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Gerd Fischer

Rotlicht Frankfurt

Thriller

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eISBN 978-3-947612-64-2

Copyright © 2019 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Mia Beck

Covergestaltung und Bildrechte: Lukas Hüttner

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Inhalt

Buch

Autor

Prolog

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

Epilog

Buch

Ihre Augen verfolgen mich. Ihre Augen sind mein Blut …

Der Frankfurter Journalist Benjamin Brick hat das Gespür für gute Storys und ist auf der Spur der Escort-Agentur Starlight, die minderjährige Prostituierte an Promis vermittelt. Eines Nachts wird Brick zu einem Date eines Promis mit einem Mädchen gerufen, doch Brick findet sie vor Ort tot auf.

Für ihn bricht eine Welt zusammen, als er kurz darauf erfährt, dass es sich um seine uneheliche Tochter handelt. Er sieht rot und schwört Rache. Macht sich auf die Jagd nach ihrem Mörder.

Doch ihm kommt in die Quere, dass Handybilder von ihm am Tatort existieren. Plötzlich ist er der Gejagte, steht unter Mordverdacht und muss untertauchen. Langsam dämmert ihm, dass er an den Tatort gelockt wurde, weil ihm jemand den Mord in die Schuhe schieben will. Ein Komplott. Aber von wem? Und warum?

Die schockierende Erkenntnis: Sie wollen ihn fertigmachen, weil er einen Artikel über die finsteren Machenschaften von Starlight veröffentlichen wollte.

Doch der eigentliche Albtraum für Brick lässt nicht lange auf sich warten …

Autor

Gerd Fischer, 1970 in Hanau geboren, studierte Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, wo er seit 1991 lebt.

Fischer hat sich einen Namen gemacht mit seiner Frankfurter Krimi-Serie um Kommissar Andreas Rauscher. Bisher erschienen: „Mord auf Bali“ 2006 (Neuauflage 2011), „Lauf in den Tod“ 2010, „Der Mann mit den zarten Händen“ 2010, „Robin Tod“ 2011, „Paukersterben“ 2012, „Fliegeralarm“ 2013, „Abgerippt“ 2014, „Bockenheim schreibt ein Buch“ (Hrsg.) 2015, „Einzige Liebe – Eintracht-Frankfurt-Krimi“ Februar 2017, „Ebbelwoijunkie“ Dezember 2017 und „Frau Rauschers Erbe“ Dezember 2018.

Prolog

Das Stelldichein der Lady und des Eintracht-Profis sollte in der Frankfurter Innenstadt stattfinden. Brick malte sich schon die Schlagzeile aus: „Starfuckers – Sex mit Promis!“ Ein solcher Termin verlieh ihm jedes Mal aufs Neue einen Kick.

Noch eine knappe Stunde. Er band seine schulterlangen Haare zum Zopf zusammen, schnappte seine Canon EOS 1D und machte sich auf den Weg vom Gutleutviertel zum Velvet-Club. Er freute sich auf die Bilder, die ihm einen Batzen Geld in die Kasse spülen würden. Sie waren die letzten Mosaiksteinchen für eine große Reportage.

Bricks alter Golf Cabrio war noch einigermaßen in Schuss. Er fuhr runter an den Main, parkte und lief etwa hundert Meter bis zur Seckbächer Gasse, dem Treffpunkt der beiden. Die Sterne strahlten um die Wette in dieser lauen Sommernacht. Auf den Straßen war Hochbetrieb. Betrunkenes Partyvolk, Nachtschwärmer, Touristen, viele Asiaten, die nach einem Tag Sightseeing durch Frankfurts Hochhausschluchten und die neue Altstadt auf dem Weg zurück ins Hotel waren. Auch Männer in dunklen Anzügen und Frauen in kurzen Sommerkleidern waren unterwegs, Besucher der Oper oder des Schauspielhauses.

Zehn Minuten zu früh kam Brick in der kleinen Seitenstraße an, die zum Keller des ehemaligen Karmeliterklosters führte. In Ruhe suchte er ein geeignetes Plätzchen, um den Eingang ins Visier nehmen zu können, und verschanzte sich hinter einer kleinen Mauer, die an den Vorgarten des Klostergrundstücks grenzte. Ein Baum bot ihm Sichtschutz. Von hier aus waren es etwa dreißig Meter bis zum Treffpunkt, den ihm sein langjähriger Informant Gustav gesimst hatte. Der Eingang lag im Zwielicht einer Straßenlaterne. Die Helligkeit würde für einen guten Schnappschuss ausreichen.

Brick stellte sich in seinen Unterschlupf und wartete. Die Warterei gehörte zu seinem Job, aber die wenigen Minuten bis zum Eintreffen des Zielobjektes hasste er. Sie machten ihn nervös. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, prüfte die Kameraeinstellungen und justierte das Objektiv. Wenn er ein wichtiges Motiv vor der Linse hatte, gab es nichts Ärgerlicheres als ein verhunztes Bild aufgrund technischer Probleme.

Ihm war nach einer Kippe, aber er verschob den Gedanken und prüfte nochmals die Einstellungen der Kamera … und erschrak. Da lag etwas! Auf dem Boden vor dem Klosterkeller.

Er war verblüfft, zoomte näher. Ein Mensch? Er holte es näher heran. Vergrößerte es, versuchte, es scharf zu kriegen. Tatsächlich.

Fuck! Unvorhergesehene Details ärgerten ihn und brachten ihn aus dem Konzept.

Brick blickte sich hektisch um. Niemand war zu sehen. Er verließ sein Versteck, bewegte sich vorsichtig vorwärts und achtete darauf, im Schutz der Mauer zu bleiben. Schritt für Schritt näherte er sich der Stelle. Mit jedem Meter, den er weiterging, festigte sich seine Vermutung. Dort lag ein Mensch mit blonden Haaren. Das war doch nicht etwa …?

Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Es konnte sich um die Protagonistin des heutigen Abends handeln. Gustav hatte sie kurz beschrieben: Blondine, sexy Mörderfigur, heiß wie die Hölle!

Diese Nacht schien ihm irgendwie zu entgleiten. Er musste zusehen voranzukommen und beeilte sich. Ein letzter Rundumblick, dann hechtete er weiter und setzte die Kamera vors Auge. Als er nahe genug dran war, schoss er kurz hintereinander etliche Bilder. Der Körper schien verdreht. Sie sah sehr jung aus. Die Augen blickten starr. An der rechten Schläfe klaffte eine Wunde. Blut war ausgetreten. Könnte sich um einen Einschuss handeln.

Verdammt! Brick bekam Panik. Schaute wie wild um sich. Immer noch keine Spur von dem Typen, ihrem Date. Auch sonst war alles ruhig.

Wie von unsichtbarer Hand gezogen kniete er sich neben die Tote. Klick! Klick! Klick! Seine Hand fuhr nach vorne. Am liebsten hätte er ihre Augen geschlossen, doch er zog seine Finger zurück. Er durfte sie keinesfalls berühren. Trotzdem war er kurz davor, ihre Hosentaschen zu durchwühlen. Aber er durfte keine Spuren hinterlassen und ließ es bleiben.

Brick atmete durch. Er brauchte eine Idee. Was sollte er tun? Die Polizei verständigen? Die Situation ausnutzen und mehr Bilder machen? Versuchen, sie zu verkaufen? Oder die Bilder der Kripo übermitteln?

