach ein paar Stunden, in eine Krise stürzte? Wie oft habe ich ihn verteidigt, als ich vor meiner Abreise Freunden verkündete, ich gehe für diesen einen Sommer auf eine Alm? All die ungläubig Lächelnden und lautstark Zweifelnden werden recht behalten und ich bin schon in wenigen Tagen wieder zu Hause. Zu viel vorgenommen, nicht geschafft, abgebrochen, zerbrochen, gescheitert.

Ich konzentriere mich darauf, tief zu atmen und meinen vom lautlosen Weinen verkrampften Körper zu lockern. Durch die beschlagenen Scheiben schaue ich über die noch kurzen Weiden den Weg entlang zum Grat. Der Blick auf Tausende blauer Enzianblüten und die sich wiegenden Glocken schwefelgelber Küchenschellen lässt mich ruhiger werden.

Ich besinne mich auf das, was mich hierhergeführt hat, in die Berge, in meinen Traum vom einfachen Leben. Vor vielen Jahren hat mich ein Artikel über Senner auf Zeit dermaßen fasziniert, dass mir das Thema nicht mehr aus dem Kopf ging. Irgendwann einmal wollte ich das Gleiche machen, wenn nur erst die Kinder groß wären und ich von zu Hause weg könnte.

Und dann kam dieses Jahr, so geeignet wie kein anderes. Unsere Tochter ist mit ihrer Ausbildung fertig und der Sohn studiert für ein Jahr in Australien. Mein Mann hat keine Minute an meinen Plänen gezweifelt und mit Freuden an ihrer Umsetzung mitgewirkt. Und jetzt stehe ich hier und weine mir die Augen aus.

Nur gut, dass die Buben mit den Tieren unterwegs und weit genug weg sind. Ich schäme mich zu Tode, wenn sie mich derart aufgelöst vorfinden. Sicher kein guter Anfang. Eben erst angekommen und schon Zeitlang, was auf Südtirolerisch so viel wie Heimweh oder Sehnsucht heißt. Was sollen die zu so einer vom Tal sagen, wo sie beide schon mit neun Jahren auf einer Alm waren? Allein weg von daheim, bei einer fremden Bauersfrau, deren vom Leben geprägte Härte nur bisweilen aus ihrem Gesicht weicht.

Wenn sie nur endlich aufwachen würde, um mit ihrem kranken Mann nach Hause zu fahren. Ohne sie komme ich sicher umgehend wieder zu mir und kann etwas an die Luft, aber so bleibe ich zunächst einmal in der großen Stube und warte.

Das Zimmer erinnert mit den sechs Tischen samt Holzstühlen und der langen Bank an den beiden Fensterseiten eher an eine Gaststätte als an einen privaten Wohnraum. Ein wuchtiger gemauerter Ofen beherrscht die Stube. Er wird vom Flur aus geschürt, und ich frage mich, ob er während des Sommers überhaupt gebraucht wird. Rot-weiß-karierte Vorhänge an den Fenstern, ebenso gemusterte abgestoßene Wachstuchdecken auf den Tischen und ein nachgedunkelter Naturholzboden sorgen für eine halbwegs heimelige Atmosphäre.

Die Zeit schleicht dahin, und ich widme mich einem Tisch voller schmutziger Gläser und Teller, die sich während meiner Abwesenheit angesammelt haben. Ich schüre den Herd nach und habe Glück, dass er willig angeht und ich mit heißem Wasser spülen kann. Wer hat die Mengen von Geschirr benutzt? Mir ist unterwegs kein einziger Mensch begegnet. Wie ist hier eine solche Anzahl von Leuten eingekehrt und bewirtet worden, während ich mit meinem Mann in Richtung Tal unterwegs war? Kein Wunder, dass die Bäuerin ermattet auf der Bank eingeschlafen ist und sich nicht mehr rührt.

Plötzlich schreckt Dette auf und auch der Bauer steht unvermittelt wieder in der Stube. Er war stundenlang im Schlafzimmer im Erdgeschoss verschwunden. Wie soll er da nachts seine Ruhe finden, wenn er schon bei Tag so viel schläft? Als ob sie Gedanken lesen kann, kommt von Dette eine Antwort auf die ungestellte Frage: »Wenn nichts zu tun ist, muscht sofort raschten.«

So ist das also, nur von wegen nichts zu tun. Mein kleiner Abwasch von einer Stunde wird gekonnt übersehen.

Der Bauer drängt zum Aufbruch. Sein rot angelaufenes Gesicht und sein Schnaufen wirken nicht wirklich gesund. An seinem Kästchen leuchtet ein rotes Lämpchen und ein schwarzer Zeiger ragt auf einer kleinen Anzeigefläche gefährlich weit in den roten Bereich. Alfons muss nach Hause. Fluchtartig wird alles eingepackt und im Auto verstaut.

Etwas ratlos stehe ich nun vor meinem ersten Abend allein mit den beiden Kindern auf der Alm. Sie sind zwölf und vierzehn Jahre alt und kennen sich von der Schule. Florian, der Jüngere, ist zum zweiten Mal auf dem Berg und Tobias den dritten und damit letzten Sommer. Er wird im Herbst eine Lehre als Mechaniker beginnen. Seine Berufswahl lässt mich hoffen, dass es keine Probleme mit dem Notstromaggregat und der Milchzentrifuge geben wird, den beiden wichtigsten elektrischen Dingen hier oben, und ich sehe dem Melken am Abend einigermaßen gelassen entgegen.

