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Zum Buch:

Salvatore ist anders. Immer wieder überkommen ihn Zuckungen, er bewegt sich unkoordiniert und ruckartig. Kontrollieren kann er das nicht, denn er leidet unter der seltenen Krankheit Myoklonische Dystonie. Mobbing und ein Außenseiterdasein, Alkoholkonsum und die Frage nach dem Wert seines Lebens prägten die Jugendjahre.

Heute ist Salvatore Vater einer kleinen Tochter. Er möchte mit seiner positiven Einstellung anderen Mut machen und die Öffentlichkeit sensibilisieren – weil Anderssein keine Bürde sein muss. Im Gespräch mit Markus Lobis erzählen Salvatore, seine Eltern, seine Lebenspartnerin und sein Neurologe von seinem Weg in ein selbstbestimmtes Leben.

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Salvatore
Caruso

Warum ich
zum Biertrinken
einen Strohhalm
brauche

Gespräche mit
Markus Lobis

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Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

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Ein Dank geht an Frau Dr.in Petra Reinstadler (Bozen) und Herrn
Dr. med. Stefan Obradovic (Bayreuth), die die Übersetzung des
Gesprächs mit Dr. Parmeggiani fachkundig begleitet haben.

© Edition Raetia, Bozen, 2018

Projektleitung: Magdalena Grüner, Edition Raetia

Lektorat: Verena Zankl

Korrektur: Helene Dorner

Fotos Umschlag und S. 1: Georg Hofer (www.georghofer.com)

Umschlaggestaltung: Philipp Putzer (www.farbfabrik.it)

Layout und Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

Druck: Tezzele by Esperia, Bozen

ISBN 978-88-7283-637-8

ISBN E-Book 978-88-7283-678-1

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com.

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com.

Inhalt

Vorwort

Salvatore

Maria, die Mutter

Dr. Parmeggiani, der Arzt

Francesco, der Vater

Eva, die Lebenspartnerin

Die Autoren

Vorwort

Salvatore Caruso kenne ich von einem Projekt der Bürgerliste Natz- Schabs. Irgendwann im Frühjahr 2015 – ich war mit einer Kampagne für die Bürgerliste beauftragt worden – wollten wir einen Fototermin für die bevorstehenden Gemeinderatswahlen durchziehen: Alle Kandidaten waren beim Viumser Kirchl versammelt und Fotograf Georg Hofer lichtete sie für Porträtfotos ab.

Da kam einer an die Reihe, bei dem der flotte Arbeitsfluss etwas in Stocken geriet: Salvatore Caruso. Der sympathische junge Mann nahm auf der Bank Platz und kam nicht zur Ruhe. Er wurde immer wieder von heftigen Zuckungen durchgebeutelt. Wenn er aufgeregt sei, sei das besonders heftig, meinte er lachend, und fotografiert würde er nicht alle Tage. Wir unterhielten uns über diese Zuckungen und Salvatore sprach von einem Tick, den er nur schwer kontrollieren konnte und der ihn in außergewöhnlichen Situationen besonders plagte.

Cool, dass dieser junge Mann für den Gemeinderat kandidiert, dachte ich bei mir und verlor ihn dann wieder aus den Augen. Zwei Jahre später langte eines Tages eine E-Mail bei mir ein: Salvatore bat um ein Gespräch. Er möchte seine Geschichte zu einem Buch verarbeiten. Bald darauf trafen wir uns zu einem ersten Gespräch und Salvatore erläuterte mir seine Beweggründe: Er habe wegen seiner Zuckungen vor allem in der Jugendzeit viel durchgemacht und möchte nun dafür plädieren, mehr Sensibilität gegenüber Menschen aufzubringen, die anders sind – was immer auch die Ursache dafür sei. Weil er sein Leben trotzdem gut und selbstbestimmt gestaltet, möchte er anderen Menschen Mut machen, die den Eindruck haben, durch ein besonderes Schicksal, durch Einschränkungen oder Eigenheiten an den Rand der Gesellschaft gestellt zu werden.

