Pfeiffer, Eva New York Pretty: Nur wir beide

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ISBN 978-3-492-98388-4

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: oneinchpunch

Redaktion: Redaktionsbüro Feldbaum

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1. Rebecca

Der Schrei aus dem Fernseher erinnerte an eine kläglich jaulende Katze.

Game over.

»Mann, du bist schon wieder tot!«, rief Ben und funkelte Rebecca verständnislos von der Seite an.

Frustriert ließ sie den Playstation-Controller sinken. »Diese blöde Mutantenkuh holt mich jedes Mal ein!«, verteidigte sie sich.

»Das ist keine Mutantenkuh«, erwiderte Ben genervt. »Außerdem hab ich dir eben erklärt, wie du die Kettensäge benutzt. Du stellst dich vielleicht an!«

»Ben, sei nett!«, intervenierte Chloe, Rebeccas Mitbewohnerin und Bens große Schwester, von der Fensterbank und warf Ben einen mahnenden Blick zu.

Der Lärm des Feierabendverkehrs drang von draußen in das schmuddelige Zimmer. Ein paar spätsommerliche Sonnenstrahlen schafften es durch die milchig-dreckige Glasscheibe und verfingen sich in Chloes kurzen Afrolocken.

Rebecca lehnte sich resigniert zurück und atmete den muffigen Geruch des Sofapolsters ein. Müde, Kopfweh, Hunger, Reihenfolge egal, dachte sie. Bei den Distanzen in New York würde es spät werden, bis Chloe und sie die Strecke von Harlem nach Brooklyn in die WG zurückgelegt hätten. Sie beschloss, sich auf dem Weg zur Subway eines dieser genialen Sandwiches kaufen, die einen Großteil ihrer Nahrung ausmachten, seit sie in der Stadt war. Eines mit Avocado und Hummus zum Beispiel.

»Ey, ich hab heute auch noch was anderes vor, okay?«, sagte Ben zu seiner Schwester, als sei Rebecca gar nicht da.

»Zocken mit deinen Nerd-Freunden?«, entgegnete Chloe belustigt.

Rebecca wurde die Situation unangenehm.

»Kürzen wir das hier ab«, sagte sie und bemühte sich, nicht ebenso genervt wie Ben zu klingen. »Könntest du für mich zusammenfassen, warum Rising das fantastischste Computerspiel aller Zeiten sein soll, Ben? Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du hier gerade deinen Donnerstagabend opferst. Ich will vor diesen Frey-Zwillingen einfach nicht komplett ahnungslos dastehen, wenn ich sie interviewe.«

Ben rieb sich erschöpft die Augen.

Ein Zwanzigjähriger, der die Last der Welt auf seinen Schultern trägt, schoss es Rebecca amüsiert durch den Kopf. Sie unterdrückte ein Grinsen. Schließlich nickte Ben ergeben und startete Rising erneut. Routiniert steuerte er seine Figur durch die Rebecca inzwischen vertraute karge Felslandschaft.

Ohne den Blick vom Flachbildfernseher zu wenden, erklärte er: »Du hast die Apokalypse überlebt, okay? Du bist jetzt in einer Welt voller Zombies und Mutanten. Da, rechts! Boah!«

Bens Figur wich einem Zombie aus, drehte sich blitzschnell um und rammte dem Untoten eine Axt in den Kopf. Es ertönte ein Geräusch, das an Holzhacken erinnerte.

»Und das ist jugendfrei?«, fragte Rebecca ungläubig.

Ben bedachte sie mit einem Blick, den er sich sonst wahrscheinlich für seine Großmutter aufhob, wenn er ihr Facebook erklärte. »Alle Teile von Rising sind als ›M‹ eingestuft. Das steht für ›Mature‹ und bedeutet ›ab 17‹. Aber glaub nicht ernsthaft, dass das jüngere Kids vom Spielen abhält.«

»Da hat er recht«, sagte Chloe. »Meine Schüler stehen da total drauf – egal, wie alt sie sind.« Chloe unterrichtete Geschichte und Literatur an einer Highschool in Brooklyn.

»Gibt es nicht viele solche Spiele? Was macht das hier so besonders?«, fragte Rebecca.

»Rising ist die Legende unter den Action-Adventure-Games«, antwortete Ben in feierlichem Ton. »Story, Figuren, Setting und Grafik sind der Hammer, alles Open World, du hast als Spieler kaum Grenzen und wahnsinnig viele Möglichkeiten – darin kannst du dich komplett verlieren. Tagelang. Rising ist wie Pulp Fiction: tausendfach kopiert, aber nie erreicht.«

»Klar«, kam es ironisch aus Chloes Fensterecke.

Rebecca tauschte ein Grinsen mit ihrer Mitbewohnerin.

Ben war jetzt immer mehr in seinem Element. »Auch die Geschichte von Freyzy Games ist ziemlich cool«, erklärte er weiter, Chloes Spott ignorierend. »Alex und Jeremy haben Rising zuerst als Download ins Netz gestellt. War ein absoluter Selbstläufer. Also haben sie mal eben Freyzy Games aus dem Boden gestampft. Die würden nie ihre Seele an eins von den großen Entwicklerstudios oder einen anderen Publisher verkaufen.«

Bens Figur machte einen Flickflack, als sich ein Schwarm Geier näherte, und landete auf dem Rücken des größten Vogels.

»Außerdem setzt Freyzy Games mit jedem Teil von Rising einen drauf. Anfang des Monats ist Rising 4 auf den Markt gekommen. Hammer. So was ist total selten bei Franchises. Ich meine, schaut euch dagegen Call of Duty an.«

Als der Geier über einen Berggipfel flog, ließ Ben seine Figur abspringen. Sie landete direkt neben dem Gipfelkreuz.

»Die Grafik«, sagte er nur bewundernd.

Auf dem Fernsehbildschirm startete ein Rundblick in Fischaugenoptik. Vor ihnen breitete sich ein Meer aus Blumen in gelben, blauen und violetten Farben aus. Die Landschaft erinnerte Rebecca an Bilder der Atacamawüste in Südamerika, wenn diese alle paar Jahre infolge des El Niño erblühte. Die Grafik war tatsächlich beeindruckend, soweit sie das beurteilen konnte. Sie begann, sich auf das Interview zu freuen. Diese Frey-Zwillinge schienen Ideen und Fantasie zu haben. Und sie würde einmal aus der Redaktion rauskommen. Seit Beginn ihres Praktikums beim Stadtmagazin New York Life vor anderthalb Wochen machte sie nichts anderes, als in den Layoutseiten Bildunterschriften in die Boxen unter den Promi- und Modefotos zu texten.

Bens Figur kletterte nun flink den Berg hinunter und machte auf einem Felsvorsprung Halt. Sie schob ein paar Steine zur Seite und betrat eine Höhle. Kein Zweifel: Ben kannte das Spiel in- und auswendig.