Er fühlte sich überfordert. Ließ seinen Blick hektisch über die Straße und den kleinen Platz schweifen. Gespenstisch still. Schweiß trat auf seine Stirn. Okay, cool bleiben!

Aus seiner Zeit als Polizeireporter wusste er, wie man einen Tatort unter die Lupe nahm. Er erhob sich und sah sich um. Untersuchte den Boden unmittelbar neben der Frau. Eine ausgerauchte Kippe, Marlboro. Klick! Ein Stück daneben: zusammengeknülltes Papier. Klick! Fußspuren waren auf den Steinplatten keine auszumachen. Er erweiterte den Radius. Entdeckte noch ein Centstück. Klick! Und weitere Kippen. Klick! Klick! Klick!

Jetzt wurde es Zeit zu verschwinden. Er wandte sich wieder der Mauer zu, nahm den Ort ein letztes Mal in Augenschein. Noch immer war er mit der Toten allein. Die Gegend schien wie ausgestorben.

Bevor er sich umdrehte und verschwand, streifte er das Mädchen noch einmal mit den Augen, als hoffte er, sie könne ihm sagen, was hier vorgefallen war. Er hätte so gern mit ihr gesprochen. Doch sie würde nie mehr reden. Kein Sterbenswort.

KAPITEL 1

1

Die Augen der Toten holten Brick aus dem Schlaf. Er schreckte hoch. Verdammt! Er hatte unruhig geträumt. Immer wieder diese Augen. Sie hatten ihn angeschaut. Eindringlich.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn, aber er konnte es nicht einordnen.

Er setzte sich aufrecht ins Bett. Es war 4.15 Uhr. Sein Schlaf ließ seit einiger Zeit zu wünschen übrig. Durchschlafen war zu einem Fest geworden. Kam fast nie vor.

Er stand auf, rückte seine Eier, die sich verklemmt hatten, in der Boxershorts zurecht, ertastete den Schalter und machte Licht. Ein tiefes Gähnen begleitete ihn ins Wohnzimmer. Er ging an den Laptop und fuhr ihn hoch. Augenblicklich begann das monotone Surren. Er taperte verschlafen in die Küche, öffnete den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Zum Glück hatte er immer eine extra Tafel Zartbitter im Gemüsefach ganz hinten. Er nahm sie heraus, brach ein großes Stück ab und verstaute den Rest wieder.

Sein Blick fiel auf die halbvolle Flasche Pernod auf der Ablage. Er schenkte sich ein halbes Glas ein, den Rest füllte er mit Wasser auf und nippte daran. Die Flasche nahm er mit.

Auf dem Weg zum Laptop warf er einen Blick hinaus auf die Straße. Das Gutleutviertel lag im Dunkeln. Die Stadt Frankfurt hatte ab einer bestimmten Uhrzeit die Laternen auf halbe Power geschaltet, um Energie zu sparen. Menschenleer, kein Wunder. Kein Auto war zu sehen. Nichts war zu hören.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schluckte den letzten Bissen Schokolade hinunter. Kurz überlegte er, sich den Rest der Tafel aus dem Kühlschrank einzuverleiben. Er entschied sich dagegen, trank stattdessen Pernod.

Die Bilder waren gelungen. Düster, aber scharf. Die Tote klar erkennbar. Er klickte die gesamte Serie durch. Er hatte sie aus sämtlichen Perspektiven aufgenommen. Aus der Ferne. Close-ups. Portraits und Ganzkörper. Auch die Umgebung hatte er aus verschiedenen Blickwinkeln festgehalten. Er schaute sich jedes einzelne Bild lange an. Die Szenerie ließ ihn frösteln, obwohl es in der Wohnung annähernd 25 Grad waren.

Diese Augen. Sie hatten ihn bis in den Schlaf verfolgt. Machten ihm Angst. Warum? Er zoomte sie heran, ganz nah. Sie waren dunkelgrün. Und das Weiße, das um die Iris lag, sah verschwommen aus, zerfurcht von zarten roten Rinnsalen.

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sie wollten ihm etwas sagen, diese Augen. Das fühlte er. Ihm etwas mitteilen. Aber was? Den Namen des Mörders? Wer hatte das Mädchen auf dem Gewissen? Etwa ihr Date? Treffen wollte sie sich mit Mike Balisch, einem aufstrebenden Fußballer der Eintracht. Ein eingebildeter Fatzke, der gerne im Rampenlicht stand. Er hatte was drauf, seine Beine liefen schneller als die anderer Spieler, sein Schuss war genauer und härter. Er hätte es zu etwas bringen können. Vielleicht sogar bis in die Nationalmannschaft, bis zur Europa- oder Weltmeisterschaft. Stattdessen kickte er bei der Eintracht im offensiven Mittelfeld und nicht bei den Bayern, bei Dortmund oder einem internationalen Club mit wohlklingendem Namen. Und das hatte seinen Grund: seine Eskapaden außerhalb des Platzes. Er war bereits zweimal in eine Discoschlägerei verwickelt gewesen. Seine Ehe mit Dorothee Prenzlau war in die Brüche gegangen. Die TV-Moderatorin hatte ihn vor laufenden Kameras bezichtigt, sie betrogen zu haben, und war in einem Weinkrampf zusammengebrochen. Ideales Futter für die Klatschpresse. Monatelang hatte Mike Balisch sämtliche Titelseiten der Regenbogenpresse geziert. Seiner Karriere hatte das geschadet. Seine Leistungen hatten nachgelassen. Ein neuer Trainer, der vor der Saison die Eintracht übernommen hatte, wollte ihm wieder eine Chance geben. Aber gegen die Paparazzi, die Reporter, die Schreiberlinge, die sich an ihn hefteten wie Kletten, weil sie in seiner Nähe einen neuen Skandal witterten, hatte Balisch keine.

Für Brick war Mike Balisch auch kein Unbekannter. Er hatte ihn schon mehrfach abgelichtet. Bei Bällen und Empfängen. Für einen Schnappschuss in einer Disco, der Balisch Arm in Arm mit einer aufgebrezelten Brünetten zeigte, hatte er richtig viel Knete bekommen. Er hatte das Bild exklusiv. Und für Exklusivität bezahlten die Medien am liebsten – und am meisten.

Hatte Mike Balisch die Tote überhaupt getroffen, oder war das Treffen geplatzt, weil sie längst tot gewesen war? Dieser Gedanke schien relevant. Brick notierte ihn. Er glaubte nicht daran, dass Balisch bereits vor Ort gewesen war. Aber wer dann?

Was wusste er von dem Mädchen, fragte sich Brick. Nicht viel. Sie war eine sogenannte Starfuckerin. Ein junges Ding, das sich an Promis verkaufte, um sich mit ihnen ablichten zu lassen und so den Sprung in die Medien zu schaffen.

Zahia Dehar, die mit Franck Ribéry von Bayern München eine Nacht in einem Pariser Hotel verbracht und es danach bis zur Modedesignerin gebracht hatte, war das prominenteste Beispiel einer Starfuckerin und Vorbild für viele junge Dinger. Als Brick damals von dem Vorfall in der Zeitung gelesen hatte, war er wie elektrisiert gewesen und wollte sich des Themas annehmen. Er ahnte, dass das nur die Spitze des Eisbergs war. Und er sollte recht behalten. Brick hatte klug recherchiert und war einer Frankfurter Escortagentur auf die Schliche gekommen, die minderjährige Prostituierte an Promis verkaufte. Die Frauen wollten dadurch tatsächlich berühmt werden.

