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Eduard v. Wosilovsky

Wenn die

Heide träumt …

Den Rucksack am Buckel,
die Flinte im Arm

Leopold Stocker Verlag
Graz – Stuttgart

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ISBN 978-3-7020-1558-9

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INHALT

Vorwort

Prolog

Heimweh

Die Donar-Eiche

Am Bibergraben

Am Buschhaus

Die Druschba-Sau

An der Eisenleiter

Der Heidelbeerbock

Die Löwenzahnböcke vom Immental

Der Perückenbock

Der Wolfswinkel

Der Mottenplan-Keiler

Der Fuchs-Bock

Waldweihnacht

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„Wenn die Heide träumt” enthält manch schöne Erinnerungen an vergangene Jagdfreuden, an denen ich meine Leser, mithilfe meines Sohnes, Eduard v. Wosilovsky jun., der sie zu Papier brachte, teilhaben lassen möchte.

Wir widmen dieses Buch unserer Tochter und Schwester Andrea.

Sie war uns ein Beispiel für Mut und Tapferkeit. Sie liebte das Leben bis zu ihrem letzten Atemzug.

Möge ihr Stern in alle Ewigkeit leuchten!

Richte deine Augen empor
und siehe die Wolke und
das Licht, das in ihr ist,
und die Sterne, die sie umkreisen.
Der Stern, der der Anführer ist,
ist dein Stern.

(Worte von Jesus an Judas. Aus dem Judas-Evangelium)

VORWORT

Wenn ein Dichter genannt wird, der lange und schweigend sammelt, bevor er seine Ernte beginnt, so mag ich wohl dort und in jenem Zeitraum zum Dichter geworden sein. Der Adler hat da Anteil und das Waldhorn, die roten Wolken über dem Moor und der bittere Geruch der Wälder. Sie alle füllten das Gefäß, aus dem ich später schöpfen sollte, und sie bewahrten sich für mich mit der schönen Geduld zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang, die nur die Treue gibt. Es tut nichts, daß ich dem nicht den Namen Gottes gab, womit ich mich in jenen Zeiten erfüllte. Ja daß ich diesen Namen wohl geleugnet haben würde. Ich weiß nicht, ob die Jäger an Gott glauben oder nicht. Aber ich weiß, daß sie ihm näher sind als andere, weil sie mehr als andere in seinem Hause wohnen.

(Ernst Wiechert, „Jahre und Zeiten“)
aus der Johannisburger Heide Ostpreußens

Mahnung für diese Zeit

„Auch für zahllose andere Menschen, als ich einer bin, wird eine Zeit kommen, in der sie sich nach einem Lande sehnen und zu einem Fleck Erde flüchten, wo die moderne Kultur, Technik, Habgier und Hetze noch eine friedliche Stätte weit von Lärm, Gewühl, Rauch und Staub der Städte übrig gelassen hat.“

(Ludwig II., König von Bayern)

PROLOG

Der bedeutende sudetendeutsche Dichter Hugo Salus, ein Sohn meiner Heimatstadt Böhmisch-Leipa, schrieb 1903 jene folgenden Verse, die seither mein Leben begleiten. (Unser Oberlehrer Dix lehrte uns diese, ebenso wie das „Gebet für die Heimat“ von Paul Leppin, im Jahre 1945.)

„Laipaer Sprüchelvon Hugo Salus (1903)

So hat uns der Laipaer Lehrer gelehrt:

„Nord, Süden, Osten und Westen,

Wie die Sonne über den Himmel fährt,

Merkt auf, so lernt ihr’s am besten:

Im Osten, hinter Dobern geht sie auf,

Im Westen bei Leibich unter,

Der Norden geht hinter dem Spitzberg hinauf,

Der Süden bei Neuschloß hinunter.“

Wo Neuschloß und Dobern sind, weiß jedes Kind,

Bin oft auf den Spitzberg gegangen,

Hab dort, wenn die Maikäfer gekommen sind,

Ein manch’s Hundert gefangen;

Und die Sonne, hinter Dobern ging sie auf,

Im Osten bei Leibich unter,

Im Westen, der Norden geht hier hinauf,

Der Süden bei Neuschloß hinunter.

O Leipa, wie ist die Welt so groß!

Wie hat’s mich herumgetrieben!

Und doch, dich werd ich mein Lebtag nicht los,

Dein Sprüchel ist haftengeblieben:

Meine Sonne geht noch hinter Dobern auf,

Noch immer bei Leibich unter,

Mein Norden geht noch hinterm Spitzberg hinauf,

Mein Süden bei Neuschloß hinunter …

Du wirst fragen, wie ich meine geistige Erfüllung in der erzählenden Dichtung fand. Da musst du wissen, dass ich eine Mutter hatte, die nicht nur eine große liebe Seele war, sondern auch über eine hervorragende Intelligenz verfügte. Als junges Mädchen ging sie nach Prag, um als Kinderfräulein zu arbeiten. Das Glück war ihr hold und führte sie in eine jüdische Akademikerfamilie. Nach kurzer Zeit war sie mehr Tochter als Dienstpersonal. Bald darauf genoss meine Mutter die liebevolle Aufmerksamkeit aller Familienmitglieder. Ihre Herrschaft bot ihr alle Möglichkeiten der Bildung an, die gerne von der wissensdurstigen jungen Frau ausgeschöpft wurden. Nach ca. zweieinhalb Jahren intensiven Privatunterrichts durch die Frau des Hauses – auch eine Akademikerin – absolvierte meine Mutter die Prüfung zum Zertifikat „Privatlehrerin für gehobene Bildungsanstalten“ mit Bravour. Und so wirkte sie in der Familie ihrer Gastgeber als Lehrerin – bis zur Heirat mit meinem Vater im Jahr 1939. Der Literatur Altösterreichs, insbesondere des Sudetenlandes, war meine Mutter sehr emotional verbunden. Noch im Alter verblüffte sie mich mit ihrem tiefgründigen Wissen über Rilke und Ebner-Eschenbach, Tieck, Schlegel und Brentano, Grillparzer und Eichendorff …, besonders aber von Gagern und Stifter. Die fast vollständigen Werke dieser Großen der Literatur befanden sich in unserer Hausbibliothek. Wen wundert es da, dass sie mir daraus oft vorlas und in mir den Wunsch weckte, Gleiches auch tun zu können. Mit viereinhalb Jahren konnte ich dann auch schon gut lesen, wobei natürlich Märchen und Balladen meine geistige Lieblingsspeise wurden. Mein Interesse fürs Lesen immer anspruchsvollerer Literatur und das Erlebnis Natur förderte nicht nur meine Mutter, sondern auch Großmutter Maria und der große „Nimrod“ – mein Großvater Eduard. Sollte ich heute meine Mutter beschreiben müssen, jene herzensgute, hochgebildete und mutige Frau, die in den Kriegsjahren den Kindern ihrer ehemaligen Gastgeber in Prag Unterschlupf und Sicherheit gewährte, so finde ich in den Worten I. Kants die richtige Antwort. Er sagte über seine Mutter: „Ich werde meine Mutter nie vergessen. Sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur, sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden Einfluss auf mein Leben gehabt.“

Die Lehren und Liebe meiner Mutter haben mich stark gemacht, nur dadurch konnte ich Hass, Hader und Missgunst der Zeiten bewältigen, nur dadurch kann ich jeden Tag aufs Neue den Griffel in die Hand nehmen, um meinen literarischen Vorbildern nachzueifern. Was ich heute kann und bin, verdanke ich meiner Mutter. „Jede Erziehung heißt: ein Vorbild setzen und zu seiner Verwirklichung aneifern. Das Seiende ist ein stimmendes, das Werdende ist ein redendes Beispiel. Indem man ein Vorbild sich zu seiner vorbildlichen Art entwickeln lässt, zeigt man am wirksamsten, wie es gemacht werden soll“, schrieb Josef Nadler.

Das ist der Sinn, den auch ich fand in Stifters Roman „Witiko“, wo er seinen Helden im deutschen Böhmerwald eine bäuerliche Gemeinschaft aufbauen und in die reale gesellschaftliche Gegenwart einfügen lässt. Stifter war ein Prediger des Friedens, der bäuerlichen Arbeit, ein unduldsamer Sprecher und Kämpfer für die Ehrfurcht vor der Natur. Er hatte von allen sudetendeutschen Dichtern die breiteste und tiefste Wirkung auf mich ausgeübt. Er wurde eine geistige Lebensmacht, Unkundige und menschenabgewandte Kritiker haben ihn als „Dichter der Käfer und Butterblumen“ verlacht und dabei nicht begriffen, dass auch der Mensch sich gegenseitig bedingt. Ja, Stifter ist ein Schilderer der Natur, neben von Gagern, Löns, Rosegger und Watzlik, Schaukal und Leutel der Bedeutendste, aber er hat nie den Menschen als Staffage neben die Natur gestellt. Der Mensch steht stets im Mittelpunkt von Stifters Dichtung, er ist der Träger seines Ethos, das dem sanften Gesetz folgt in der sittlichen Welt des Menschen wie der Naturgesetze. Diesem Vermächtnis Stifters und der anderen Großen der Literatur meiner Heimat möchte ich in meinem Schaffen folgen. Stifter lehrte mich als Naturbuchautor ins Lautlose zu lauschen, das Unhörbare hörbar zu machen. In meinen Naturwelten bin ich seither umspielt von vielfältigen und schillernden Lichtern, von musikalischen Wort- und Klangwirkungen, von den unsterblichen Melodien des Kosmos. Und all dieses möchte ich meinen Lesern vermitteln. In den Stunden der Rückschau auf Vergangenes steigen in mir die Worte wie aus einem verborgenen Quell, der ins Helle sprudelt. Schriftstellern ist Gnade und Schmerz, Inspiration und Fleiß, jeder Gedanke ist Abschied vom Sein. Ja, so lehrten sie mich – Stifter, von Gagern und Rilke und die anderen ungezählten, ungenannten der emotionalen Wortgewaltigen. Die seelische Erregung bei der Durchdringung des stofflichen Themas meiner Arbeiten steigert stets die Leuchtkraft des dichterischen Blickes, sie führt mich stets in die innere Spannung zwischen vorgefasster, intuitiver Gedankenform und dem zufälligen, gnadenhaften, nicht herbeizubefehlenden Erschüttertsein der Seele. Diese von mir im Laufe der Jahre gleichwohl gemachten Erfahrungen fand ich in den Werken meiner literarischen Fährtenleger, und sie leuchteten mir auch in dunklen, schicksalsschwangeren Stunden den Weg zur Vollendung des Gewollten aus. Rilke vermittelte mir die Erkenntnis, dass das Dasein des Dichters und sein Leben in ihm verzaubert scheint, „… An hundert Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.“ Je länger und tiefsinniger ich mich mit den Werken meiner literarischen Vorbilder befasste, je mehr ich mich in mein eigenes Schaffen vertiefte und nach Ausdrucksformen suchte, um bei den Lesern Anteilnahme und Begeisterung zu wecken, desto bildhafter trat die Erkenntnis hervor, dass wahre Meisterschaft in den unkontrollierten Tiefen des Unbewussten entspringt. „Die Welt und alle geistigen Werte geraten in den Wirbel der eigenen Seele“, sagte uns Rilke. Ja, ich habe es selbst erfahren – das Glück, das innere Bewusstsein, nicht der Verstand sind das erfassende Organ des Autors. Nach vielen Jahren des Experimentierens mit bildhaften, ausdruckstarken Worten fand ich meinen Weg. Ob er Anerkennung findet, werden die Zeiten wissen.