»Die Multiplayer-PC-Version ist besser als die für Konsole«, fuhr Ben fort. »Ich zocke eh fast nur noch am Computer. Aber das hätte einen Noob wie dich noch mehr überfordert. Deshalb spielen wir gerade den ersten Teil. Das ist der einzige, den ich für die Playstation besitze.«

Rebecca fragte lieber nicht nach, was »Noob« bedeutete.

»Hey, Chloe! Erinnerst du dich an den Jungen letztes Jahr in Texas?«, fragte Ben. »Der sechsundsiebzig Stunden am Stück gespielt hat – ohne Essen und Trinken? Herzstillstand. Keine Chance. Oder die Fans, die vor den Läden übernachten, wenn ein neuer Rising-Teil auf den Markt kommt? Ich hab das auch mal gemacht, für Rising 2.«

»Stimmt, ich erinnere mich an die Aktion!«, rief Chloe. »Das gab ein Riesentheater mit Mom und Dad. Du hast das mit deinem seltsamen Freund durchgezogen, oder? Der mit dem Silberblick. Das war damals wegen Rising?«

Ben antwortete nicht und konzentrierte sich darauf, tiefer in die Höhle vorzudringen und eine Schlange zu köpfen.

Rebeccas Kopfweh wurde stärker. »Okay, ich glaube, mir reicht das als Rising-Crashkurs«, rief sie und stand vom Sofa auf.

»Sicher?«, fragte Chloe.

»Ich denke schon. Das ist ja kein Interview für ein Computer-Fachmagazin.«

»Cool«, sagte Ben, ohne das Spiel zu unterbrechen.

Chloe sprang vom Fensterbrett und wuschelte ihrem Bruder beim Vorbeigehen durch die kurzen Haare. Der zog peinlich berührt den Kopf weg.

»Danke, Ben. Das war total nett von dir«, sagte Rebecca.

»Passt schon«, antwortete er und beachtete sie nicht weiter.

Chloe und sie verließen das Zimmer des Studentenwohnheims und machten sich auf den Heimweg.

 

In der Subway standen sie so dicht eingequetscht zwischen den anderen Fahrgästen, dass sie auch beim Bremsen und Anfahren nie das Gleichgewicht verloren. Trotz der vielen Leute war es angenehm kühl in dem klimatisierten U-Bahn-Wagen.

Rebecca musterte die Menschen um sich herum und entdeckte eine Frau, die ein schickes Businesskostüm mit Sneakers kombiniert hatte. An ihren ersten Tagen in der Stadt hatte Rebecca sich über solche scheinbaren Mode-Fauxpas gewundert, doch dann hatte Danielle, eine Kollegin bei New York Life, sie über die hiesige Zwei-Paar-Schuh-Politik aufgeklärt: Morgens auf dem Weg zur Arbeit und abends auf der Heimfahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln trugen die New Yorkerinnen bequeme bis sportliche Schuhe, bewahrten in ihrer Tasche oder unterm Schreibtisch im Büro jedoch die High Heels für tagsüber auf. Wobei es dabei natürlich auf den Job ankam. Weder Chloe noch Rebecca besaßen Stöckelschuhe, deren Absatzhöhe unter das Label High Heels gefallen wäre.

»Ben war wenig begeistert von unserem Überfall«, stellte Rebecca fest.

Chloe lachte unbekümmert. »Mag sein, aber von Zeit zu Zeit darf er ruhig mal daran erinnert werden, dass es so was wie Sozialverhalten gibt.«

»Versteht ihr euch gut?«

»Ich liebe den Kleinen über alles«, antwortete Chloe. »Er war ein ungeplanter Nachzügler, unser Nesthäkchen. Meine zwei anderen Brüder sind vierunddreißig und einunddreißig, dann komme ich mit dreißig und schließlich Ben mit zwanzig. Mom war zweiundvierzig, als sie ihn bekommen hat. Aber es ist alles gut gegangen in der Schwangerschaft.«

Rebecca registrierte die Wärme in Chloes Stimme, als sie von ihren Geschwistern erzählte. Es musste schön sein, in einer so großen Familie aufzuwachsen. Das Kontrastprogramm zu Rebeccas Kindheit – jedenfalls zu der Zeit ab ihrem siebten Lebensjahr. Bis dahin hatte Rebecca mit ihrer Mutter Christine, einer Deutschen, und ihrem Vater, einem gebürtigen New Yorker, in Brooklyn gelebt. Kurz nach Rebeccas siebtem Geburtstag hatte ihre Mutter den Vater verlassen und war Hals über Kopf mit ihr nach Deutschland gezogen.

»Aber manchmal nerven die Jungs ohne Ende«, fügte Chloe hinzu, als hätte sie Rebeccas Gedanken erraten. »Drei Brüder, das bedeutet dreimal maximale Menge Testosteron.«

Rebecca lachte. »Da bist du durch eine harte Schule gegangen. Aber das hilft dir sicher beim Umgang mit den Teenies weiter, oder? Vor allem in dem Jungenwohnheim.«

Chloe gab ehrenamtlich Nachhilfe in einem Heim für straffällig gewordene Jugendliche. Jetzt nickte sie nur und musterte Rebecca forschend. »Apropos Testosteron«, sagte sie dann, »wo findet das Interview mit den Frey-Zwillingen morgen statt?«

»Auf einer Spielemesse. Sie stellen dort den neuen Teil von Rising vor.«

»Kennt man die beiden in Deutschland?«, fragte Chloe und fügte hinzu: »Hier kommst du an den Namen kaum vorbei.«

Rebecca zuckte die Schultern. »Ich denke, ich habe vielleicht mal während des Wartens beim Friseur in der InTouch ein Foto von ihnen gesehen. Aber ich bin auch, ehrlich gesagt, keine Promi-Expertin.«

Chloe grinste. »Umso seltsamer, dass du dann ausgerechnet beim Klatschmagazin New York Life ein Praktikum machst.«

»Du hast ja recht, aber weißt du, wie schwierig es war, überhaupt etwas in New York zu bekommen? Da haben mir weder die doppelte Staatsbürgerschaft noch meine Zweisprachigkeit viel geholfen.«

»Klar. Jeder will nach New York.«

 

Als sie mit der Subway die Insel Manhattan verlassen hatten und in Brooklyn angekommen waren, stiegen sie in den Bus nach Red Hook um. Es gab in Brooklyn schönere Gegenden als das ehemalige, noch in den 90er-Jahren als Drogen-Hotspot verrufene Industrieviertel. Doch bei der Zimmersuche hatte es Rebecca die Sprache verschlagen: Der möblierte Raum in Chloes kleiner Zweizimmerwohnung war bei Airbnb eines der wenigen Angebote unter 1000 Dollar im Monat gewesen – nach oben schienen den Mieten hingegen keine Grenzen gesetzt.

