Cover


Ein MORDs-Team

Band 2

»Auf tödlichen Sohlen«


von Nicole Böhm

 

 

Ein MORDs-Team - Logo

 

Barrington Cove, 1984

 

»Wir funken auf Kanal 4«, sagte Jamie und drückte Harrison das Walkie-Talkie in die Hand. »Kannst du dir das merken oder muss ich es dir aufschreiben?«

»Idiot.«

»Dann mach’s mal gut, Hairy-Boy. Lass dich nicht von den Geistern holen.« Jamie gab Harrison einen Klaps auf die Schulter, legte seinen Arm um Shannon und folgte den anderen nach oben Richtung Sekretariat.

»Nenn ihn nicht immer Hairy-Boy«, sagte Shannon und boxte ihn in die Seite. »Das mag er nicht.«

»Würde ich auch nicht, wenn ich für die Haare auf meinem Rücken einen extra Friseurtermin bräuchte.« Jamie zwinkerte ihr zu. Wo bliebe der Spaß, wenn er den guten Harrison nicht ein wenig necken könnte? Jamie zog Shannon enger zu sich. Sie hatte einfach scharfe Kurven, anders war es nicht zu beschreiben. Er grinste.

»Was ist?«, fragte Shannon.

»Nichts, ich finde das nur krass abgefahren.«

»Abgefahren? Wir brechen mitten in der Nacht im Büro des Rektors ein, um Prüfungsfragen zu stehlen. Ich finde das eher gruselig.«

»Das musst du nicht, ich bin doch da und passe auf dich auf.« Jamie verlangsamte absichtlich das Tempo, um mehr Abstand zwischen Billy und Marietta zu bekommen, die vor ihnen herliefen. Seine Hand wanderte tiefer an Shannons Rücken entlang, folgte dem Schwung ihrer Taille zu ihrem Hintern.

»Lass das.« Sie entwand sich seinem Griff. Jamie rollte mit den Augen. Seit Wochen schon versuchte er, Shannon dazu zu überreden, ihn mehr berühren zu lassen als nur ihre Taille. Seit Wochen ließ sie ihn mit der Beharrlichkeit eines Staudamms abblitzen. Er startete den nächsten Versuch.

»Jamie, nimm deine Pfoten da …«

»Könnt ihr mal leise sein!«, zischte Billy.

»Wieso? Wer sollte uns denn hören?«, fragte Jamie. »Die olle Alarmanlage funzt nicht, das weiß doch jeder. Und der alte Anderson hockt entweder vor der Glotze oder führt seinen Hund Gassi.« Jamie hob die Hände an den Mund und nutzte sie als Megaphon. Dann schrie er. »Wir können so laut sein wie wir möchten, nur der Allmächtige wird uns hören.«

Billy warf ihm einen finsteren Blick über die Schulter zu. Jamie lachte und schaute zu Shannon, die genervt dreinblickte.

»Was denn?«, fragte er. »Ich mach doch nur Spaß.«

»Das ist aber nicht witzig«, sagte Shannon. »Echt jetzt, werd mal erwachsen.«

Sie zog den Nachschlüssel, den sie bereits an der Tür unten verwendet hatte, aus ihrer Gürteltasche und holte Marietta ein, die im Vorzimmer des Rektors verschwunden war. Billy blieb noch einen Moment stehen, bis Jamie aufgeschlossen hatte, dann legte er ihm den Arm um die Schulter. »Mal so ein Tipp nebenbei: Wenn du sie rumkriegen willst, hör auf, den Kasper zu spielen. Frauen stehen nicht auf Clowns.«

Jamie seufzte. Billy hatte natürlich recht, aber seit Marietta sich von ihm getrennt hatte, fiel es ihm irgendwie schwer, wieder mit Mädchen anzubandeln. Vermutlich spielte er den Clown, weil er wusste, dass er so am wenigsten Erfolg hatte. Er betrat mit Billy das Vorzimmer des Rektors. Wie immer war es picobello sauber aufgeräumt. Marietta und Shannon rüttelten am Schloss.

»Was ist los?«, fragte Billy.

»Der Schlüssel klemmt«, sagte Shannon. »Er lässt sich nicht umdrehen.«

»Oh bitte, sag das nicht«, sagte Billy.

»Ist aber so.« Shannon strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und machte Billy Platz. Er probierte ebenfalls sein Glück, doch ohne Erfolg.