Die Geschichte hat mich fasziniert und wir haben gemeinsam beschlossen, einen Anlauf für ein Buchprojekt zu nehmen. In der Edition Raetia fanden wir einen interessierten und sehr professionellen Partner und im Dialog mit der Verlagsleitung entstand die Idee, ein Buch zu schreiben, das hauptsächlich auf Gesprächen mit Salvatore und Menschen aus seinem nahen Umfeld besteht.

Schon bald führten wir die ersten Interviews. Nach einigen Vorgesprächen folgten im Sommer 2017 drei lange Sitzungen mit Salvatore, die hier im Buch zu einem Text zusammengeführt wurden. Die anderen Interviews mit Salvatores Eltern Maria und Francesco, seiner Lebenspartnerin Eva und seinem Neurologen Dr. Lucio Parmeggiani entstanden zwischen Herbst 2017 und Frühjahr 2018.

Ich freue mich sehr, dass nun dieses Buch vorliegt, und hoffe, dass es die Ziele erreichen kann, die Salvatore Caruso vorgegeben hat: mehr Sensibilität quer durch unsere Gesellschaft für Menschen, die sich mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sehen, und ein selbstverständlicher und inkludierender Umgang mit ihnen. Darüber hinaus ist es Salvatore ein Anliegen, Menschen nahe zu sein, denen bewusst ist oder wird, dass sie einen eigenen Weg zu gehen haben. Möge ihnen die Lektüre dieses Buches Ermutigung und Kraftquelle sein!

Für mich persönlich war die Arbeit mit Salvatore Caruso äußerst lehrreich und interessant und ich habe einige wichtige Erkenntnisse daraus gewonnen: Ich schaue nun genauer hin, wenn ich Menschen begegne, die in irgendeiner Weise anders sind, und gehe unverkrampfter, selbstverständlicher und offener auf sie zu.

Zusätzlich ist mir eine hoch spannende Facette unserer sich in revolutionärer Form ändernden Kommunikationskultur bewusst geworden. Das Internet, insbesondere Social Media haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass Salvatore trotz krasser Ausgrenzung und dadurch bedingter Abkapselung in seiner Jugendzeit einen Weg ins Leben gefunden hat. Beim Chatten konnte er seine Zuckungen und Bewegungsstörungen ganz einfach ausblenden, seinen Charme, seinen Humor und seine Offenheit ausspielen und interessante Kontakte anbahnen, ohne die Gesprächspartner durch seine Bewegungsstörungen zu irritieren. Dieser Aspekt kommt in den Gesprächen mit Salvatore und auch im Gespräch mit seiner Partnerin Eva sehr klar heraus.

Viele, die Salvatore erstmals begegnen, neigen dazu, wegen seiner Bewegungsstörungen falsche und völlig unbegründete Rückschlüsse auf seine geistige Verfassung zu ziehen. Darum weichen immer wieder Menschen der direkten Kontaktnahme aus. Das liegt auch daran, dass sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen: Sollen sie ihn bemitleiden? Sollen sie so tun, als zuckte er nicht? Können sie ihn fragen, warum er diese spontanen Bewegungsstörungen hat? Auch auf diese Fragen bietet dieses Buch Antworten oder zumindest Anhaltspunkte aus der Sicht des Betroffenen.

Eine dritte Erkenntnis, die ich aus diesem faszinierenden Projekt gewinnen durfte, ist vielleicht weniger eine Erkenntnis als vielmehr eine Bestätigung dessen, was jeder weiß: Die Liebe ist die größte Kraft, die auf uns Menschen wirken kann. Es waren und sind starke Frauen, die Salvatore mit ihrer Zuwendung und Liebe nach den niederschmetternden Erfahrungen in der Pubertäts- und Jugendzeit einen Weg ins Leben gewiesen haben. Sie haben ihm die Gewissheit gegeben, dass sein innerster Kern, seine Würde und seine Möglichkeiten, ein gutes Leben zu gestalten, durch die Myoklonische Dystonie zwar potenziell eingeschränkt erscheinen mögen, er sich aber trotzdem – oder gerade deshalb? – zu einer unverwechselbaren und attraktiven Persönlichkeit entwickelt hat, die selbstbestimmt und stark im Leben steht.