Rebecca erinnerte sich an ihre Skepsis, als sie vor bald zwei Wochen mit Reiserucksack auf dem Rücken und XL-Rollkoffer zu ihrer Rechten vor dem ein wenig heruntergekommenen Wohnblock gestanden hatte. Das war definitiv etwas anderes als die hübsche Altbau-WG mit Balkon, in der sie während ihres Studiums in Freiburg gewohnt hatte. Doch bevor sie begonnen hatte, ihren Plan infrage zu stellen, hatte Chloe ihr die Tür geöffnet und sie mit so viel Herzlichkeit, Wärme und Hilfsbereitschaft begrüßt, dass Rebecca an keinem anderen Ort der Stadt hätte wohnen wollen.

»Es war echt super von dir, dass du mir gleich den Computerspiele-für-Dummies-Kurs bei Ben organisiert hast«, sagte sie, als sie die Treppen nach oben in den sechsten Stock stiegen. Fahrstuhl gab es keinen, und das flackernde Neonlicht im Hausflur funktionierte nur auf etwa jeder zweiten Etage.

»Hast du Erfahrung mit Interviews?«, fragte Chloe.

»Ich habe für die Unizeitung ein paar geführt«, antwortete Rebecca, wobei ihr bewusst war, dass das morgen eine andere Nummer werden würde. Erstaunlich, dass man ihr als Praktikantin diesen großen Auftrag gegeben hatte. Sie nahm sich vor, gleich noch im Internet über den Werdegang der Frey-Zwillinge zu recherchieren.

 

Mit Laptop auf dem Schoß und einem Notizblock zu ihrer Linken hatte Rebecca es sich auf dem Bett bequem gemacht. Sie tippte gerade die Namen der Zwillinge in das Feld der Suchmaschine ein, als ihr Handy klingelte. Rebecca zögerte, als sie den Namen ihres Exfreundes auf dem Display las: Sven. Schließlich nahm sie mit gemischten Gefühlen ab.

»Sven, hallo!«

»Hallo, Beccy. Hier ist es mitten in der Nacht – ich wusste nicht genau, wie lange du arbeitest.«

»Ich bin zu Hause.«

»Können wir reden, hast du Zeit?«

Rebecca warf einen Blick auf ihren Computer und den Schreibblock. Es fiel ihr schwer, Sven abzuwimmeln, nachdem er offenbar extra aufgeblieben war, um mit ihr zu sprechen. Und früher oder später musste sie mit ihm reden.

Sie antwortete: »Ja, ein bisschen Zeit habe ich.«

»Du fehlst mir.«

»Sven, ich …«

»Entschuldige, das musste raus. Seit du weg bist, geht es mir echt mies.«

»Das tut mir sehr leid, Sven.«

»Ich verstehe es noch immer nicht, Beccy. Warum hast du das gemacht? Es lief doch alles gut zwischen uns, oder nicht?«

Rebecca seufzte innerlich. Das anrollende Gespräch hatten sie oft geführt, sehr oft. Ganze Nächte hatte es ausgefüllt. Aber wenn Sven es wieder und wieder hören musste, dann würde sie es ihm eben erneut erklären. Das war sie ihm irgendwie schuldig, nach fast fünf Jahren Beziehung.

»Es war einfach immer mein Traum, nach New York zu gehen. Ich bin hier geboren und habe hier die ersten Jahre meines Lebens verbracht. Und trotzdem bin ich seither nie wieder zurückgekehrt. Ich musste das jetzt tun. Ich meine, wann, wenn nicht nach der Uni? Wenn wir erst einmal angefangen hätten mit dem Arbeiten, wer weiß, wann es dann geklappt hätte.«

»Ich wäre mit dir gekommen. Wir hätten zusammen Urlaub machen können. Meinetwegen zwei Wochen New York und dann die Ostküste entlang Richtung Boston oder auch nach Washington. Wir können das immer noch tun.«

Es faszinierte Rebecca, wie frisch Sven seine von ihnen tagelang durchgekauten Argumente erneut vortrug. Wurde er derer nicht müde? Sie bemühte sich, ihre Stimme geduldig klingen zu lassen.

»Ich mache das Praktikum seit nicht mal zwei Wochen. Du weißt, wie schwer es war, eins zu bekommen. Soll ich es nun gleich wieder abbrechen?«

Sven schnaubte. »Du arbeitest unbezahlt für ein Klatschmagazin! Wenn das Praktikum bei der New York Times wäre, könnte ich dich ja verstehen. Aber bei … Wie heißt das Ding? Ach, egal! Dafür wirfst du das Geld weg, das du jahrelang gespart hast? Und schlägst dann auch noch das Jobangebot als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei deinem Lieblingsprofessor aus? Das geht nicht in meinen Kopf.«

»Ich weiß, dass du es nicht verstehst. Aber die Vorstellung, diesen Job anzunehmen und an der Uni zu bleiben, hat sich einfach nicht richtig angefühlt. Offenbar kennst du diesen Gedanken nicht: jetzt oder nie! Ich will in New York leben, wenigstens eine Zeit lang, und nicht nur als Touristin ein oder zwei Wochen die Stadt angucken. Und ich will Dad auf dem Friedhof besuchen.«

Rebecca fasste sich an die Stirn. Ihr diffuses Kopfweh von vorhin hatte sich in ein Pochen verwandelt und konzentrierte sich auf einen Punkt über ihrer rechten Schläfe.

»Du schaust immer nur zurück. Dabei ist genau jetzt der Zeitpunkt, nach vorn zu sehen! Wir haben unseren Uniabschluss und hätten nun gemeinsam unsere Zukunft gestalten können.«

»Aber was, Sven, wenn ich erst zurückschauen muss, um überhaupt voranzukommen? Seit meine Mutter mit mir hier weggezogen ist, weg von meinem Vater, habe ich immer eine Leere in mir gespürt, mich unvollständig gefühlt. Und das will ich endlich ändern. Wenn du das schon nicht verstehst, kannst du es dann nicht wenigstens akzeptieren?«

»Als würdest du mir eine Wahl lassen! Du hast mich vor vollendete Tatsachen gestellt, obwohl wir bereits die erste Wohnung zusammen besichtigt hatten! Plötzlich redest du von einer Pause und Abstand und …«

»Weil ich da realisiert habe, dass wir zurzeit völlig unterschiedliche Dinge wollen.«

»Du bist krankhaft fixiert auf die vermeintliche Verbindung zu deinem toten Vater und den Hass auf deine Mutter, weil sie mit dir nach Deutschland gezogen ist, weit weg von deinem Dad, wie du ihn immer nennst. Du verrennst dich total. Was erhoffst du dir denn davon, ihn auf dem Friedhof zu besuchen? Dass er aus seinem Grab zu dir spricht und dir die Selbsterkenntnis verschafft, die du von allein nicht findest?«

Diese letzten Sätze spuckte Sven förmlich aus. Die Verachtung in seiner Stimme schmerzte Rebecca wie ein Schlag in die Magengrube. Sven traf außerdem einen wunden Punkt: Sie wusste tatsächlich nicht ganz genau, was sie sich von New York und dem Praktikum erhoffte. Machte sie sich Illusionen? War das hier in Wirklichkeit ein irrer und teurer Selbstfindungstrip, mit dem sie ihre Beziehung in den Sand gesetzt und ihren Start ins Berufsleben vermasselt hatte? Doch selbst wenn das so war – sie konnte nicht anders.

