Für Claudia

*****

Baumgeist Schrat Urban ist entsetzt: Offenbar treffen finstere Mächte eifrig Vorbereitungen, seine Eiche zu fällen, um an die besondere Energie des Baumes zu gelangen, wie einst Hadrian, der Schwarze Magier. Ist der am Ende gar selbst in die Sache verwickelt? Als zwei Scharfschützen der Dämoneneingreiftruppe während eines Scharmützels mit den Dienern des Satans auf geheimnisvolle Weise in die eisige Bergwelt der Anden teleportiert werden, begibt sich auch Schrat Urban mit einem fliegenden Segelschiff auf die gefährliche Reise dorthin. Zusammen mit einem fliegenden U-Boot-Kommandanten, einem sizilianischen Vulkanriesen und einem Spion stößt er in ein unterirdisches Dämonenlabyrinth vor, wo er haarsträubende Abenteuer erlebt und einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur kommt, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt.

Ralf Monnier ist Diplom-Forstingenieur und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Marburg. Dort arbeitet er in einem Betrieb für Gartenholzartikel und schreibt in seiner Freizeit schaurig-lustige Schratgeschichten.

Alle in diesem Buch dargestellten Personen und Handlungen sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© Frieling-Verlag Berlin • Eine Marke der Frieling & Huffmann GmbH

Rheinstraße 46, 12161 Berlin

Telefon: 0 30 / 76 69 99-0

www.frieling.de

ISBN 978-3-8280-3233-0

1. Auflage 2007

Umschlaggestaltung: Michael Reichmuth

Sämtliche Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Inhalt

Heimweh

Der Schrat stand einsam auf dem Balkon des kleinen Gästehauses seines Freundes Henry im schottischen Hochland und hatte gedankenverloren beide Hände auf den Handlauf des schmiedeeisernen Geländers gelegt.

Andächtig schaute er in den herrlichen, von Sternen übersäten klaren Sommernachtshimmel mit dem kreisrunden Vollmond.

Trotz des wunderbaren Anblicks jedoch, der an Zauber und Schönheit wahrlich kaum zu überbieten war, war dem Schrat merkwürdig schwer ums Herz und sein Geist von einer eigenartigen Traurigkeit beseelt.

Ein Gefühl tiefer Sehnsucht umfing ihn plötzlich, das aus seinem Innersten heraus wie loderndes Feuer langsam emporstieg und schließlich jede Ecke und jeden Winkel seines Seins vereinnahmte.

Es erschien in der Fremde und verschwand in seiner Heimat, gleich wie der Regen den Staub von den Blättern der Bäume wusch, und alle schlechten Gedanken verflogen.

Es war das Heimweh, das kaum jemand so intensiv verspürte wie der Schrat Urban, der voller Sehnsucht am Balkongeländer stand und zu Mond und Sternen aufsah.

Denn trotz aller Herrlichkeit, die sich ihm dort oben bot – es war nicht sein Mond, der da schien, und es waren nicht seine Sterne, die da leuchteten.

Nun wusste der Schrat, dass es an der Zeit war, seinen Urlaub zu beenden und wieder heimzukehren, um sich seinen Mond und seine Sterne zurückzuholen.

Die Eiche Roland würde bereits auf ihn warten.

*

Alte Bekannte

Herrmann Krüger, der Verwalter des hiesigen Anwesens, war nicht nur aus seinem verträumten kleinen Häuschen hervorgekommen, um zu später Stunde noch einmal frische Luft zu schnappen.

Keineswegs, denn der 63-Jährige stierte geradezu bezeichnend ins Grau der Nacht hinein, als suchte er dort irgendetwas Bestimmtes.

Und wahrhaftig, es ließ sich nicht verhehlen: Herrmann hielt tatsächlich nach etwas Ausschau.

Ein Blick auf seine Taschenuhr, die er in der Dunkelheit für den Augenblick mithilfe eines Streichholzes beleuchtete, verriet, dass er wohl wusste, was ihn dort draußen zu vorgegebener Zeit in der nächtlichen Finsternis erwartete.

Es war gleich Viertel nach zwölf. Herrmann wirkte angespannt und zog nervös an seiner wie ein Brikett qualmenden dicken Zigarre, deren Gestank den edlen Duft der würzigen Nachtluft durchschnitt und deren Glutpunkt aus der Ferne deutlich zu erkennen war.

Der Widerschein des Kaminfeuers strahlte durch die Terrassentür des Hauses auf die hölzerne Veranda, an deren Geländer Herrmann stand und mit durchgedrückten Ellenbogen beide Hände auf den Handlauf presste. Im Licht-und-Schatten-Spiel des Feuers bewegte sich seine Silhouette zuckend hin und her und verlieh dem Ganzen eine beinahe unheimliche Atmosphäre.

Herrmann lauschte angestrengt in die kühle Sommernacht hinein, die sich unter einer zerklüfteten Wolkendecke wie ein dunkler Schleier über die hügelige Landschaft mit ihren Feldern, Hecken und den umliegenden Waldungen gelegt hatte. Ab und an fiel der silbrig schimmernde Schein des Vollmondes durch die löchrigen Wolken auf die Erde.

Insgesamt jedoch war es zu dunkel, sodass Herrmann nicht erkennen konnte, ob nun die erhoffte Veränderung dort draußen stattgefunden hatte oder nicht. Darum beschloss er kurzerhand, seinen Standort zu wechseln, um sich mithilfe einer Taschenlampe, die er neben der Terrassentür vom Fenstersims griff, Gewissheit zu verschaffen. Immerhin war es gleich halb eins und sein „Besuch“ war längst überfällig.

Über die kurze Holztreppe verließ Herrmann die Veranda und setzte seinen Weg auf einem schmalen Trampelpfad, der hangaufwärts über die breite Wiese des großzügigen Grundstücks führte, fort. Er passierte die beiden hintereinander stehenden Zwetschgenbäume, die ihren Platz etwas abseits links des Weges im nicht ganz kniehohen Gras hatten.

Der Lichtstrahl der Stablampe durchschnitt dabei die Dunkelheit. Ein kurzer Geländeanstieg, gesäumt von dichtem Gebüsch, begleitete den Weg zur Rechten und führte von der Wiese auf ein kleines Plateau.

Herrmann war noch nicht lange auf dem schmalen Pfad unterwegs, da vollzog der Hang urplötzlich samt seinem Buschwerk einen Knick nach links und kam vor Herrmann zum Erliegen. Herrmann wandte sich nach rechts, verließ den Pfad, leuchtete sich seinen Weg und war bald darauf zwischen den Büschen verschwunden.

Auf der Hangsohle machte er unter einer jungen Blaufichte Halt, die er dort selbst einmal gepflanzt hatte. Herrmann hatte sie bereits vor Jahren gut drei Meter aufgeastet, sodass er problemlos aufrecht unter ihr verweilen konnte, ohne dass Äste die Sicht versperrten. Auch die Büsche waren hier nicht so dicht und gaben den Blick frei auf das Plateau, welches sich nach einem kurzen und steilen Hanganstieg knapp zwei Meter über ihm vor Herrmann auftat. Über eine Länge von einigen Metern erstreckte sich dort eine Art Lichtung.