Das Melken gehört auch nicht zu meinem Aufgabenbereich, den mir die Vermittlungsstelle für Almhelfer am Telefon ausführlich erläutert hat. Um das Vieh kümmern sich ausschließlich die Buben. Ich mache den Käse und die Butter, koche für die Kinder und bewirte gelegentlich vorbeiziehende Wanderer im kleinen Ausschank.

Als Dette schon im Auto sitzt, fällt mir ein, dass ich keine Vorstellung habe, was ich den Kindern am Abend zu essen geben soll.

»Koch ihnen ›Muis‹«, ruft sie mir bei laufendem Motor zu. Als sie meinen ratlosen Blick sieht, steigt sie entnervt wieder aus. »Was nützt mir denn eine Sennerin, die nicht einmal ›Muis‹ kennt, geschweige denn welches kochen kann!«

Empört stapft sie mitten durch die zurückkehrende Kuhherde und bahnt sich beherzt einen Weg vorbei an den zur Nachtweide drängenden Tieren. Sie eilt in die alte Almhütte, die früher das Wohnhaus war und heute nur noch zum Verarbeiten der Milch dient, und kommt mit einer monströsen eisernen Stielpfanne wieder ins Haus. Der Herd wird erneut geschürt und die Pfanne mit Milch aufgesetzt.

Beim Gedanken daran, dass das Ding ein Dreivierteljahr unbenutzt an der Wand gehangen hat und nun unausgewischt auf den Herd kommt, steigt Ekel in mir auf. Mein Blick spricht Bände.

»Bischt wohl hoakel?«, fragt Dette und übersetzt es auf mein Nachfragen hin als empfindlich. »Hoakel sann mir net, hoakel brauchscht auf der Alm net sein. Bei uns ist gar nie nicht mal eins krank geworden.«

Ich bemühe mich um einen unhoaklen Blick und verfolge das hitzige Werkeln am Herd. In die schäumend kochende Milch kommt eine Art dunkleres Mehl, zu dem mir die Bäuerin nur barsch erklärt, dass es sich eben um Muismehl handelt. Anscheinend ein Vollkorn- oder Maismehl. Der Brei wird lange in der großen Pfanne auf dem Herd gerührt. Die schleimige Masse blubbert vor sich hin, und ab und zu bilden sich Blasen, die spritzend zerplatzen. Immer wieder gelangen Spritzer auf die Herdplatte, wo sie mit lautem Zischen verdampfen. Zurück bleibt eine Schicht Kohle, die mit dem Kochlöffel in den nur einen Spaltbreit geöffneten Holzkasten geschoben wird. Währenddessen soll sich am Boden der Pfanne unter Rühren eine leicht angebrannte braune Kruste bilden: »Schurri«, angeblich das Beste.

Obwohl Alfons mehrfach »Es schmeckt schon« ruft, was zu meinem Erstaunen so viel heißt wie »Man riecht es schon«, gelingt die Kruste nur in der Mitte der Pfanne. Die Zeit eilt, also kommt das Ganze so auf den Tisch. In einer anderen Pfanne wird Butter geschmolzen und mit einem Haufen getrockneter Brotwürfel reichlich über den Brei verteilt. Zu meiner Verwunderung gibt es keine Teller und nach einem gestammelten Tischgebet und zweimaligem Kreuzzeichen essen wir gemeinsam aus der heißen Pfanne. Immerhin bekommt jeder einen Löffel und hält sich, so gut es geht, in seinem eigenen Bereich auf.

Florian lobt das »Muis«. Angeblich hat er sich schon ein ganzes Jahr lang darauf gefreut, wieder »Muis« auf der Alm essen zu dürfen. Bernadette zeigt sich hocherfreut und lobt ihrerseits den braven Hütebuben. Während über der Tischplatte Eintracht demonstriert wird, entsteht unter dem Tisch Unruhe. Tobias tritt Florian mit Wucht gegen das Bein.

»Halt ja dein Maul«, zischt er, »sonst kriegen wir den Fraß wieder andauernd und den Speck frisst sie alleins.«

Die Bäuerin übersieht und überhört das klugerweise und ergeht sich in ausufernden Schilderungen der angeblich so wesentlich besseren alten Zeiten. Da hat man an keinem Tag zu überlegen brauchen, was es zum Abendessen gibt. Es gab immer »Muis«, und die Reste vom Abend wurden am nächsten Morgen zum Frühstück wieder aufgebacken. Ich kann absehen, was mit dem Übrigen in der Pfanne zu geschehen hat, sage aber lieber nichts mehr.

Dazu bleibt auch gar keine Zeit, denn der Bauer, der nur still auf der Bank sitzt, gibt plötzlich ziehende Geräusche von sich. Ich bin überzeugt, dass kann nur der Blutdruckmesser sein, sehe aber dann an seinen blauen Lippen, dass es sein röchelnder Atem ist. Das erschreckt mich zu Tode, und ich sehe im Geist schon den Rettungshubschrauber im Abendlicht landen. Die Bäuerin bleibt gelassen. Hochgradig missmutig unterbricht sie ihre Schilderungen von einundsechzig durchlebten Almsommern mit morgendlichem und abendlichem »Muis« und nimmt für heute endgültig Abschied von uns.

