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Für Uli

Valmot

Die Straße von Valmot nach Quentin verlief schnurgerade, als wäre sie mit einem Lineal in die Landschaft gezogen worden. Sie führte zwischen den kleinen, bewaldeten Hügeln hindurch, an der stillgelegten Nadelfabrik vorbei und teilte auf ihrem weiteren Weg die endlosen Weizenfelder, welche die kleinen Ortschaften und Städtchen des Umlandes wie ein goldgelber Ozean umschlossen.

Diese Straße war die einzige Verbindung Valmots mit dem Rest der Welt. Trotzdem wäre es ein Leichtes gewesen, den kleinen Ort auf diesem Weg zu erreichen, doch schon seit sehr, sehr langer Zeit hatte kein Fremder mehr seinen Fuß in das Dorf gesetzt. Es war schon so lange niemand mehr gekommen, dass Leon größte Mühe hatte, sich überhaupt an den letzten Besuch zu erinnern.

Gedankenverloren saß er an diesem Sommertag mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Valerie im lichtdurchfluteten Esszimmer am gedeckten Tisch und sah durch das weit geöffnete Fenster nach draußen. Die Mittagshitze lag brütend über dem Dorf. Es war, als hätte sich die heiße Luft zwischen den verwinkelten Mauern und Ecken der alten Häuser verfangen.

Leon stocherte mit der Gabel in seinem Essen herum.

»Ich fände es schön, wenn endlich noch mal jemand nach Valmot kommen würde«, sagte er, wie schon so oft. »Oder wenn ich nur ein Mal die Stadt sehen dürfte. Bitte, nur ein einziges Mal.« Er warf seiner Mutter einen flehentlichen Blick zu.

Leons Mutter sah von ihrem Teller auf. »Du weißt, wie es ist«, sagte sie. »Es wird keiner kommen. Nie wieder.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Aber was ist mit der Stadt?« Leon spießte eine Kartoffel auf und steckte sie sich in den Mund.

Der Gesichtsausdruck seiner Mutter wurde ernst. »Es geht nicht, das solltest du inzwischen wissen.« Damit erhob sie sich, nahm ihren Teller und ging in die Küche.

»Sie macht sich jedes Mal große Sorgen, wenn du von der Stadt sprichst«, flüsterte Valerie. »Frag besser nicht mehr.«

Leon ließ wütend sein Besteck fallen. Er wusste, dass seine Mutter recht hatte. Den Bewohnern Valmots war es untersagt, die Stadt zu besuchen, und nach allem, was geschehen war, würde sich bestimmt auch kein Fremder mehr in ihren Ort wagen. Jenen Ort, der anders war als alle anderen Orte auf der Welt und dessen Bewohner ein Geheimnis teilten, das kein Außenstehender je erfahren durfte.

 

Leon hatte gerade seinen zwölften Geburtstag gefeiert, als zum letzten Mal ein Fremder nach Valmot gekommen war. Einen seiner unzähligen zwölften Geburtstage. Er war damals nicht zum ersten Mal zwölf Jahre alt geworden. Nein, er war schon immer zwölf Jahre alt gewesen, und sosehr er auch versuchte, sich an die Zeit zu erinnern, als er noch elf war – er konnte es nicht. Sein Gedächtnis stieß jedes Mal an eine unüberwindliche Grenze, an der seine Erinnerungen jäh endeten.

Er war allerdings nicht der Einzige, der nicht älter wurde. Auch seine Mutter und seine kleine Schwester Valerie waren niemals gealtert. Wie es bei seinem Vater aussah, konnte Leon nicht sagen, denn der war lange vor dem Zeitpunkt verschwunden, den Leon und alle anderen im Dorf erinnerten. Möglicherweise war er einfach nur zur Arbeit gegangen, vielleicht hatte er sie aber auch verlassen, oder er war längst nicht mehr am Leben. Nur ein vergilbtes Foto, das im Wohnzimmer über der Kommode hing, erinnerte an ihn.

Von ihm hatte Leon das struppige braune Haar geerbt – von seiner Mutter die großen dunklen Augen.

Leons Familie war mit ihrem merkwürdigen Schicksal nicht allein. Sie teilte es mit allen anderen Bewohnern Valmots, denen, ganz egal wie viele Tage, Jahre und Jahrzehnte auch vergingen, keine Zeichen des Alterns anzumerken waren.

Da gab es Joseph, den Piloten, der unaufhörlich von seinem knallroten Flugzeug sprach, das jedoch noch nie jemand gesehen hatte. Oder Hendrik, den Sohn der alten Kornell, der so schön singen konnte, dass jeder, der seinem Gesang lauschte, wässrige Augen bekam. Und natürlich Fliege, Leons besten Freund. Immer schwarz gekleidet und mit einer dick umrandeten Brille auf der Nase, konnte sein Spitzname kaum treffender sein. Sie alle bekamen keine Falten, keine grauen Haare und keine dritten Zähne. Niemand war müde, krank und gebrechlich, außer der alten Kornell, die schon immer müde, krank und gebrechlich gewesen war.

Dieses Geheimnis also verband die Bewohner Valmots, und jeder im Dorf vertraute dem anderen, denn das gemeinsame Los ließ die Menschen zusammenrücken. Aus Angst, jemand könnte von ihrer ungewöhnlichen Existenz erfahren, durfte auch niemand ohne Genehmigung den Heimatort verlassen – das Land jenseits der letzten Häuser, des kleinen Waldsees und der bewirtschafteten Ackerflächen betreten. Zu ihrem Schutz, wie der Bürgermeister stets betonte.

Die Einwohner Valmots ernteten ihr eigenes Getreide, schlachteten das eigene Vieh und holten Fische und Krebse aus dem nahe gelegenen See. Obst und Gemüse wuchsen in den gepflegten Gärten hinter den Häusern, und die kleinen Handwerksläden stellten alles her, was die Bewohner brauchten. Fehlte doch einmal etwas, schickte der Bürgermeister Enrico Morelli.

Der drahtige Mann, ein ehemaliger Zirkusartist, verstand es meisterhaft, sich zu verkleiden. Mit falschem Bart oder Augenklappe, mit Zwicker auf der Nase oder getarnt als Priester reiste Morelli dann für gewöhnlich in die nahe gelegene Stadt und organisierte dies und das. Ohne seine Kostümierung wäre man ihm wohl über kurz oder lang auf die Schliche gekommen. Sein Aussehen veränderte sich nämlich ebenfalls kein bisschen, im Gegensatz zu all den Leuten, mit denen er in der Stadt zu tun hatte. Sie waren, wenn man seinen Schilderungen glauben durfte, über die Jahre allesamt grau, dick, gebeugt oder kahl geworden.