Billy zog den Schlüssel wieder heraus und begutachtete ihn im Halbdunkel. »Da ist eine scharfe Kante, wenn wir mit etwas drüber feilen, müsste es gehen.«

»Während ihr das versucht, suchen Shannon und ich in Andersons Büro nach einem Ersatzschlüssel«, sagte Jamie.

»Gute Idee«, sagte Billy. »Der alte Knochen hat ganz sicher einen Ersatz.«

»Also gut«, sagte Shannon. »Bis gleich.«

Jamie nickte und hielt Shannon die Tür auf. Sie huschte an ihm vorbei, Jamie folgte ihr.

»Charmant sein, nicht witzig, denk dran«, rief Billy ihm nach.

Beim Gehen griff Jamie nach Shannons Hand und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. Charmant sein. Er konnte das.

»Tut mir leid wegen vorhin, ich wollte dich nur ein wenig ablenken, weil du so ängstlich ausgesehen hast. Und es tut mir auch leid, wie ich Hairy-B… Harrison behandle. Du hast recht. Das ist nicht richtig.«

Shannon blickte zu ihm hoch. Im Halbdunkel funkelten ihre blassblauen Augen und ihre Haut leuchtete heller.

»Ich werde Harrison morgen nach der Schule mal mit zum Strand nehmen. Wir könnten ein paar Körbe werfen.«

Shannon hielt an, blickte kurz nach rechts und links, als hätte sie Angst, jemand könnte sie beobachten, was natürlich nicht der Fall war. »Danke. Das wäre wirklich nett von dir. Es ist schwer für ihn, Anschluss zu finden.« Sie lächelte ihn unter halb geschlossenen Augen an, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er erwiderte Shannons Kuss. Erst ruhig und zärtlich, doch als sie ihre Hände in seinen Haaren vergrub und ihre Hüfte gegen seine schmiegte, presste er sie gegen die nächste Wand und küsste sie leidenschaftlicher. Jamie fuhr mit den Fingern unter ihr Shirt, strich über die Haut an ihrem Bauchnabel.

Auf einmal riss Shannon sich von ihm los. War er wieder zu weit gegangen?

»Hast du das gehört?«

»Was?« Er blickte sich um, doch da war nichts.

»Da kommt jemand!«

Jamie wollte gerade widersprechen, als er es auch hörte. Schritte. Sie kamen direkt auf sie zu. »Schnell, da rein.« Er deutete auf eine Tür. Gemeinsam huschten sie in den dahinter liegenden dunklen Raum. Jamie drückte die Tür wieder leise ins Schloss. Für einige Sekunden verharrten sie regungslos, dem Atem des anderen lauschend. Als sich nichts rührte, stieß Jamie die Luft aus den Lungen. »Ist er noch da?«

»Keine Ahnung.«

Jamie blickte sich um. Sie waren in einer der Putzkammern gelandet. Es roch nach Reinigungsmittel und Chlor, durch ein Minifenster schien ein wenig Licht. Jamie schluckte den Kloß hinunter, der ihm immer die Kehle abschnürte, sobald er sich in einem geschlossenen Raum befand, und harrte mit Shannon im Dunkeln aus. Sie drückte sich eng an ihn, was er unter anderen Umständen höchst erregend gefunden hätte, nun allerdings schien es ihm die Lungen zusammenzuquetschen. War hier drinnen überhaupt genug Sauerstoff für sie beide? Er blickte nach oben an die Decke. Lüftungsschlitze. Das war gut. Das hieß, der Raum war an die Schächte der Schule angeschlossen. Sie würden nicht ersticken. Oder?

Jamie wich einen Schritt von Shannon zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie lange waren sie jetzt hier drinnen? Eine Minute? Eine Stunde?

Irgendwann horchte Shannon sich auf. »Ich glaube, er ist weg.«

»Meinst du?«

Sie machte sich von ihm los. »Ist alles okay mit dir? Du bist ganz heiß.«

»Ja. Alles super.« Normalerweise hätte er ihr einen flapsigen Spruch dazugedrückt, doch im Moment wollte er nur noch hier raus.

Shannon ging zur Tür, um zu öffnen. »Mist!«

»Was?«

»Es ist abgeschlossen.«

»Was soll das heißen, es ist abgeschlossen?!«

»Ich bekomme die Tür nicht auf.«

Jamie wirbelte herum, stieß Shannon zur Seite und rüttelte an der Klinke. Sie hatte recht. Sie war abgeschlossen. Bombenfest.

»Scheiße, Scheiße … bitte nicht«, stammelte er. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, seine Kehle wurde eng. Er nestelte am Kragen seines Shirts. Luft. Er brauchte Luft.