Abschied für diesen Abend, an dem sie zum ersten Mal nicht die Nacht hier verbringt und ihr Ein und Alles, die Alm, einer Fremden überlässt, einer Hergelaufenen aus der Stadt.

Früher und dazumal oder
Der Segen der Elektrischen

Wie sich die Leute im Dorf über die Hilfssennerin das Maul zerrissen, konnte ich von Anfang an hautnah erleben. Bei meiner Ankunft fragte ich im voll besetzten Wirtshaus nach dem Weg zum Kernerhof. Schlagartig waren bei meinem Eintreten die lauten Gespräche verstummt und alle Blicke ruhten auf mir und dem Wirt. Stammelnd gab er mir Auskunft: »Bischt wohl die neue Sennerin von der Kernerin?«

Ich nickte und er erklärte mir maulfaul den Weg: »An der Kirch vorbei und immer nauf. Kannscht gar nit verfehlen.«

Die anfängliche Sprachlosigkeit legte sich und von den Tischen drangen vereinzelt lose Zoten bis an den Tresen: »Wie heischt dann?«, »Bischt ganz allein?«, »Brauchscht nit noch nen feschen Senner?«, »Wart nur, wanns erschte Gewitter kimmt. Wirst glei nach mir greinen. Dein Kammerl kenn i schon.«

»Da kennst mehr als ich«, presste ich heraus und rannte aus der Stube. Hinter mir erklang brüllendes Gelächter.

»Keine drei Tag. Dann bist bei der Gaitlor verhungert«, schrie mir ein anderer hinterher und fügte hinzu: »Bei der Geizigen.«, »Da drauf wett mer«, hörte ich noch durch die Tür.

Jetzt, an meinem ersten Abend allein mit den Kindern auf der Alm, verdrängte ich das alles, so gut es ging. Die Kinder standen auf und gingen zum Melken. Schweigend räumte ich den Tisch ab und begann zum vierten Mal an diesem Tag mit dem Abwasch. Ich war müde und mein Kopf lehnte an dem Hängeschrank über der Spüle. Bilder und Eindrücke der vergangenen Stunden kamen mir in den Sinn, und ich versuchte, meine trüben Gedanken zu verscheuchen.

Ohrenbetäubender Lärm schreckte mich auf. Durch die geöffnete Haustür ging mein Blick über den Zaun zum Stall. Aus einem lose verlegten, ehemals gelben Schlauch quoll stinkender Rauch und ein lärmender Dieselmotor nahm stotternd seine Arbeit auf. Eimer schepperten und schwere, silberne Kannen mit einem Gewirr von schwarzen Schläuchen auf den Deckeln wurden in den Stall geschleift. Hier begann die täglich zweimal zu verrichtende Arbeit der Kinder, unsere zwölf trächtigen Milchkühe zu melken.

Florian, der mit seinem Körperbau den etwas zarteren Eindruck machte, kostete es schon Kraft, die leeren Milchkannen zu schleppen, und seine bleichen, nackten Ärmchen zerrten die Kannen eher hinter sich her, als dass er sie trug. Schwer vorstellbar, wie die Kinder die vollen Kannen ohne Hilfe tragen sollten und wie die Milch, ohne allzu viel zu verschütten, in die Zentrifuge gelangte. Ich beschloss, nichts dem Zufall zu überlassen, stieg in meine Gummistiefel und ging los, um zu helfen. Lieber jetzt mit anpacken, als hinterher literweise Milch aufwischen.

Im Stall war es dämmrig und eine dampfige Wärme schlug mir entgegen. Niemand bemerkte mein Eintreten. Die Buben waren in blaue Arbeitsmäntel geschlüpft und hatten sich einbeinige Melkschemel mit einem breiten Lederriemen umgebunden. Geschickt waren je zwei Kühe mit der Melkmaschine verbunden worden und durch einen durchsichtigen Schlauch strömte die Milch in die Kannen. Der Gestank des Diesels und der Lärm waren im geschlossenen Stall kaum zu ertragen und ich blieb in der offenen Türe stehen. Leise hörte ich die Jungen mit den Kühen reden und ihre Worte wirkten beruhigend auf die massigen Leiber.

Die Kälbchen waren an ihrem Platz angekettet und lagen wiederkäuend auf der Erde. Auch hier wurde gespart, denn die dünne Strohschicht unter den Jungtieren schützte ihre schmächtigen Körper nur kärglich vor dem rauen Stallboden. Trotz des Dröhnens bot sich mir ein friedvolles Bild, und zum Glück war meine Hilfe hier nicht gefragt. Jeder Griff saß und beim Ausleeren der Kübel in kleinere Eimer ging kein Tropfen daneben. Erleichtert, dass die Stallarbeit so gut klappte, schlich ich mich ungesehen davon.

Meine Aufgabe, die Milch zu zentrifugieren, kam ja erst noch, und ich hoffte, jeden von Bernadette gelernten Handgriff richtig wiederholen zu können. Die elektrische Milchzentrifuge stand in der hintersten Ecke der einstigen Almhütte. Sie hatte augenscheinlich die besten Jahre hinter sich und Generationen von Kühen überdauert. Ein Nachbar von Dette hatte den Apparat als veraltet ausrangiert und ihr geschenkt. Jetzt war er unübersehbar ihr ganzer Stolz, ein lärmendes Symbol für vermeintlichen Fortschritt, an dem mir, wie noch bei so vielen Gelegenheiten, ein Rückblick auf die vergangenen Almsommer ihres Lebens gegeben wurde. »Früher und dazumal«, begannen ihre Vorträge. Gern lauschte ich ihren Worten und gab mir Mühe, den für mich fremdartigen Dialekt zu verstehen.