Auffällig war – auch wenn im Dunkel der Nacht nur schemenhaft zu erkennen –, dass die Haselnuss-, Holunder- und Schlehenbüsche, welche vereinzelt um die Lichtung herum wuchsen, ihre Äste kaum in diese hineinragen ließen, obwohl sie dort optimales Licht zum Gedeihen gefunden hätten. Stattdessen ließen sie den Raum frei und breiteten sich in die entgegengesetzte Richtung aus. Für dieses Phänomen fand sich wohl so schnell keine logische Erklärung – oder etwa doch?

Herrmann stand da, mit dem Rücken an die Fichte gelehnt, und bewegte den Lichtkegel der Lampe etwas nach links auf den Rand des Plateaus, wobei seine Aufregung mit jedem Augenblick wuchs. Er spürte das Herz bis in den Hals hinauf schlagen und die Spannung auf das Kommende, was ihn an diesem Ort erwartete, wurde größer und größer. Der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen und sein Schein tauchte die Umgebung in ein fahles, nächtliches, dunkles Grau.

Bis jetzt war noch nichts geschehen, doch plötzlich war die Veränderung da. Der Lampenstrahl, der noch immer auf ein und dieselbe Stelle am Rand des Plateaus gerichtet war, traf abrupt den Boden nicht mehr. Das Licht wurde buchstäblich verschluckt von einer eigenartigen Schwärze, noch dunkler als die Nacht ringsum. Herrmann lenkte den Lichtkegel in die Höhe und in das Grau des nächtlichen Himmels hinein, an dem die Wolken nun dem Mond Platz gemacht hatten. Dort setzte sich die Veränderung fort.

Eine monströse, unheimliche, etwa 35 Meter hohe Erscheinung mit zwei gewaltigen, wie zum Triumph erhobenen Armen, von einer mächtigen Säule getragen, schälte sich nur wenig entfernt vor Herrmann aus der Dunkelheit. Aus den Armen wuchsen Finger empor, die sich wiederum stärker und feiner nach allen Seiten verzweigten und sich auch einige Meter über Herrmanns Kopf ausbreiteten.

In der Mitte der Lichtung, wo das Szenario stattfand, hatte die Wirklichkeit buchstäblich Risse bekommen. Zwischen den Rissen bildeten sich Tausende schwarzer Flecken, die scheinbar zu einer großen Masse zusammenwuchsen und beinahe den letzten Rest noch vorhandenen Mondlichts über der Lichtung abschirmten.

Gegen Ende des Spektakels manifestierte sich in dem in die Wirklichkeit hineingestanzten tiefschwarzen Raum – denn nichts anderes stellte die Erscheinung letztlich dar – eine Gestalt, die nun mit zunehmender Entstehung das Mondlicht reflektierte. Eine Woge von silbergrauem Schimmer von oben nach unten ließ die Gestalt aus der Dunkelheit erstrahlen, begleitet von einem angenehmen Rauschen.

Herrmann kannte dieses Rauschen nur zu gut – es war das Rauschen tausender Blätter im Wind. Herrmann hatte seine Aufregung vergessen. Er hob den Kopf und blickte in die Krone einer mächtigen Eiche, die auf der Lichtung am Rande des Plateaus ihren Platz eingenommen und ihre Äste wie zum Schutz über Herrmann ausgebreitet hatte.

Das Mondlicht brach sich an den Ästen und Blättern, deren Schatten tanzende Muster auf den Boden malten. Durch die wenigen Lücken im Kronendach waren Mond und Sterne zu sehen.

Herrmann war inzwischen auf das Plateau gestiegen und an den Stamm der Eiche herangetreten, der sich in etwa fünf Meter Höhe in zwei gewaltige gen Himmel gestreckte Arme aufteilte.

Zwischen den beiden Zwieselarmen, von denen der eine noch um einiges dicker und höher war als sein Gegenüber, konnte Herrmann ein Bündel erkennen. Er leuchtete es mit der Taschenlampe an und stellte fest, dass es sich dabei um eine Hängematte handelte, deren Enden in gut 15 Meter Höhe um die beiden Zwillingsachsen herumgewickelt waren. Zur rechten und linken Seite der Hängematte baumelte je ein Bein herunter.

Weil sich in ihrem Inneren der Inhalt bewegte, begann die Hängematte leicht hin- und herzuschaukeln. Kurz darauf hob sich ein Kopf über den Rand, der mit verschlafenen Augen müde zu Herrmann herunterblickte.

Herrmann leuchtete in das Gesicht eines menschenähnlichen Wesens, das sich geblendet die Arme vor die Augen hielt. Herrmann schüttelte den Kopf, stemmte beide Hände in die Hüften und rief in die Baumkrone hinauf: „Mensch, Urban, alte Schlafhaube, wird auch Zeit, dass ihr endlich auftaucht. Ihr seid schon lange überfällig.“ Schmunzelnd fügte er hinzu: „Die Geisterstunde hat doch längst begonnen.“

„Nicht meine Schuld“, hallte es aus dem Inneren des Baumes zurück. „Roland hat getrödelt und zu lange im Bad vor dem Spiegel gestanden, eitel, wie junge Eichen eben sind, du kennst das ja.“

Herrmann ließ sich auf den Spaß ein: „Aber bei der störrischen Frisur ist doch ohnehin nichts mehr zu retten!“

„Ja, eben, aber sag ihm das mal!“ Es folgte schallendes Gelächter, das abrupt verstummte, als die Hängematte wie von Geisterhand zur Seite kippte und sich die elastischen Seile, mit denen die Enden der Hängematte an den beiden Zwieselachsen befestigt waren, wie in einer riesigen Zwackel spannten.

Der überraschte Urban wollte sich reflexartig mithilfe seines Schwebetricks aus seiner misslichen Lage befreien, doch eine unsichtbare Kraft, der er nichts entgegenzusetzen hatte, drückte ihn abrupt in die Maschen der Hängematte zurück.

Herrmann war hangabwärts bis fast an den Rand der Baumkrone zurückgewichen und beobachtete die Szenerie aus scheinbar sicherer Entfernung. Die Hängematte bewegte sich samt Inhalt an den durch die Spannung lang und länger werdenden Seilen, mehrere Meter über ihre beiden Ankerpunkte hinaus, bis fast an den Kronenrand, wo sie jäh stoppte.

Bis der gute Herrmann richtig begriff, in welcher Lage er sich befand, war es zur Flucht zu spät, ganz davon abgesehen, dass seine Beine wie festgefroren waren. Wie erstarrt blickte er durch die beiden Zwillingsachsen der Eiche nach oben. Herrmann hob beide Arme zum Zeichen der Kapitulation, denn er befand sich in direkter Schussbahn einer übergroßen gespannten Steinschleuder. Urban sollte in diesem Fall den Stein ersetzen.