Die Besonderheit der Bewohner Valmots war allerdings nicht der Grund für das Ausbleiben von Besuchern. Es war etwas anderes. Etwas, das zuverlässig dafür sorgte, dass das Geheimnis die Dorfgrenzen nicht verließ, und die Menschen aus der Fremde davon abhielt, nach Valmot zu kommen. Etwas sehr Bedrohliches, das wie ein Fluch auf den kleinen Steinhäusern und den gepflasterten Wegen des Ortes lastete.

Jeder Besucher, sei er aus Neugierde, aus geschäftlichen Gründen oder aus Versehen in dem kleinen Ort gelandet, war kurz nach seiner Abreise auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen. Die armen Teufel waren durch Blitzschläge, Unfälle oder plötzlich aufgetretene Erkrankungen dahingerafft worden. Sie hatten sich an gebratenen Hähnchen verschluckt oder waren in der Badewanne ausgerutscht.

Wie ein Lauffeuer hatten sich die unheimlichen Vorfälle herumgesprochen, und so unterschiedlich sie auch waren, so unübersehbar war die Gemeinsamkeit, dass jeder der Verstorbenen kurz vor seinem Tod das Örtchen Valmot besucht hatte. Die Angst der Leute in der nahen Stadt und den umliegenden Dörfern wurde daraufhin so groß, dass viele nicht einmal mehr den Namen des Dorfes auszusprechen wagten. So war Valmot über die Zeit in Vergessenheit geraten und nicht nur von den Straßenkarten, sondern auch aus dem Gedächtnis der meisten Menschen verschwunden.

 

»Leeeon!« Eine kräftige Männerstimme riss Leon aus seinen Gedanken. Er erhob sich von seinem Stuhl und lehnte sich aus dem Fenster. Mitten auf der Straße stand Hendrik Kornell in seiner neuen blauen Uniform. Seit er als Hilfspolizist für den Bürgermeister Dienst versah, war er kaum noch ohne sie anzutreffen.

»Ich soll dir ausrichten, dass Fliege am See auf dich wartet«, sagte er freundlich. »Er hat angeblich eine neue Angel bekommen.« Hendrik deutete die Straße hinunter. Seine Haare leuchteten orangerot in der prallen Mittagssonne. »Ich muss weiter zu meiner Mutter. Heute ist Waschtag! Wenn ich zu spät komme, gibt’s Ärger.« Er zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen.

Obwohl Hendrik schon fast erwachsen war, behandelte ihn die alte Kornell wie einen kleinen Jungen. Aber Leon wusste, dass Hendrik alles ertragen konnte, solange er nur singen durfte. Der Gesang war sein Leben – und oft konnte er es sich nicht verkneifen, während seiner Patrouillengänge durch das Örtchen lauthals ein Lied anzustimmen. Die Dorfbewohner hatten sich an den singenden Hilfspolizisten gewöhnt und blieben ehrfurchtsvoll stehen, um ihm zu lauschen.

Hendrik war schon einige Meter gegangen, als er sich noch einmal zu Leon umdrehte. »Ach, übrigens«, sagte er und strich sich dabei nachdenklich mit den Fingern übers Kinn. »Es wurden schon wieder Steine gestohlen. Diesmal am Marktplatz. Haltet die Augen offen, ja? Wenn ihr etwas Verdächtiges bemerkt, müsst ihr es melden.« Damit wandte er sich um und ging.

»Danke!«, rief Leon ihm hinterher. »Wir passen auf!«

Die rätselhaften Ereignisse rund um den kleinen Ort waren an sich schon sonderbar genug, doch die meisten Bewohner hatten sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden. Eine Sache allerdings beunruhigte sie seit Kurzem in höchstem Maße.

Es hatte damit begonnen, dass plötzlich an mehreren Häusern Dachziegel fehlten. Dann waren Pflastersteine aus den Straßen des Ortes verschwunden, und zuletzt waren auf unerklärliche Weise Steine aus dem Springbrunnen am Marktplatz entfernt worden. Keiner wusste, warum das so war und wer diese dreisten Diebstähle begangen haben konnte. Nur eines war sicher: Ein Fremder hätte das Diebesgut niemals aus dem Ort schaffen können. Er hätte nicht einen Tag lang überlebt. Es kam daher nur ein Dorfbewohner als Schuldiger infrage, und die Leute begannen, misstrauisch zu werden.

Auch Leon konnte sich die mysteriösen Ereignisse nicht erklären, doch er schenkte ihnen wenig Beachtung. Viel lieber verlor er sich in Gedanken an die Stadt. Immer wieder malte er sich aus, wie es wäre, nur ein einziges Mal über die breiten Straßen zu flanieren, in den Gastgärten der Restaurants ein Eis zu löffeln oder die üppig dekorierten Schaufenster zu bestaunen. Am allermeisten aber faszinierte ihn der Gedanke, einmal andere Menschen kennenzulernen. In andere Gesichter als die der Bewohner Valmots zu blicken. Wenngleich er wusste, dass all die Bilder in seinem Kopf nur auf den blumigen Erzählungen Morellis beruhten, war die Stadt in seiner Vorstellung dennoch das reinste Paradies. Schillernd schön und unerreichbar.

Leon drehte sich um, nahm seinen Teller vom Tisch und trug ihn in die Küche. Dort stand seine Mutter, die dunklen Haare zu einem Zopf gebunden und beide Hände tief im Spülwasser. Für einen Augenblick sah er sie einfach nur an. Glücklich, dass das Schicksal sie ihm nicht auch genommen hatte, denn er liebte seine Mutter sehr.

»Fliege hat eine neue Angel. Kann ich mit ihm zum See?«

»Natürlich, mein Schatz! Aber kommt nicht zu spät nach Hause.« Leons Mutter beugte sich zu ihrem Sohn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Und ich?« Valerie lugte erwartungsvoll unter ihrem schwarzen Pony hervor. »Wir wollten doch gemeinsam zum See.«

»Das nächste Mal«, sagte Leon, während er sich die Hosenbeine hochkrempelte. »Versprochen!«

Leon verlor keine weitere Zeit. Er zog sich die Schuhe an, trat vor die Tür, zog sein Wurfnetz unter der hölzernen Eingangstreppe hervor und stopfte es in den blechernen Fischeimer. Dann spazierte er in Richtung des Sees. Er konnte es kaum erwarten, sich Flieges neue Errungenschaft anzusehen. Danach würde er Joseph besuchen, denn der hatte angeblich wieder einmal eine neue Theorie zum Verbleib seines knallroten Flugzeugs ersonnen. Joseph wohnte in einem Holzschuppen am Rande des Ortes, wo er zwischen Werkzeugen, Motorenteilen, Skizzen und Plänen aß und schlief. So wie es sich für einen richtigen Piloten gehört.