Früher und dazumal, hatte sie mir bei ihrer knappen Einweisung erklärt, wurde die Milch mit der Hand zentrifugiert. Eine strapaziöse und gewissenhaft auszuführende Arbeit, bei der man so gut wie alles falsch machen konnte. Drehte man zu flink am Handrad, blieb zu viel Rahm in der Milch, drehte man zu langsam, enthielt die Sahne zu viel Wasser und war damit zum Buttermachen ungeeignet. Beides bedeutete herbe Verluste, die man sich nicht leisten konnte und die zu vermeiden waren. Das richtige Maß beim Treiben, wie das Bewegen des Handrads hieß, erreichte man, wenn ein kleines Glöckchen, das bei jeder Drehrunde anschlug, immer im gleichen Takt war. Ja nicht zu schnell und ja nicht zu langsam. Oft genug war sie, noch schläfrig am Morgen oder ermüdet am Abend, über der Arbeit des Treibens eingenickt, erzählte mir Dette. Dann musste die Milch wieder zusammengeschüttet werden und die kraftraubende Arbeit begann von vorn.

»Kannscht froh sein, dass des heute elektrisch ist.« Ich nahm mir vor, die Milchzentrifuge besonders pfleglich zu behandeln, stand doch die ausgediente, mit der Hand zu betreibende Maschine mahnend auf dem Regal der alten Küche, und ich verspürte kein romantisch verklärtes Bedürfnis, sie in Betrieb zu erleben. Mir genügten die überholten Details der elektrischen Ausführung.

Auf einem wackeligen dreibeinigen Schemel stand der schwere Motor, unterfüttert von zwei eckigen Holzscheiten, um ihn einigermaßen in der Waage zu halten. Seine ehemals hochmoderne, lindgrüne Hammerschlag-Lackierung war nur noch an einigen Stellen erkennbar, denn die im Lauf der Jahre vorbeigeschüttete Milch hatte ihre Spuren hinterlassen, nur notdürftig abgeputzt mit Lumpen, die auch jetzt bereitlagen. Sie erschienen mir ebenso alt wie die Maschine selbst.

Auf dem Motorblock befand sich eine viele Liter fassende Edelstahlschüssel, gekoppelt mit einem nach exakter Anleitung zusammenzusetzenden Gefüge aus diversen Lochscheiben und kreisrundem Filterpapier. Darunter wies ein Zweiwegesystem der Milch ihren Kurs: ein Auslass für die entrahmte Milch und ein Ablauf für die Sahne.

Es war gut, dass Dette die Zentrifuge noch ein letztes Mal vor mir aufgestellt hatte. Die Milch vom Melken am nächsten Morgen durfte auch noch durchgetrieben werden, danach musste die Anlage bis auf den Motorblock abgebaut, auseinandergeschraubt, gespült, getrocknet und bis zum Abend neu montiert werden. Zweimal benutzen und das Spiel begann wieder von vorn. Beim Auseinandernehmen morgen Früh wollte ich noch einmal besonders gründlich aufpassen. Lieber die Reihenfolge ein für alle Mal aufschreiben, bevor sich am Abend der Milchsee ergoss, der Ertrag des Tages hin und alles aufzuputzen wäre.

Florian kam mit der vollen Kanne über die Wiese und war bester Dinge, mir allem Anschein nach ahnungsloser Sennerin noch einmal die wichtigsten Handgriffe an der Zentrifuge zu zeigen. Einen Eimer hier drunter, den anderen da, dann die Milch mit einem kühnen Guss aus der Kanne in die Schüssel gießen und die Zentrifuge anschalten.

Der vergilbte Melaminkippschalter gab müde nach, und mit einem anschwellenden Summen setzte sich der Motor nach langer Winterruhe in Bewegung. Alles lief wie am Schnürchen. Luftig schäumende Magermilch strömte in den Eimer, und zögerlich tropfte dicklicher Rahm in den bereitgestellten Topf. Jetzt galt es, volle Eimer bei laufendem Motor unverzüglich auszutauschen, rechtzeitig die noch kuhwarme Milch oben nachzufüllen und aufzupassen, dass in der drangvollen Enge keiner gegen einen vollen Kübel stieß und ihn umwarf. Der Junge hatte über den Winter nichts verlernt, und wir schafften es leicht, die beträchtliche Milchmenge zu filtern und zu trennen.

Er kostete es weidlich aus, Herr der Lage zu sein, auch wenn sein inneres Vorurteil, die da von draußen hat wirklich von nichts Brauchbarem eine Ahnung, nur spärlich bestätigt wurde. Wir arbeiteten zügig, und als das Notstromaggregat abgeschaltet wurde, hatten Gestank und Lärm für heute ein Ende.