„Alte Mimose, kann keinen Spaß verstehen, Herrmann und ich haben doch bloß gescherzt“, rief es aus der Baumkrone. „Also hör mit dem Quatsch auf und lass mich endlich los!“

„Bist du total übergeschnappt? Alles, bloß das nicht, ich möchte noch eine Weile leben!“, stammelte der zu Tode erschrockene Mann am Boden, dem der Schweiß auf der Stirn stand. „Wenn die Hängematte vorschnellt und ihre Ladung freigibt, werde ich pulverisiert.“

„Du meinst mich mit Ladung?“

„Ja, wer sonst dient hier als Kanonenkugelersatz?“

Nach einer Weile des Winselns und Jammerns wurden die beiden Männer schließlich aus ihrer misslichen Situation befreit. Wie von Geisterhand wurden die gespannten Seile gelockert und die Hängematte schwebte in ihre Ausgangsposition zurück. Urban schwang sich ungehindert über deren Rand hinaus und verweilte einen Augenblick in der Luft. Dann wickelte er noch schnell die Hängematte ab, bevor er im Schein der Lampe gemächlich nach unten schwebte, um wenige Augenblicke später etwas zerzaust vor Herrmann auf dem Boden zu landen.

„Herrmann, altes Haus, wie geht’s, wie steht’s?“

„Halb so gut wie dir“, antwortete dieser ironisch, während sich die beiden die Hände schüttelten und redend und gestikulierend den Weg zurück zum Haus antraten.

*

Sophies Flucht

Gebannt schaute Sophie in den kreisrunden Vollmond, dessen klares Licht nur hin und wieder durch vorüberziehende Wolkenfelder verdunkelt wurde. Ansonsten wurde die Sicht vor allem durch den bodennahen Nebel getrübt, der in dichten Schwaden über das Land zog, sodass man zum Teil kaum mehr die Hand vor Augen sah.

Sophie wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war. Verwirrt und voller Angst durchstreifte sie die nächtliche Landschaft. Ihr Weg führte sie über Felder und Wiesen. Hin und wieder zwang sie sich durch dichte Heckenraine, die die Feldflur durchzogen.

Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas dort draußen in der Dunkelheit auf sie lauerte, und ein Anfall von Panik stieg in ihr hoch. Vor was sie sich so sehr fürchtete, vermochte sie nicht zu sagen, und überhaupt war hier draußen nichts Außergewöhnliches zu sehen oder zu hören.

Sophie beschleunigte, ohne es zu wollen, ihren Gang. Wohin sie lief, war ihr nicht klar – ja, sie wusste noch nicht einmal, in welcher Gegend sie sich überhaupt befand, streifte scheinbar völlig ziellos durch die Nacht. Sie wollte weg, sich irgendwo verstecken vor der herannahenden Gefahr, die sie immer stärker wahrnahm. Panisch schaute sie sich wieder und wieder um.

Eine halb offene Landschaft mit Gebüschen und Bäumen umgab sie nun und sie kam in ein Gelände, das von zahlreichen Gräben und Bachläufen durchzogen war, die Sophie auf ihrer Flucht durchquerte. Der Boden unter ihren Füßen war weich und stellenweise nass. Aus ihrem schnellen Gang war längst ein Rennen geworden. Immer wieder tauchten Zweige aus dem Nebel vor ihr auf, denen sie auszuweichen versuchte, es jedoch nicht immer rechtzeitig schaffte, sodass sich einige blutige Schrammen auf ihrem Gesicht sammelten.

Plötzlich erschall aus der Ferne ein unmenschliches Brüllen. Sophie blieb stehen, lauschte und blickte panisch um sich. Einen Augenblick lang hörte sie nur ihr eigenes, schweres Atmen und spürte ihren Herzschlag. Dann vernahm sie das Knacken von Zweigen, das Brechen von Ästen und das Rascheln von Buschwerk. Das Brüllen wiederholte sich nicht.

Sophie hetzte weiter und erklomm einen Hügel. Im Tal unter ihr kreuzten zwei Bäche, die sie zuvor durchquert hatte. Sie kämpfte sich den Hang hinauf und zog sich an kleinen Bäumen und Büschen bis auf das Plateau, auf dem sie durchnässt, verdreckt und außer Atem liegen blieb.

Plötzlich schallte das Brüllen wieder auf, und zwar mehrmals hintereinander. Es kam aus dem Tal. Sophie dachte an ein wildes Tier. Immer noch am Boden liegend richtete sie sich auf und warf einen Blick zurück, hinunter ins Tal. Der Nebel war nicht mehr so dicht und gab den Blick frei auf die Gestalt, die im fahlen Licht des Mondes mit hoher Geschwindigkeit die Talsohle durchkreuzte und sich in Sophies Richtung auf den Hang zu bewegte.

Sophie stockte der Atem. Hitze schien sie von innen heraus zu verbrennen. Sie wollte nicht glauben, was da auf sie zukam; eine solche Kreatur durfte es gar nicht geben, wenn es das war, was sie schemenhaft zu erkennen glaubte. An ihrem Verstand zu zweifeln blieb ihr keine Zeit, sie musste weg von hier. Dem Wahnsinn nahe begann sie wieder loszurennen, rutschte aus, fiel hin und richtete sich panisch wieder auf. Rennend, kriechend, fallend floh Sophie über Steine, Gräben, durch Dickicht, vorbei an Baumstämmen.

Plötzlich tauchte vor ihr eine Wand auf, vor der sie nicht mehr ganz zum Stehen kam und leicht unsanft dagegenprallte. Mit den Händen hatte sie sich noch abstützen können. Die Wand bildete die Außenseite einer gut vier Meter hohen Mauer, für Sophie ein unüberwindbares Hindernis. Hektisch streifte sie daran entlang und nach ein paar Schritten stand sie vor einem eisernen Tor. Es war nicht verschlossen. Sophie drückte es auf und taumelte hindurch.

Sie hetzte durch eine weiträumige Gartenanlage, deren Wiese mit einem bunten Durcheinander von Bäumen und Heckensträuchern beladen war. Das Gelände stieg leicht an. Hinter ihr verdichtete sich das Hecheln und Knurren der Kreatur, die ihrer Fährte folgte und immer mehr an Boden gutzumachen schien. Zudem schwanden Sophie die Kräfte. Ihre Lungen brannten wie Feuer.

Völlig außer Atem fiel sie auf Knie und Hände. Ihre verzweifelten Hilfeschreie, die sie in Todesangst ausstieß, erstickten kläglich. Wer sollte sie hier draußen in dieser Einöde auch schon hören. Sich immer wieder aufrichtend setze Sophie ihre aussichtslose Flucht auf Knien, Händen und Füßen fort. Einen Augenblick lang dachte sie daran, sich irgendein Versteck zu suchen und sich einfach im Gebüsch zu verkriechen, doch instinktiv wusste sie, dass das Etwas, das sie jagte, sie regelrecht witterte. Es würde sie überall aufspüren.