Markus Lobis

Salvatore

Wir treffen uns zum ersten Interview-Termin. Salvatore Caruso ist ein kräftig gebauter junger Mann. Er lässt sich seinen Bart stehen, einige Tattoos zieren seinen Körper, ein großes prangt auf seinem Arm: Eleonora, der Namen seines Töchterchens.

Salvatore wirkt freundlich und offen, seine Kleidung und sein Äußeres lassen auf seine Sympathie für die kubanische Revolution schließen. Ein Hauch Che Guevara umweht ihn. Ich habe einige Vorgespräche mit ihm geführt, wir haben uns schon etwas kennengelernt, aber auch ich muss mich daran gewöhnen, dass es ihn immer wieder urplötzlich durchschüttelt und ihm dann auch das Sprechen für einige Sekunden schwerfällt – manchmal mehr, manchmal weniger.

Es folgen weitere Interview-Termine und wir stellen uns bestens aufeinander ein. Salvatore ist meist fröhlich, es sprudelt nachgerade aus ihm heraus. Wenn er von den früheren Zeiten spricht, von der Verzweiflung, die ihn befallen hat, wenn er sich an den Rand gestellt fühlte, gehänselt wurde oder zum Gespött gemacht wurde, sieht man ihm an, wie stark ihn das belastet hat und wie stark das heute noch wirkt. Er bekommt dann auch häufiger und intensiver diese Zuckungen.

Aber der Reihe nach.

Ich heiße Salvatore Caruso und wurde am 20. Mai 1993 in Brixen geboren.

Daran schließt gleich meine erste Frage an: Kennst du Geschichten rund um deine Geburt? Woran kannst du dich erinnern?

Man hat mir erzählt, dass zu diesem Anlass alle meine Verwandten aus Napoli gekommen sind. Oma, Opa, Tanten – da muss schon was los gewesen sein bei uns! Sonst ist mir von der Zeit und den Ereignissen rund um meine Geburt nicht viel bekannt, ich denke, es war so wie bei den meisten Familien. Auch was meine Gesundheit betrifft, hat es zum Zeitpunkt der Geburt – und auch während der ersten Lebensmonate – keinerlei Auffälligkeiten gegeben.

„Ich muss ein sehr anstrengendes Kind gewesen sein.“

Mein Vater war damals schon ein paar Jahre als Carabiniere in Schabs stationiert, vorher war er in Palermo gewesen, mittlerweile ist er in Pension. Meine Mamma stammt auch von neapolitanischen Eltern ab, sie ist aber in Deutschland aufgewachsen, weil meine Großeltern aus Arbeitsgründen in die Stuttgarter Gegend gezogen waren. Der Nonno war Tischler, nach seiner Pensionierung ist er mit der Nonna wieder nach Neapel zurückgezogen. Die Nonna ist inzwischen gestorben.

Meine Eltern haben sich in Neapel kennengelernt, da war die Mamma noch sehr jung. Das war in Secondigliano, einem ziemlich wilden Viertel, das immer wieder in den Medien ist. Meine Eltern haben geheiratet, da war der Vater schon in Schabs stationiert, und dann haben sie in Raas gewohnt, wo ich die ersten drei Lebensjahre verbracht habe. Dann sind wir nach Schabs gezogen, in eine Wohnung, in der meine Eltern heute noch wohnen. Meine Mamma war nicht berufstätig und immer für mich da.

Hast du Erinnerungen an die Wohnung und an die Zeit in Raas?

Ja, ein paar Bilder tauchen noch auf, wenn ich an Raas denke. Wenn man am Haus vorbeifährt, sieht man ein kleines Denkmal, das sich auf Papst Benedikt bezieht, Joseph Ratzinger, dessen Mutter dort gelebt hat. Innen war alles ziemlich retro. Ich erinnere mich auch, dass wir da einen schönen Garten hatten.

Ich muss ein sehr anstrengendes Kind gewesen sein. Zumindest sagt die Mamma das immer. Ich habe viel geschrien, ich war ein Schreikind, zumindest bis zum Alter von sieben, acht Monaten. Wenn die Mamma meine Tochter sieht, sagt sie immer, ich sei das genaue Gegenteil gewesen.