Stille breitete sich aus, bis auf das fortwährende Läuten der Kuhglocken waren alle Geräusche verstummt. Die Sonne schien unverdrossen, und wenngleich es noch taghell war, saß ich müde auf der Bank. Ich erinnerte mich an Dettes Worte vom Nachmittag: »Sofort raschten, wenn nichts zu tun ist.«

Jetzt war Zeit zum Schreiben und ich überließ mich nach getaner Arbeit der Ruhe und dem nahenden Abend vor dem Haus. Das neue Tagebuch lag unberührt vor mir, sein Magnetverschluss umfasste kraftvoll die leeren Seiten, und Bleistift und Radiergummi harrten auf ihren Einsatz. Endlich konnten die wirren Gedanken sich ordnen, und die Ereignisse der vergangenen Stunden formierten sich zu immer klarer werdenden Bildern.

Als ich anfangen wollte zu schreiben, fiel mein Blick auf meine Füße. Sie steckten strumpflos in verstaubten Sandalen und waren rot angeschwollen. Zwischen den Zehen schwarzer Dreck und der an den Kanten abgestoßene rote Nagellack ein sich auflösender Hinweis auf vergangene Zivilisation. Das Erste, was ich vergessen hatte mitzunehmen, machte sich soeben einen Namen: Nagellackentferner.

Über einen grasbewachsenen Trampelpfad ging ich barfuß zur Tränke, um mir die Füße zu waschen. Weiches Wasser rann ohne Hahn beständig aus einem abgeschnittenen Schlauchstück über meine Beine und floss in einen aus einem Stück Baum grob gezimmerten Holztrog. Von dort ergoss es sich durch ein Loch in der Wanne auf den Boden, lief in einem Rinnsal am Stall vorbei den Hang hinunter und verlor sich vor meinen Augen in der Wiese. Selbst nach der großen Hitze dieses Tages war das Waschen dank des eisigen Wassers mehr als schnell beendet und ich lief mit kalten Händen und Beinen über das raue Gras zurück zur Bank und zum leeren Tagebuch.

Erste Worte sammelten sich auf dem Papier und füllten immer leichter Zeile um Zeile. Die untergehende Sonne blendete mich, mein Rücken schmerzte von den ungewohnten Plackereien des Tages und der zum Schreiben verdrehten Haltung auf der klobigen Bank. Ihr Sinn galt seit Jahrzehnten nur dem Einnehmen schlichter Mahlzeiten, und das dunkle, grob bearbeitete Holz von Bank und Tisch schien sich gegen jede andere Art der Nutzung sperrig zu wehren.

Mein Tun war den Kindern fremd. Schon nach wenigen Minuten kamen sie angelaufen, um sich zu erkundigen, wie man freiwillig und ohne Schule so viel schreiben konnte. »Bischt am Ende Lehrerin da draußen?«, meinte Tobias, und Florian atmete erleichtert auf, als ich verneinte.

Schule und alles, was dazugehörte, bereitete ihm erheblich Unbehagen. Nur zögerlich gestand er mir, dass in den zwölf Wochen der Südtiroler Sommerferien, die jetzt vor uns dreien lagen, eine Unzahl Hausaufgaben zu erledigen waren, bei denen er auf meine Hilfe hoffte. Das war neu für mich, und ich verkniff es mir, die Details abzufragen. Bitte nicht hier und heute an diesem wohlverdienten ersten Feierabend.

Die Kinder langweilten sich und hatten sich von meiner Gesellschaft eindeutig mehr Unterhaltung erhofft. Als Nächstes begann ein großes Raten über meinen Beruf – die beiden führten sich auf, als ginge es um Rumpelstilzchens Namen. Gequält spielte ich eine kurze Zeit mit. So hatte ich mir meine Abende garantiert nicht vorgestellt. Stundenlang die Kinderbelustigerin und demnächst die Hilfslehrerin zu sein, war auf Dauer nicht mein Ding. Am Ende taten mir die beiden dann doch leid und mehr oder weniger freiwillig ging ich mit und ließ mich in der Hütte in die Grundzüge des Wattens einweihen. Da hatten wir zu dritt kaum Spaß, und ich war fein raus, denn man benötigte immer zwei oder vier Mitspieler. Das heimische Kartenspiel mit seinen seltsamen Karten und mir unbekannten Regeln war für mich zunächst fremd. Ohne diese auch nur annähernd zu kennen, warf ich wahllos eine meiner fünf Karten auf den Tisch und bekam unverdient einen Stich zugeschoben. Die Buben wechselten sich als Gegner für mich ab und ohne jedweden Durchblick und jedwedes Zutun gewann ich mehrmals an diesem Abend. Ungläubig bestauntes Anfängerglück.

Im Spiel war Tobias Florian haushoch überlegen; der Jüngere wurde rasend vor Zorn, wenn er an seine Grenzen geriet. Dafür konnte Tobias nicht gut verlieren und rastete leicht aus, wenn sich die Runde zu seinen Ungunsten entwickelte. Ich versuchte zu schlichten, wo es nur ging, doch bald hatte ich keine Lust mehr, den Streithammeln als Partnerin zur Verfügung zu stehen.

Währenddessen war die Nacht über uns hereingebrochen und die Kühe hatten sich auf der eingepferchten Nachtweide zum Schlafen gelegt. Ihre wiederkäuenden Mäuler bewegten unermüdlich die Glocken an ihren Hälsen und es erklang eine vielstimmige Serenade für drei einzelne Zuhörer unter einem unermesslichen Firmament.