Sophie blickte wild um sich und erspähte zu ihrer Rechten in einiger Entfernung hangaufwärts eine große Silhouette, die sich aus der Dunkelheit schälte. Ein Baum, schoss es Sophie durch den Kopf, das war wohl der Umriss eines riesigen Baumes. Blitzartig, ohne zu zögern, schlug Sophie dessen Richtung ein. Als böte der Baum einen besonderen Schutz vor der herannahenden Gefahr, hatte sie sich zum Ziel gemacht, ihn unter allen Umständen zu erreichen, koste es, was es wolle.

Der Gedanke verlieh ihr frische Kräfte. Sie kam auf die Beine und rannte, bis sie nur noch wenige Meter vom Rand der mächtigen Krone der knorrigen Gestalt entfernt war, die sich immer größer vor Sophie auftat. Sophie begann vor Erschöpfung zu taumeln, stolperte und fiel hart auf den Bauch. Das Gras und der weiche Boden hatten ihren Sturz zum Glück etwas abgefedert.

Gut 100 Meter hinter ihr brachen Äste, und ein Busch wurde kurz hin-und hergestoßen. Das Monster näherte sich. Panisch drückte sich Sophie aus dem feuchten Gras empor, kam halb auf die Beine, hetzte ein paar Schritte weiter und stürzte erneut, um sich auf allen vieren weiterzukämpfen.

Sie blickte zurück und sah das Monster im Dunkeln auf sich zukommen, knurrend und fauchend. Ein halb erstickter Schrei war aus Sophies atemloser Kehle entwichen. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie unter der Krone des Baumes, innerhalb der Kronentraufe, sicher war, und tatsächlich trennten sie nur drei Schritte vor deren rettendem Rand.

Doch Sophie konnte nicht mehr, sie war am Ende ihrer Kräfte angelangt. Bäuchlings robbte sie weiter, um am Fuße einer kleinen Anhöhe erschöpft auf der Seite liegen zu bleiben. Sie sah das Entsetzliche auf sich zukommen und wusste, dass sie von dieser Kreatur keine Gnade zu erwarten hatte.

Zähnefletschend schob diese sich auf ihren vier Klauenfüßen auf Sophie zu, um sich in voller Größe auf den Hinterläufen vor ihr aufzurichten.

Der erste Verdacht bestätigte sich nun. In Todesangst blickte Sophie auf ein grauenhaftes Ungeheuer, das nichts anderes als ein entsetzlicher Werwolf war.

Der Schatten der Bestie senkte sich auf Sophie herab, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte. Weinend und schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen, um das Grauen nicht länger ansehen zu müssen, und wartete auf den tödlichen Angriff.

Was dann folgte, spielte sich in nur wenigen Sekunden ab: Der Wolf setzte zum Sprung an und im nächsten Augenblick wurde Sophie hart an den Schultern gepackt. Ihre Hände rutschten dabei von ihrem Gesicht und reflexartig öffnete sie ihre Augen. So schnell, dass sie selbst nicht begriff, was mit ihr geschah, wurde sie mit Gewalt auf die Hangsohle und damit in die Kronentraufe und unter das Blätterdach des knorrigen Baumes gezogen.

Doch es war nicht etwa der Wolf gewesen, der sie dorthin geschleudert hatte. Die Bestie stand noch immer zum Sprung bereit auf ihrem Platz, um sich im nächsten Moment zähnefletschend abzustoßen.

Starr vor Entsetzen, wie in Zeitlupe, sah Sophie auf dem Rücken liegend das Monster auf sich zufliegen.

Ein greller Lichtblitz blendete ihre Augen, als der Werwolf in die Kronentraufe des Baumes eintauchen wollte. Sophie wartete vergebens auf den Zusammenprall mit dem Monster, doch der blieb aus. Noch immer geblendet von den Nachwirkungen des Blitzes starrte das Mädchen ungläubig vor sich in die mondhelle Finsternis. Langsam gewöhnten sich ihre Augen wieder an das fahle Grau der Nacht. Die Bestie war verschwunden und langsam begann Sophie zu begreifen: Der Werwolf war im Lichtblitz verbrannt!

Sophie schwanden die Sinne, das Erlebte war einfach zu viel für sie gewesen. Die Gestalt hinter sich, die ihren Rücken stützte und sie an den Schultern hielt, nahm sie überhaupt nicht wahr. Wortfetzen drangen an ihre Ohren: „Verdammte Tölen … mistiges Viehzeug, verdammtes …!“

Dann versank die Welt um sie herum in einem dunklen Strudel.

*

Kampf mit dem Monster

Herrmann und Urban erreichten das gemütliche, aus Natursteinen gemauerte Häuschen. Über die Veranda betraten sie das Wohnzimmer und Urban zog die Tür hinter sich zu. Herrmann drückte auf den Lichtschalter, ging zum Kamin und legte drei neue Holzscheite in die Glut des mittlerweile heruntergebrannten Feuers.

Dann stellte er zwei Gläser auf den urigen, alten, viereckigen Eichenholztisch und holte die Cognacflasche aus dem Schrank. Sein geheimnisvoller Besuch hatte inzwischen Platz genommen.

Urban war kein Mensch, sondern ein Baumgeist mit menschlicher Gestalt von durchschnittlicher Größe und einem relativ athletischen, kompakten Körperbau. Urbans Haut war längsrissig und grau gefurcht, wie die Rinde der Eiche, in deren Krone er lebte. Smaragdgrüne Augen leuchteten in seinem frechen Lausbubengesicht. Auf dem Kopf wuchsen kurze, borstige, schwarzgraue Haare.

Gekleidet war Urban mit einer beigefarbenen Leinenhose, die ihm dis zur Hälfte der Waden reichte und an den Rändern ausgefranst war. Sein ärmelloses Hemd war aus demselben groben Stoff gefertigt und oberhalb der Lenden zusammengeschnürt. Schuhe trug Urban keine, er zog es vor, barfuß zu gehen.

„Seit wann bist du denn wieder im Land?“, fragte Herrmann.

„Roland hat mich gestern Abend zurückteleportiert. Danach hab ich erst mal ein kurzes Schläfchen gehalten und dabei doch glatt unsere Verabredung verpennt.“

„Ja, das hab ich gemerkt. Aber erzähl mal, was gibt’s Neues vom alten Henry, dem großen Dämonenjäger?“, fragte Herrmann, während er den Cognac in die Gläser goss.

„Nicht gerade viel“, antwortete Urban, „er sitzt auf seiner Burg und langweilt sich. Keines der Medien des Ordens noch irgendein Geisterjäger oder Parapsychologe meldet dämonische Aktivitäten. Die Hölle verhält sich ausgesprochen ruhig, und so ist der gute Henry zur Zeit quasi arbeitslos.“

„Vielleicht auch nur die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm“, gab Herrmann zu bedenken.