Wie war es dann in Schabs?

An die erste Zeit kann ich mich nur recht wenig erinnern. Ab dem Kindergartenalter habe ich mehr Erinnerungen. Ich weiß noch, dass wir immer hinter dem Haus gespielt haben. Da waren ein großer Walnussbaum und zwei Bänke und ein Tisch aus Holz. Unter dem Haus war ein Spielplatz. Die Mamma hat mich auch oft nach Brixen gebracht, zum Spielplatz in der Mozartstraße. Dort, wo die alte Lokomotive stand, war ich sehr gerne. In Schabs habe ich viel alleine gespielt, meine Schwester ist fünf Jahre jünger als ich, und richtige Freunde zum Spielen habe ich erst ab der Volksschule gehabt. Wir hatten da keinen eigenen Garten, aber zwei Balkone, und die Mamma hat mir erzählt, dass es mir sehr gut gefallen hat, wenn sie dort ein kleines aufblasbares Planschbecken hingestellt hat, in dem ich immer gern gesessen bin. Die Nachbarn hatten wohl weniger Freude, wenn das Wasser zu ihnen hinunterrann, fürchte ich.

In der Zeit ist irgendwann jemandem – wahrscheinlich der Mamma oder beiden Elternteilen – aufgefallen, dass du fallweise ein eigenartiges Bewegungsverhalten zeigst.

Ja, ich war so 17, 18 Monate alt. Da hat es einen konkreten Vorfall gegeben: Wir waren in Deutschland zu Besuch bei meinen Großeltern. Meine Mamma hat mir erzählt, dass ich immer ziemlich aktiv und aufgeweckt war. Ich bin da in der Wohnung der Großeltern herumgesaust und über eine Wölbung im Teppich gestolpert. Im Hinfallen bin ich mit dem Gesicht voraus auf ein Möbel gestürzt und mit dem Auge an die spitze Ecke eines Schranks geprallt. Das hat eine große Platzwunde gegeben, überall war Blut. Wir mussten ins Krankenhaus zum Nähen. Es stellte sich dann heraus, dass ich großes Glück gehabt hatte. Die Ärzte meinten, ich hätte das Augenlicht verlieren können, es hätten nur Millimeter gefehlt.

Die Mamma sieht die Narbe heute noch, ich nicht. Meine Eltern sagen, dass ich seit diesem Zwischenfall angefangen hätte, schief zu gehen, dass ich dabei eine eigenartig schräge Haltung eingenommen hätte. Das war der Anfang. Ich hatte Schwierigkeiten beim Gehen, nach ein paar Schritten bin ich immer wieder aus dem Rhythmus geraten und manchmal auch hingefallen. Langsam haben sich auch die spontanen Zuckungen entwickelt und ich ertappe mich heute noch dabei, wie ich unbewusst Haltungen einnehme, die mich dabei unterstützen, meine Zuckungen zu kontrollieren oder deren Auswirkungen abzufedern. Meine Mutter weist mich manchmal darauf hin, dann denke ich mir: Stimmt. Aber das geschieht eben unbewusst. (Salvatore verschränkt die Arme und stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. Seine Schulter und sein Oberkörper neigen sich nach rechts, der Kopf auch.) So meine ich das, zum Beispiel. Ich habe passende Haltungen gefunden, um die Auswirkungen meiner Zuckungen etwas abzuschwächen.

Spürst du es schon vorher, wenn Zuckungen kommen?

Nein. Aber ich kann ziemlich genau abschätzen, unter welchen Umständen es dazu kommt, und richte mein Verhalten nach Möglichkeit danach aus.

Hat das orthopädische Ursachen?

Nein. Die Ärzte gingen immer davon aus, dass die Ursachen für mein Bewegungsverhalten und die Zuckungen mit den Hirnfunktionen zusammenhängen. Es gab auch einmal einen Verdacht auf einen Hirntumor, und dann stand noch eine andere Hypothese im Raum, eine Krankheit, deren Name mir jetzt gerade nicht einfällt. Es kam dann eine Zeit, in der ich viel in Kliniken und Ambulatorien unterwegs war, und mit zwei Jahren musste ich auch eine Computertomografie machen, da musste ich in den Tunnel.