Die Kinder waren müder, als sie es mir eingestehen wollten, und ich zeigte mich milde gestimmt und erlaubte ein Zubettgehen ohne Waschen und Zähneputzen. Sicher eine willkommene Nachlässigkeit meinerseits, aber die Tür für erzieherische Schlupflöcher aller Art war früher als gedacht einen Spaltbreit auf. »Du darfst dir nichts gefallen lassen, sonscht tanzen sie dir immer auf der Nase rum. Vergiss nicht, du bischt die Sennerin, auf dich müssen sie hören. Zieh sie dir beim ersten Stück Brot.« Dettes Worte hallten durch mein Gehirn.

An diesem Abend war ich zu müde zum Denken und zum Handeln sowieso. Nachdem ich die beiden Haustüren und die Fenster unten geschlossen hatte, stolperte ich im Stockdunklen die steile Stiege hinauf in mein Bett. Ruhelos wälzte ich mich auf dem krumpligen Laken, und der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Durch die zum Giebel offene Holzbalkendecke hörte ich die Jungen atmen und Florian husten, als ob sie direkt neben mir lägen. Jede ihrer Bewegungen im Bett trug der schwingende Dielenboden zu mir herüber. Da hätte man uns gleich wie früher gemeinsam in einem Raum schlafen lassen können. Am besten vereint mit den Kühen, denn deren Geläute und ihr schweres Atmen, wenn sie eingeschlafen waren, drangen ebenfalls von der Weide ungehindert in meine Kammer.

Ich war unruhig wegen der Kerzen, in deren Licht wir gesessen waren, und stand wieder auf, um nachzusehen, ob sie auch wirklich aus waren. Diesmal mit Taschenlampe. Unten angekommen, schaute ich auch gleich nach dem Herd. Das Feuer war ausgegangen und somit meine Hoffnung, es bis zum Morgen bei Laune zu halten, buchstäblich erloschen. Auch die Kerzen waren aus, aber bereits an diesem Abend spürte ich, dass es noch öfter einen Gang zu Herd und Kerzen in der Nacht geben würde. Nicht auszumalen, dieser Alptraum, wenn das Holzhaus über uns in Flammen aufginge und wir darin eingesperrt wären.

Dieser Gang mit nackten Füßen und im Nachthemd erinnerte mich daran, wie ich manchmal als Kind nachts aufgestanden war, um nach meinen Hasen zu schauen. Siedend heiß fiel mir mitunter mitten in der Nacht ein, dass am Abend die Tür vom Hasenstall noch offen sein könnte. Der Verschlag mit dem Drahtfenster stand am Ende des Gartens, fast am Nachbarzaun. Mit klopfendem Herzen lief ich über die feuchte Wiese zu den Tieren. Die Tür war zu und alles in guter Ordnung. Hin und wieder fehlte am Morgen dennoch ein Hase. Obschon es kurz darauf in der Küche nach Braten roch, versicherte unsere Mutter, der Hase sei bestimmt nur weggelaufen, weil ich wieder die Tür nicht richtig verschlossen hatte.

Lange ersehnt, kam auch für mich in dieser Nacht endlich der Schlaf, und ich versank bis zum Morgen in der tiefen Kuhle einer ganz und gar durchgelegenen Matratze. Quälend schwer belegt mit einer fliederfarben bezogenen Zudecke, gefüllt mit einfachsten Hühnerfedern.

Morgenappell oder
Keine Angst vor Rindviechern

Am nächsten Morgen erwachte ich zu spät. »Wenscht alles schaffen willst, muscht spätestens um halber sechse raus«, hatte mir Dette schon bei meiner Einarbeitung mitgeteilt. Nun war es halb sieben. Die Sonne schien voller Kraft durchs Fenster herein und tauchte die Stube in gleißendes Morgenlicht. Keine Wolke am blauen Himmel. Keine Minute Zeit, den weiten Blick über Weiden und Wegkreuz bis zu den in feuriges Morgenrot getauchten Dolomiten am Horizont zu genießen. Die Melkkühe schrien und zerrten im Stall an ihren Ketten.

Ich stürmte, wie ich war, zu den Buben, um sie zu wecken. Tobias war sofort hellwach und sprang in die am Boden liegenden Kleider. Im Nachthemd und mit offenem zerzausten Haar sah ich mehr als unmöglich aus, und seinem abfälligen Blick war zweifelsfrei zu entnehmen, dass sich morgens auf einer Südtiroler Alm keine normale Sennerin oder Frau so vor seinem Angesicht zu zeigen hatte. Macho, fuhr es mir durch den Kopf. Für dieses Mal sparte ich mir meinen Atem und hielt den Mund. Für Diskussionen war jetzt keine Zeit. Florian rührte sich nicht, aber ich überließ es Tobias, seinen Kollegen aus dem Bett zu holen.

Ich rannte nach unten und plagte mich mit dem Feuer. Bloß nicht die nächste Blamage vor den pubertierenden Knaben erleben und für den Ofen ihre Hilfe brauchen. Das musste jetzt klappen. Ofenloch auf, Späne hinein, Esbit dazu, Schieber am Herd auf, Klappe am Kamin weit öffnen und anstecken. Ich hatte mir alles lückenlos gemerkt. Jetzt brauchte ich es nur in der richtigen Reihenfolge auszuführen. »Das Erschte, wascht morgens brauchscht, ist heißes Wasser«, wiederholte ich Dettes Worte in meinem Hirn.

Über meinem Kopf war in der Stube der Kinder ein lauter Streit ausgebrochen. Florian wollte nicht aufstehen, und die beiden schrien sich mit derben, sicher nicht für Zuhörer gedachten Ausdrücken an. Zu meiner ungeteilten Freude diesmal auf Italienisch.