Oft fragte ich mich, warum ich nicht von der angestammten Heimat lassen kann. Die Lebensläufe der Dichter und Poeten Altösterreichs sagen es uns mit klarer Stimme. Im Schmelztiegel des Völkergemisches von Kelten, Germanen und Slaven wuchs über die Tragik geschichtlicher Katastrophen hinaus eine starke Heimatliebe zur Scholle. Immer dann, wenn weder Nationalisten, christliche Eiferer noch Panslavisten die Hegemonie über andere Völker des bestehenden Staatenbundes errichten wollten, blühten Kunst, Wissenschaft und Literatur auf und warfen hell gleißend ihr Morgenrot in alle Welt. Diese erkennend schuf Stifter auch seinen „Wikito“, m. E. eine der reinsten epischen Schöpfungen deutscher Literatur. Wie zur Mahnung an die Völker Böhmens sagte er in diesem Werk: „Davon ist das Unglück des Landes Böhmen ein Zeuge. Sie üben Rache und ergötzen sich an Grausamkeiten der Rache, sie reißen Güter und Gewalt an sich und genießen mit Übermut. Dann kommt ein anderer und rächt sich an ihnen und nimmt die Güter wieder. Und die nach ihm kommen, üben wieder Rache und werden wieder gestützt. So ist das oft gewesen, und so wird es wieder sein, wenn nicht ein fester Brauch errichtet wird.“

Zur Fixierung und dauerhaften Anwendung des „festen Brauches“ gehört die Ehrlichkeit auf allen Seiten – absolute Ehrlichkeit, keine einseitige Schuldzuweisung zuzulassen, so wie das gegenwärtig von den „Sisyphus- Siegern“ praktiziert wird. Als Autor sehe ich es als meine heilige Pflicht an, schonungslos die Kausalzusammenhänge der dramatischen Geschichtsabläufe anzuprangern. Den Fürsprechern der Kollektivschuldzuweisungen empfehle ich, vor der eigenen Tür zu kehren. Friede gab und gibt es fürderhin nur, wenn die vernunftbegabte Welt den Eintreibern von Chauvinismus, Nationalismus u. ä. „…ismen“ in die Arme fällt. Meine Heimat hat mit ihren Literaten den Weg vieltausendfach gezeigt; z. B. mit dem „Ackermann aus Böhmen“, als schönstes Reis des Humanismus unter der Zeit Karls IV. und den folgenden schon mehrfach genannten unzähligen Schriftstellern aller Völkerschaften im böhmischen Raum. Luis Fürnberg fasste 1944 in seinem Prolog zu einer Neufassung des „Ackermann von Böhmen“ des Johann von Saaz eine ausführliche Mahnung an die Völker der Welt in folgende Worte: „Es hat der Ackermann den Tod besiegt … Im Spiel? … Im Ernst? Oh, wäre es schon soweit!“ Ein jedes Volk muss mit seinen Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit zu Gericht gehen. Einseitige Schuldzuweisungen tragen den Modergeruch des Todes. Immer schon stand sich die Mehrzahl der Künstler beider großen böhmischen Nationen unvoreingenommen gegenüber. Wie Brahms das Genie Dvorak ermutigt hat, gehört zu den bewegendsten Freundschaften. Smetana hat die musikalischen Anregungen Wagners angenommen, Adler übersetzte die Verse Vrchlickýs. Gedenken wir böhmischen Schriftsteller auch der großen Geschichte des Prager Literaturkreises, dessen Mitglieder und Sympathisanten Ungeheures für die Verständigung unter den Völkern leisteten. Die böhmische Literatur des 20. Jahrhunderts zeigt eine einmalige Konzentration großer Namen, die es sonst wo in der Welt nicht gab. Zu Beginn dieser Entwicklung, als Prag ein Zentrum deutschsprachiger Literatur war, steht Rilkes Gedicht „Larenopfer“. Neben Stifter fühle ich mich Rilke im Besonderen verbunden. Böhmischen Volkes Weise, slavische Weichheit und Melodie lag ihm, all seinem Leben und Schaffen zugrunde. Dem Osten Europas, der Unendlichkeit der Ebenen Russlands, blieb er stets zugetan, von dem das Stundenbuch singt. Hier verbindet er altdeutsches Mystikgut dichterisch mit seinen Gefühlen und innerem Erlebnisweg. In seinem impressionistischen Bekenntnisbuch „Aufzeichnungen des Malte Laurichs Brigge“, aber auch in vielen seiner anderen Arbeiten, steht er der äußeren wie inneren Welt mit seinem überfeinerten Empfindungsvermögen gegenüber. Es ist sein Weg letztendlich, der in Einsamkeit und Verlorenheit dahingeht, bis das Schicksal wandelt, der Tod erlöst. Ist das nicht auch mein Weg?

Meine Liebe zu Böhmen bleibt ungebrochen.

Verklärung

Ich liebe dieses Land, in dem ich litt.

Die Raine blühn mit heißen roten Malen,

Die Amseln klagen goldmelodisch mit,

Die Berge schweigen um die Schlucht der Qualen.