„Ich bin mit dem Gesicht voraus auf ein Möbel gestürzt und mit dem Auge an die spitze Ecke eines Schranks geprallt.“

Wir fragen uns manchmal, ob der Sturz in der Wohnung der Großeltern der Auslöser für die Störungen und Zuckungen war oder ob es andere Ursachen dafür gibt. Fakt ist, dass die schräge Haltung und die Schwierigkeiten beim Gehen erst nach dem Sturz aufgefallen sind. Es könnte aber auch einfach mit dem Alter zusammenhängen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass bei mir immer wieder Stresszustände aufgetreten sind. Offensichtlich hatte ich nach dem Vorfall irgendwie Angst hinzufallen. Mein Vater hat ein richtiges Trainingsprogramm entwickelt, wir sind in die Tiefgarage und haben dort das Gehen geübt. Ich muss da wohl ungefähr drei Jahre alt gewesen sein. Warum wir in die Garage gingen, weiß ich nicht, vielleicht weil es dort einen ebenen Betonboden gibt. (Salvatore legt seinen rechten Unterarm auf den rechten Oberschenkel und stützt den linken Ellbogen auf dem Tisch auf, der Oberkörper neigt sich leicht nach vorne und nach rechts, zusammen mit dem Kopf.) Siehst du, das ist auch so etwas, bin ich jetzt schief?

Ja, du sitzt schief.

Das ist so eine Schutzhaltung. So kann ich die Auswirkungen der Zuckungen abmildern. Mein rechter Arm ist davon stärker betroffen als der linke. Das steht auch in den Berichten der Ärzte. Ich bin Linkshänder.

Du warst als Kind in vielen Krankenhäusern?

Ja. Wir waren in Brixen, Bozen, Neapel, Siena und Innsbruck. In Innsbruck ist das erste Mal der Begriff Myoklonie gefallen: Myoklonische Dystonie.

Das war die Diagnose in Innsbruck.

Ja, da muss ich zwischen zwei und drei Jahre alt gewesen sein. Ich habe mehr so einzelne Bilder im Kopf als konkrete Erinnerungen. Mir fällt beispielsweise eine Krankenschwester in Siena ein, die mir immer die Fantasmini geschenkt hat, das sind die Geisterfigürchen aus den Kinder-Überraschungseiern. Wenn ich zurückdenke, habe ich den Eindruck, immer wieder längere Zeit in den Kliniken gewesen zu sein. Aber wie lange das jeweils genau war, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es gar nicht so lange, wie es mir in der Rückschau vorkommt.

„Wenn ich vom Zahnarzt behandelt werden muss, brauche ich wegen meiner Zuckungen eine Vollnarkose.“

Welche Gefühle verbindest du mit den Krankenhäusern?

Natürlich bin ich froh, dass wir heute Zugang zu guten Krankenhäusern haben, aber ich mag Krankenhäuser generell nicht so gern, ich muss sogar sagen: Ich hasse sie regelrecht. Schon wenn ich den Geruch wahrnehme, fühle ich mich unwohl und sehe zu, dass ich so schnell wie möglich wieder rauskomme. Dasselbe gilt für Zahnarztpraxen. Wenn ich behandelt werden muss, brauche ich wegen meiner Zuckungen eine Vollnarkose.

Als ich in der zweiten oder dritten Mittelschule war, brauchte ich eine Zahnspange. Das war ein Riesenmanöver, mir die einzusetzen. Der Kieferorthopäde hat irgendwann die Geduld verloren, und ich weiß noch, wie meine Mutter in Tränen ausbrach und wie ich dann auch angefangen habe zu weinen. Wir wollten die Behandlung abbrechen, es ging hin und her. Heute denke ich, dass ich wegen der fehlenden Geduld des Kieferorthopäden extrem angespannt war und auch deshalb außergewöhnlich stark gezuckt habe. Das hat sich richtig hochgeschaukelt und ich weiß heute nicht mehr, wie es gelungen ist, mich dann doch so zu beruhigen, dass die Behandlung zu Ende geführt werden konnte. Ich weiß nur, dass das sehr viel Energie gekostet hat.