Als Leon den Marktplatz erreichte, verlangsamte er seine Schritte. Inzwischen wehte eine leichte Brise. Das Wasser des Springbrunnens im Zentrum des Platzes glitzerte im Sonnenlicht, und immer wenn der Luftstrom die kleine Fontäne traf, fegte ein zarter Sprühregen über den aufgeheizten Steinboden. Doch das war es nicht, was Leons Aufmerksamkeit erregte. An der Brunneneinfassung fehlten tatsächlich zwei Abschlusssteine. Auch zwei der großen Bodenplatten waren entfernt worden.

Leon runzelte die Stirn. Merkwürdig ist es schon, dachte er. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was jemand mit den Steinen anfangen sollte. Bestimmt gab es eine ganz normale Erklärung für das Verschwinden dieser Dinge, und alles würde sich bald aufklären.

Mit seinem verbeulten Blecheimer in der Hand überquerte er den Platz. Er schlenderte durch die schmalen Gassen, bis er das letzte Haus Valmots hinter sich gelassen hatte. Über den Feldweg und die alte Forststraße erreichte er schließlich den See, der wie ein polierter Spiegel inmitten des dichten Waldes lag. Mächtige Felsbrocken und hohe Föhren säumten das Ufer, und es roch herrlich nach dem Harz der Bäume, nach frischem Moos und Pilzen.

Fliege stand mit seiner neuen Angel in der Hand am Ende des schmalen Holzstegs und trug wie immer von Kopf bis Fuß Schwarz. Die Hitze musste für ihn in dieser Kleidung fast unerträglich sein.

Leon stellte den Eimer neben seinem Freund auf dem Steg ab, tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn und zupfte dann am Ärmel von Flieges Hemd. »Hast du Angst, dass du dich erkältest?«

»Pst!«, zischte Fliege. »Du verscheuchst die Fische!«

Leon wusste genau, warum Fliege nicht auf seine Bemerkung einging. Er war es leid, sich zu erklären. Jeder in Valmot kannte den Grund für seinen merkwürdigen Kleidungsstil. Es war Flieges Vater, der für die unpassende Sommerkleidung seines Sohnes und damit letztlich auch für dessen Spitznamen verantwortlich war.

Adrian Cavar war der Inhaber des örtlichen Bestattungsinstituts. Ein hagerer, bleicher Mann, der schon immer darauf bestanden hatte, dass alle Mitglieder der Familie aus Pietät stets schwarz gekleidet sein sollten. Da die Geschäfte naturgemäß schlecht gingen – die Bewohner Valmots wollten ja partout nicht sterben –, musste sich der arme Mann allerdings im Moment mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durchschlagen.

»Gerade in schlechten Zeiten …«, pflegte er häufig zu sagen, »gerade in schlechten Zeiten müssen wir auch nach außen zeigen, wer wir sind.« Davon war er nicht abzubringen.

»Dein Vater ist doch gar nicht hier«, sagte Leon kopfschüttelnd. »Du könntest genauso gut eine knallgrüne Badehose tragen.«

»Damit ihr mich Frosch nennen könnt, oder was?« Fliege zwinkerte Leon durch seine große Brille an. »Nein danke!«

Leon grinste und warf einen Blick in Flieges Eimer. Ein winzig kleiner, silbrig glänzender Fisch schwamm knapp unter der Wasseroberfläche im Kreis. »Ist das alles, was du bis jetzt gefangen hast?«, fragte Leon.

»Was erwartest du?« Flieges Stimme klang empört. »Die Angel ist neu – ich muss mich eben erst an sie gewöhnen.«

Leon setzte sich auf die warmen Holzbretter des Stegs und ließ die Beine hinabbaumeln, ohne mit seinen Schuhspitzen das Wasser zu berühren. Sein Blick wanderte über die glatte Oberfläche. Wie eine zweite, spiegelverkehrte Welt lagen ihm die Bäume, die Felsen und ein kleines Stück des wolkenlosen Himmels zu Füßen.

Dieser Ort war magisch. Solange er sich erinnern konnte, war er mit Fliege hierhergekommen. Hier sprachen sie über ihre Erlebnisse, ihre Ängste, ihre Freuden und Hoffnungen. In warmen Sommernächten lagen sie oft nachts nebeneinander auf dem Holzsteg und betrachteten den unendlichen Sternenhimmel. Und manchmal, ganz selten, fühlten sie sich am Ufer des Sees wie ganz normale Kinder.

»Stell dir mal vor …«, sagte Leon nachdenklich. »Stell dir vor, Joseph würde sein Flugzeug tatsächlich finden.« Er hob den Blick und sah Fliege mit großen Augen an.

»Oh Mann!« Fliege winkte ab. »Du wirst es wohl nie kapieren.« Er bückte sich, legte seine Angelrute flach auf den Boden und setzte sich mit angewinkelten Beinen neben Leon auf den Steg. »Wo sollte er sein Flugzeug deiner Meinung nach denn finden? In Valmot wohl kaum, oder? Versteh mich nicht falsch, ich mag Joseph, aber er ist ein Spinner. Seine Geschichten sind die reinsten Lügenmärchen. Nichts davon ist wahr.«

Leon verschränkte die Arme. Trotz seiner manchmal schrulligen Art und seiner gelegentlichen Tollpatschigkeit war Joseph sein großes Vorbild, und er mochte es gar nicht, wenn Fliege ihn als Spinner bezeichnete.

»Ich glaube ihm«, sagte Leon. »Auch wenn er vielleicht manchmal ein klein wenig übertreibt.«

Josephs Geschichten von Stammesfürsten und Maharadschas, von tollkühnen Flugmanövern unter Flussbrücken, von Bruchlandungen und Luftkämpfen mit berühmten Fliegerassen klangen in der Tat unglaublich. Trotzdem war Leon davon überzeugt, dass Joseph ein richtiger Pilot war. Ein Pilot, der ganz bestimmt irgendwo ein Flugzeug besaß und der ihn eines Tages mitnehmen, ihm all die besonderen Orte und Plätze zeigen würde, wenn es erst einmal wieder aufgetaucht wäre.

»Ich glaube eher, dass Joseph komplett übergeschnappt ist«, entgegnete Fliege. Er schob seine Brille auf die Nasenspitze und sah Leon über den dicken Rand hinweg an.

»Und wieso glaubst du das, bitte schön?« Leon spürte, wie in ihm langsam der Ärger aufstieg. Flieges mitleidiger Gesichtsausdruck machte es kein bisschen besser.

»Heute Morgen habe ich Hendrik in seiner schönen neuen Uniform getroffen«, sagte der jetzt. »Hast du die eigentlich schon gesehen?«

»Ja, hab ich. Aber was hat das mit Joseph zu tun?«, fragte Leon.