Inzwischen hatte sich diese spezielle Branche zu einem flächendeckenden System ausgeweitet. Und Brick war den Oberbossen auf den Fersen und kurz vorm Ziel. Seine Reportage war quasi geschrieben, sein Chef bei der Frankfurter Presse hatte sie bereits abgenickt. Es gab noch ein paar Details zu überarbeiten, aber das würde er spielend hinkriegen.

Und jetzt das!

Irgendein Mistkerl hatte ihn nicht nur um den Schlaf gebracht, sondern auch um die Knete für die Reportage, die er gut hätte gebrauchen können. Die Auftragslage war mau. Die Preise im Keller.

Brick ärgerte sich. Die Bilder mit Balisch und der Blondine hätten die Reportage abgerundet. Sollte er auf sie verzichten und sie trotzdem bringen? Er musste mit seinem Chef darüber sprechen.

Während er intensiv nachdachte und dabei geistesabwesend die Wand anstarrte, klingelte es an seiner Wohnungstür. Seine Laptopuhr zeigte 6.10 Uhr an. Das konnte nur seine Nachbarin Elisa sein. Um diese Uhrzeit hatte außer ihr noch nie jemand bei ihm geklingelt.

Brick schlich über die alten Dielen zur Wohnungstür, warf einen Blick durch den Spion. Tatsächlich! Er öffnete.

„Komm gerade vom Arbeiten und hab Licht gesehen“, hauchte sie ihm entgegen.

„Hallo Elisa“, sagte er und hoffte, dass sein Tonfall nicht allzu unfreundlich klang, denn eigentlich wäre er lieber allein gewesen.

„Darf ich reinkommen?“

Er trat einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Geste. Sie schwebte an ihm vorbei in seine Vier-Zimmer-Altbauwohnung.

Brick warf einen Blick ins Treppenhaus. Alles ruhig. Er schloss die Tür und folgte Elisa ins Wohnzimmer. „Und, wie war’s an der Stange?“

Er warf einen Blick in ihr Gesicht. Elisa war noch jung, knapp über zwanzig Jahre alt, aber der harte Job zeichnete sich bereits ab. Ihre eigentlich sehr schönen Augen blickten müde, ihre langen schwarzen Haare hatten den Glanz verloren, ihr kleiner Schmollmund zuckte nervös. Die Nachtschicht schien ihr wieder einmal zugesetzt zu haben.

„Das Platinum geht mir auf den Sack. Nix los heute, aber da war so ein Arschgesicht, der mich begrabschen wollte mit seinen Wichsfingern.“ Sie klang mit einem Male deprimiert. „Ich brauch nen neuen Job. Hast du einen?“

Brick musterte sie weiter, ruhig und gleichmäßig. Sie trug eine knallenge Jeans, die ihren Po betonte, High Heels und ein Top. Dafür, dass sie so skinny war, hatte sie eine enorme Oberweite. Die Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hielt ein Handtäschchen unterm Arm, das im nächsten Moment auf die Couch flog.

„Ich geb dir nen Tipp“, sagte Brick und hatte dabei das Gefühl, wie ein alter Onkel zu klingen. „Hau ab aus dem Rotlicht und mach was Anständiges, solange es noch geht.“

„Klingt langweilig.“

„Mag sein. Ist aber gesünder auf Dauer.“

„Ne Büroschnepfe werd ich nie. Das weißt du doch. Is nix für mich.“

Sie pflanzte sich in einen Sessel und legte die Beine auf die Lehne. „Hast du nen Drink für mich?“

„Was darf’s denn sein?“

„Was deine Bar hergibt.“

„Wodka, Whisky …“

„Was trinkst du?”

„Pernod.”

„Très bien!“

Sie sprang wieder auf.

„Du machst mich nervös heute“, rief Brick. „Hast du was genommen?“

„Ein Pillchen, höchstens! Wird ja wohl noch erlaubt sein.“

„Ich kann’s aber nicht gebrauchen, wenn jemand um mich rumwuselt. Scheißtag heute. Konnte nicht pennen.“

Sie blickte ihn aus großen Augen an. „Was ist denn mit dir los?“

„Wieso?“

„Du siehst wirklich scheiße aus!“

„Dafür siehst du umso besser aus.“

„Danke. Aber gegen ein Nümmerchen mit dir hätte ich trotzdem nichts einzuwenden.“ Sie grinste ihr Böse-Mädchen-Lächeln. Das hatte sie perfekt drauf.

„Mit mir altem Sack?“

„Du bist und bleibst ein Charmeur alter Schule. Darauf steh ich total.“ Sie schnurrte. „Vor allem im Bett.“ Jetzt fauchte sie, sprang neben ihn und fuhr ihm mit ihren Fingernägeln über den Rücken, was ihm eine Gänsehaut über Arme und Beine jagte.

Ihr Blick glitt über den Laptopbildschirm.

„Was ist das?“

„Ach, nichts!“ Er klappte den Laptop zu.

„Wieso, zeig doch mal!“

„Nee, heißes Material. Könnte sein, dass ich auf ne Riesenscheiße gestoßen bin.“

„Bei dir ist immer was los. Das finde ich extrem scharf, Baby.“ Sie beugte sich hinab und hauchte ihm ins Ohr. „Komm schon! Hast du nicht Lust, mich schön zu vernaschen?“ Sie strich ihm mit der Hand über seine ergrauten Haare an der Schläfe. Ein Schauder durchfuhr ihn.

„Nee, lass mal!“

„Brick, du bist ein Spielverderber!“ Sie stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihn. „Du hättest die Chance, es einer zwanzigjährigen Megabraut zu besorgen.“ Sie drehte sich um und wedelte mit ihrem Po direkt vor seinem Gesicht. „Und was machst du?“

„Ich trinke meinen Pernod und will meine Ruhe.“

„Wie öde!“

„Meine wilde Zeit ist seit zwanzig Jahren vorbei.“

„Ich könnte sie wieder entfachen.“

„Du könntest meine Tochter sein!“

„Du wolltest mir schon immer von ihr erzählen, gell!“

„Aber nicht heute, okay?“

„Ja, ich weiß. Du hast keinen Bock, über sie zu sprechen.“

„Und das wird auch so bleiben!“

Er holte in der Küche ein Glas, kam zurück ins Wohnzimmer und schenkte ihr einen Pernod ein. Sie trank ihn in einem Zug aus. Brick schenkte nach.

„Ich hau mich hin“, sagte sie. „Darf ich bei dir bleiben? Drüben ist es so einsam.“

„Logo. Das weißt du doch.“

Sie küsste ihn auf die Stirn. „Du bist wie mein Daddy zu mir, den ich nie gehabt habe … Danke!“

„Für was?“

„Dass du da bist.“

„Jetzt übertreibst du es.“

„Kein Stück.“

Sie leerte auch das zweite Glas in einem Zug, drehte eine Pirouette um ihn herum, benutzte seinen Kopf dabei als Stange und tänzelte aus dem Raum. Auf dem Weg in sein Schlafzimmer zog sie ihre Jeans herunter und ließ sie einfach liegen. Ihr Top streifte sie über den Kopf und wackelte dabei mit dem Po. Er erhaschte einen Blick auf ihren makellosen Körper. Die vielen durchgetanzten Nächte hatten ihn wohlgeformt und trainiert.