„Mal den Teufel nicht an die Wand, aber ich hab da so ein seltsames Gefühl in der Magengegend, als ob du mit deiner Vermutung nicht ganz falsch liegst. Irgendetwas liegt in der Luft, irgendetwas Unheimliches braut sich zusammen, das spüre ich.“

Plötzlich waren draußen auf der Veranda Schritte zu hören, und mit einem Mal wurde die Tür geöffnet. Anselm Hollenried, der Juniorchef des Guts, trat eilenden Schrittes über die Schwelle und warf hastige Blicke in den Raum, das Gewehr in den Fäusten.

„Urban, Gott sei Dank, dass du da bist. Sagt mal, hört ihr beiden da draußen eigentlich nichts?“ Sein Blick schweifte nervös, ja fast schon ängstlich abwechselnd zwischen Herrmann und Urban hin und her. Die beiden schauten ihren Chef erstaunt und ungläubig an, bevor sie begriffen, was los war.

Die Tür stand noch immer offen, als plötzlich ein markerschütterndes Heulen ins Innere des kleinen Häuschens schwappte.

„Heilige Scheiße“, sagte Herrmann, der sofort ahnend von seinem Sitz aufgesprungen war, während sich das Geräusch wiederholte.

„Verdammt, was macht die Töle da draußen?“, fragte Urban völlig perplex.

„Na. was denkst du wohl? Jagen natürlich“, entgegnete Anselm, „und es klingt bereits verdammt nahe.“

Herrmann hastete zum Waffenschrank neben dem Bücherregal und holte seine Repetierbüchse hervor. Eilends drückte er fünf Schuss Munition ins Magazin. „Wir müssen nachsehen“, sagte er.

„Nicht ihr, sondern ich“, entgegnete Urban, der Anselm von hinten an die Schulter fasste, als dieser schon den Weg nach draußen antreten wollte. „Wir begleiten dich, immerhin sind wir gut bewaffnet.“

„Genau, dem Vieh machen wir den Garaus“, gab Herrmann zum Besten.

„Vergesst es!“

„Ja aber …“

„Keinen Heroismus, der Wolf sieht im Dunkeln so gut wie ihr beiden am hellen Tag, bei günstigem Wind wittert er alles im Umkreis von mehreren Kilometern, außerdem ist er viel schneller und wendiger als ihr. Die Gefahr, dass ihr euch im Ernstfall in Panik im Dunkeln aus Versehen gegenseitig erschießt, ist außerdem zu groß.“ Anselm wollte ihm widersprechen, doch Urban kam ihm zuvor. „Anselm, bitte, ich will euch beide nicht als Schaschlik aufsammeln müssen.“

Anselm senkte den Blick und hielt inne. Er wusste, dass sein Freund recht hatte und dass es zu gefährlich für sie war.

„Gut, dann verschwinde, wir halten hier so lange die Stellung, Weidmannsheil!“

„Gut, bis gleich, geht bloß kein Risiko ein, wenn’s zu heiß wird, schließt euch im Keller ein.“

Urban verließ eilends das Haus und war erst mehrere Meter durch den Garten marschiert, als ein halb erstickter Schrei an seine Ohren drang. Die Stimme war aus Rolands Richtung gekommen und gehörte einem Menschen, das stand außer Zweifel. Da draußen schien tatsächlich ein Werwolf einen Menschen zu jagen. Plötzlich erreichten ihn Rolands Gedankenimpulse: „Komm schnell rüber, ein Monster jagt ein junges Mädchen. Es liegt unmittelbar vor mir am Boden, schafft es aber nicht weiter, und ich kann sie noch nicht erreichen. Du musst helfen! Das Vieh ist nur noch wenige Meter entfernt und packt sie gleich.“

„Dann verlier keine Zeit und hol mich rasch zu dir rüber!“, sprach Urban und war im nächsten Moment auch schon verschwunden. Er hatte sich aufgelöst, um sich nur wenige Sekunden darauf am Ort des Geschehens unter Rolands Krone wieder zu materialisieren.

Dort bot sich ihm folgendes Bild: Wenige Schritte unterhalb am Hangfuß kauerte, ihm den Rücken zugewandt, in halb aufrechter Position ein Mensch am Boden, ein junges Mädchen, das schluchzte und weinte, was in Anbetracht der Situation nicht verwunderte.

Vor ihr hatte sich zum Sprung bereit ein riesiges, zähnefletschendes Monster aufgebaut, dessen gelb glühende Augen in der Dunkelheit animalisch leuchteten.

Obwohl kaum drei Schritte entfernt, würde das Mädchen die rettende Kronentraufe nicht mehr allein erreichen, so viel stand fest, doch nur dort war es Roland möglich, seine helfenden und schützenden Kräfte einzusetzen.

Der Werwolf hatte Urban, obwohl der Schrat nicht unsichtbar erschienen war – dieser Trick hatte einmal weniger funktioniert –, nicht sofort bemerkt, weil er sich etwas hangabwärts befand und im Jagdrausch auch zu sehr auf sein Opfer fixiert war.

Diesen Hauch einer Chance wollte Urban nutzen und reagierte blitzartig. Lautlos schwebte er unmittelbar über dem Boden auf das vermeintliche Opfer zu und packte es von hinten bei den Schultern. Mit einem Ruck zog er das Mädchen in die schützende Kronentraufe hinein.

Alles war so schnell geschehen, dass der Werwolf nicht mehr rechtzeitig reagiert hatte. Zähnefletschend stieß er sich vom Boden ab und raste auf die beiden zu, doch dass das Ungeheuer in die Kronentraufe der Eiche eintauchen wollte, dagegen hatte Roland etwas. Dies war einzig und allein sein Herrschaftsbereich. Außerhalb hatte er das Mädchen nicht erreichen können, ihm nicht helfen können, doch hier war alles anders.

Hier wirkten andere Kräfte: seine, Rolands Kräfte, und die sollten nun zum Einsatz kommen. Binnen Sekundenbruchteilen hatten sich gewaltige elektrische Spannungsfelder in der Krone des mächtigen Baumes aufgebaut, die ihre Energie bündelten und ruckartig entluden. Augenblicklich wurde das Monster von einem grellen Blitz getroffen und verbrannte nur im Bruchteil einer Sekunde. Es hatte die volle Ladung abbekommen und damit sein unseliges Dasein beendet.

Urban stieß noch einen letzten Fluch gegen das Ungetüm aus, von dem nichts als Asche übrig geblieben war. Das Mädchen hatte soeben das Bewusstsein verloren und lag ohnmächtig in seinen Armen. Urban warf einen dankbaren, erleichterten Blick zu Roland empor und trug das Mädchen anschließend zum Haus, wo ihn Anselm und Herrmann schon gespannt erwarteten.

*

Sophies Erwachen

Sophie schlug die Augen auf. Ihr Blick fiel gegen eine helle, hölzerne Zimmerdecke, durchkreuzt mit starken Deckenbalken. Das Bett, in dem sie lag, war schlicht, aber bequem. Die Wände der Behausung, in der sie sich wiederfand, waren aus Basaltquadern hochgemauert.

Die Morgensonne schien ins Zimmer herein durch das kleine geöffnete Giebelfenster, vor dem sich draußen die Zweige und Blätter eines Walnussbaumes im Wind malerisch hin und her und auf und ab bewegten.