Ihr Berge, blauen Traums und sanft und groß,

Ihr milden Hügel mit der gilben Tönung

Des späten Lichtes; über Menschenlos

Ihr schweigenden, ihr Zeichen der Versöhnung.

Ihr Wälder tief und kühl und quellenreich,

Mit Wipfelraunen über meinem Beben:

Du Herz, der Wünsche voll und allzu weich,

Der Sinne des Lebens ist das tiefre Leben.

Du musst es tragen; tragen Schritt für Schritt

Durch jene Gassen, über diese Höhn.

Ich liebe dieses Land, in dem ich litt.

Leid aus der Ferne leuchtet. Und ist schön.

(von Wilhelm Pleyer, Sudetenland)

HEIMWEH

Im Buch „Preußenland“ von Bernhard Lindenblatt ist zu lesen: „In New York wurde 1943 das Joint Committee zur Umerziehung der Deutschen‘ unter der Leitung des amerikanischen Psychologen Prof. Kurt Lewin gegründet. Es gab vor: ‚Wir werden die gesamte Tradition auslöschen, auf der die deutsche Nation errichtet ist.‘“ Jeffrey M. Peck ergänzte dazu: „Ich hoffe, daß sich das Bild der Deutschen von exklusiv weiß und christlich in braun, gelb und schwarz, zu Islam und jüdisch ändern wird … der deutsche Identitätsbegriff muß geändert werden.“

Heute kann man sehen und spüren, dass diese „Umerziehung“ der Deutschen nahezu vollzogen ist. Die Verantwortung dafür tragen die sogenannten Volksparteien und ihre Repräsentanten, die sich als willfährige Vollstrecker alliierter Vorgaben erweisen. Deutschland ist nicht nur – wie Gustav Sichelschmidt ganz treffend feststellte – „verblödet“, nein, auch wie die bedeutende Psychotherapeutin Christa Meves wissenschaftlich akribisch bewiesen hat: „verführt, manipuliert und pervertiert“. Die Ergebnisse mancher „PISA-Studie“, die „Love Parade“, die orgiastische Schwulenparade „Christopher Street Day“, die „Teletubbies-Erziehung“, das „Kinder-Kanal-Englisch“ oder „Big Brother“ und die Kriminalitätsexplosionen und viele ähnliche Dinge mehr bestätigen den gespenstischen Niveauverlust im gegenwärtigen Deutschland. Ja – Deutschland verblödet!

Erinnern wir uns Heinrich Heines weiser Worte: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht …“ Doch was würde mit Heines gesellschaftskritischen Worten heutzutage in unserem Lande geschehen? Man würde diese im wohl- und oft gerühmten „freiheitlichdemokratischen Staat“ sicher alsbald als „Volksverhetzung“ einstufen. Wie wahr: Denk ich an Deutschland in der Nacht! … Aber haben nicht intelligente Menschen, vor allem auch die Schriftsteller, das Recht und die Pflicht, aufzumucken und sich wider den verderblichen Zeitgeist zu stellen?! Der ehemalige Bundespräsident Dr. Roman Herzog sagte in einer Festrede in Düsseldorf anlässlich des 200. Geburtstages von Heinrich Heine am 13.12.1997: „Schriftsteller und Intellektuelle, für deren Typus Heine noch heute ein Modell ist, dienen ihrem Land oft auch mit ätzender Kritik. Darauf gelassen zu hören, sich selber zu befragen und eventuell umzudenken, müssen wir zu jeder Zeit neu lernen.“ Es „ist die Wahrheit … nicht automatisch bei … den jeweils Herrschenden. Deshalb will ich gerade beim heutigen Anlass festhalten: Ohne kritischen Einspruch, ohne das Engagement unbequemer Denker verkümmert eine Gesellschaft. Wir brauchen Streit und Widerspruch, wir brauchen die Zumutungen und Fragen unabhängiger Köpfe. Man kann sogar sagen: Nie ist der sperrige Individualist wichtiger gewesen als heute, besonders wenn er mit Ironie, Witz und Eigensinn die am laufenden Band produzierten intellektuellen, kulturellen und politischen Moden auf ihren tatsächlichen Gehalt prüft. …“

Heinrich Heine hat in Paris an Deutschland gedacht. Das Heimweh hatte ihn um den Schlaf gebracht. Genauso wie mich. Mich als Heimatvertriebenen das Heimweh nach dem Sudetenland, nach der Kindheit und der Jugend, den Hirschberger, brandenburgischen und anhaltinischen Heiden um den Schlaf bringt. Und kommt dann Jahr für Jahr die Zeit der Heideblüte heran, dann packt mich mit Urgewalt die Erinnerung, das Heimweh nach verlorenen Paradiesen. Noch einmal zur Erinnerung, was der amerikanische Psychologe Prof. Kurt Lewin festlegte: „Wir werden die gesamte Tradition auslöschen, auf der die deutsche Nation errichtet ist.“

Damit das nicht bis zum Letzten geschieht, bekenne ich mich, wie viele andere deutsche Menschen auch, zu Deutschland. Zu Deutschland, unserem Vaterland. Zu seinen Menschen, seinen Landschaften, seiner Kultur, seinen Traditionen. Zu seiner Geschichte, zu seinen Mythen, Legenden, Märchen, Sagen. „Wenn die Phantasiewelt unserer Kinder durch Dinosaurier und in japanischen Studios erzeugte Pokémon-Figuren bevölkert wird und nicht mehr durch Feen und Zwerge unserer Märchen oder durch mehr oder minder landschaftsgebundene oder gemeindeutsche Figuren wie Frau Holle und Rübezahl, dann geht das gemeinschafts- und identitätsbildende Element verloren, das solchen Mythen unabhängig ihres Inhalts innewohnt“, beurteilt Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker vom Leopold Stocker Verlag in Graz die deutsche Gegenwart.