Elisa hatte ihm schon öfter ihr Kapital präsentiert, in der Hoffnung, ihn damit zu reizen. Aber bei ihm war der Ofen aus und längst nichts mehr zu holen. Seit über zehn Jahren hatte er keine Frau mehr angefasst und er konnte sich nicht vorstellen, dass sich das je ändern würde. Doch Brick mochte Elisas unbeschwerte Art, wenn sie gut drauf war genauso wie ihren Trübsinn, wenn etwas in die Binsen gegangen war und sie über ihr Leben nachdachte. Was nicht selten vorkam.

Darin glichen sie sich.

Elisa hatte es nie leicht gehabt. Sie war als Waise aufgewachsen, hatte eine Odyssee durch Kinder- und Jugendheime hinter sich, zig Ausbildungen angefangen, keine davon abgeschlossen, und war einmal unsterblich in einen dieser Rotlichtfuzzis verliebt gewesen. Er hatte sie in die Szene eingeführt und zum Tanzen gebracht, bevor er mit einer Dominicana zwei Kinder machte und sich mit ihr in die Karibik absetzte. Elisas Prinz war für immer weg. Das hatte sie nie verwunden.

Elisa weckte in Brick von jeher ein väterliches Gefühl, das er nie hatte ausleben können. Besonders schätzte er bei ihrem Zusammensein die Wortfechtereien, die ihm Spaß machten und ihn jung hielten. Bildete er sich jedenfalls ein.

Etwas wehmütig, aber auch glücklich über Elisas Ablenkung, setzte er sich wieder an den Laptop und klappte ihn auf. Es dauerte eine Weile, bis er betriebsbereit war. Nach einem weiteren Schluck Pernod betrachtete er zum wiederholten Male die Bilder der vergangenen Nacht und der Toten. Hängen blieb er am Close-up ihres Gesichts. Diese Augen gingen ihm nicht aus dem Sinn. Er studierte ihre Züge, die Nasenpartie, die Lippen. Und dann fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren. Diese Gesichtszüge kannte er. Je länger er sie musterte, desto sicherer wurde er. Und dann die Schrecksekunde: Ihm fiel ein, woher er sie kannte, und sein Herz setzte beinahe aus. Schockiert griff er zum Glas und nahm einen großen Schluck, bis ihm schlecht wurde. Sein Magen machte einen Satz. Fast hätte er sich übergeben müssen.

Nach einer Weile beruhigte er sich wieder. Er saß geistesabwesend vor dem Bildschirm und konnte seinen Blick nicht abwenden. Minutenlang starrte er darauf und bekam nicht mit, dass sich Elisa von hinten langsam näherte.

Als sie ihre Arme um ihn schlang, zuckte er zusammen.

„Willst du nicht ins Bett kommen? Ich brauch was zum Kuscheln, sonst kann ich nicht schlafen.“

Er spürte ihre Brüste an seinem Nacken, ihre Haut an seinem Hals, hörte jedoch ihre Worte nicht. Stattdessen lief ihm eine Träne aus seinem rechten Auge.

2

Dejan Tomovic hielt das Kinn einer Blondine fest in der Hand und schaute ihr tief in die Augen. Rechts und links lief Sperma aus ihrem Mund. Ihre rot geschminkten Lippen waren verschmiert.

„Du bist gut, Schätzchen.“

Während ihre großen Augen glänzten wie die Glasfläche der Vitrine, die in einer Ecke stand und in der Tomovic seine Rolexsammlung aufbewahrte, ließ er sie los.

„Richtig gut!“

Er zog den Reißverschluss seiner schwarzen Anzughose zu. Ein strahlendes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Ich kann was aus dir machen. Wenn du brav und artig bist und mir vertraust, bring ich dich mit jemandem zusammen, von dem du dein Leben lang geträumt hast.“

Er legte etwas Beschwörendes in seine markant tiefe Stimme, ließ seinen Blick vielsagend durch sein Luxusapartment schweifen, über das glänzende Parkett, die edlen Möbel in weißen und silbernen Tönen. Dann strich er sich über seine braungebrannte Glatze.

„Wie heißt du noch mal?“, fragte Tomovic unschuldig. Dabei wusste er nur zu gut, wie sie hieß und wer sie war.

„Natalia“, sagte sie zögerlich.

„Richtig, Natalia! Ein sehr, sehr schöner Name.“

Sie nickte, schien jedoch etwas unsicher, und griff nach ihrer Handtasche. Sie holte Taschentücher heraus, putzte sich den Mund ab, nahm den Apérol Sprizz, der auf dem Glastisch stand, und trank ihn in einem Zug leer. Danach zog sie den Lippenstift nach.

Tomovic knöpfte sich sein weißes Hemd zu und bedeckte seine haarlose, trainierte Brust.

„Schätzchen, ich glaube, wir verstehen uns! Sag mal, wann wirst du achtzehn?“

„In drei Monaten.“

„Perfekt, Baby. Du bist mein Star. Mein neuer Fickstar.“

Er bewegte die Hüften und tänzelte zu der Chill-out-Musik, die im Hintergrund lief. Während sie sich ihm näherte, streckte er ihr die Hand entgegen, fasste sie an den Fingerspitzen und ließ sie eine Runde durchs Zimmer drehen. „Baby, lass mich dich anschauen! Beweg deinen Arsch. Tanze für mich!“

Sie hielten sich weiterhin an der Hand, er drehte sich mit ihr, während sie einige Tanzschritte machte und sich ins Zeug legte. Eine Hand in die Hüfte gestemmt streckte sie ihren Po heraus, der ihm anmutig erschien, und schien dabei durch den Raum zu schweben.

Wäre prima auf dem Laufsteg aufgehoben, dachte er. Zum Glück hat sie niemand entdeckt.

Ihre langen blonden Haare flogen und sahen aus wie zarte Wolken.

„Natalia, du bist ein Traum“, hauchte er. „So schön. Ich kann es gar nicht glaub …“

Tomovics Ritual, das er mit vielen neuen Mädchen durchzog, wurde jäh unterbrochen. Sein Handy klingelte. Das Display zeigte den Namen seiner rechten Hand an: Drago.

Er ließ von Natalia ab und nahm den Anruf widerwillig an. „Hab ich nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden will?“

„Doch, Dejan, aber …“

„Was gibt’s denn?“

Unter vorgehaltener Hand wurde Dejan Tomovic manchmal Mister Ungeduld genannt. Er war bekannt dafür, nicht lange zu fackeln. Es machte ihn nervös, wenn sich etwas in die Länge zog oder wenn es nicht nach seinem Kopf lief.

„Wir müssen reden“, erklärte Drago die Störung.

„Ich hoffe, es ist wichtig. Ich erwarte dich.“

Er klickte das Gespräch weg und legte das Handy auf dem Tisch ab. „Lady“, wandte er sich an die Blondine. „Du musst mich für einen Moment allein lassen. Ich muss mit meinem Bruder Drago etwas besprechen. Das kann nicht warten. Die Geschäfte, verstehst du?“

Sie nickte, verzog aber leicht den Mund.