»Ich habe weder Lust noch Energie, mich weiterhin permanent vor dir zu rechtfertigen«, sagte sie.

»Beccy, bitte …«

»Es tut mir leid, Sven.« Sie legte auf, ohne auf eine Antwort zu warten.

Das Handy noch in der Hand, starrte sie auf die Tür am anderen Ende des schlauchförmigen kleinen Zimmers. Minuten vergingen. Das Pochen hinter ihrer Stirn wurde stärker. Sie suchte in ihren Sachen nach einer Kopfschmerztablette und fand eine letzte, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte. Rebecca stand auf, ging in die Küche und füllte sich ein Glas mit Leitungswasser, um damit die Tablette runterzuspülen. Sie sah auf die Uhr an der Wand: Es war nach zehn. Jetzt noch das Interview vorzubereiten, hatte wenig Sinn. Sie würde morgen früher aufstehen.

 

Als am nächsten Morgen der Handywecker klingelte, bekam Rebecca nach den ersten wachen Sekunden einen Schreck und fluchte. Sie hatte vergessen, den Alarm vorzustellen! Nun würde sie es gerade so eben pünktlich zur Spielemesse schaffen, für die Recherche blieb ihr nur noch die Fahrtzeit dorthin.

 

Es dauerte fast eine Stunde, bis sie an dem Gebäude in Clinton in Manhattan angekommen war. Es glich einer riesigen Lagerhalle. Obwohl die Messe erst seit einer halben Stunde geöffnet war, strömten bereits Scharen von Besuchern mit Rebecca durch den Eingang. Einige von ihnen waren aufwendig kostümierte Cosplayer, bunt und kunstvoll bemalt als Drachen, Amazonen, Ritter und Schulmädchen. Rebecca bestaunte sie mit einer Mischung aus Faszination und Befremden und stellte erneut fest, dass sie keine Ahnung von der Gamerszene hatte. Seltsam, dass die Chefredakteurin von NYL überhaupt nicht nach ihrem Vorwissen zu dem Thema gefragt hatte.

Ebenso wunderte sich Rebecca, wie die Existenz der Zwillinge in den vergangenen Jahren an ihr hatte vorbeigehen können. Die gigantische Anzahl der Treffer nach dem Eingeben ihrer Namen in die Suchmaschine hatte sie überwältigt. In ihrer Zeitnot hatte Rebecca in der Subway versucht, sich zumindest die wichtigsten Fakten aus dem Wikipedia-Eintrag über die Frey-Brüder einzubläuen. Jetzt rief sie sich diese noch einmal ins Gedächtnis: Die zweieiigen achtundzwanzig Jahre alten Zwillinge hatten vor sieben Jahren mit Rising den großen Durchbruch geschafft und kurz darauf die Firma Freyzy Games gegründet. Teil 4 der seither beispiellos erfolgreichen Computerspielreihe war vor Kurzem auf den Markt gekommen. In der Kategorie »Privates« war zu lesen gewesen, dass die Brüder sporadisch modelten und immer wieder ganz vorn in irgendwelchen Rankings der heißesten Männer New Yorks auftauchten.

Mal sehen, ob die beiden wirklich so attraktiv waren. Rebecca stand normalerweise nicht auf solche makellosen Modeltypen. Neugierig war sie dennoch, zugegeben. Aufgemerkt hatte sie beim Lesen des Artikels aber vor allem an der Stelle, als es um die Kindheit von Alex und Jeremy ging. Als die Brüder vierzehn Jahren alt waren, starben ihre Eltern bei einem Autounfall. Die Zwillinge lebten in den darauffolgenden Jahren in einem Internat in der Nähe von Boston und zogen dann zum Informatikstudium nach New York.

Rebecca seufzte. Das war’s, mehr wusste sie nicht – keine ideale Basis für ein Interview. Aber sie würde die beiden einfach bitten, über den neuen Teil von Rising und über ihre aktuellen Projekte und Zukunftspläne zu sprechen. So würde sich schon irgendwie ein Gespräch ergeben.

An der Kasse stellte Rebecca sich als Mitarbeiterin von New York Life vor, woraufhin der Messeangestellte ihr einen Presseausweis gab und sie in den Seitentrakt des Gebäudes schickte.

Rebecca ging einen neonbeleuchteten Flur entlang, in dem es nach Plastik und Elektronik roch. Schließlich gelangte sie an eine Tür, an der ein Zettel mit dem Aufdruck »Staff« hing. Rebecca zögerte und sah auf ihr Handy. Sie war wenige Minuten zu früh. Von drinnen hörte sie eine Männerstimme. Sie beschloss zu warten und postierte sich ein paar Meter entfernt von dem Zimmer.

Die Pause gab ihr die Gelegenheit, kurz durchzuatmen. Das Kopfweh von gestern war zum Glück weg, aber das Gespräch mit Sven steckte ihr noch in den Knochen. War es zu hart von ihr gewesen, so abrupt aufzulegen? Sie hatte einfach nicht mehr gekonnt. Diese immer wiederkehrende Diskussion laugte sie aus. Zudem hatte sie das Gefühl, sich mit jeder Wiederholung ein Stück mehr von Sven zu entfernen.

Anfangs hatte sie noch gehofft, dass sie nach den drei Monaten in New York vielleicht einen Neuanfang mit Sven wagen könnte. Doch inzwischen erschien ihr diese Vorstellung immer unwahrscheinlicher. Eines hatte sie schon jetzt erreicht: Nach New York würde alles anders werden. Sie wusste nur noch nicht, ob hin zum Positiven.

Die Tür des »Staff«-Zimmers ging schwungvoll auf, und eine Frau Ende zwanzig mit knallrot geschminkten Lippen und großen Augen riss Rebecca aus ihren Gedanken. Sie stöckelte in den Flur, lächelte dieses breite amerikanische Zähne-samt-Zahnfleisch-Lächeln und gab ein gedehntes »Hi!« von sich.

»Hey«, grüßte Rebecca zurück.