Das Esbitstück verbrannte, ohne dass auch nur ein Span Feuer gefangen hatte. Leise Unsicherheiten schlichen sich ein, ob das mit dem Schieber und der Klappe so herum richtig war. Neues Esbit hinein. Kleinere Späne darauf schichten, neu anstecken. Auch diesmal passierte nichts und rasch waren die erst leicht angekohlten Späne erloschen. Also alles noch einmal, nur jetzt die Kette am Kamin herunterziehen. Vielleicht war sie ja vorher offen gewesen und ich hatte sie versehentlich geschlossen.

Unter dem Dach tobte ein erbitterter Kampf, bei dem nun auch Möbel umhergeschoben wurden. Ich ließ den Herd Herd sein, stürmte die Treppe hinauf, zog mir meine Kleider über das Nachthemd und lief, um die beiden Streitenden zu trennen.

»Tobias, sofort in den Stall zum Melken, und Florian, sofort aufstehen und hinterher.« Mein Gebrülle, mein eigener Ton und die Härte in meinen Worten verstörten mich selber, und die Kinder lernten die geduldige und lammfromme Städterin vom Vorabend neu kennen. Verschreckt von meinem Eingreifen schlüpften sie in ihre Gummistiefel und stürzten, eine wüste Spur von Stroh und getrocknetem Kuhmist hinterlassend, die Treppe hinunter. Das Thema Gummistiefel in den Schlafkammern und morgendliches Wecken würde ich gleich beim Frühstück klären und beide später ihren Dreck auffegen lassen. So nicht, meine Herren, nicht mit mir. Ich bin hier nicht die Magd.

In der Küche musste ich mir den Weg durch dicken Qualm bahnen. Die Buben hatten den Raum wortlos durchquert, die Tür aufgeschlossen und sperrangelweit hinter sich offen gelassen. Ihre Gedanken, wie man mit so einer Damischen aus der Stadt sein Dasein fristen sollte, hatten sie dagelassen und diese hingen wie die dicke Luft mit in der Stube. Ungeduldig mühte ich mich erneut, den eisernen Herd in Gang zu bekommen. Diesmal gelang es.

Vom Stall her dröhnte das Aggregat und über den blühenden Weiden mischte sich der Rauch des Dieselmotors mit Dunstschwaden aus der Küche in der lauen Morgenluft.

Wenig später war Florian mit dem Melken fertig. Er kam über die Wiese gelaufen, um warmes Wasser zum Spülen der Schläuche und Kannen zu holen. Das große Wasserschiff hatte sich in der kurzen Zeit nur mäßig erwärmt. Der Bub war froh, eine Weile auf der Bank vor der Hütte auf heißeres Wasser warten zu dürfen. Blass, schwächlich und unausgeschlafen saß er still auf der Bank und träumte mit offenen Augen. Mir taten die Kinder leid. Wie noch oft in diesem Sommer dachte ich daran, was unsere Stadtkinder zu solchen »Ferien« sagen würden.

Florian war mit neun Jahren zum ersten Mal monatelang von zu Hause fort gewesen, bei fremden Leuten und harter körperlicher Arbeit auf dem Berg. Mit Kost und Logis und einem mageren Taschengeld von drei Euro am Tag. Er war das dritte von sechs Kindern, und seine Mutter, die ich unten im Dorf kurz kennengelernt hatte, legte mir ihren Buben mit knappen Worten ans Herz. Dabei konnte ich leicht spüren, dass sie froh war, für viele Wochen einen Esser weniger am Tisch zu haben. Sie kündigte ihren Besuch an einem der nächsten Wochenenden an, um Florians Wäsche zu holen und nach ihm zu schauen. Warm anziehen sollte er sich, besonders morgens und abends, und das Zähneputzen nicht auslassen. Nach dem vorigen Sommer hatte er angeblich acht Löcher in den Zähnen gehabt und das ganze zu Hause so dringend erwartete Taschengeld war für die Zahnreparatur draufgegangen.

Ich versprach, mich zu kümmern, und versagte doch gleich am ersten Tag mit dem Zähneputzen. Auch für sein zerschlissenes Hemd war es auf der Schattenseite des Hauses noch zu kühl, wo er doch bereits hustete. Ich holte meine Jacke vom Haken und warf sie ihm auf den Schoß. Willig schlüpfte er hinein, nahm den Eimer mit dem heißen Wasser und verschwand im Stall. Nicht ohne mir vorher zuzuflüstern, dass er mir gleich beim Zentrifugieren der Milch Beistand leisten werde. Das freute mich und ich war dankbar für die Hilfsbereitschaft. Das war nicht selbstverständlich, denn unsere Aufgaben waren klar eingeteilt, und mir bei einer Arbeit für »Weibersleut« zur Seite zu stehen, setzte ihn dem zu erwartenden Gespött des älteren Kumpanen aus.

Schnell machte ich Frühstück, bevor ich mich um die frisch gemolkene Milch zu kümmern hatte. Für diese Mahlzeit war noch genug Brot da, aber für morgen würde es nicht mehr reichen. Mit Bangen dachte ich an die Herausforderung, zum ersten Mal Brot im altertümlichen Holzofen zu backen.