Tomovic zeigte nach rechts auf eine Tür. „Dort ist das Badezimmer, wenn du dich frisch machen möchtest.“ Er zeigte nach links. „Dort kannst du dich ausruhen. Aber lauf nicht weg“, er zwinkerte mit den Augen, „ich brauche dich noch.“

„Ich geh duschen“, sagte sie, lächelte und trollte sich.

Er schaute ihr hinterher und musterte sie von oben bis unten. Die schmale Taille. Der Po, der schwang. Die endlosen Beine, die stolzierten. Ein göttlicher Anblick. Wie konnte jemand mit 17 Jahren eine solche Figur haben? Die Natur war ihm ein Rätsel.

Als sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete, blieb Tomovic reglos sitzen. „Was gibt’s denn so Dringendes?“

Er wirkte genervt. Aber das gehörte zu seinem Ton. Er war der Boss, und genau das drückte er mit jedem Satz aus.

„Entschuldige die Störung, Dejan, aber wir haben eine Anfrage von einem Neukunden“, begann Drago.

„Wie bitte?“ Jetzt wandte sich Dejan um und starrte Drago an. „Warum um aller Welt kommst du damit zu mir?“

Drago trug einen schwarzen Anzug und eine blaue Krawatte. Er stellte sich vor Tomovic und verschränkte die Hände vor seinem Gürtel. Seine rasierte Glatze glänzte. „Ich hab mich über den Typen erkundigt. Er ist Politiker.“

„Politiker?“ Tomovics Augenbrauen hoben sich und ein Lächeln legte sich um seinen Mund.

„Und kein unbeschriebenes Blatt.“

„Wie heißt der Vogel?“

Drago musste unwillkürlich lachen. „Er heißt Veigel.“

„Veigel? Das ist doch …“

„Richtig. Der Vorsitzende der Konservativen. Er setzt sich dafür ein, die Gesetze zur Prostitution zu verschärfen oder Prostitution ganz zu verbieten.“

Tomovic hielt einen Moment inne und ließ das Gehörte sacken. „Will der uns verarschen?“

„Kann ich nicht einschätzen“, antwortete Drago und fixierte seinen Chef. „Deshalb bin ich hier. Wie soll ich vorgehen?“

Es folgte eine Stille, die Drago als unangenehm empfand. Er wusste nur zu gut, dass Tomovic solch unvorhergesehene Probleme hasste. Seine Wut darüber würde er andere spüren lassen. Und so kam es dann auch. „Schnapp dir die Tussi im Badezimmer!“, rief Tomovic. „Natalia heißt sie. Nimm sie mit!“

„Und was soll ich mit der?“

„Einreiten, was sonst?“, befahl er. „Du hast die ganze Nacht Zeit. Nutze sie! Wir müssen sie erziehen, verstehst du? Sie muss dir aus der Hand fressen. Sobald sie sich wieder erholt hat, geht sie für uns anschaffen. Sie könnte gut werden.“

Drago blickte ihn aus seinen schwarzen Augen an, als habe er gerade den langweiligsten Einsatzbefehl von allen bekommen.

„Was willst du?“, fügte Tomovic an. „Sie ist doch genau deine Kragenweite. Ich kann diese blonden Schnallen nicht mehr sehen. Sie sind mir zuwider. Bäh!“

„Und der Politiker?“, wollte Drago wissen.

„Lass ihn schmoren!“

„Wirklich?“

„Ich hab mich doch klar ausgedrückt, oder?“

„Wie du meinst!“

„So ist es!“ Drago wandte sich kommentarlos ab. „Bruder, Moment noch! Wie läuft es eigentlich mit diesem Brick?“

Drago setzte ein feistes Grinsen auf, als er sich wieder zu seinem Chef umdrehte. „Alles wie geplant, Dejan. Der Typ ist bald total am Ende. Du kannst dich auf uns verlassen.“

„Gut“, sagte Dejan, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarre an. „Sehr gut!“

3

Brick erwachte und sah Elisas Hintern. Sie trug nur einen Slip mit dünnem Streifen. Er hatte die Flasche Pernod geleert, sich zu ihr ins Bett begeben und war in einen tiefen Schlaf gefallen. Sonnenstrahlen drangen herein und fluteten das Zimmer mit grellem Licht. Es war längst Mittag vorbei.

Sobald er die Augen öffnete, schoss ihm seine Entdeckung der letzten Nacht wieder in den Kopf. Er meinte, das tote Mädchen auf dem Foto zu kennen, denn sie trug exakt die gleichen Gesichtszüge wie seine Ex-Angebetete Alina. Somit schien es im Bereich des Möglichen, dass die Tote Alinas Tochter war, was wiederum bedeutete – er hielt den Atem an. Nein! Er war nicht in der Lage, weiterzudenken. Er musste das Unausgesprochene aus seinem Kopf verbannen, denn er würde den Schmerz nicht ertragen können.

Getrieben von schwerer innerer Unruhe schwang er sich aus dem Bett und setzte in der Küche einen starken Kaffee auf. Er schaute zu, wie die dunkle Flüssigkeit in die Glaskanne perlte und konnte den ersten Schluck kaum erwarten. Währenddessen massierte er seinen Bauch, der in den letzten Monaten nicht gerade dünner geworden war.

Mit der Kaffeetasse in der Hand begab er sich wie von einer magischen Kraft gezogen an den Laptop. Als er den Computer hochfuhr, war sein Kopf ganz klar. Er knöpfte sich erneut die Bilder vor. Die Gewissheit überfiel ihn wie eine Lawine, während er das Gesicht der Toten wohl zum hundertsten Male akribisch inspizierte. In dem toten Mädchen steckte etwas von Alina. Er war sich hundertprozentig sicher.

Was hatte das zu bedeuten?

Sein Herz zog sich zusammen. Er hatte das Gefühl, es schrumpfe auf Erbsengröße. Sein Magen schlug wieder Kapriolen, die er bekämpfen musste. Er öffnete eine neue Flasche Pernod und schüttete einen Schluck in den schwarzen Kaffee. Statt Milch, dachte er. Schmeckte einfach besser. Und tat gut. Das heiße Getränk wärmte ihn und gab ihm verlorengegangene Energie zurück.

Er musste Klarheit bekommen.

Woher?

Vielleicht hatten sie in der Redaktion schon erste Informationen zu dem Todesfall.

Ein Blick ins Schlafzimmer verriet ihm, dass Elisa noch unter den selig Schlafenden weilte, was sich womöglich bis abends nicht ändern würde.

Im Bad schüttete er sich mehrere Spritzer Wasser ins Gesicht und über den Kopf. Die nassen Haare kämmte er zurück. Er mochte sein angegrautes Haar nicht, denn es war das tagtägliche Symbol dafür, dass die Uhr tickte. Seine Zeit lief ab. Er war zwar erst einundfünfzig Jahre alt, aber manchmal fühlte er sich so, wie Johannes Heesters sich in seinen letzten Tagen gefühlt haben mochte. Gezeichnet vom Leben.

Er zog sich eine leichte Anzughose an, dazu ein kurzärmeliges Hemd und Ledersneaker.