Noch leicht benommen schlug Sophie die Bettdecke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Die Erinnerung an das gestern Erlebte flackerte in ihr auf. Sophie fuhr zusammen, blickte ungläubig auf ihre Hände und legte sie kurz an ihre Wangen. Sie konnte kaum fassen, dass sie noch lebte, dass sie gerettet war.

Doch wie war sie hierher gekommen und wo befand sie sich überhaupt? Fragen, auf die sie noch keine Antwort wusste. Jemand hatte sie in einen gelben Sternchenschlafanzug gesteckt – gelb mit roten Sternen, was jedoch zweitrangig schien. Ihre Blessuren jedenfalls waren versorgt worden.

Sophie stand auf und ging zum Fenster. Dabei spürte sie jeden Knochen und Muskel in ihrem Leib. Die Flucht vor dem Ungeheuer hatte ihr schier Übermenschliches abverlangt. Bis gestern Nacht hätte sie die Existenz von Werwölfen schlichtweg für Unsinn gehalten.

Sophie blickte aus dem Fenster in eine idyllische Landschaft, jene Gartenanlage, durch die sie vergangene Nacht auf der Flucht vor dem Monster gehetzt und auf geheimnisvolle Weise gerettet worden war. Sophie blickte sich im Zimmer um. Schlüssel, Führerschein und Geldbörse lagen auf dem Nachttisch neben dem Bett. Ihre Kleider waren nirgends zu finden, doch auf einem Stuhl lag zusammengelegt ein Morgenmantel, den sie sich sogleich überzog. Sie schlüpfte in ein paar Filzpantinen, die man ganz offensichtlich für sie bereitgestellt hatte.

Dann verließ sie das Zimmer, um ihren oder ihre Lebensretter zu finden und ihren Standort auszumachen. Dabei führte sie ihr Weg zunächst die Treppe hinunter in einen großen, gemütlichen, Raum, der wie der Rest des Hauses aus Basaltsteinen gemauert war. Zu ihrer Verwunderung schien das Häuschen verlassen zu sein.

„Hallo, jemand da?“, rief Sophie und merkte, wie ihre Stimme sich überschlug. Sie war noch ziemlich heiser. Sophie öffnete nacheinander die Türen zu den einzelnen Zimmern. Außer dem Wohnraum fanden sich noch zwei Gemächer, eine kleine Küche und ein kleines Bad. Alles war schlicht und gemütlich eingerichtet und mit Krimskrams nicht sonderlich beladen. Man beschränkte sich hier auf das Nötige.

Das Haus war menschenleer. Sophie durchquerte den Wohnraum, öffnete die Terrassentür und betrat die hölzerne Veranda. Von Schwindel übermannt hielt sie sich kurz am Geländer fest und wartete, bis der Anfall vorbei war.

Dann betrat sie den Garten und ging auf einem Trampelpfad einige Meter hangaufwärts, als sie plötzlich Stimmen vernahm. Hinter einem Busch tauchten zwei Personen auf. Ein Mann folgte in deren Windschatten einer kugelrunden älteren Frau, die laut kommandierend den Pfad hangabwärts walzte. Sie schleppte einen großen Picknickkorb mit sich.

Als sie Sophie vor sich im Bademantel erblickte, rief sie entsetzt: „Um Himmels willen, Kindchen, du darfst doch noch nicht einfach so allein durch die Gegend spazieren, dazu bist du noch viel zu schwach. Haben dich diese Mannsbilder doch tatsächlich allein hier zurückgelassen.“

„Ja aber der Arzt hat gemeint …“, stammelte Herrmann aus dem Hintergrund, als ihm die Dicke ins Wort fiel: „Leopold, der alte Quacksalber? Ich lach mich kaputt. Na, da wundert mich gar nichts mehr. Komm mit mir Kindchen, wir gehen zurück ins Haus. Dann gibt es erst mal was Ordentliches zu essen, damit du wieder zu Kräften kommst.“ Sophie konnte nicht widersprechen, ja, sie war noch nicht einmal dazu gekommen, überhaupt etwas zu sagen, da hatte die Alte sich bereits bei ihr eingehakt und führte sie zurück zum Haus.

Dort angekommen, nahmen Herrmann und Sophie am stabilen, urigen Wohnzimmertisch Platz, während die Alte, mit Sicherheit nicht weniger rustikal, in die Küche ging, um dort das Essen, das sie vorbereitet und in ihrem Korb mitgebracht hatte, aufzuwärmen. Sophie saß dem Mann, der in Begleitung der Frau gekommen war, gegenüber und brachte vor Verlegenheit keinen Ton heraus, im Bademantel vor wildfremden Menschen, das war ihr schon ein wenig peinlich.

Herrmann brach das Schweigen und sagte: „Erlauben Sie, dass ich mich eben vorstelle: Ich bin Herrmann Krüger. Sagen Sie bitte ‚du‘ und Herrmann zu mir. Ich bin der Verwalter des Anwesens, auf dem Sie sich befinden. Die alte Schreckschraube von vorhin ist Hildegard, unsere Hauswirtschafterin. Wenn sie will, kann sie auch nett sein“, sagte Herrmann und fing an zu lachen.

„Ich hab das gehört“, hallte es laut aus der Küche herüber. Herrmann zog ertappt den Kopf ein, doch er blieb von weiteren Kommentaren verschont.

Sophie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Und ich bin Sophie.“

„Ich weiß, ich hab’s in deinem Personalausweis gelesen, aus deiner Geldbörse, wir mussten schließlich wissen, wer du bist.“

„Schon klar.“

„Wie fühlst du dich, Sophie?“

„Nun, mir ist noch etwas schwindelig, ich hab leichte Kopfschmerzen und jeder Knochen tut mir weh, aber sonst geht es einigermaßen – danke. Aber sag mir bitte, an welchem Ort bin ich hier überhaupt – wie bin ich hier hergekommen und wer hat mich gerettet vor diesem wilden Tier?“

„Du befindest dich auf dem Hofgut Hollenried, etwas außerhalb des kleinen Dorfes Hollenried, im südwestlichen Vogelsberg gelegen. Alles Weitere sollten wir gemeinsam mit Anselm besprechen. Er dürfte bereits unterwegs sein und müsste jeden Moment hier eintreffen.“

Sophie nickte, und während die beiden noch redeten, trug Hildegard das Essen auf. Vorneweg gab es Rindfleischsuppe zur Kräftigung und danach Kotelett mit Kartoffelgemüse und Krautsalat. Sophie hatte großen Hunger, was nach dem nächtlichen Marathonlauf niemanden verwundern konnte, und langte gemäß der Empfehlung der Köchin „richtig zu“. Das Essen schmeckte vorzüglich. Der Schokoladenpudding bildete den Abschluss des Mahls.

Plötzlich schwang die Terrassentür auf und herein trat eine hochgewachsene, asketische Gestalt.