»Bist du wegen Alex und Jeremy hier?«

»Ja.«

Die Frau fuhr sich durch die langen wasserstoffgebleichten Haare und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Tiffany. Es freut mich wahnsinnig, dich kennenzulernen.«

»Rebecca.«

Etwas an Tiffany behagte ihr nicht. Alles schien eine Schicht zu dick aufgetragen: sowohl das Make-up als auch die Freundlichkeit.

»Von welchem Medium kommst du?«, fragte Tiffany.

»NYL.«

»Wie cool! Ich schreibe für NYpeople – wir sind Kolleginnen!«

Oh Gott, sind wir das?, fuhr es Rebecca durch den Kopf. NYpeople war eines jener Onlineportale, dessen Recherchearbeit aus dem fantasievollen Interpretieren von Paparazzifotos bestand. Dagegen war selbst New York Life seriöser Journalismus.

»Dein erstes Mal mit Alex und Jeremy?«, fragte Tiffany augenzwinkernd.

»Äh, ja.«

Tiffany beugte sich nach vorn und flüsterte in Rebeccas Ohr: »Die sind so heiß. Ich würde keinen von beiden von der Bettkante stoßen.«

Darauf fiel Rebecca keine Reaktion ein, und sie gab ein verlegenes »Hm« von sich.

»Viel Spaß«, hauchte Tiffany und rauschte davon.

 

Rebecca trat in den Raum. Es war ein fensterloses Zimmer mit weiß gestrichenen Wänden und der gleichen unbarmherzigen Neonbeleuchtung wie im Flur. Auf dem einzigen richtigen Möbelstück, einem mit weißem Stoff überzogenen Sofa, saßen die Zwillinge. Wenn nicht schon eine brummende Klimaanlage für frostige Temperaturen in dem Raum gesorgt hätte, dann hätten Alex und Jeremy das erledigt. Sie lungerten mit derart lustlosen Mienen nebeneinander auf den Polstern herum, dass Rebecca am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht hätte. Was die Brüder vermutlich nicht einmal bemerkt hätten, da sie beide auf ihre Smartphones starrten.

Das verschaffte Rebecca einen Moment, um die Zwillinge zu betrachten. Wenigstens wusste sie, wer von den Brüdern wer war. Sie hatten beide dunkle Haare und dunkle Augen, doch ansonsten unterschieden sie sich voneinander. Alex hatte seine kinnlangen schwarzen Haare zusammengebunden, was seine hohen Wangenknochen zur Geltung kommen ließ. Jeremys Gesicht war runder, und seine dunkelbraunen gewellten Haare waren zu einer dieser modisch-verwuschelten Frisuren gestylt. Beide trugen abgewetzte Jeans, Chucks und T-Shirts, unter denen sich durch vermutlich intensives Fitnesstraining wohldefinierte Oberarme und Schultern abzeichneten. Sie wirkten, wie Rebecca sich zwei Models bei einem Fotoshooting oder zwei Schauspielstars in einer Drehpause vorstellte: sehr gut aussehend und völlig unnahbar.

»Hi«, sagte sie und ärgerte sich über ihre leicht brüchige Stimme.

Beide sahen auf und beäugten sie mit routiniertem Blick von Kopf bis Fuß.

»Hi«, sagte Jeremy.

Alex nickte nur.

»Ich bin Rebecca Westkamp von New York Life.«

Die Brüder wechselten einen wenig erfreuten Blick.

»Ich brauch jetzt erst mal Kaffee«, sagte Jeremy.

Er wählte eine Nummer auf seinem Smartphone. Offenbar nahm die angerufene Person postwendend ab, denn er sagte zwei Sekunden später: »Hey, Lumen, wärst du so lieb und würdest uns Kaffee vorbeibringen? Ich weiß sonst nicht, wie wir die nächste Stunde überstehen sollen. Danke!«

Du bist ja charmant, schoss es Rebecca durch den Kopf, während sie auf dem Klappstuhl gegenüber den Zwillingen Platz nahm. Er war so unbequem, wie er aussah, und sie fühlte sich wie in einer extrem unangenehmen mündlichen Prüfung. Sie räusperte sich.

»Danke zunächst für das Interview. Ich …«

Sie wurde von einer jungen Frau mit kurzen schwarzen Haaren, Skinny Jeans und zwei Pappbechern in den Händen unterbrochen. Ihr Auftauchen zauberte den Brüdern ein Lächeln ins Gesicht.

»Du bist ein Schatz, Lumen«, flötete Jeremy. Besagte Lumen strahlte ihn an und streckte den beiden die Becher entgegen.

»Danke, Lumen«, sagte auch Alex lächelnd.

»Sehr gern«, antwortete Lumen, warf Rebecca einen Seitenblick zu und verließ geschäftigen Schrittes das Zimmer. Leise schloss sie hinter sich die Tür.

»Also, jedenfalls würde ich gern mit euch über den neuen Teil von Rising sprechen«, fuhr Rebecca fort.

Alex’ Handy vibrierte. Er wischte mit dem Daumen auf dem Display herum und vertiefte sich erneut in was auch immer. Jeremy trank einen Schluck aus dem Pappbecher.

»Was willst du denn wissen?«, fragte er.

Rebecca fischte Schreibblock und Kugelschreiber aus ihrer Tasche, doch Jeremy kam ihr zuvor: »Kennst du Rising?«

Alex blickte von seinem Handy auf und sah sie an. Rebecca hoffte, dass sie nicht rot wurde.

»Ja, klar«, antwortete sie leichthin.

Jeremy schenkte ihr ein Lächeln. »Cool! Spielst du?«

»Äh, ja, ab und an.«

»PC oder Konsole?«

»Playstation.« Sie wurde immer nervöser.

»Hast du in Rising 3 die Inseln im Säuremeer geschafft?«, bohrte Jeremy weiter.

»Klar«, entfuhr es Rebecca.

»Wow, nicht schlecht. Dann verstehst du bestimmt auch die Botschaft von Rising.«

»Könntest du die etwas genauer erklären?«, fragte Rebecca hoffnungsvoll.

»Logisch«, antwortete Jeremy, während Alex sich wieder seinem Smartphone widmete. »Also, die Inseln symbolisieren eine freie, demokratische Welt. Um sie zu erreichen, muss man durchs Säuremeer. Und tja, du weißt ja selbst, das hat es in sich.«

Rebecca schrieb eifrig mit. Das lief doch gar nicht so schlecht.

»Macht ihr mit Rising denn bewusst auch eine politische Aussage?«, fragte sie.

»Absolut.« Jeremy nickte eifrig. »Wir bauen oft Analogien zu politischen Ereignissen und Entwicklungen ein. Die Feuermauer in Teil 2 zum Beispiel symbolisiert die Berliner Mauer.«

Jeremy taute während des Erzählens zusehends auf. Rebecca begann, sich ein wenig zu entspannen. Das Gespräch gestaltete sich überraschend interessant.