Ein Besuch in der Redaktion stand an. Er war länger nicht mehr dort gewesen. Seine Aufträge erhielt er per Mail oder am Telefon. Nichts zog ihn dorthin. Heute war eine Ausnahme.

Brick fuhr mit seinem Golf Cabrio ins Gallus. Das schwarze Auto war Baujahr 1987 und ihm längst ans Herz gewachsen. Einen neueren Wagen hätte er sich ohnehin nicht leisten können. Außerdem wollte er seinen Alten, wie er ihn liebevoll nannte, nicht missen. Er liebte das Fahren mit offenem Dach, auch wenn er es immer weniger nutzte. Es würde schwierig werden, ihn über den nächsten TÜV zu bringen, aber er würde alles Menschenmögliche dafür tun.

Er parkte auf dem Parkplatz vor dem Verlagsgebäude der Frankfurter Presse. Da nirgends eine Lücke zu finden war, hielt er direkt hinter dem Wagen mit der Nummer F-EZ-1. EZ stand für Eddie Zinnober. Sein Chef war anwesend. Brick war beruhigt, die Sonne blinzelte ihn an, aber dafür hatte er jetzt keinen Sinn.

Als er das Großraumbüro der Redaktion betrat, vernahm er augenblicklich eine ihm wohlvertraute Stimme. „Hey, Big Ben! Lange nicht gesehen. Alles Roger bei dir?“

Das war er: Eddie, das Urgestein der Zeitung, gleichzeitig Chefredakteur und Leiter der Lokalredaktion. Eddie war mit der Frankfurter Presse verheiratet. Für ihn gab es nichts anderes. Von morgens früh bis spät in die Nacht gab es für ihn nur Blattmachen. Dabei war er die gute Seele geblieben, die er früher gewesen war, was selten jemandem gelang. Er war aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt und würde alle anderen hier, und seien sie noch so jung, überleben.

Big Ben war Bricks Spitzname aus den guten Zeiten, in denen er noch Mörderstorys recherchiert hatte. Eddie hatte ihm den Namen damals verliehen. Seitdem haftete er an ihm wie ein Markenzeichen. Den Namen Benjamin Brick kannte hier kaum jemand; Big Ben hingegen sagte allen etwas. Selbst die jungen Kollegen hörten im Laufe ihrer Ausbildung oder ihrer Zeit als Freie von seinen Heldentaten. Das schien unumgänglich zu sein. Wie ein ehernes Gesetz.

Brick ging auf seinen Chef zu. Eddie streckte seine Hand aus. Er ergriff sie. Eine Weile hielten sie sich fest und schauten sich tief in die Augen. Mit der freien Hand klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter.

„Eddie, alte Socke. Lange nicht gesehen. Wie läuft’s bei dir?“

Eddies Gesicht war blass, fast weiß. Im Kontrast dazu trug er ein enges schwarzes Hemd und dunkelblaue Jeans. Seine Haare schienen spärlicher geworden zu sein. In seinem rechten Ohr prangte ein Ohrring, seit Jahrzehnten derselbe.

„Sie haben mich noch nicht rausgekehrt“, antwortete er. „Und das wird ihnen auch so schnell nicht gelingen. Trotz allem, was hier vor sich geht.“

Eddie spielte auf die hundsmiserable finanzielle Situation der Zeitung an. Die Frankfurter Presse war in den letzten Monaten immer stärker an den Abgrund gerückt. Sinkenden Abonnentenzahlen standen hohe Personalkosten gegenüber, da die Online-Redaktion aufgestockt worden war. Nur leider hatte noch niemand ein Patentrezept dafür entwickelt, wie eine Zeitung im Internet Geld verdienen konnte. Demjenigen, dem es gelingen würde, würden hier viele die Füße küssen. Aber es war nicht absehbar.

Der alte Haudegen ließ sich dadurch nicht die gute Laune verderben. „Schön, dich zu sehen.“

Brick schaute sich um. „Und was macht das junge Gemüse?“

„Ach, du weißt ja, die meisten sind arrogant bis zum Anschlag, aber verdammt kleine Lichter.“ Er seufzte.

„Diese Kombination liebe ich.“

Nun musste Eddie lachen. „Kein Vergleich zu uns damals. Wir hatten Feuer! Wir haben gebrannt. Heutzutage wollen alle nur Karriere machen, aber nichts dafür tun. So läuft das aber nicht. Aber du willst doch mit mir bestimmt nicht über vergangene Zeiten reden. Sag, was treibt dich her?“

Brick ließ seinen Blick durch das Großraumbüro schweifen. „Können wir das in deinem Büro bequatschen?“

„Sicher! Klingt ja sehr geheimnisvoll.“

„Ist es auch. Und soll es auch bleiben.“

Eddie ging in seinem typischen Watschelgang voran. Seine O-Beine waren legendär. Er trug stets etwas weitere Hosen, um sie zu kaschieren, was trotzdem nicht gelang. Von hinten durfte Brick seine Halbglatze bewundern, die sich, wie er jetzt feststellte, eindeutig mehr Terrain erobert hatte. Jede Menge Kopfhaut glänzte ihn an. Und der Haarkranz war verdächtig grau geworden. Eddie mochte gut zehn Jahre älter sein als er selbst, aber das Wort Rente war eines jener seltenen Spezies, die er nie in den Mund nahm.

„Was kann ich für dich tun, alter Junge?“, fragte er, als er auf seinem Schreibtischsessel Platz genommen hatte. „Einen Kaffee?“ Brick nickte. Eddie schenkte ein und sah ihn mit großen Augen an. „Du machst es ja richtig spannend. Schieß los!“

Brick holte Luft, bevor er zu einer Erklärung ansetzte. „Eddie, was ich dir jetzt sage, muss unter allen Umständen unter uns bleiben.“

„Klar, wie immer. Aber … was um Himmels willen ist denn passiert?“

„Es war so“, begann Brick, „dass ich gestern am späten Abend vorm Klosterkeller war, ich hatte einen Tipp bekommen …“

Eddie setzte sich aufrecht hin und kniff die Augen zusammen. Langsam schien ihm zu dämmern, worauf Brick hinauswollte. „Die Tote!“, rief er. „Ich hab’s heute Morgen im Ticker und danach in einer ersten Stellungnahme der Kripo gelesen.“

„Genau deshalb bin ich hier. Ich brauche Informationen von dir.“

„Was meinst du genau?“ Eddie schien schwer verwirrt zu sein. „Erzähl doch mal von Anfang an!“

„Als ich gestern da angekommen bin, ist nichts passiert, bis ich die Tote entdeckt hab. Ich hab mich angeschlichen und ein paar Bilder gemacht. Deshalb benötige ich ihren Namen oder … am besten alles, was du darüber hast.“

„Okay, okay. Du musst dich aber einen Moment gedulden. Ich suche dir die Presseinfo raus, aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass da kaum was drinsteht. Du kennst das ja. Die Pressestelle der Kripo gibt nur das Nötigste raus. Immer das Gleiche mit denen. Konkreter werden die erst, wenn Ermittlungsergebnisse vorliegen.“ Eddie nahm die Maus in die Hand, klickte ein paar Mal und folgte mit den Augen dem Text am Bildschirm, den er runter scrollte. „Ja, hier hab ich sie. Von heute Morgen kurz vor sieben Uhr. Wie gesagt, sind nur vier oder fünf Zeilen. Die Mordkommission übernimmt den Fall, Hauptkommissar Engländer. Alter Bekannter von uns.“ Eddie grinste. „Tathergang noch unklar. Tätermilieu auch. Weibliche Leiche gefunden. Erschossen. Identität unbekannt.“ Eddie löste seinen Blick vom Bildschirm und wandte sich Brick zu.