»Hendrik hat überall im Ort Zettel aufgehängt, an sämtlichen Mauern und Haustüren.«

»Und weiter?« Leon wurde langsam richtig ungeduldig.

»Warte«, sagte Fliege. »Jetzt kommt’s! Plötzlich sehe ich, dass Joseph heimlich hinter Hendrik herhuscht. Auf Zehenspitzen hat er sich von einem Hauseingang zum nächsten gedrückt. Und weißt du, was er dann getan hat?«

»Nein«, erwiderte Leon. »Aber du wirst es mir hoffentlich erzählen, bevor der Herbst kommt.«

Fliege klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.

»Er hat alle Zettel wieder von den Wänden und Türen gerissen.«

»Hä? Warum sollte er das tun?«, fragte Leon. Er verstand nicht, was ihm Fliege gerade weismachen wollte.

»Das habe ich mir eben auch gedacht. Ich bin hinunter auf die Straße und habe Joseph gefragt – aber er wollte mir nichts sagen. Außer …« Jetzt sah Fliege Leon forschend an. »Außer, dass du möglichst schnell zu ihm kommen sollst. Er hat angeblich eine Überraschung für dich.«

»Das Flugzeug!« Leon sprang auf. »Er hat bestimmt sein Flugzeug gefunden!« Aufgeregt griff er nach seinem Eimer. »Ich muss sofort los!«

Fliege seufzte genervt.

»Es ist mir egal, was du von Joseph denkst!«, sagte Leon. »Ich gehe jetzt sofort zu ihm. Du kannst ja später nachkommen.«

»Das mach ich auch«, stellte Fliege fest. »Irgendjemand muss dich ja trösten, wenn du endlich einsiehst, dass Joseph spinnt …«

»Idiot!« Leon grinste und verpasste Fliege einen Schubs gegen die Schulter. Sein Ärger war angesichts der großartigen Nachricht verflogen. Auch wenn er und sein bester Freund oft nicht derselben Meinung waren – Fliege war eben Fliege, und er konnte ihm niemals wirklich böse sein.

 

Um möglichst schnell zu Josephs Haus zu gelangen, nahm Leon diesmal die Abkürzung durch das kleine Waldstück. Die nadelbesetzten Äste der Föhren ließen nur wenig Licht bis ins Unterholz. Der ganze Wald war in diesig grünen Dunst getaucht, und hie und da raschelte es zwischen den Farnen und Sträuchern. Leon stolperte über Wurzeln und verhedderte sich in herabhängenden Schlingpflanzen, bis er endlich die Lichtung auf der kleinen Anhöhe erreichte. Von hier aus konnte er Josephs Hütte inmitten der Felder ausmachen.

Leon suchte die Gegend mit Blicken ab, doch von einem Flugzeug war weit und breit nichts zu sehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war allerdings fast genauso spektakulär: Aus irgendeinem Grund stand Joseph in voller Pilotenmontur auf dem Dach. Er trug eine Lederjacke, eine Pilotenhaube und eine Fliegerbrille. Sein weißer Schal flatterte im Sommerwind, während er mit langen Seilen und großen Platten herumhantierte. Leon stellte seinen Eimer ab und formte aus beiden Händen einen Trichter.

»Joooseph!«, rief er, so laut er konnte. Dabei winkte er mit beiden Händen über seinem Kopf wie ein Fluglotse auf einem Rollfeld.

Jetzt hatte ihn Joseph offenbar bemerkt. Er sah zu ihm herüber, trat dann aber auf irgendein Werkzeug, rutschte aus und ratterte auf seinem Hintern über die Dachziegel nach unten. Mit einem Aufschrei polterte er über die Dachrinne und landete letztendlich mit einem dumpfen Knall vor seiner eigenen Eingangstür, das Gesicht im Sand.

»Mist!«, rief Leon, schnappte den Eimer und rannte sofort los.

Joseph hatte sich bereits aufgerappelt, als Leon bei ihm eintraf. Fluchend klopfte er sich den Staub aus den Kleidern.

Der verhinderte Pilot war ein schlaksiger, langer Kerl mit Dreitagebart. Wie alt er war, wusste er offenbar selbst nicht so genau. Fragte man ihn danach, antwortete er stets: »So alt wie immer!« Damit lag er, als Bürger Valmots, wohl in jedem Fall richtig.

»Himmelherrgott«, schnaufte er jetzt ärgerlich. »Welcher Idiot lässt einen Gabelschlüssel einfach so auf dem Dach liegen?« Kopfschüttelnd sah er Leon an.

Leon wusste nicht, was er sagen sollte, denn außer Joseph war niemand zu sehen.

»Vielleicht …«, begann er vorsichtig.

»Egal!«, unterbrach ihn Joseph. Er zupfte sich seine Pluderhose zurecht und wischte mit den Handflächen den Schmutz von den Schaftstiefeln. »Gut, dass du hier bist. Komm rein, ich muss dir etwas zeigen.«

Leons Herz drohte vor Aufregung fast zu zerspringen. Er folgte Joseph in die kleine Hütte. Dort war es brütend heiß. Der Geruch von Lacken und Ölen, von Dosensardinen und Holzspänen drohte Leon einen Moment zu überwältigen. Durch die kleinen Fenster fiel ein wenig Sonnenlicht auf das große Regal neben dem Eingang, das von unten bis oben mit Büchern über Motoren und andere technische Gerätschaften vollgeräumt war. Wahrscheinlich war Fliege der Einzige, der sie alle gelesen hatte, so oft, wie er hierherkam, um in ihnen zu schmökern.

Wie immer lagen auch Werkzeuge und mechanische Teile verstreut, die vermutlich zum Cockpit eines Flugzeugs gehörten. An den Wänden hingen Konstruktionspläne und alte Fotografien von Flugzeugen, wagemutigen Piloten und fernen Ländern.

»Und?«, fragte Leon aufgeregt. »Hast du dein Flugzeug endlich gefunden?«

»Was?« Joseph war offenbar mit den Gedanken ganz woanders. »Nein … egal … wo sind denn nur …«, murmelte er geistesabwesend, während er einige Schachteln und Dosen von seiner Werkbank hob. Schließlich zog er einen Stapel Papiere unter einer der Schachteln hervor und drückte ihn Leon in die Hand. »Sieh mal«, sagte er mit leuchtenden Augen.

»Was ist das?« Enttäuscht starrte Leon auf das oberste Blatt Papier und blätterte dann einmal durch den ganzen Packen. Offenbar stand auf allen Seiten derselbe Text.