»Jamie?« Shannon legte die Hand auf seine Schulter.

»Fass mich nicht an!«, brüllte er und fuhr sich an die Stirn. Warum bekam er keine Luft mehr? Es gab doch genug hier drinnen. Da waren Lüftungsschlitze und ein Fenster. Es konnte nichts passieren. Er würde nicht ersticken oder zerquetscht werden. Weder bewegten sich die Wände noch wich der Sauerstoff aus dem Raum. Es ist alles gut. Sie müssten nur laut genug klopfen, brüllen, schreien. Die anderen würden kommen und sie rausholen. Ganz sicher würden sie das. Warum zum Teufel bekam er dann keine Luft mehr?

»Jamie, um Gottes Willen«, hörte er Shannon noch rufen. Dann schlug er auf dem Boden auf und es wurde still.

 

*

 

Barrington Cove, Gegenwart

Ein Montag

 

»Mum, ich bin zu Hause.« Olivia schob mit dem Hintern die Tür zu und balancierte ihre Einkäufe auf den Armen. Der faule Esel trägt sich auf einmal tot, dachte sie, während sie versuchte, die beiden Tüten, die Schultasche, die Post und den Kaffeebecher so zu halten, dass sie nichts vom Kaffee auf die Post verschüttete. Es wäre zwar nicht schade um die tausend Mahnungen gewesen, doch wenn nur ein Klecks auf den halbnackten Kerl tropfen sollte, der das Cover des neuesten Hollister-Katalogs zierte, würde Maria den ganzen Tag schmollen. Und schmollende kleine Schwestern waren nun mal ätzend. Zumal Olivia ihr heute den Küchendienst aufschwatzen wollte, um fotografieren zu gehen. Für den Abend war ein Gewitter gemeldet und die Lichtstimmung kurz vor oder nach einem Unwetter war einfach großartig. Zudem würde es über den Ozean hereinziehen. Doppelt gut, das Meer würde diesen herrlichen dunkel-türkisen Farbton annehmen. Mit ein wenig Glück würden die Wolken schwer und unheilvoll über dem Meer hängen, während die Sonne unterging. Selbst mit ihrer alten Nikon-analog-Scherbe könnte sie das nicht verhunzen. Da es ihre letzten Strandbilder im Caribic-Island-Wettbewerb immerhin unter die besten drei geschafft hatten, war Olivia umso mehr motiviert. Zwar hatte es kein Geld dafür gegeben, aber Olivia hatte gleich drei neue Anfragen von Magazinen erhalten, für die sie probeknipsen sollte. Sie brauchte einfach mehr Wettbewerbe, um ins Gespräch zu kommen.

»Mum?«

Keine Antwort. Vermutlich hing sie mal wieder mit Tante Filipa an der Strippe und diskutierte den neuesten Klatsch aus Lucainena de las Torres.

Der Kaffeebecher schwankte gefährlich, aber Olivia hatte den Küchentresen fast erreicht. Auf einmal stieß sie gegen einen Widerstand und konnte im letzten Moment verhindern zu stolpern. Sie blickte nach unten. »Carlos, geh weg!«

Der Kater war ihr vor die Füße gelaufen und schmiegte sich nun laut schnurrend gegen ihre Beine. Er hatte einfach ein unschlagbares Talent, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Olivia zischte noch einmal und versuchte ihn sachte wegzuschieben, was ihn nur dazu animierte, sich ans andere Bein zu werfen. Der Becher kam gefährlich ins Schwanken. Olivia biss auf ihre Unterlippe, fixierte den Kaffee, als könne sie ihn mit bloßer Willenskraft daran hindern überzuschwappen, und schaffte es schließlich mit der Post, den Einkäufen und dem Katalog zum Küchentresen. Sie hievte die beiden Tüten auf den Tresen, schmiss ihre Tasche auf den Barhocker und bückte sich, um Carlos auf den Arm zu nehmen.

»Du frecher kleiner Kater.« Sofort fing er an zu schnurren. »Hat dich heute noch niemand gefüttert? Oder tust du nur so als ob und spekulierst darauf, dass du noch etwas von mir bekommst?« Er stieß seine Nase gegen ihre. Sie lachte, setzte ihn auf einem der freien Hocker ab und öffnete den Unterschrank mit dem Katzenfutter.

Ihre Mutter kam durch das Wohnzimmer gelaufen. Den Telefonhörer ans Ohr geklemmt, redete sie wie ein Wasserfall. »Estás segura de que la has visto junto con Jorge? Y se hanbesado?«

Oha, Jorge ist mal wieder fremdgegangen. Olivia streckte die Hand hoch, um ihrer Mutter zu signalisieren, dass sie hinter dem Tresen kniete.