»Und was wollt ihr mit solchen Analogien ausdrücken?«, fragte sie.

»Kernelement ist immer der Aufstand der Unterdrückten. Deshalb auch der Name Rising.«

Rebecca schrieb hektisch mit. Als sie den Kopf hob, um die nächste Frage zu stellen, bemerkte sie ein leichtes Grinsen, das um Alex’ Mundwinkel spielte. Jeremy hingegen guckte sie mit großen unschuldigen Teddybäraugen an. Sie stutzte. Etwas stimmte nicht. Jeremy hatte ein wenig zu schnell von genervt auf freundlich umgeschaltet. Hatte er etwa … Rebecca sah von einem Zwilling zum anderen. Schlagartig wurde ihr heiß, als sie realisierte, dass sie geradewegs in eine Falle getappt war.

»Es gibt keine Inseln im Säuremeer, oder?«, fragte sie und fügte hinzu: »Und auch keine Feuermauer.«

Die Zwillinge tauschten einen Blick, und Jeremys harmlose Miene verwandelte sich in ein breites Grinsen. Rebecca wäre am liebsten im Boden versunken. Nun blieb ihr nichts anderes übrig als schonungslose Offenheit.

»Okay, sorry, erwischt. Ich kenne Rising ziemlich genau seit gestern Abend«, sagte sie.

Alex und Jeremy reagierten auf ihr Geständnis mit leeren Blicken.

»Aber lass mich raten: Du würdest ohnehin lieber etwas über unsere letzten Dates erfahren?«, bot Jeremy an.

»Nein … Also nicht primär. Vielleicht hätte ich im Laufe des Gesprächs danach gefragt«, stammelte Rebecca. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so unwohl gefühlt hatte. »Hört zu«, begann sie. »Ich weiß zwar nicht besonders viel über die Gamerszene, aber ich würde wirklich gern mit euch über Rising sprechen. Zum Beispiel über eure Pläne, nachdem nun Teil 4 auf dem Markt ist.«

»Mein Plan ist, das hier durchzustehen und danach einen guten Tag zu haben«, sagte Jeremy. Er wandte sich seinem Bruder zu und fragte ihn: »Du kommst heute Abend mit zu Kim, oder?«

»Denke schon«, antwortete Alex.

Rebecca guckte von einem Zwilling zum anderen und überlegte fieberhaft, wie sie das Interview noch retten konnte. Doch Jeremy ließ ihr keine Chance.

»Wir haben jetzt leider keine Zeit mehr für NYL«, sagte er.

Rebecca gab auf. Resigniert verstaute sie Stift und Block in ihrer Tasche.

Doch während sie aus dem Stuhl aufstand und zur Tür steuerte, um den Rückzug anzutreten, machte ihre Verlegenheit brodelndem Ärger Platz. Vielleicht war es auch die Kombination aus der Diskussion mit Sven gestern Abend – plötzlich kochte Wut in ihr hoch. Sie blieb stehen und drehte sich um.

»Wisst ihr, ich kann verstehen, dass das von mir gerade keine Glanzleistung war und es euch nervt, wenn Journalisten schlecht vorbereitet sind«, sprudelte es aus ihr heraus. »Aber müsst ihr deshalb so verdammt unfreundlich sein?« Alex legte zum ersten Mal seit Gesprächsbeginn sein Smartphone aus der Hand und schien ihr jetzt seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Jeremy musterte sie mit einem spöttischen Grinsen. Sie spürte, dass sie sich in Rage redete. »Ich meine, wir sind so gut wie gleich alt, wir schauen vermutlich dieselben Fernsehserien und leben in derselben Stadt. Liegen so große Welten zwischen uns, dass wir uns nicht mal normal unterhalten können?« Sie konnte und wollte die Brüder nicht mehr anschauen und sagte nur noch: »Alles Gute mit eurem Spiel!« Dann flüchtete sie aus dem Zimmer.

Die Sonne schien, als sie aus dem Messegebäude trat. Rebecca blieb einen Moment lang stehen und sog die erstaunlich milde Luft ein. Zwei Cosplayer rempelten sie an. Sie setzte sich auf eine Steinmauer am Wegrand.

Es war ihr unglaublich peinlich, wie leicht Jeremy sie aufs Glatteis hatte führen können. Was für ein Desaster. Aber genauso: was für arrogante Idioten! Wie sollte sie das bloß in der Redaktion erklären? Sie hatte nichts, nicht ein einziges brauchbares Zitat. Man gab ihr zum ersten Mal eine größere Aufgabe – und sie vermasselte alles. Wahrscheinlich würde sie von nun an für den Rest des Praktikums Bildunterschriften texten. Wenn überhaupt.

 

Mit einem mulmigen Gefühl betrat sie eine halbe Stunde später das Verlagsgebäude in Chelsea. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock und schlich möglichst unauffällig am Büro der Chefredakteurin Sarah Edwards vorbei. Sie wollte zuerst mit ihrer Kollegin Danielle sprechen, um in Erfahrung zu bringen, welche Reaktion sie bei Sarah nach dem verpatzten Artikel erwartete.

Der Hauptteil der Redaktion von NYL war in einem Großraumbüro untergebracht. Dünne graue Trennwände schufen einzelne kleine Arbeitskabinen. Eine Lärmkulisse aus Telefongesprächen, Plaudereien und dem Klacken von Tastaturen erfüllte den Raum. Rebeccas Schreibtisch stand neben dem von Danielle, der Schlussredakteurin von NYL. Mit ihr und dem Grafiker Lucas verbrachte Rebecca die Mittags- und auch die ein oder andere Kaffeepause. Die beiden hatten sie an ihrem ersten Praktikumstag zum Lunch ins Café mitgenommen und seither wie selbstverständlich integriert. So viel unkomplizierte Herzlichkeit und Begeisterung waren Rebecca in Deutschland bisher selten begegnet. Sie beobachtete bereits an sich selbst, mit welcher Häufigkeit sie plötzlich die Adjektive »fantastic«, »great« und »awesome« verwendete.

Dennoch fragte sie sich, ob ihr diese enthusiastischen Vibes mit der Zeit auf die Nerven gehen würden. Bisher fand sie es charmant, wenn der Busfahrer sie »Honey« nannte. Aber wäre das auch an einem dieser Tage der Fall, an denen sie am liebsten unsichtbar wäre?

Danielle blickte von ihrem Bildschirm auf. »Hey, Beccy!«, rief sie strahlend. »Wie geht’s dir? Wie lief das Interview?«

Rebecca setzte sich auf den Bürostuhl und rollte an Danielles Platz heran. »Es war eine Katastrophe«, raunte sie.