„Tag zusammen und guten Appetit auch.“

„Schon das Gröbste hinter uns, Anselm“, sagte Herrmann und stocherte in den Resten seines Puddings herum.

Sophie merkte buchstäblich, wie sie vor Scham rot anlief. Ein junger Mann solchen Formats inmitten dieser Einöde und sie in diesem erbärmlichen Aufzug. Wie überaus peinlich!

„Gestatten, junge Frau, dass ich mich Ihnen kurz vorstelle? Ich bin Anselm Hollenried, Juniorchef des hiesigen Anwesens hier. Wie geht es Ihnen?“

„Geh … geht so, d … danke“, stammelte Sophie.

„Fühlen Sie sich bei uns nur wie zu Hause, Fräulein …?“

„Sophie“, sie hatte ganz vergessen, sich vorzustellen“, Sophie Schulz.“

„Angenehm.“

Beim anschließenden Händeschütteln bemerkte Sophie erst, wie feucht ihre Handflächen vor lauter Aufregung geworden waren und wie am Ende sie mit ihren Nerven war. Dies blieb auch Anselm nicht verborgen. Er spürte Sophies Zittern, worauf er ihre Hand nicht sofort wieder losließ.

Stattdessen umschloss er sie ganz, wozu er seine freie Hand zu Hilfe nahm. Dabei beugte er sich nach vorn über den Rand des Tisches hinweg, um näher bei Sophie zu sein. Er schaute ihr in die Augen, in deren Rändern sich die Tränen sammelten, und sagte: „Du musst keine Angst haben, Sophie, wir wissen, was du durchmachst, vor allem, was du gesehen hast, aber du hast es überstanden und bist hier in absoluter Sicherheit. Jeder von uns wird dir so gut es geht bei der Bewältigung deiner Erlebnisse zur Seite stehen.“

Sophie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, ihre Lippen begannen zu zittern und sie fing an zu weinen. Anselm war inzwischen um den Tisch herum auf Sophies Seite gerückt, ohne dabei ihre Hand loszulassen, was er nun tat, denn er kramte aus seiner Weste ein Papiertaschentuch hervor und reichte es der Unglücklichen.

Herrmann hielt es für angebracht, die beiden allein zu lassen, und war hinaus in die Küche gegangen. Als sich Sophie wieder beruhigt hatte und die Tränen getrocknet waren, betrat er mit einer Flasche Cognac und einem Glas, das er vor die junge Frau auf den Tisch stellte, wieder den Raum. „Hier, nimm einen Schluck, das belebt und beruhigt und macht müde Geister munter“, bemerkte Herrmann und schenkte lächelnd ein. Sophie nickte und trank, das tat gut.

„Geht es wieder?“, fragte Anselm.

„Ja, ich glaub schon.“

Hildegard hatte soeben begonnen, den Tisch abzuräumen. Sophie wollte ihr zur Hand gehen, doch Hildegard drückte sie sanft zurück in den Stuhl. „Lass mal, Kindchen, ich mach das schon. Was hältst du davon, wenn du dich erst einmal frisch machst. Das Bad ist gleich hier nebenan. Duschzeug und Handtücher sowie Zahnbürste, und was man sonst noch so braucht, liegt bereit. Ein paar frische Kleider, die in etwa deine Größe haben dürften, hab ich auch besorgt, sie liegen auf dem Stuhl neben dem Waschbecken. Deine alten Sachen hab ich gewaschen, sie hängen allerdings noch zum Trocknen auf der Wäscheleine und sehen im Übrigen ziemlich mitgenommen aus.“

„Vielen Dank, Frau …, wie war noch gleich Ihr Name?“

„Du, sag ruhig du zu mir, ich bin Hildegard oder ganz einfach Hilde. So, und jetzt ab ins Bad, alles Weitere könnt ihr nachher noch besprechen!“ Sophie blickte kurz fragend in die Runde. „Auf jeden Fall“, sagte Anselm, „geh und lass dir Zeit!“

Nachdem Sophie den Raum verlassen hatte, fragte Herrmann leise: „Und, wie sieht es aus, Anselm, haben unsere Spione etwas entdecken können?“

„Ja, heute früh, in der Morgendämmerung. Sechs Riesentypen, nicht von dieser Welt, durchstreiften die Landschaft, auf der Suche nach etwas.“

„Du meinst den Werwolf?“

„Ist anzunehmen. Irgendwann waren sie auf einmal wie vom Erdboden verschluckt, wegteleportiert. Wir konnten ihren Kurs zurückverfolgen und haben zwei Zielgebiete ausmachen können. Das eine liegt in Palermo auf Sizilien, die Kollegen vor Ort sind informiert, das zweite in den Anden, ein ziemlich unwegsames Gelände. Wir haben den Suchradius dort auf etwa fünf Quadratkilometer einschränken können, mehr war nicht drin.“

„Verdammt gute Arbeit, würde ich sagen!“, meinte Herrmann.

„Und das Beste kommt noch“, fuhr Anselm fort. „Es gab in letzter Zeit eine ganze Reihe von Werwolfattacken, in den verschiedensten Erdteilen!“

„Was sagst du da?“

„Ja, unser Oberguru …“

„Du meinst, dein Vater!“

„Richtig, der alte Herr war außer sich, weil uns der Orden nicht informiert hat. Nachher ist Lagebesprechung, sobald Captain Henry gelandet ist.“

„Henry, der Pirat, das alte Rumfass?“, fragte Herrmann erstaunt.

„Genau der. Vater hat ihn noch in den frühen Morgenstunden über den Orden zur Verstärkung anfordern lassen, seine Ankunft wird noch heute erwartet.“

Eine gute halbe Stunde verging und Sophie betrat frisch gestylt wieder das Wohnzimmer. Sie fühlte sich frisch und ihre Kopfschmerzen waren wie weggeblasen.

Sophie war 25 Jahre alt, wirkte sehr natürlich und war ausgesprochen hübsch. Sie hatte helle Haut und lockiges dunkles Haar, das ihr bis zu den Schultern herabfiel. Kastanienbraune, gutmütige Augen blitzten aus einem klassisch schönen Gesicht, in welchem neben einem sinnlichen Mund mit roten Lippen eine durchschnittlich große Nase ihren Platz gefunden hatte.

Sophie war nicht ganz 1,70 Meter groß und hatte eine bezaubernd weibliche Figur mit den entsprechenden Rundungen an den richtigen Stellen. Sie war nicht der sprichwörtliche Strich in der Landschaft und man wusste, auch wenn sie im Mantel steckte, noch zweifelsfrei zu erkennen, auf welcher Höhe der Hintern saß.

Sophie saß wieder bei Anselm und Herrmann am Tisch und war gespannt wie ein Flitzebogen, denn nun sollte das klärende Gespräch bezüglich gestern Nacht stattfinden und sie würde hoffentlich Antworten auf ihre Fragen bekommen.