»Hallo, Liebes«, rief sie und setzte ihr Telefonat fort. »Esa mujerzuela. Ni hace casí un año desde la muerte de Manuel. Que dios le tenga en su gloria. … Sí, sí, ya sé … Lucia ya sabe algo? … Que? No lo dirás en serio…«

Olivia griff eine Dose mit extra viel Thunfisch, schloss die Schranktür und blickte in dem Moment auf, als Carlos auf den Tresen sprang und den Kaffeebecher umwarf. Der Inhalt floss mitten über Mister Nackter-Oberkörper-Hollister. »Carlos! Du gottverdammter …«

»In diesem Haus wird der Name des Herrn nicht missbraucht, junge Frau!«, rief ihre Mutter dazwischen.

»Verdammt«, schrie Olivia und scheuchte Carlos vom Küchentresen, der gerade den Milchschaum auflecken wollte. »Großartig. Einfach großartig.« Maria würde ausflippen. Das war’s mit der Fototour heute Abend. Adieu Gewitterstimmung, hallo Küchendienst. Olivia riss einige Küchentücher von der Rolle und versuchte, den Schaden einzudämmen. Vielleicht, wenn sie den Katalog zum Trocknen an die Wäscheleine … ach, egal. Olivia seufzte und warf ihn in die Papiertonne unter dem Tresen. Sie ließ sich in den Hocker plumpsen und nahm die Barrington Cove Gazette von heute.

Mal sehen, was für Fotos sie von Billys Haus genommen haben. Die Story hatte es immerhin auf Seite drei geschafft. Olivia blätterte die Stelle auf und stieß einen Pfiff aus. Sehr gut. Die Gazette hatte ein halbseitiges Bild sowie ein kleineres verwendet. Super, das macht dann fünfundzwanzig Dollar für die beiden Fotos. Wenn sie in dem Tempo ihr Geld weiter zusammensparte, hätte sie in gefühlten fünfzig Jahren genug zusammen, um sich die bis dahin neue Nikon-Spiegelreflex-Vollformat zu kaufen. »Dann bin ich steinalt und kann die Kamera nicht mehr ruhig halten«, sagte sie zu sich selbst und blätterte lustlos die Zeitung weiter durch.

»Olà, Oliv«, sagte Maria, als sie zur Küchentür hereinkam und sich auf die andere Seite des Tresens lehnte. Ihre kleine Schwester trug mal wieder eines ihrer hunderttausend Blümchenkleider, die mehr von ihrem Ausschnitt zeigten als verdeckten. Olivia schimpfte jedes Mal mit ihr. Das war einfach keine Kleidung für eine Vierzehnjährige. Die Haare hatte Maria diesmal zu einem kunstvollen Flechtgebilde hochgesteckt.

»Ist der Hollister-Katalog gekommen?«, fragte Maria. »Brenda sagte, das neue Covermodel sähe aus wie Chris Hemsworth, nur in jung.« Maria kaute wie immer Kaugummi und machte eine Blase, die sie sofort wieder platzen ließ.

Der Duft nach künstlichen Erdbeeren stieg Olivia in die Nase. »Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass dein Kaugummigekaue nervt. Außerdem ist der Zucker schlecht für die Zähne.«

Wie zur Bestätigung machte Maria die nächste Blase, die sie extra groß werden ließ, bevor sie sie zum Platzen brachte. Kaugummireste blieben auf ihren Lippen und im Nasenloch kleben, die Maria mit dem Finger herunterpulte, um sie wieder mit dem Rest im Mund zu vereinen.

»Hast du eine Ahnung, wie viele Bazillen da jetzt dran pappen?«, sagte Olivia und blätterte weiter in ihrer Zeitung. »Vermutlich sind auch Haare von Carlos dabei. Mh, lecker. Katzenkaugummi.«

Maria verzog das Gesicht, beugte sich über den Tresen und kaute ungerührt weiter. »Und, hast du eine Ahnung, wo mein Katalog ist?«

»Nope«, sagte Olivia und studierte die Zeitung, als wäre es die spannendste Lektüre, die sie je gelesen hatte. An einer Anzeige blieb sie schließlich hängen. »Is’ nich’ wahr!«

»Was?«, fragte Maria.