Danielle machte ein ungläubiges Gesicht. »Ach komm, sei nicht so kritisch. So schlimm wird es schon nicht sein, wenn du es erst mal geschrieben hast.«

»Das ist das Problem, Danielle. Es gibt nichts zu schreiben, weil es kein Interview gibt. Ich bin gegangen, weil es unmöglich war, mit den beiden zu reden.«

Danielle zog die Augenbrauen hoch und zischte: »Shit.« Trotzdem schien sie nicht sonderlich überrascht zu sein.

»Die hatten absolut keine Lust auf das Interview und haben mir keine Chance gegeben.« Rebecca beschloss, den Teil mit den Säureinseln wegzulassen. »Meinst du, ich bekomme großen Ärger?«

»Sarah wird nicht begeistert sein. Aber soweit ich das vorhin beim Überblick über die Heftstruktur gesehen habe, war das Interview noch gar nicht fest eingeplant.«

»Warum das denn?«

Danielles Blick wanderte kurz zur Decke, als würde sie über eine Antwort nachdenken. »Die Frey-Zwillinge sind generelle Risikokandidaten«, sagte sie schließlich. »Du bist nicht die Erste, die Probleme mit ihnen hat.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, die beiden gelten allgemein als ein bisschen schwierig … Warte mal, ich ruf Lucas an. Der weiß darüber mehr. Er bezeichnet sich gern als Rising-Spieler der ersten Stunde.«

Danielle wählte Lucas’ Nummer. »Hi, hast du kurz Zeit, um uns zu besuchen? Super! Bis gleich.«

Weniger als eine Minute später eilte Lucas heran, als hätte er nur auf eine Ablenkung gewartet. »Hallo, die Damen. Was gibt’s?«, grüßte er.

Lucas war ein netter Kerl, der gerade mit seiner Rolle als frisch gebackener Vater und den ersten grauen Haaren zu kämpfen hatte. Ein Fleck zierte die linke Schulter seines Hemds, vermutlich Babybrei oder etwas noch weniger Appetitliches.

»Rebeccas Interview mit den Freys ist geplatzt«, berichtete Danielle. »Die Herren waren nicht in Plauderlaune.«

Lucas seufzte und nestelte an seiner Brille, bevor er fragte: »Jeremy, stimmt’s?«

»Ja!«, rief Rebecca. »Alex hat kein einziges Wort gesagt.«

Lucas nickte wissend. »Der ist bei Presseterminen oft gar nicht dabei. Jeremy ist die Rampensau. Er kann richtig lustig sein, aber auch ein ziemliches Arschloch. Heute ist dir wohl letztere Variante begegnet.«

»Wieso habt ihr mich denn nicht vorgewarnt?«, fragte Rebecca. »Und überhaupt: Wenn die zwei so schwierig sind, warum setzt NYL dann mich als Praktikantin auf sie an?« Danielle und Lucas tauschten einen Blick – und Rebecca zählte eins und eins zusammen. »Sarah hat damit gerechnet, dass es schiefläuft, und hat deshalb mich hingeschickt«, stellte sie ernüchtert fest. Der Tag wurde immer besser. Sie kam sich vor wie die letzte Idiotin.

Danielle wand sich auf ihrem Bürostuhl. »Es war nicht auszuschließen«, antwortete sie. »Aber es hätte ja auch mal anders laufen können. Ich wollte dich nicht vorher schon nervös machen.«

»Eine Warnung wäre mir trotzdem lieber gewesen.«

»Ist schon schade, dass die sich so aufführen. Die sind beide alles andere als blöd, sonst hätten sie nicht dieses fantastische Spiel erfunden«, sagte Lucas. »Wenn sie wollten, hätten sie einiges zu erzählen. Das heben sie sich in der Regel aber für ausgewählte Computermagazine auf.« Er kratzte sich am Hinterkopf und rief dann: »Hey, google mal ›Jeremy Frey ruiniert Interview‹! Das wird dich trösten.«

Rebecca loggte sich am Computer ein, Lucas und Danielle traten hinter sie. Sie tippte den Satz in die Suchmaschine ein und öffnete den gleichnamigen Link.

Das Video zeigte einen Ausschnitt aus einem Interview, bei dem Jeremy schräg von der Seite gefilmt wurde. Er lungerte in einem Stuhl mit Armlehnen und trug die gleiche leicht spöttische Miene zur Schau wie gegenüber Rebecca. So lauschte er der Frage, die der Journalist, ein Mann mittleren Alters im grauen Anzug, mit monotoner Stimme von einem Blatt Papier ablas: »Wie stehen Sie zu den Vorwürfen, dass Computerspiele aufgrund unterschwelliger Botschaften zu einer Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen führen?«

Jeremy schoss blitzschnell vor und schnappte sich das Blatt. Der Interviewer guckte erst verdattert, dann griff er danach. Jeremy streckte seinen Arm nach hinten, sodass der Journalist das Papier nicht zu fassen bekam. Der Mann lachte verlegen und beugte sich vor. Jeremy grinste, drehte sich zur Seite, zerriss – ratsch – das Papier und ließ die Fetzen auf den Boden segeln.

»Jeremy! Nein!«, rief der Interviewer.

Jeremy setzte sich aufrecht hin, lächelte freundlich und fragte: »Entschuldigen Sie, könnten Sie die Frage bitte wiederholen?«

Das Video endete mit dem Gestammel des Journalisten.

»Wenn Sarah meckert, dann zeige ihr dieses Video«, sagte Danielle. »Und du hast dich sicher geschickter angestellt als dieser komische Anzugträger.«

Rebecca ließ den letzten Satz unkommentiert. Sie wollte den Tag nur noch hinter sich bringen und nicht mehr an diese zwei Typen denken.

2. Alex

Die Glasschiebetür öffnete sich, und Alex trat in die Eingangshalle des Freyzy-Games-Gebäudes. Der Brownstone-Bau mit dem nüchtern designten Firmenschriftzug und den großen Fenstern befand sich im Stadtteil NoHo, Lower Manhattan, sodass Jeremy und er von ihrem Apartment im East Village zu Fuß zur Arbeit gehen konnten.

Alex fröstelte, als ihm die kühle Luft der Klimaanlage entgegenschlug. Für Anfang September war es draußen ungewöhnlich warm. Kyle, der am Empfang saß, sprang auf, als er ihn sah.

»Wie lief es?«, fragte er und zog sich das Headset vom Kopf.

»Ganz gut«, antwortete Alex.