„Ist das alles?“

„Ja.“

„Keinen Namen?“

„Nein!“

„Und gibt es nichts Neues?“

„Muss ich nachschauen. Glaube ich aber nicht, sonst hätte ich das schon gesehen.“ Er scrollte wieder hoch. Seine Augen flackerten über die vielen Presseinfos, blieben jedoch nirgends haften. „Nein. Nichts mehr. Die Kripo schweigt und wie ich den Verein kenne, wird das noch ne Weile andauern. Du musst bedenken, dass ja das ganze Prozedere bei der Kripo jetzt erst richtig losgeht. Die Spurensicherung ist wahrscheinlich noch vor Ort, die Leiche kommt in die Gerichtsmedizin und bis die Berichte vorliegen, können gut und gerne noch zwei Tage vergehen. Bis dahin herrscht von denen Funkstille. Die spulen ihre normale Routine ab.“

„Okay, okay, aber so viel Zeit hab ich nicht. Meinst du, es bringt was, sich an Engländer direkt zu wenden?“

„Vergiss es! An den kommst du jetzt nicht ran … Aber, Big Ben, jetzt mal Butter bei die Fische: Ich kenne dich. Du verschweigst mir was. Warum interessiert dich der Fall so? Doch nicht nur, weil du vor Ort warst und die Kleine fotografiert hast?“

Brick stand mit einem Ruck auf. „Danke für den Kaffee, Eddie. Ich erklär’s dir später. Okay?“

Eddies Augenbrauen hoben sich wie automatisch. „Da ist doch was faul, das merke ich dir an. Also, was ist es?“

„Ich kann jetzt nicht drüber reden, Eddie, aber ich verspreche dir, sobald ich was Näheres weiß, bist du der Erste, der es erfährt.“

„In Ordnung, aber bau keine Scheiße! Das musst du mir versprechen, ja?“

„Geht klar. Du hörst von mir.“ Wie ein Getriebener verschwand Brick aus Eddies Büro und hatte keinen Blick für die Kollegen übrig, die rundherum an den Schreibtischen saßen und eifrig in die Tasten hauten. Er hatte eine Idee. Eine Art Plan B, nachdem seine Informationsquelle Eddie nicht sprudeln wollte.

4

In seiner Zeit als Polizeireporter war es drei- oder viermal vorgekommen, dass Brick noch vor der Kripo am Tatort gewesen war. Das hatte er Schnauze zu verdanken. So nannte er seinen Informanten, der mit bürgerlichem Namen Thilo Frost hieß. Als er ihn zum ersten Mal live an einem Tatort erlebt und Brick ihn wegen des Falles gelöchert hatte, war Frosts Antwort karg ausgefallen: „Schnauze jetzt! Kapiert?“ Seitdem hatte Frost den Spitznamen weg und einen neuen Freund gewonnen. Nämlich Benjamin Brick, dem diese authentische Art viel lieber war als dieses Gehabe einiger arroganter Schnösel der neueren Polizistengeneration. Schnauze war an die sechzig Jahre alt. Sie würden irgendwann zusammen in Rente gehen und sich bei einem Bierchen oder einem Apfelwein, Frosts bevorzugtem Getränk als Frankfurter Bub, die alten Polizeigeschichten immer wieder erzählen. Darauf freute sich Brick schon, doch noch war es nicht soweit. Heute musste ihm Schnauze einen Dienst erweisen.

Kaum war Brick im Gallus aus dem Auto gestiegen, rief er ihn auf dem Handy an.

„Brick, Mensch Junge! Wir haben uns schon ewig nicht gesehen. Wo treibst du dich rum?“

„Schnauze, mein Freund! Wenn du im Präsidium bist, dann bin ich ganz in deiner Nähe. Lust auf nen Kaffee?“

„Mit dir immer, aber … heute drängt’s etwas. Hast du was auf dem Herzen?“

„So könnte man es umschreiben …“ Brick zögerte, denn er konnte nicht einschätzen, ob es klug war, mit der Tür ins Haus zu fallen. „Hör mal! Ich bräuchte ein paar Informationen …“

„Wie immer.“ Frost lachte kurz.

„Ja, wie immer. Ich geh dir auf den Keks, aber es ist wichtig. Diese Tote gestern Nacht vorm Klosterkeller … Ich war vor Ort …“

„Ach, sieh mal einer an! Echt? Wer hat dir den Tipp gegeben? Von mir hast du ihn nicht.“

„Nein, nein, das war anders, spielt aber keine Rolle“, beeilte sich Brick zu erklären. „Habt ihr schon was über sie?“

„Spärlich, spärlich. Ist ja gerade Ferienzeit und einige Kollegen sind in Urlaub, da geht ohnehin alles etwas langsamer. Wir können momentan wenig sagen, nur dass sie eine Ukrainerin war und …“

Brick wurde hellhörig. „Weiter! Hast du noch mehr?“, fuhr er Schnauze dazwischen.

„Ja, ja. Sei doch nicht so ungeduldig. Sie hat wohl für Starlight-Escort gearbeitet. Kennst du den Laden?“

„Flüchtig“, log Brick, denn genau über diese Agentur hatte er wochenlang recherchiert. „Habt ihr auch ihren Namen?“

„Du meinst ihren richtigen? Nein! Nur ihren Künstlernamen. Auf der Agentur-Homepage ist er mit Candy angegeben. Und das Alter mit 18 Jahren. Mehr kann ich dir …“

„Sonst habt ihr nichts?“ Bricks Stimme hob sich.

„Mensch, Brick! Sie ist kaum tot und schon willst du alles wissen. Wir sind keine Hexer!“

„Schon gut, entschuldige!“

„Warum interessiert sie dich überhaupt?“

„Erklär ich dir später! Kannst du mich auf dem Laufenden halten?“

„Aber klar doch.“

„Prima. Ich wünsch dir was.“

Brick klickte das Gespräch weg. Er bekam Hitzewallungen. Sie war Ukrainerin. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Er musste herausfinden, wie sie hieß. Unbedingt! Und so schnell wie irgend möglich! Lange würde er mit dieser Ungewissheit nicht leben können.

Die Homepage! Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Manchmal hasste er sich dafür, die naheliegenden Dinge zu übersehen.

Er setzte sich in seinen Golf Cabrio und fuhr nach Hause. Als Erstes prüfte er sein Schlafzimmer. Elisa war verschwunden. Er hatte seine Ruhe. Konnte denken. Einen kühlen Kopf, sagte er sich, du brauchst einen kühlen Kopf. Er spürte leichte Panik aufkommen und griff zur Pernodflasche, schenkte sich ein, füllte das Glas mit Wasser auf und trank.

Er pflanzte sich vor den Laptop und inspizierte die Starlight-Seite. Es gab drei Bilder von Candy, jedoch waren die Augen mit einem Balken bedeckt, sodass er sie nicht richtig erkennen konnte. Aber ein starkes Gefühl bemächtigte sich seiner: Sie war es. Daran bestand kein Zweifel.