Ein alter Weidmann, der mein Lehrprinz war, gab mir kurz vor seinem Tode im Jahre 1994 als Auftrag mit auf den Weg: „Junge, denke daran, dass du Deutscher bist! Bewahre das deutsche Weidwerk durch dein Schaffen vor dem feindbeeinflussten moralischen Verfall! Schreibe über unser erdverbundenes Leben, über die Schönheit unserer Heimat, die Menschen, die uns begleitet haben und begleiten; schreibe über die natur- und kulturvollen Reichtümer unseres Landes, wozu auch das Weidwerk gehört!“ Da zu den prägendsten Stunden in meinem Leben als Mensch und Schriftsteller jene unzähligen des Beisammenseins mit der Tier- und Pflanzenwelt in Heidelandschaften zählen, widme ich Band 4 meiner Natur- und Jagderzählungen diesem deutschen Kulturgut – der Heimat-Heide, – meiner

Heide-Heimat …

Deutschland ist mir das Heiligste, das ich kenne!

Deutschland ist meine Seele! mein Halt!

Mein Alles ist Deutschland!

Es ist, was ich bin und haben muß, um glücklich zu sein!

Das Schöne in den Augen der Kinder ist doch Deutschland,
es ist die Treue, die Ehrlichkeit, der Fleiß der stillen Tat.

Die Anständigkeit, der Ruhepunkt im ziellosen Herumsuchen.

Deutschland ist das, was mich gut macht!

Unsere Liebe ist deutsch, unser Zusammenhaltenmüssen, unser
Aneinandergebundensein. Wenn Deutschland stirbt, sterbe ich auch.

(Königin Luise von Preußen)

Ich danke allen, die meine Träume belächelt haben – sie haben meine Phantasie beflügelt.

Ich danke allen, die mich in ein Schema pressen wollten – sie haben mich den Wert der Freiheit gelehrt.

Ich danke allen, die mich belogen haben – sie haben mir die Kraft der Wahrheit gezeigt.

Ich danke allen, die nicht an mich geglaubt haben – sie haben mir zugemutet, Berge zu versetzen.

Ich danke allen, die mich abgeschrieben haben – sie haben meinen Mut geweckt.

Ich danke allen, die mich verlassen haben – sie gaben mir Raum für Neues. Ich danke allen, die mich verraten und missbraucht haben – sie haben mich wachsam werden lassen.

Ich danke allen, die mich verletzt haben – sie haben mich gelehrt, im Schmerz zu wachsen.

Ich danke allen, die meinen Frieden gestört haben – sie haben mich stark gemacht, dafür einzutreten.

Vor allem aber danke ich all jenen, die mich lieben, so wie ich bin.

Sie geben mir Kraft zum Leben.

Danke!

(Paulo Coelho)

Ich träummich zurück …
Erinnerung

Lindes Rauschen in den Wipfeln,

Vöglein, die ihr fernab fliegt,

Bronnen, von den stillen Gipfeln,

Sagt, wo meine Heimat liegt?

Heut’ im Traum sah ich sie wieder,

Und von allen Bergen ging
Solches Grüßen zu mir nieder,

Daß ich an zu weinen fing.

Ach hier auf den fremden Gipfeln:

Menschen, Quellen, Feld und Baum,

Wirres Rauschen in den Wipfeln,

Alles ist mir wie ein Traum.

(Joseph von Eichendorff)

14 Uhr. Brütende Vorsommerhitze liegt über dem Land. Ich sitze im Garten unter dem Lindenbaum. In der Stube brennt wie jedes Jahr eine Kerze im Gedenken an den 60. Jahrestag der Vertreibung aus dem Sudetenland und die 260.000 Opfer unter den Zivilisten sowie die unzähligen ermordeten deutschen Soldaten. Tschechische Quellen selbst sprechen von insgesamt 400.000 Toten. Alle diese Morde sind bisher ungesühnt! Im Land der verbotenen Trauer werden die Getöteten durch die politisch gesteuerten Meinungsmacher und die regierenden Maulhelden verleumdet. Im System der totalen Überwachung, begründet mit der Jahrhundertlüge hinsichtlich des 11. September 2001, wird es ohnehin immer lebensbedrohlicher, seinem deutschen Patriotismus Ausdruck zu verleihen. Mit diesen Gedanken gehe ich ins Haus, um im Schein der flackernden Kerze auf über 68 Jahre schicksalhaften Lebens Rückschau zu halten.

Meine frühesten Erinnerungen gehen bis ins dritte Lebensjahr zurück. Natürlich sind es nur blitzlichthafte Bilder, die sich im Widerschein des Augenblicks zeigen. – – – Bis zur Einberufung meines Vaters zu den Gebirgstruppen der Wehrmacht im Jahre 1940 führten meine Eltern in der Töpfergasse in Böhmisch-Leipa im Sudetenland ein Fleischerei-Geschäft. Drei Sequenzen aus dieser Zeit, deren Wahrheitsgehalt bestätigt wurde, kehren mir immer wieder höchst lebendig zurück. Das sind zum einen zwei große Hunde, die mich „adoptiert“ hatten und gern und oft mit ihren „Waschlappen“-Zungen liebkosten, zum anderen ein gelblicher Korb- Kinderwagen, der im Hausflur stand, und dann noch einige wohlschmeckende Wurstzipfel im Behältnis unter dem Verkaufstisch im Laden. Am eindringlichsten aber erinnere ich mich an die ersten Wanderungen an der Hand meines Großvaters Eduard durch den sommerlichen Wald, der direkt hinter unserem Wohnhaus in Hirschberg am See begann.