Olivia studierte mit offenem Mund das Foto, das die komplette Seite einnahm. Darauf zu sehen war Rebecca Reach, Inhaberin der Galerie reachAble, die Rebecca vor fünf Jahren gegründet hatte. Neben ihr stand Lucian McAllister, einer der derzeit bekanntesten Modefotografen. Erst letzte Woche war er zu Gast bei Project Catwalk mit Heidi Klum gewesen und hatte dort die Models für den Contest des Tages fotografiert. Dieser Typ verdiente an einem Tag mehr als Olivia es in zehn Jahren je würde. Er reiste von London nach Paris nach New York nach Dubai. Er bekam alles vor die Linse, was Rang und Namen hatte, und er war für seinen letzten Bildband »Hello, Mister President«, bei dem er den Präsidenten ein halbes Jahr lang fotografisch begleiten durfte, mit dem ALLSTAR-Award ausgezeichnet worden. Und genau dieser Lucian McAllister führte nun zusammen mit Rebecca Reach in zwei Wochen einen Wettbewerb in ihrer Galerie durch. Als Preis winkten zehntausend Dollar – zehntausend! – und ein vierwöchiges Praktikum bei Lucian. »Heilige Scheiße.«

»Du sollst nicht fluchen, Oliv.«

»Mir egal.«

»Wer ist der Kerl?«, fragte Maria und verdrehte den Nacken, weil sie Olivia gegenüber saß und die Zeitung auf dem Kopf sah.

»Kennst du nicht«, sagte Olivia, kaute auf ihrer Unterlippe, während sie weiter las. An dem Wettbewerb durften alle Schüler der Barrington Cove zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren teilnehmen. Einzureichen waren fünf Fotos zu dem Thema: Catch the Night. Die Bilder mussten selbst geschossen sein und durften nicht am Computer nachbearbeitet werden. Als Beweis war die Raw-Datei oder das Negativ beizulegen. Ebenfalls ausgeschlossen waren Langzeitbelichtungen.

Catch the Night … was könnte Olivia fotografieren? Das Naheliegende bei dem Thema wären nun mal Nachtaufnahmen und die gingen eigentlich nur mit einer Langzeitbelichtung. Sie hätte sich an die Autobahn gestellt, die Kamera fixiert und auf eine Minute Belichtung eingestellt. Die Lichter der Autos wären dann als Streifen abgebildet worden oder sie hätte mit ihrer Taschenlampe mit Licht malen können. Doch das konnte sie vergessen und mit ihrem Asbach uralt 5.6er-Objektiv würde sie keine Nachtaufnahmen schießen können. Die Linse war nicht mal lichtstark genug, um Bilder bei Flutlicht zu machen. »Mist.«

»Der Typ sieht genauso aus wie ich mir Christian Grey vorstelle«, sagte Maria, die mittlerweile um den Tresen herumgelaufen war und jetzt über Olivias Schulter auf die Zeitung blickte.

»Woher weißt du, wer Christian Grey ist? Du bist erst vierzehn.«

Maria schnaubte und verdrehte die Augen. »Klar doch, und ich glaube immer noch, dass die Babys von Störchen gebracht werden. Hallo? Shades of Grey ist doch Ringelpilz mit Anfassen. Du solltest mal Hundred Shadows of Night lesen. Da geht es richtig zur Sache, dagegen kann Christian mit dem läppischen Popoversohlen einpacken.«

»Maria!«, zischte Olivia. »Du wirst aufhören, diesen Quatsch zu lesen.«

»Sonst was? Verpetzt du mich an Mum? Dann sage ich ihr, was du letztes Jahr mit Rob von nebenan getan hast.«

»Das wirst du nicht …«

Maria formte einen Kussmund, umschlang sich selbst mit den Armen und verstellte ihre Stimme. »Oh Rob, das ist so schön. Ja, fass mich hier an, nein dort nicht, oh … ah

»So war das überhaupt nicht …«

Maria ließ eine weitere Blase platzen, bückte sich, um den Hollister-Katalog wieder aus der Papiertonne zu fischen und warf dabei den Müll der letzten Tage auf den Boden. »Ups«, sagte sie, sah allerdings kein bisschen reumütig aus. Olivia wollte nach ihr greifen, doch die kleine Ratte stob davon und ihre Hand griff ins Leere.

»Mistkröte«, rief sie ihr nach. »Hoffentlich erstickst du an deinem Kaugummi.«

»Werde ich nicht«, rief ihre Schwester zurück.

Olivia ließ sich zurück auf den Barhocker sinken und betrachtete noch einmal die Ausschreibung. Zehntausend DollarnichtUnd das 1.4er kostet über das Doppelte …