»An die Einwohner Valmots!«, war dort zu lesen. »Die Vorgänge der letzten Zeit zwingen mich zu ungewöhnlichen Schritten. Da Herr Morelli das abhandengekommene Material ohne Hilfe nicht schnell genug beschaffen kann, muss ich einer weiteren Person gestatten, die Stadt aufzusuchen und ihn beim Transport zu unterstützen. Ich möchte daher Freiwillige bitten, sich schnellstmöglich bei Herrn Morelli zu melden. Ich weise allerdings darauf hin, dass ein Besuch der Stadt mit großen Gefahren verbunden ist und dass jeder Freiwillige selbstverständlich der strengsten Verschwiegenheitspflicht unterliegt.

Hochachtungsvoll,

der Bürgermeister«

Unter dem Text waren der Stempel und die Unterschrift des Bürgermeisters zu sehen.

Leon fühlte, wie es in seinem Hirn zu rattern begann. Er konnte kaum glauben, was er hier las. Der Bürgermeister stand dem Phänomen der verschwundenen Ziegel und Steine offenbar so hilflos gegenüber, dass ihm in seiner Ratlosigkeit nichts Besseres einfiel, als Enrico Morelli in die Stadt zu schicken, um die fehlenden Materialien einfach zu ersetzen.

»A… aber …«, stammelte Leon.

Joseph lächelte. »Ich habe die Blätter im ganzen Ort eingesammelt, bevor sie womöglich noch ein anderer liest. Ich weiß doch, wie viel es dir bedeutet.« Er legte seine Hände auf Leons Schultern. »Geh zu Morelli! Vielleicht nimmt er dich ja mit in die Stadt.«

Jetzt erst begriff Leon. Das war es also, was Fliege beobachtet hatte: Joseph hatte all diese Flugblätter entfernt, nur für ihn. Er war nicht verrückt. Ganz im Gegenteil! Er war ein wunderbarer Freund!

»Du bist der Beste!«, rief Leon. Er umarmte Joseph und drückte ihn ganz fest.

»Moment!« Der Pilot löste sich vorsichtig aus der Umklammerung und sah Leon eindringlich an. »Ganz wohl ist mir nicht dabei, dich gehen zu lassen, das weißt du hoffentlich.« Er lehnte sich gegen seinen Arbeitstisch und verschränkte die Arme. »Ich mache mir nur deshalb nicht allzu viele Sorgen, weil Morelli so erfahren ist. Er kennt die Stadt und ihre Gefahren, im Gegensatz zu uns.« Er zögerte kurz. »Aber du musst auf jeden Fall mit deiner Mutter sprechen.«

»Ja, natürlich, das mache ich!«, versprach Leon, obwohl er genau wusste, dass das gelogen war. Noch nie in seinem Leben war er seinem großen Traum näher gewesen, und auch wenn ihm bei dem Gedanken merkwürdig zumute war – seine Mutter durfte unter gar keinen Umständen davon erfahren.

»Grüß Fliege, falls er hier auftaucht«, rief er hastig. »Ich melde mich bei ihm, wenn ich zurück bin!«

Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte Leon zur Tür hinaus. Er lief, so schnell er nur konnte, quer durch den ganzen Ort und über den Marktplatz, bis er völlig außer Atem vor Enrico Morellis Haus stand. Das schmale Gebäude lag nur einen Steinwurf vom Springbrunnen entfernt in einer kleinen Nebenstraße.

Das ist meine Chance, dachte Leon, während er nach Luft rang. Vermutlich die einzige Gelegenheit in meinem ganzen Leben.

Ein großer Löwenkopf aus Messing war in der Mitte der grün gestrichenen Tür befestigt. Durch sein Maul führte ein schwerer Metallring. Leon zögerte einen Moment, bevor er mit dem Ring dreimal gegen die Tür klopfte.

Kurz war es still, dann hörte er Schritte, die Eingangstür öffnete sich, und Morelli stand in einem quer gestreiften, eng anliegenden Zirkuskostüm vor ihm.

»Oh! Leon!« Morelli zupfte an seinem dunklen Oberlippenbart und lächelte Leon breit an. »Was machste du denn hier, hä?« Leon hielt den Zettel hoch.

»Äh … Ich habe die Nachricht des Bürgermeisters gelesen, und … ja … da wäre ich jetzt. Bereit für die Stadt«, stammelte er.

»O nein!« Morelli ließ seinen erhobenen Zeigefinger hin- und herwackeln. »Du biste zu jung. Es iste doch sehr gefährlich in die Stadt.« Er betrachtete Leon von oben bis unten. »Kannste du überhaupt schwere Dinge heben?«

»Natürlich!« Leon winkelte den rechten Arm an und deutete auf seine Muskeln.

»Hm.« Morelli drückte Leons Oberarm mit Zeigefinger und Daumen leicht zusammen. »Na gut. Biste eine kräftige junge Mann. Und was sagte deine Mutter zu deine Vorhaben, hä?«

»Die ist einverstanden«, log Leon. »Sie meint, wenn Sie dabei sind, kann gar nichts passieren. Ehrlich!« Er bedachte Morelli mit einem Dackelblick und kreuzte die Finger hinter seinem Rücken. »Bitte! Es ist mein allergrößter Wunsch!«

Morelli sah auf ihn herab und rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Also gute«, sagte er schließlich. »Komm herein.«

Leon betrat Morellis Haus und versuchte, das flaue Gefühl in seinem Magen zu unterdrücken, während Morelli auf ihn einredete: »Wir werden nichte lange brauchen. Vielleicht zwei oder zweieinhalb Stunden. Aber du musste dich verkleiden. Zumindest eine bisschen.«

Der gesamte Flur war mit Zirkusrequisiten vollgestellt. Pferdeköpfe aus Holz, kleine bunte Hütchen und große Federbüsche gab es hier ebenso wie Dompteurringe und Jonglierkeulen. An der Wand stand eine große Holzkiste. Morelli kramte ein wenig in ihr herum und winkte Leon dann zu sich.

»Suche dir etwas aus. Nichte zu viel und nichte zu wenig.« Damit verschwand er in einem der angrenzenden Räume.

In der Kiste lagen Perücken und Kleider, falsche Bärte und Matrosenanzüge und etwas, das Leon sofort ins Auge stach: eine große Brille mit kreisrunden Gläsern. Leon zog sie aus der Kiste und setzte sie auf. Dann machte er einen Schritt zur Seite und betrachtete sich in dem großen Garderobenspiegel an der Wand.

»Unglaublich«, sagte er kaum hörbar zu sich selbst. »Ich sehe tatsächlich völlig verändert aus.« Nie zuvor hatte Leon eine Brille auf der Nase gehabt.

Schon bald trat Morelli zurück in den Flur. Er trug nun einen feinen, braunen Anzug und einen flachen Strohhut. In seine rechte Augenhöhle hatte er ein Monokel geklemmt, und aus seiner Sakkotasche ragte eine goldene Kette, die anscheinend zu einer Taschenuhr gehörte. Hinter seinem frisch angeklebten, schwarzen Vollbart war er kaum wiederzuerkennen.