Es war um die geheimnisvolle Stunde,

da noch der junge Tag der Nacht Gewicht

auf zarten Schultern trägt. Aus diesem dunklen Grunde

stieg letzter Nebel schauriges Gesicht,

da sprach die Turmuhr aus erhab’nem Munde,

als spreche Gott aus ihr: Es werde Licht!

Aus heiliger Wunde floß des Morgens Blut,

und Erd und Himmel standen groß in Glut.

Da fühlte ich die Hand, die treue, alte,

des engen Lebens letzten Rettungsrest,

und fühlte freudig jede Runzelfalte

und hielt mich an der rauhen Güte fest,

und ahnte ruhig: wie sich auch gestalte

Leben und Welt, wenn alles mich verläßt,

sie wird in Dunkel, Grelle, Hasten, Hassen,
in Liebe, Taumel, Traum mich nicht verlassen.

Wir sprachen nicht, nur einmal noch ein leises
Wort, das wie ein zarter Vogelruf verhallt,
wie Blätterfall drang’s aus dem Mund des Greises,
es war ein Märchenwort jahrtausendalt,
und doch so ewig jung, es war ein weises,
ein unvergeßlich Wort: Denk an den Wald!
Nichts sprach er weiter, nur das eine Wort,
in Lied und Wipfelrauschen klang es fort.

Und immer noch erklingt’s in meiner Seele,
wenn mich die Welt, die kalte Welt verletzt,
wenn ich auf meinem Wege irr’ und fehle,
wenn mich des Tages Frohn mit Geißeln hetzt,
als leise Mahnung einer Finkenkehle
und wird so weiter klingen bis zuletzt,
bis es als Traum mit mir im Raum verhallt:
Großvaters weises Wort: denk an den Wald!

(aus dem Gedicht „Großvater“ von Robert Hohlbaum)

Seither verbinde ich den Kiefernwald des Hochsommers mit den betörenden Düften des blühenden Heidekrautes, dem Summen unzähliger Nektar sammelnder Bienen. Ab meinem vierten Lebensjahr begleiteten mich die Erinnerungen an Heide, Heideblüte, Kiefernforste, Honig- und Blaubeerernte durchs ganze Leben. Schon in der Heimat, letztmals 1944, trieb es mich wie Silvanus – den Schutzherrn des Waldes – im Walde umher. Zu jeder Jahres- und Tageszeit, oft bis zur Dunkelheit. Großvaters passionierter Jagdhund namens Foxl war stets mein Begleiter, und so fanden wir immer zurück. Meine Großeltern und meine Mutter brauchten sich nicht um mich zu sorgen. Bald kannte ich die in der Nähe unseres Hauses und die etwas weiter entfernt liegenden besten Beerengründe, die geheimnisvollen Rotwildeinstände, bevorzugte Wildwiesen, die Schilfe am Teich, worin die Sauen steckten und das Stockentenvolk nistete. Besonders vertraut wurde mir das Rotwild – ob es nun die Kahlwildrudel oder die Hirsch-Junggesellen waren. Sie nahmen mich mit meinem kleinen Hund zur Seite wohl nicht ernst. Vertraut beäugte mich das Wild, und zog ohne Scheu vor mir umher.

Der Juni im Jahre 1945 wurde dann zur brutalen Zäsur im Leben für mich und meine Familie. Nach wochenlangem Umherirren in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) fanden wir letztlich in einem kleinen Dorf namens Niederer Fläming in Brandenburg beim Bauern Ewald und seiner Familie eine neue Heimstatt. Der Leser wird sich erinnern, dass ich in meinen vorangegangenen Büchern „Was blieb, war das Weidwerk“, „Mit Hirschruf und Passion“ und „Der Sohn des Sankt Hubertus“ schon etwas darüber geschrieben habe. Nach meiner Genesung vom Hungertyphus, es war so gegen Mitte September, als ich wieder aufnahmefähig für die Umwelt geworden war, begann ich erste kleine Erkundungsgänge in Ewalds großem Garten. Ein grünes Paradies tat sich mir da auf. Am Backhaus reiften – am Giebel hochgezogen – wohlschmeckende Weintrauben; hinter der Scheune trugen hochstämmige Pfirsichbäume rot- und gelbfarbene, zuckersüße Früchte.

Wenige Tage nach den ersten kleinen Wanderungen durch diesen Garten hatte ich meinen „Horst“ gefunden. Es war der Giebelraum des Backhauses. Er blieb es auch, bis wir im Jahre 1950 zum zukünftigen Stiefvater zogen. Von da oben war ein unentdecktes Beobachten, mit guter Sicht auf die weiträumigen Weiden und Koppeln hinter den Gärten, bis hin zu den in naher Ferne liegenden blaugrünen Kiefernwäldern möglich. Vieles dieser geschauten Landschaft erinnerte mich an meine Heimat rund um Hirschberg und Böhmisch-Leipa, – nur, dass die Sandstein- und Eruptivhügel und Berge fehlten. Und es fehlten auch die wunderschönen Kuppeln und Pyramiden aus Basalt und Phonolith. Und doch gewann ich dieses neue Zuhause sofort lieb; besonders aber dann auch seit September 1945, als ich an der Hand des alten Masuren, der als Vertriebener auch bei Bauer Ewald seine Bleibe gefunden hatte, oder auf dem Rücken seines Trakehner-Hengstes namens Alex die tiefen Kiefern- und Elb-Auwälder durchstreifte (über den heimatvertriebenen Masurenbauern habe ich zuvor bereits ausführlich in „Der Sohn des Sankt Hubertus“ berichtet). Endlich war ich wieder „angekommen“. Ich hatte meine neue Bleibe gefunden. Die Bauernfamilie des Ewald Eichelbaum machte es uns leicht, neue Wurzeln zu schlagen. In Herz und Seele bin ich dort immer noch zu Hause.