Anselm räusperte sich und sagte: „Ich will dir nichts vormachen Sophie, das wilde Tier, das dich gestern Nacht jagte, war ein Werwolf.“

Sophie schluckte, ihre Gedanken überschlugen sich. Dass Anselm ihren eigenen Verdacht bestätigte, den öffentlich auszusprechen sie nie gewagt hätte, damit hätte sie zu allerletzt gerechnet.

Sophie atmete tief aus: „Ich wusste es, aber wie ist das möglich? Es gibt doch gar keine Werwölfe, oder? Glaubt ihr beiden denn an Werwölfe?“

„Tust du es denn?“, fragte Herrmann.

„Seit gestern Nacht ja.“

„Wunderbar“, jauchzte Anselm, „dann sind wir uns also einig?“

Sophie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Wissen Sie denn etwas …“

„Du“, fiel ihr Anselm ins Wort, „du.“

„Also gut, weißt du denn mehr über die Existenz dieser Kreaturen?“

„Wir bekämpfen sie!“

Sophie war platt. Was sie da hörte, klang verrückt, aber Anselm machte nicht den Eindruck eines Spinners und Sophie wusste ja selbst, was sie gesehen hatte.

„Und wie kommt es, dass ich noch lebe? Habt ihr mich gerettet?“

Ein lang gezogenes „Neiiin“ war Anselms Antwort gewesen und auch Herrmann hatte verneinend für einen kurzen Augenblick die Hände gehoben. „Das war Urban. Wenn du willst, bringen wir dich gerne zu ihm.“

„Unbedingt!“, sagte Sophie.

„Du sollst ihn kennenlernen.“

Mit diesen Worten erhob sich Anselm und schlug den Weg über die Veranda in den Garten ein. Die anderen folgten ihm.

*

Serge Korrows schmerzlicher Verlust

Es war ein Reich der Finsternis, fernab unserer Welt, eine gewaltige Festung hoch droben im Inneren des Berges, ein gigantisches Labyrinth des Schreckens, in jahrzehntelanger Arbeit von Hundertschaften armer versklavter Kreaturen in den Fels gehauen. Die Außenwände des Massivs ragten nahezu senkrecht empor.

Kein Weg, keine Straße führte dort hinauf. Über dem Vorhof hielten fünf mächtige, an die 100 Meter hohe Stützpfeiler die Höhlendecke, von der über die gesamte Länge Fetzen dichter Bahnen Flechtenbewuchses in die Tiefe herabhingen. Hinter der Außenkante des Portals klaffte ein gewaltiger, mehrere hundert Meter tiefer Abgrund, in dem der Blick auf den Boden aufgrund der Wand aus Wolken und Nebel verwehrt blieb.

Es war die Festung Kangoon, das Bollwerk des absoluten Grauens. Kein Mensch, kein sterbliches Wesen hatte sie je lebend verlassen, kaum jemand wusste, dass sie existierte. Kangoon war ein Mythos und doch grausame Wirklichkeit. Seine Verliese beherbergten die scheußlichsten Höllenkreaturen.

In den Kerkern und Folterkellern wurden Menschen allezeit geknechtet und gequält, doch ihre Schreie verhallten stumm in den schier endlosen Gewölben.

Herr dieses Alptraums aus Stein und Finsternis war Serge Korrow, der Vampir.

Im Moment saß er nachdenklich und trübe dreinblickend auf seinem steinernen Thron im Thronsaal. Obwohl der Tag bereits angebrochen war, konnte ihm hier im Inneren der Festung nichts geschehen, da sie gänzlich vom Sonnenlicht verschont blieb. Einzig spärliches Kerzenlicht und einige rußende Wandfackeln erhellten den Raum. Dass Serge Korrow äußerst gereizt war, sah man ihm nicht nur an, sondern das bekam auch sein Dienstpersonal zu spüren, mehr als gewöhnlich.

Nun, ein Tyrann war Serge in jeder Lebenslage, doch seit Sonnenaufgang umso mehr. Serge war zutiefst beunruhigt – irgendetwas musste geschehen sein, etwas Außerplanmäßiges. Nach der Jagd war seine Spezialzüchtung eines Werwolfs nicht am Lockpunkt erschienen. Seine Abrichter durchstreiften noch immer das Testgebiet auf der Suche nach dem „Rohling“, wie Serge den Menschen bezeichnete, in den sich der Werwolf mit dem Sonnenaufgang zurückverwandelt haben musste.

Serge erhob sich aus seinem Sitz und warf einen Blick auf die Karte des Einsatzgebietes. Es lag irgendwo im Übergangsbereich von Wetterau und südwestlichem Vogelsberg. Er überflog einige zum Teil seltsam klingende Ortsnamen wie Rinderbügen, Kefenrod, Glashütten, Schotten.

Soweit er wusste, hatte Attila, der Chefabrichter, als Trainingsobjekt irgendein junges Ding nach einem Discobesuch abgepasst und nach kurzer Hypnose im passenden Terrain aussetzen lassen. Danach hatte er in einigen Kilometern Entfernung den Wolfsmenschen in Stellung gebracht und auf das ahnungslose Geschöpf angesetzt.

Plötzlich schwangen die beiden Flügel der mächtigen Thronsaaltür zur Seite und hindurch schritt eine riesenhafte Gestalt, deren monströser, bulldoggenähnlicher Kopf, wie auch der Rest, in einer mit Leder und Eisen gepanzerten Rüstung steckte. Die beiden Diener, welche die Türhälften bedienten, senkten ehrfürchtig die Köpfe, als das Ungetüm sie passierte, um danach die Tür rasch wieder zu schließen.

Der Riese trat in die Mitte des großen Raumes, senkte den Kopf und fiel untertänig vor Serge auf die Knie. Dabei schlug er seine rechte zur Faust geballte Hand gegen seine Brust.

„Komm hoch, Attila, und berichte, wie die Lage ist“, sagte Serge.

Der Riese mit Namen Attila erhob sich und kramte aus einer viereckigen Holzschachtel, welche er an seinem Gürtel mit sich führte, etwas hervor, das auf den ersten Blick aussah wie ein mehrfach zusammengefaltetes Pergament von schwarzer Farbe. Was es jedoch nicht war, denn nach kurzem Warten entfaltete sich das Etwas und zum Vorschein kam eine völlig zerknitterte und zerzauste Fledermaus, die sich vom plötzlichen Lichteinfall in das Kästchen sichtlich gestört fühlte.

Jedenfalls öffnete sie kurz die zuvor fest geschlossenen Augen, um das Kästchen im nächsten Moment schnell wieder zuzuziehen. Doch daraus wurde nichts, denn Attila hielt den Deckel mit seinen Riesenklauen geöffnet. Mit einem geübten Griff fischte er die verdutzt dreinblickende Fledermaus aus ihrer Unterkunft und setzte sie auf sein Handgelenk, um sie Serge zu präsentieren. „Der Flugschreiber, Meister, hat die gestrige Jagd in allen Einzelheiten aufgezeichnet. Es ist uns jedoch noch nicht gelungen, seine magische Sperre zu lösen. Und ohne ihn können wir das Geschehene nicht nachvollziehen!“