Vielleicht hatte ich den Mund ja auch zu voll genommen, als ich der Agentur, die mich als Sennerin auf die Stelle vermittelte, zusagte, die Arbeiten wie Kochen, Backen, Waschen und Putzen auch ohne Strom zu bewältigen. Nun war es zu spät, darüber nachzudenken. Ich war da und die viele ungewohnte Arbeit, bei der mir zwei halbwüchsige Kinder zur Seite standen, ebenfalls.

Draußen riefen die Jungen nach mir, und ich half mit, die zerbeulten Kannen, voll mit schaumiger Milch, ins alte Wohnhaus zu bringen. Die Zentrifuge wartete auf ihren morgendlichen Einsatz, denn das Aggregat lief. Melken, Zentrifugieren und das gleichzeitige Aufladen unserer Mobiltelefone waren die einzigen Verrichtungen, für die Strom gemacht wurde. Nach einer kurzen Besichtigung des Aggregats in einem Verschlag des Stalls hoffte ich, dass auch diese überalterte Anlage noch diesen Sommer überstehen werde.

Alles lief glatt. Florian half mir, so gut es ging. Er schüttete, filterte und zentrifugierte mit Inbrunst, um sich zwischendurch in jeder noch so kleinen Pause erschöpft und nach Luft schnappend auf die harte Bank zu setzen. Rechtzeitig tauschte er volle gegen leere Gefäße aus und sicherer als am Abend zuvor war die Milch verarbeitet und kein Tropfen danebengelaufen. Der Motor wurde abgeschaltet und die plötzlich wieder herrschende Lautlosigkeit drang bis in den entferntesten Winkel.

Jetzt galt es, die Zentrifuge in ihre abwaschbaren Teile zu zerlegen und zum Spülen mit ins Haus zu nehmen. Aufgebaut wirkte die Milchzentrifuge unscheinbar und sah harmlos aus wie ein Mixer. Sie zerlegte sich jedoch mit diversen Handgriffen in genau achtundvierzig Einzelstücke, jedes nach Gebrauch rahmiger und fettiger als das andere. Zuerst kam ein gründliches Vorwaschen im alten Abwaschwasser des Frühstücksgeschirrs, und dann hatte ich zu tun, alle Teile, hauptsächlich gelöcherte Siebteller, aus der Brühe herauszufischen. Danach sah die Sache schon halbwegs passabel aus und mit viel frischem Wasser und Spüli wurde auch das letzte Stück sauber. Die Teile durften dann von allein trocknen und mussten bis zum abendlichen Melken rechtzeitig wieder aufgebaut sein.

Der Tisch war schnell gedeckt. Außer für das aus vielen Leben zusammengestückelte Geschirr musste nur Platz für eine geriffelte Glaskanne mit Nutella, ein Glas hausgemachte Marmelade, Butter und Zucker gefunden werden. Die Buben sollten die abgekochte und gefilterte Milch von unseren Ziegen mit Kakao trinken. Ich setzte Wasser auf, um mir Kaffee aufzubrühen. Filtertüten und Kaffeepulver hatte ich mir selbst mitgebracht. Dass es für jeden einen Teller gab, sorgte für Verwunderung. In jedem Jahr habe man sein Brot auf dem Wachstuch geschmiert und geschnitten und wolle das auch in Zukunft so halten. »Das ist überflüssig«, stellte Florian fest. Tobias merkte sofort an, mir nicht beim Abtrocknen zu helfen, wenn ich weiter so verschwenderisch mit den Tellern umginge. Das überhörte ich geflissentlich. Mir hatte die gestrige Mahlzeit gereicht, bei der alle aus einem Trog aßen.

Am Abend zuvor hatte ich nah am Haus an einer Böschung das Nest einer am Boden brütenden Feldlerche entdeckt. Sie flog aufgeregt in die Luft, als ich den Kindern die vier kleinen, dunklen Eier zeigte. Nach dem Tischgebet berieten wir, wie sich das Nest so sichern ließ, dass keine Kuh hineintrat und die Vogelmutter ungehindert zu ihren Jungen konnte. Da uns keine brauchbare Lösung einfiel, blieb nur, der Natur ihren Lauf zu lassen. Der Gedanke an ein zertrampeltes Nest und die wehrlose Vogelmutter trieb mir Wasser in die Augen, und ich musste mich vor den Jungen am Riemen reißen, um nicht erneut loszuweinen. Die Tränen saßen um einiges lockerer als im Tal, und es war gut, dass das Handy von Tobias klingelte und mich ablenkte. Es war die Bäuerin, die ihren Hirten sagte, wohin sie heute die Herde zum Weiden treiben sollten.

Ich lauschte dem Gespräch. Tobias log, wie es besser nicht ging. Genau dorthin seien sie mit den Kühen schon lange unterwegs. Kein Wort davon, dass wir um neun noch beim Frühstück saßen, der Stall nicht ausgemistet war und ich weder die Schweine gefüttert noch Brot gebacken hatte. Ich trieb die Kinder zur Eile, denn ich fürchtete, Dette werde gleich bei mir anrufen und das Geläut der Kühe auf der Nachtweide hören oder gar schon im Auto sitzen, um nach uns zu schauen. Aber alles blieb ruhig, kein Anruf, kein Auto, kein Besuch. Die Batterie vom elektrischen Weidezaun wurde abgeklemmt und die Kinder ließen die Melkkühe aus dem Stall und zogen mit ihnen zu einer höher gelegenen Wiese.