Unter erheblichen Mühen wurde 1945 die Herbsternte eingebracht. Frühe Fröste zwangen die Bauern, die Hackfrüchte mit größerem Tempo als in einem guten Herbst zu bergen. Im Dorf befanden sich zwar zweimal mehr Vertriebene, als dort „Eingeborene“ lebten, aber in den Bauernfamilien selbst fehlte oft der männliche Teil. Der Krieg und die Verfolgungen durch die Sieger danach hatten große Lücken gerissen. Der Winter kam mit frostklaren Nächten und erstem Schnee bereits im Oktober ins Land. Da es keine Kohle gab, hieß es, Holz heranzuschaffen. Eines Tages eröffnete uns Ewald am Mittagstisch, dass es am kommenden Tage in die „Heede“ – die Heide – gehen würde, um in seinem Kiefernwald Stubben zu roden und auch Dürrholz zu haken. Letzteres bedeutete, mit einer langen Stange, die an ihrem Ende mit einem Eisenhaken versehen war, Trockenholz von den Kiefern herunterzubrechen. So ging das auch in der nachfolgenden Zeit weiter.

Aufgehoben in der Wärme und Menschlichkeit unserer Bauernfamilie, beschützt vom alten Masuren und seinem Hengst Alex, verrannen die Tage und Monate, der Herbst und der Winter 1945 wie auch der Frühling des Jahres 1946. Ich fand Freunde unter meinen Mitschülern, die größtenteils auch Vertriebene waren. Allein oder mit ihnen gemeinsam, hauptsächlich aber mit meinem „Ersatz-Großvater“, durchstreifte ich in den folgenden Jahren die nahen und fernen weitläufigen Forsten – bis hin zur Glücksburger Heide. Unter liebevoller Anleitung des alten Mannes entwickelte ich mich zu einem wahren Naturkind. Bald schon konnte ich Fährten und Spuren lesen, Vogelstimmen erkennen, die Laute der Nacht zuordnen; verstand es, Bodenvegetation, Pilze, Gräser, Sträucher und Bäume zu bestimmen.

Besonders interessierten mich und meine Freunde aber die Verstecke von Handfeuerwaffen und Handgranaten. Die zurückweichende deutsche Wehrmacht (teils war der Niedere Fläming auch Kampfgebiet gewesen) hatte auf der Deponie hinter dem Seydaer Friedhof und in den Wäldern und Sümpfen um Gadegast verschiedenartigstes Kriegsgerät abgelegt oder weggeworfen. Das war für uns Rasselbande ein Erlebnis und eine Spielgelegenheit ohnegleichen! Endlich konnten wir uns als „deutsche Soldaten“ austoben. Dass uns dabei die sorbischen Dorfpolizisten oder die Russen nicht erwischten, erforderte ein ausgeklügeltes Alarmsystem. Manchmal galt es jedoch, alle Beine in die Hände zu nehmen, wenn nach unserem Herumballern plötzlich Uniformierte erschienen.

Nur einmal wäre es bald in die Hose gegangen. – Meine drei Schulfreunde aus der Familie Löbnitz waren eines Tages dabei, in einem ehemaligen Schützengraben eine Panzerfaust-Granate zu demontieren, als diese explodierte. Unserem „Rottenführer“ riss es den linken Arm ab, seine Brüder erlitten nicht unerhebliche Splitterverletzungen, einige andere bekamen auch mehr als nur einen gewaltigen Schrecken ab. Wir – mein enger Freund Gerhard und ich – hantierten in einem MG-Stand gerade an einem Gurt herum, um ihn in ein MG 42 einzuführen. Die lautstarke Explosion sowie hierauf das Schreien und Jammern der Verletzten alarmierten das in der Nähe auf den Äckern arbeitende Bauernvolk. Mit einem Pferdegespann und Handwagen wurden die nur notdürftig versorgten Verwundeten nach Seyda zum Arzt gebracht. Gott sei Dank überlebten alle! Eine Lehre war dieses Vorkommnis für uns allerdings nicht. Bis weit ins Jahr 1949 vertrieben wir uns viel unserer Freizeit mit diesen lebensgefährlichen „Spielen“. Weder die Russen noch die Polizei erwischten uns. Wie hieß es doch damals noch: „Zäh wie Leder, schnell wie die Windhunde, hart wie Krupp-Stahl.“

Nachdem wegen des geschilderten Vorkommnisses und des Wissens der Eltern, von Freunden und anderen Eingeweihten, über unsere „Waffengänge“ diese immer unberechenbarer wurden, die Situation außer Kontrolle zu geraten schien, nahm mich der alte Masure an die „kurze Leine“. Es begannen die Tage und Jahre meiner naturbezogenen Prägezeit. Bei jeder sich bietenden Möglichkeit durchwanderten wir die weite Kiefernheide. Diese Gänge waren ausgefüllt mit Beobachten, Lernen und Erfahrungen sammeln. Vielerlei Erscheinungen und natürliche Abläufe nahm ich auf; sei es, das stets wechselnde Schattenspiel und melodische Säuseln der Bäume,das bizarre Verändern und Wachstum jeglicher Vegetation, das Verhalten von Wildtieren oder die mystisch anmutende Atmosphäre an Teichen, Bächen, unter uralten Eichen und Linden, die märchenhaft erscheinenden Anordnungen eiszeitlicher Felsbrocken.