»Ist Jeremy noch auf der Con?«

»Ja. Ich wollte noch ein paar Sachen im Büro erledigen«, sagte Alex. Dabei wusste er eigentlich gar nicht, was. Er hatte lediglich das Bedürfnis verspürt, dem Trubel auf der Games Convention zu entkommen. Sie hatten den neuen Rising-Teil in der vergangenen Woche bereits mit einer firmeneigenen pompösen Show gefeiert. Doch natürlich hatten sie trotzdem einen Freyzy-Games-Bereich auf der Con und gaben Interviews. Die meisten ihrer Mitarbeiter hingen auch gerade dort rum. Insgeheim freute Alex sich darauf, wenn das Aufhebens, das sie um den Release von Rising 4 veranstalteten, vorbei war und sie normal weiterarbeiten konnten.

»Cool«, kommentierte Kyle und grinste ihn an.

Alex lächelte zurück und zog seine Chipkarte durch eines der Lesegeräte vor den Drehkreuzen. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf, und er ging hindurch. Mit dem Lift fuhr er in das zwölfte, oberste Stockwerk, wo sich das Büro der Brüder und die Arbeitsräume der Entwickler befanden.

Nach zwei Etagen stoppte der Fahrstuhl, und eine junge Frau mit Pagenschnitt und Nerdbrille trat hinein. Als sie Alex sah, zuckte sie zusammen, um ihn gleich darauf anzustrahlen.

»Hi, Alex«, grüßte sie und drückte den Knopf für das elfte Stockwerk.

»Hey«, entgegnete Alex freundlich. Fieberhaft überlegte er, wer die Frau war. Das Schlimme: Sie kam ihm gänzlich unbekannt vor. Doch es handelte sich offensichtlich um eine Mitarbeiterin von Freyzy Games, und das bedeutete, dass er sie kennen musste. Jeremy oder er sprachen grundsätzlich im Laufe des Bewerbungsprozesses mit den Kandidaten. Und an einem der ersten Arbeitstage hießen sie neue Angestellte persönlich in der Firma willkommen. Also war bei dieser Mitarbeiterin entweder etwas schiefgelaufen, oder er hatte sich ihr Gesicht nicht gemerkt. Vor allem letztere Möglichkeit gefiel ihm nicht. War er dabei, den Überblick über ihr Unternehmen zu verlieren? Entfernte er sich von seinem Team, ohne es zu merken? Dabei war es doch genau das, was Jeremy und ihm von Anfang an so wichtig gewesen war: Sie wollten nicht irgendwelche abgehobenen Firmenbosse werden, die ihre Angestellten wie anonymes Fußvolk behandelten. Bei Freyzy Games sollte wirklich jeder Einzelne zählen.

Plötzlich kehrte ein Erinnerungsfetzen zurück. Im Q-A-Support hatten sie neulich mehrere Leute eingestellt. Vielleicht war sie eine davon?

Er fragte vorsichtig: »Wie geht’s?« Falls sie doch schon länger bei Freyzy Games arbeitete, wäre die Frage »Wie gefällt es dir bei uns?« unpassend gewesen.

»Super!«, antwortete die Frau. »Ich bin so happy, hier zu arbeiten.«

Okay, das klang, als sei sie tatsächlich neu. Eventuell konnte er ihre Abteilung herausfinden.

»Freut mich«, sagte er. »Das heißt, die Arbeit macht dir Spaß?«

»Oh ja, total!«

»Cool. Und das Team ist auch okay?«

»Das Team ist fantastisch.«

Das hatte nicht funktioniert. Alex lächelte noch einmal freundlich, als die Frau im elften Stock ausstieg, und wünschte ihr weiterhin viel Spaß.

Eine Etage weiter oben ging er den lichtdurchfluteten Flur entlang. Die Wände der meisten Arbeitsräume waren aus Glas und gaben den Blick ins Innere frei: Zwischen Palmen und Hängematten standen lebensgroße Videospielfiguren aus Plastik. Junge Männer und Frauen fläzten mit Notebooks auf dem Schoß in Hängematten oder saßen mit Kopfhörern an riesigen Schreibtischen vor Monitoren. Aus ein paar Zimmern drang leise Musik, dennoch war es wegen der Con heute ungewöhnlich ruhig auf dem Gang.

In Jeremys und seinem Büro rief Alex an einem der Computer als Erstes die Teamseite im Firmenintranet auf.

Er scrollte runter zum Q-A-Support, doch auf keinem der Mitarbeiterfotos war die junge Frau aus dem Fahrstuhl zu sehen. Alex überlegte gerade, ob er sämtliche Bilder durchforsten sollte, als der Computer einen Signalton von sich gab und gleichzeitig das Smartphone vibrierte. Einer der Alerts, die sie vor einiger Zeit auf ihre Namen eingerichtet hatten, meldete sich. Die Dienste durchforsteten das Netz und benachrichtigten sie, wenn neue Fotos oder Artikel über sie online gingen. So hatten Jeremy und er ein Minimum an Kontrolle, oder zumindest redeten sie sich das ein.

Alex mochte es nicht, die Internetlinks zu öffnen, die meistens zu Klatschportalen und wesentlich seltener zu Postings in Gamerforen oder Artikeln in Fachmagazinen führten. Heute war das wegen der Con anders, und der erste Link führte in ein Forum. Ein Teenie hatte ein Selfie gepostet, das ihn und den breit grinsenden Jeremy vor einem Rising-Aufsteller zeigte, und darunter geschrieben:

 

Mit Jeremy-fucking-Frey himself. Bester Tag meines Lebens.

 

Schmunzelnd überflog Alex die anderen Links, die auf die Websites diverser Gamermagazine und -portale führten. Rising 4 wurde euphorisch gefeiert. Alex stellte befremdet fest, dass er sich über die jubelnden Kritiken nicht richtig freute. Der Erfolg von Rising war zur Norm geworden. Es hätte ihn vermutlich tangiert, wenn er ausgeblieben wäre. Aber so war es einfach nur das erwartete Fortlaufen einer Kurve. Nach oben gab es nicht mehr viel Luft, nach unten war alles möglich.

Der letzte Link führte auf die Website von NYpeople. Alex schauderte, als er an die Begegnung am Morgen mit der ihnen wohlbekannten Klatschreporterin Tiffany Nicholson dachte, der Jeremy den Spitznamen Miss Piggy verpasst hatte. Es war ein Riesenfehler gewesen, sich bei den heutigen Interviews nicht auf die Fachpresse beschränkt zu haben. Widerwillig klickte er den Link an und landete bei einem Foto von Jeremy und dem Model Judy Harper, Arm in Arm. Es musste auf einer Filmpremierenfeier gemacht worden sein, da auf der Wand hinter ihnen die Schriftzüge eines Studios abgedruckt waren. Jeremy guckte mehr oder weniger neutral in die Kamera, Judy hatte ihren blasiert-leeren Modelblick aufgesetzt. Gott, wie diese Frau Alex langweilte.

Neben dem Bild stand ein kurzer Text:

Ist Jeremy Frey wieder Single?