»Und? Wie sehe ich aus, hä?«, fragte er stolz, wobei er sich in alle Richtungen drehte. Leon nickte voll Bewunderung.

»Oh, deine Augenlichte hat sich stark verschlechtert in die letzten Minuten«, sagte Morelli jetzt beim Anblick von Leons falscher Brille und lachte. »Na, dann wolle wir mal!«

Er bedeutete Leon, ihm zu folgen. Sie durchquerten den Flur und traten an der Rückseite des Hauses ins Freie. In dem kleinen, gepflasterten Hof stand Enrico Morellis ungewöhnliches Fahrzeug: ein großes Dreirad mit zwei Sitzen und einer Ladefläche, die mit einer Plane abgedeckt war. Seitlich an der Ladefläche war ein Schild montiert. Spedition Morelli – Verlässlichkeit seit Generationen, stand darauf geschrieben.

»Wenn man nichte älter wird«, lächelte Morelli, »musse man eben so tun, als wäre man eine jungere Verwandte. Du verstehst?« Morelli kletterte auf einen der Sitze und verwies Leon auf den Platz neben sich.

»Du musste die Pedale feste treten«, erklärte er und deutete auf die Konstruktion zu ihren Füßen.

Gemeinschaftlich setzten sie das Fahrzeug in Bewegung. Langsam rollte das Dreirad durch einen kleinen Torbogen auf den schmalen Weg, der hinter der Häuserzeile bis zum Ortsrand führte, und schon bald hatten sie die schnurgerade Verbindungsstraße nach Quentin erreicht.

»Ich werde die Stadt sehen«, sagte Leon mit leuchtenden Augen. »Ich werde tatsächlich die Stadt sehen!« Obwohl ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, unehrlich gegenüber Morelli, Joseph und vor allem seiner Mutter gewesen zu sein, schlug ihm das Herz vor Aufregung bis zum Hals.

Die Stadt

Enrico Morelli und Leon hatten Valmot schon weit hinter sich gelassen. Sie waren durch die bewaldeten Hügel und durch Meere von Weizen gefahren. Leon fiel auf, dass Morelli kein Wort mehr über die Lippen gekommen war, seit sie ihren Heimatort verlassen hatten. Er setzte seine falsche Brille ab und sah seinen Sitznachbarn mit großen Augen an.

»Sie waren doch schon so oft in der Stadt«, sagte er aufgeregt. »Ist es wirklich so schön, wie Sie immer behaupten?«

»Oh!«, seufzte Morelli. Er ließ den Lenker los und unterstrich seine Ausführungen mit großen Gesten. »Das iste schwer zu sagen, weißte du? Die Stadt iste riesengroß, und sie hat viele Gesichter. Manches iste schon schon, anderes iste nicht so schon.«

»Ja«, sagte Leon nachdenklich. »Das ist ja bei uns in Valmot auch so. Denken Sie nur an die Diebstähle oder die vielen toten Fremden.«

»Oh ja! Das iste sehr schlimm. Sehr schlimm iste das.«

Er reckte die Arme in die Luft, der kleine Karren geriet ins Trudeln und wäre beinahe von der Straße abgekommen. Morelli schnappte gerade noch rechtzeitig nach dem Lenker.

»Weißte du«, sagte er ernst. »In die Stadt iste alles sehr anders. So wie du es nichte kennst, hä?« Er sah Leon mit einem eindringlichen Blick an. »Du darfste keinem erzählen, dass wir aus Valmot kommen. Wir durfen die Menschen unsere Ort nichte in Erinnerung rufen. Sonste kann es sehr gefährlich werden.« Er lächelte und klopfte Leon beruhigend auf die Schulter. »Aber du haste ja gelesen die Nachricht von unsere Burgermeister, und solange du seinen Rat befolgst, kann nichte allzu viel passieren. Also, pst!« Er hielt sich den ausgestreckten Zeigefinger vor die Lippen.

Leon spürte, wie er fast noch ein bisschen aufgeregter wurde als zuvor. Was passierte wohl, wenn jemand erfahren würde, woher sie stammten? Eben wollte er Morelli darauf ansprechen, doch der hatte den Blick bereits wieder auf die Fahrbahn gerichtet und wirkte in Gedanken versunken.

 

So schwiegen beide und traten weiter fest in die Pedale, bis sie endlich die alte Nadelfabrik erreichten. Leon kannte sie natürlich nur aus Erzählungen, gesehen hatte er sie noch nie. Wie eine Ritterburg lag das verlassene Gebäude auf einer kleinen Anhöhe. Grau, verfallen und geheimnisvoll. Leon verfolgte das baufällige Gemäuer im Vorüberfahren gebannt mit seinem Blick, bis es aus seinem Sichtfeld verschwand. Dann schob er sich die falsche Brille wieder auf die Nase.

»Wir sinde faste am Ziel!«, sagte Morelli da, und tatsächlich konnte Leon schon nach einer kurzen Weile die Silhouette der Stadt Quentin am Horizont erkennen. Kleine, große, schmale und hohe Gebäude, so weit das Auge reichte, und dazwischen spitze Türme, die über den ziegelroten Dächern bis in den Himmel wuchsen. Ihm stockte bei dem Anblick der Atem. Dies ist der Tag, auf den ich so lange gewartet habe, dachte er. Endlich! Seine Aufregung verwandelte sich in unbändige Vorfreude.

»Alse Erste mussen wir die gesamten Produkte aus Valmot an meine Zwischenhandeler liefern«, erklärte Morelli. »Dann, wenn die Ladefläche iste leer, wir konnen kaufen all die Sachen auf unsere Liste hier.« Er zog etwas ungelenk ein Blatt Papier aus seiner Sakkotasche und versuchte, es mit einer Hand zu entfalten. Die andere ließ er nun doch sicherheitshalber auf dem Lenker liegen.

»Kann ich helfen?«, fragte Leon.

»Oh, sehr aufmerksam.«

Leon faltete den Zettel auseinander.

Es handelte sich um die Einkaufsliste des Bürgermeisters. All die verschwundenen Baustoffe waren fein säuberlich aufgelistet.

Direkt darunter gab es in einer anderen Handschrift zwei weitere Einträge.

stand da kaum leserlich.

Leon wusste, dass sich der Bürgermeister jedes Mal Zigarren mitbringen ließ, wenn Morelli in die Stadt fuhr, und auch die Dosen mit Josephs heiß geliebten Sardinen fanden so regelmäßig ihren Weg nach Valmot. Morelli nahm die Liste wieder an sich.