Kindheit

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Am Geburtstag (Sept. 1944) – Der Autor

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Wohnhaus Töpfergasse in Böhmisch-Leipa

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Der Autor im Jahre 1943

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Der Autor im Jahre 1983

Ich begann die Heiligkeit unberührter Natur zu erahnen und zu fühlen, als Vision, als Traum, als innere Stimme, als noch nie Dagewesenes – fernab vom Leid und Hader damaliger Gegenwart. Ich wurde für immer ein Kind des Waldes, der Heide. Mein großväterlicher Freund förderte mit seiner ihm eigenen Sensibilität diesen meinen inneren Reifeprozess. Seither bedeutet der Wald für mich Geborgenheit, Schutz und Sicherheit; ist Freund und Beichtvater, ist Geheimnis und unnachahmliche Größe, Harmonie und Musik, ein Fest der Farben, von betörenden Aromen und Düften. In späteren Jahren schlief ich manchen Jagdtag und in Sommernächten unter alten Bäumen. Wohl aus all diesen Gründen entwickelte sich in mir ein anderes inneres Verhältnis, trotzdem ich Weidmann war, zu den Geschöpfen des Waldes. Wie sonst wäre ich einigen von ihnen so vertraut und nahe gekommen wie dem „Phantom“ (siehe „Der Sohn des Sankt Hubertus“) oder der Ricke im Forst von Thiemsburg (siehe „Was blieb, war das Weidwerk“) und anderen. Im Wald, beim Weidwerk fand ich mein erfülltes Leben.

Hier einmal eine Begebenheit aus dieser Nachkriegszeit. Sie wurde bestimmend für meine Heimatliebe zu den Wäldern rund um Gadegast. – Im Juni 1946 spitzte sich die Versorgungslage im Lande zu. Die neue Ordnungsmacht, streng reglementiert von den Militärorganen, räumte die Getreidevorräte und vielfach die Ställe der Bauern bis auf wenige Ausnahmefälle und bis auf kleine Reste leer. Es galt, die große Hungersnot in den Städten zu lindern. Für verschwiegene Vorräte an Getreide, Vieh und Hackfrüchten wurden von den Militärverwaltungen zur Abschreckung hohe Zuchthausstrafen verhängt. Nicht jeder Inhaftierte kehrte zurück oder überlebte. Die Angst vor einem solchen Schicksal war demzufolge verständlicherweise sehr groß. So galt es also, nach Möglichkeiten zu suchen, um uns selbst mit fleischlicher Nahrung zu versorgen. Die einen stellten Schlingen auf den Wildwechseln, die anderen legten fängisch präparierte Fallen aus, die nächsten wiederum schossen sich ihr Wild mit vor dem Ende des Krieges versteckten oder später gefundenen Infanterie- oder Jagdgewehren. Davon lagen ja genügend in den Wäldern und sonst wo herum. Eines Frühsommertages, es war der 14. Juni des Jahres 1946, weckte mich der Masure so gegen zwei Uhr in der Nacht. Flugs kleidete ich mich an, und bei Sternenschein schlichen wir auf unübersichtlichen Koppel- und Wiesenwegen in den Forstort „Busch“.

Darin befanden sich einige saftig-grüne Wald- und Wildwiesen, versteckt in sie umrahmenden dichten Mischbeständen aus Eiche und Buche, Eibe, Erle und Robinie, Linde, Hainbuche, Birke und Kiefer. Im Busch wechselten sehr oft die Standortbedingungen, sodass hier immer auch klein- und großflächig andere Waldgesellschaften anzutreffen waren. Die etwas über 60 Hektar umfassende nördliche Busch-Abteilung wurde von vielhundertjährigen Eichen beherrscht, die, über das Gebiet verstreut, bis hin zum bronzezeitlichen Hügelgräberfeld im „Wolfswinkel“ anzutreffen waren. Eine dieser Eichen stand am Rande der zweiten mitten im dichten Bestand liegenden Waldwiese. Sie war tief beastet. Die Leiter zum in ihr befindlichen, an die 15 Meter hohen, Ansitz sah man erst, wenn man direkt davorstand.

Noch hatte die Nacht ihre dunkle Schleppe über den Wald gezogen, als wir aufbaumten. Aus einem dicken hohlen Seitenast des gewaltigen Baumes zog der Masure einen in eine Gummiplane gehüllten Drilling samt Munition heraus. Er löschte sodann das Licht der kleinen Karbid-Blendlaterne wieder, die er zuvor angezündet hatte. Die langsam weichende Dunkelheit war erfüllt von den ersten Frühaufstehern des Waldes. Der Morgenwind harfte in den Baumwipfeln. Auf dem Waldboden tanzten die Kobolde. Im wechselnden Grau der Dämmerung wurden am Waldesrand Fratzen und Gesichter, urweltliche Tiere, Gespenster und Hexen sichtbar. Es schauderte mich. Die gütige Hand des alten Mannes neben mir legte sich schützend auf meine Schulter. Der Märchenwald erwachte zeitlupenhaft. Treffender als es die Naturfreunde Mechthild und Carl-Christian Stumpf einst dichteten, kann ich die Erinnerung an diesem Morgen nicht ausdrücken:

Zwischen Erlen tanzen Lichter,
überall wähnst Du Gesichter,
die sich zeigen und verstecken
in dem Astwerk alter Recken.
An dem Teiche dort ein Wächter
überdauert die Geschlechter,
herrschen in dem Waldreviere
über tausend Fabeltiere!