‚18 Jahre‘ stand dort. Also war sie minderjährig. Das war die Masche zum Anlocken der Freier, die auf die ganz Jungen standen. Ansonsten gab die Beschreibung nicht viel her: Candy ist ein heißer Feger. Typ Lolita. Sie liebt sinnliche Flirts genauso wie harte Action. Ein Date mit ihr erfüllt all Ihre Träume – oder naschen Sie nicht gerne?

Dann folgten ihre Daten: 171 cm. 51 kg. Gepierct und dezent tätowiert. Sprachen: Deutsch, Englisch, Russisch. Dessous: La Perla. Drinks: Apérol Sprizz. Garderobe: von flippig über sexy bis elegant.

Er musste etwas bewegen. Er war begierig, mehr zu erfahren. Aber wie? Er musste auf Schnauze warten. Etwas anderes blieb ihm momentan nicht übrig. Auch diese Situationen hasste er. Wenn ihm die Hände gebunden waren. Wenn er nicht selbst aktiv werden konnte und sich auf andere verlassen musste. Er hätte kotzen können. Diese quälende Warterei. Diese Unklarheit. Sie zerfraß ihn. Das war Folter.

Er schnappte sich das Handy und wählte wieder Schnauzes Nummer. Der Freund ging sofort ran.

„Tut mir leid, wenn ich dich nerve, aber …“

„Brick, du nervst nie. Das weißt du doch. Außerdem hast du Glück. Ich habe eben gerade eine neue Meldung im Intranet gelesen. Wir haben ihre Identität herausgefunden. Sie heißt Natascha.“

„Und wie weiter?“

„Moment … Natascha Werenko.“

Brick ließ das Handy fallen und sank zu Boden.

„Hey, Brick. Was war das? Sagt dir der Name was?“, rief Schnauze, doch in seinem Telefon herrschte Totenstille. „Hey, bist du noch dran? Hallo? Hey, Brick? Was ist los? Ich hör nix mehr, die Verbindung scheint unterbrochen zu sein. Hallo, Brick? Hallooooo …?“ Er klickte das Gespräch weg.

Als Schnauze den Namen ausgesprochen hatte, brach die Hölle über Brick herein.

Sein Herz lief Amok.

Ein Gefühl, als flöge ihm der Kopf weg.

Es war ein Schmerz, der tief drang. Allumfassend.

Sie war es. Seine Tochter. Seine siebzehnjährige Suche war beendet. Er hatte sie gefunden. Doch sie war tot! Erschossen! Ein Albtraum.

5

Es gab Tage, da hätte Dejan Tomovic aus der Haut fahren können. Wenn nichts so lief wie geplant, konnte er richtig sauer werden. Solch ein Tag war heute.

Als Drago vor ihm stand und sich über diese Kleine beschwerte, die er doch nur einreiten sollte, wäre Tomovic fast der Kragen geplatzt. Normalerweise war das keine große Aufgabe. Es gab Methoden, die hatten sich hundertfach bewährt. Wieso war Drago, sein Bruder, der ihm genauso viel Wert war wie seine eigene Mutter, so eine Memme? Wieso war er so mitfühlend mit ihr? Wieso hatte er sie nicht einfach verdroschen oder was auch immer mit ihr gemacht? Hauptsache, sie hätte ihm danach aus der Hand gefressen!

„Bring sie rein!“, sagte Tomovic mit sanfter Stimme und stellte seinen Drink ab. Er lag im Entspannungsmodus auf seiner Designercouch und hatte die Beine auf den niedrigen Glastisch gelegt.

„Los, bring sie her! Ich muss mit ihr reden. Ich glaube, die Göre hat etwas missverstanden.“ Er schaute Drago, der keine Anstalten machte, seinen Worten Folge zu leisten, lange an. „Was ist los mit dir? Sag es mir! Was ist los?“

„Dejan, Bruder …“ Drago zögerte, denn er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte.

„Was ist denn? Sag schon!“

„Ich glaube … sie ist nicht die Richtige für uns.“

„Und wieso denkst du das?“ Aus seinen Worten sprach Ungeduld. Er rutschte auf der Couch hin und her. Es schien, als könne er sich kaum noch im Zaum halten, so ungehalten war er über Dragos Einschätzung.

„Sie ist ein braves Mädchen. Sie wird uns kein Geld bringen. Außerdem ist sie zickig.“

„Muss ich denn hier alles allein machen?“, fragte Tomovic. Er schüttelte den Kopf. „Bring sie mir jetzt. Los!“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Drago drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand um die Ecke. Er nahm die Treppe in den oberen Stock der weitflächigen, noblen Villa. Als er wieder herunterkam, hielt er Natalia an der Hand. Je näher sie Tomovic kamen, desto mehr musste er sie hinter sich her zerren. Sie sträubte sich, aber sein Griff war fest. Sie konnte sich nicht daraus lösen.

Natalia hatte verweinte Augen. Sie trug nichts außer einem hellrosa Slip und einem gleichfarbigen BH.

Drago zog sie näher an den Tisch und schob sie das letzte Stück, bis sie direkt vor Tomovic zum Stehen kam. Sie rieb sich das schmerzende Handgelenk und schleuderte Drago einen wütenden Blick zu. Wäre sie ein Drache gewesen, hätte er jetzt in Flammen gestanden.

Rechts neben ihr stand ein Ledersessel. Der Agenturinhaber deutete mit einer Geste an, dass sie sich setzen sollte. Sie ließ sich hinein gleiten und hätte sich am liebsten klein wie eine Maus gemacht. Mit scheuen Rehaugen schaute sie ihr Gegenüber an. In diesem Moment schien sie verletzlich, eine zarte Seele am falschen Platz, und sie sah aus, als frage sie sich, wie sie hierher geraten sei.

Tomovic blieb reglos sitzen und schwieg. Er tat nichts, als sie anzuschauen. Eine ganze Weile. Er musterte sie von oben bis unten. Ihre langen Locken umspielten ihren Oberkörper. Die Beine schienen dezent trainiert. Alles straff, alles fest. Sie war schön, eine Ausnahmeschönheit sogar. Ihre Figur war makellos, genau wie ihre leicht gebräunte Haut.

Ein kleiner Wink zeigte Drago an, dass er mit Natalia allein sein wollte. Sein Assistent gehorchte und verließ den Raum. Tomovic wartete ab, bis hinter ihm die Tür ins Schloss fiel. Jetzt waren sie nur noch zu zweit. Er und sie.

Genauso hatte er sich das gewünscht.

Sie ist nicht die Richtige für uns.

Dragos Worte kamen ihm wieder in den Sinn.

„Baby“, sagte er, so sanft es seine Lippen vermochten. „Baby, Baby, Baby.“

Natalias Augen weiteten sich. Sie schaute ihn gebannt an, dabei, so dachte er, wäre sie am liebsten weggerannt. Sie zog die Beine hoch auf den Sessel, drückte sie an ihre Brust und umschlang sie mit den Armen. Fror sie oder wollte sie sich vor ihm schützen?

„Sag mir, warum du hier bist!“ Tomovics Stimme klang gelassen.

Natalia blieb still. Sie sah nicht danach aus, als würde sie seiner Aufforderung nachkommen wollen.