Es dauerte nicht lange, da erreichten sie die ersten Häuser Quentins. Sie waren viel größer als die Gebäude Valmots, reichlich verziert und in hellen Farbtönen gestrichen. Ihr Anblick war so wunderschön, dass Leon sich gar nicht sattsehen konnte. Aber anstatt in Richtung Zentrum zu fahren, bog Enrico Morelli plötzlich ab. Über eine holprige, kleine Straße fuhren sie jetzt an der Stadtgrenze entlang, und je länger sie unterwegs waren, desto verwahrloster wirkten die Gebäude, die an die Straße angrenzten. Einige der Häuser standen offenbar leer, denn die Vorgärten waren verwildert und die Scheiben der Fenster stark verschmutzt.

»Wieso fahren wir nicht geradeaus?« Leon konnte seine Enttäuschung kaum verbergen.

»Keine Sorge, junge Freund. Der Zwischenhandeler iste nichte in die Zentrum. Dort fahren wir anschließend hin«, beruhigte Morelli ihn. Kurz darauf lenkte er das Gefährt durch ein großes, offen stehendes Metalltor in einen weitläufigen Hof. Flankiert von niedrigen hölzernen Werkstattbaracken, standen hier jede Menge Kisten und Fässer, Tonnen und Säcke. Es roch nach Kaffee und allerlei Gewürzen, und Leon war sich sicher, dass dies der Duft der großen, weiten Welt war.

Morelli hielt sein Dreirad vor einem kleinen Schuppen mit der Aufschrift: Waren aller Art. An- und Verkauf.

»So«, sagte er, während er an einem Hebel zwischen den Sitzen zog. Ein lautes Knarzen war zu hören. »Bremse festegezogen. Jetzt kann nichte mehr viel passieren!«

Er lächelte und hopste von seinem Sitz.

»Du wartest, hä? Diesmal musse ich mich meine Zwischenhandeler als meine eigene Sohn vorstellen gehen«, sagte er mit einem genervten Gesichtsausdruck. »Aber so iste nun einmal, wenn man aus Val…« Er zuckte zusammen und hielt sich den Zeigefinger an die Lippen. »Du weißte, was ich meine«, flüsterte er.

Leon nickte. Morelli zückte die Liste aus seiner Tasche, zwinkerte Leon zu und verschwand in dem kleinen Holzhaus.

Auch wenn sie hier nur in irgendeinem verwahrlosten Randbezirk auf einem Hinterhof gelandet waren – es war doch die Stadt. Die Stadt, von der er immer geträumt hatte. Leon fühlte sich großartig. Schon sehr bald würde er mit Morelli über die breiten Prachtstraßen flanieren, ein Eis essen und die Schaufenster bestaunen.

Er erhob sich und versuchte, über die Dächer hinweg einen Blick auf die angrenzenden Häuser zu erhaschen, als ihn plötzlich ein Geräusch aus seinen Gedanken riss.

»Pst!«, machte es deutlich hörbar hinter ihm.

Leon wandte sich erschrocken um. Er ließ seinen Blick über den gesamten Hof wandern, konnte aber niemanden erkennen. Vermutlich war alles nur Einbildung gewesen. Er wollte sich gerade wieder abwenden, da hörte er das Geräusch von Neuem. Diesmal länger und lauter.

»Pssst!«

Jetzt sah Leon, wie sich zwei Finger unter der Abdeckplane über der Ladefläche hervorschoben. Kurz darauf kamen ein schwarzer Haarschopf und eine dickrandige Brille zum Vorschein.

»Fliege?!« Leon starrte seinen Freund an. »Was machst du denn hier?« Er kniete sich verkehrt herum auf den Sitz. »Bist du noch zu retten?«

»Jetzt reg dich nicht so auf«, sagte Fliege und streckte den Kopf unter der Plane hervor. »Denkst du, du bist der Einzige, der mal die Stadt sehen möchte?«

»Ja, aber … Ich meine, nein, natürlich nicht, aber …« Leon war sprachlos. Wie konnte Fliege nur so leichtsinnig sein? Er hätte Morelli doch zumindest fragen müssen, ob er mitkommen durfte, und verkleidet war er auch kein bisschen.

»Wieso siehst du eigentlich aus wie ich?« Fliege klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Brille.

»Ach so, das …« Leon nahm die falsche Brille ab. »Eigentlich hast du recht«, sagte er dann. »Mich kennt hier ohnehin keiner. Da brauch ich ja wohl auch keine Verkleidung.« Er klappte die Bügel ein und steckte die Brille in die Hosentasche.

Mit einem Mal drang ein lautes Scheppern aus dem kleinen Schuppen. Leon und Fliege wandten sich ruckartig der Eingangstür zu. Es klang, als würden Gläser und Teller zerbersten.

»Was war das denn?« Ohne den Blick von dem Schuppen abzuwenden, kletterte Leon vorsichtig von seinem Sitz. Fliege rutschte unter der Plane hervor und kauerte sich direkt hinter seinen Freund. So versteckt, lugten sie an der Ladefläche des Dreirads vorbei zum Eingang der Baracke.

»Lasste mich in Ruhe!«, hörten sie plötzlich Morelli rufen. Seine Stimme klang angsterfüllt.

Leon war wie gelähmt. Er verstand nicht, was in dem kleinen Holzhaus vor sich ging. Jetzt tauchte Morelli im Eingang auf. Er schien sich nur schwer auf den Beinen halten zu können und klammerte sich mit beiden Händen am Türrahmen fest. Seinen aufgeklebten Bart hatte er genauso verloren wie seinen Strohhut.

»Leon!«, rief er panisch. »Verschwinde! Verstecke diche so schnelle, wie …« Er konnte nicht weitersprechen, denn jemand legte ihm den Arm um den Hals und zerrte ihn zurück in den Schuppen. Kaum eine Sekunde später wurde die Holztür mit einem lauten Knall zugeschlagen.

Leon sah entsetzt zu Fliege. Was war hier gerade geschehen? Schlagartig wurde ihm bewusst, dass Morelli, Joseph und alle anderen die Wahrheit gesagt hatten: Die Stadt war wirklich ein gefährlicher Ort. Anscheinend gab es einen guten Grund für die Menschen Valmots, sie zu meiden.

»Lass uns abhauen!«, flüsterte Leon. Fliege und er sprangen auf, überquerten den Hof und liefen durch das Einfahrtstor. So schnell ihre Füße sie trugen, rannten sie durch die engen und verwinkelten Straßen und Gassen. Da sie weder nach links noch nach rechts und auch kein einziges Mal zurücksahen, hatten sie sich schon nach wenigen Minuten hoffnungslos verirrt.

»Ich glaube …«, keuchte Fliege, »ich glaube, uns folgt gar niemand!«

Beide verlangsamten ihre Schritte und wandten sich um. Tatsächlich standen sie völlig alleine in einer schmalen Straße, die sich kaum von den schmalen Straßen Valmots unterschied. Allerdings wirkten die niedrigen Häuser zur Linken und zur Rechten der Fahrbahn heruntergekommen. Der Putz bröckelte von den Fassaden, Unrat lag auf den Gehwegen verstreut, und ein altes, verrostetes Hängeschild mit der Aufschrift Feinster Bohnenkaffee klapperte über einem leer stehenden Geschäftsportal im Wind. Offensichtlich befanden sie sich in einem der düsteren Viertel der Stadt.

Leon hatte weiche Knie. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er bekam kaum noch Luft. So etwas Schreckliches hatte er noch nie erlebt. Erst langsam begriff er, was gerade geschehen war. Er stützte seine Hände auf die Oberschenkel und starrte Fliege atemlos an.

»Meinen ersten Stadtbummel habe ich mir anders vorgestellt«, sagte er mit zittriger Stimme.

»Ich auch, glaub mir«, schnaufte Fliege.

Die beiden erhoben sich.

»Wir hätten Morelli nicht einfach im Stich lassen dürfen. Denkst du, sie haben ihn umgebracht?«, fragte Leon. Er machte sich jetzt große Sorgen um den armen Mann.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Fliege leise. »Auf jeden Fall dürfte seine Tarnung aufgeflogen sein.« Er strich sich mit den Fingern übers Kinn, als würde er an einem unsichtbaren Bart zupfen. »Und?«, sagte er nach einer Weile. »Was sollen wir jetzt machen?«

»Ich weiß es ni…« Leon zögerte. »Sieh mal«, sagte er erstaunt und deutete die leicht abfallende Straße hinunter.

Ein Mädchen, ungefähr in ihrem Alter, kam gerade über das Pflaster auf sie zugestapft. Alles an ihr war hell: Sie trug ein strahlend weißes Sommerkleid, beigefarbene Schuhe und hatte welliges, blondes Haar. Zwischen all dem Müll und dem Grau der Fassaden wirkte sie wie eine Engelserscheinung.

Unter ihren Arm hatte sie einen großen Zeichenblock geklemmt. In der Hand hielt sie eine kleine Staffelei. Während sie an Leon und Fliege vorbeiging, sagte sie fast beiläufig: »Ihr solltet von hier verschwinden. Sie haben schon nach euch gefragt.« Dann setzte sie ihren Weg zielstrebig fort.

Leon sah zu Fliege, der die Schultern hob und genauso ratlos schien wie er selbst.

»Äh … was hast du gesagt?« Leon hüpfte der Fremden hinterher, gefolgt von Fliege. »Wer hat nach uns gefragt?«

»Die Krähenmänner«, antwortete sie völlig ungerührt. Sie blieb stehen und musterte Fliege von oben bis unten. »Du siehst irgendwie aus wie ein Insekt.«

»Ja, ja«, murmelte Leons Freund mit rotem Kopf. »Wie eine Fliege, ich weiß.« Er verdrehte die Augen.

»Und wer, bitte schön, sind die Krähenmänner?«, wechselte Leon schnell das Thema. Er wusste, wie schüchtern Fliege gegenüber Fremden war. Und dass Fliege sich gerade alles andere als wohl in seiner Haut fühlte, sah er direkt.

»Du kennst die Krähenmänner nicht?« Sie drückte Leon ihre Staffelei in die Hand, zog den Block unter ihrem Arm hervor und klappte das Deckblatt hoch. Dann nahm sie mehrere Blätter mit Daumen und Zeigefinger und klappte sie ebenfalls nach hinten.

»Das sind die Krähenmänner.« Sie hielt Leon und Fliege den Block unter die Nase.

Leon erschrak. Auf dem Papier war eine Bleistiftzeichnung mehrerer Männer zu sehen, die mit schwarzen Mänteln, schwarzen Handschuhen und schwarzen Stiefeln bekleidet waren. Einige trugen vogelartige Halbmasken vor dem Gesicht, andere hatten die Masken lose um den Hals hängen, und manche hielten sie in der Hand. Die Gesichter der Männer waren zerfurcht, die Haut faltig und bleich. Sie hatten dunkle Ringe unter den Augen. Leon lief beim Anblick dieser Gestalten ein Schauer über den Rücken.

Die Zeichnung war mit solch einer Genauigkeit angefertigt worden, dass selbst das Material der Masken zu erkennen war. Allem Anschein nach waren sie aus Leder gefertigt und hatten runde, verglaste Gucklöcher. Marietta LaViolette, stand in geschwungenen Buchstaben in der unteren rechten Ecke zu lesen. Das musste die Signatur der Malerin sein.

»Sie nennen sich selbst Venatoren, aber seht sie euch an«, sagte das Mädchen, während Leon und Fliege noch verunsichert auf das Bild starrten. Sie fuhr mit dem Finger über die gezeichneten Gesichter. »Sie sehen doch aus wie … nun ja … wie Krähenmänner eben. Alle hier in Quentin nennen sie so.«

»Und was wollen diese Krähenmänner von uns? Wer sind sie?«, fragte Leon.

»Kommt mit. Hier sollten wir nicht länger herumstehen.«

Das Mädchen setzte sich in Bewegung und ging die Straße hinauf. Leon, der nach wie vor die Staffelei hielt, zwinkerte Fliege ermunternd zu, und die zwei folgten ihr wortlos.

Schon wenige Meter weiter hielten sie vor einem Geschäftsportal mit großen, blank geputzten Scheiben. Der Laden machte einen sehr gepflegten Eindruck. Er passte irgendwie gar nicht in diese verkommene Gegend. Mal- und Zeichenbedarf Ernesto LaViolette, stand über dem Schaufenster geschrieben.

Das Mädchen zückte einen Schlüssel, steckte ihn ins Schloss der gläsernen Eingangstür und entriegelte sie.

Der Verkaufsraum war nicht nur sehr groß und hell, er war auch außergewöhnlich hoch. Rundum reichten hellbraune Holzregale bis zur Decke, und über ihren Köpfen drehte sich ein Ventilator mit einem gleichförmigen Surren langsam im Kreis. Die Luft war stickig und warm. Hier fühlte sich Leon bedeutend sicherer als draußen auf der Straße. Er sah sich staunend um. In den Regalen lagen Pinsel und Stifte, Paletten und Blöcke, Staffeleien und bespannte Keilrahmen. Kleine Türme aus Kisten, Schachteln und Farbtöpfchen standen im Raum verteilt. Leon war fasziniert von all den feinen Malutensilien. Zu Hause in Valmot musste er sich mit ein paar alten Bleistiftstummeln begnügen, wenn er sich zum Zeichnen auf die kleine Anhöhe über Josephs Haus zurückzog.

»LaViolette?«, fragte Leon an das Mädchen gewandt. »Dann hat deine Mutter die Zeichnung angefertigt?«