Hast du mittlerweile Methoden entwickelt, dich zu entspannen, um den Zuckungen entgegenzuwirken?

Es kann schon vorkommen, dass ich mal sage: Achtung, ich brauche jetzt ein paar Minuten zum Downcoolen, oder so ähnlich. Beim Einsetzen der Spange ist es zu hektisch zugegangen, das ist eskaliert. Ich fühlte mich gestresst und exponiert, und dann wurde es immer schlimmer. Heute bin ich viel ruhiger und spreche das mit den Menschen ab, die etwas an mir machen oder mit denen ich sonst irgendwie zusammenarbeite. Die wissen, dass eine ruhige Atmosphäre und eine offene Kommunikation das Beste ist. Ich kann heute sehr viel besser mit Situationen umgehen, die mich als Kind oder als Jugendlicher überfordert haben. Heute lege ich auch Wert darauf, mich mit Situationen zu konfrontieren, denen ich früher vielleicht ausgewichen wäre. Am liebsten ist es mir, wenn ich behandelt werde wie jeder andere, Sonderbehandlungen mag ich überhaupt nicht!

Hast du dich manchmal für deine Zuckungen und Konvulsionen geschämt?

Als Kleinkind eigentlich nicht. Da ist man, wie man ist. Die Welt des Kindes gehört einem alleine und in der passiert das, was passiert. Aber später, vor allem als Jugendlicher, da hatte ich viele Probleme damit. Ich habe diese Zuckungen gehasst, konnte mich nur schwer so annehmen, wie ich bin. Es hat schlimme Episoden gegeben, ich war oft verzweifelt und ziemlich fertig. Darüber werden wir ja noch ausführlich reden. Heute schäme ich mich nicht mehr, ich habe meinen Frieden damit gemacht. Ich bin, wie ich bin. Ich strebe gar nicht an, „normal“ zu sein. Wenn ich entscheiden könnte, würde ich die Dystonie behalten. Sie hat mich geprägt, ohne sie wäre ich heute nicht der, der ich geworden bin – sie gehört zu mir. Auch deshalb reagiere ich manchmal etwas ungehalten, wenn mich jemand fragt, ob es da keine Medikamente gibt oder ob ich schon dieses und jenes probiert habe. Das brauche ich nicht!

Welche Erinnerungen hast du an den Kindergarten?

Da habe ich nur positive Erinnerungen und bin sehr gerne hingegangen. Ich hatte kein Problem, mich von der Mamma zu trennen, wenn sie mich in der Früh hinbrachte. Die Kindergärtnerinnen waren sehr aufmerksam und zugewandt. Sie vermuteten damals bei mir auch einen Sprachfehler. Ich sollte zum Logopäden, rieten sie meiner Mutter. Der war bis zu dem Zeitpunkt nichts aufgefallen, und sie diskutierten darüber, bis sich herausstellte, dass ich mich immer wieder auf Neapolitanisch an die anderen Kinder gewandt hatte.

„Ich glaube, dass ich damals etwas gestottert habe.“

In welcher Sprache hast du damals mit deiner Mutter gesprochen?

Hm, da muss ich nachdenken. Heute sprechen wir deutsch miteinander, Dialekt. Mit dem Tatta spreche ich italienisch, neapolitanisch. Wenn wir alle beisammen sind, ist es oft eine bunte Mischung: Südtiroler Dialekt, italienisch und neapolitanisch. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mich in der Kindergartenzeit mit meiner Mutter ebenfalls auf Neapolitanisch unterhalten.

War da was dran, am Sprachfehler?

Ich glaube, dass ich damals etwas gestottert habe, wohl in Kombination mit meinen Zuckungen und auch mit den Koordinationsproblemen beim Gehen und Laufen.

Waren die Kindergärtnerinnen darauf vorbereitet, dass du spezifische Herausforderungen mitbringst?

Ich denke schon, dass sie vorbereitet waren. Auf jeden Fall haben sie mich sehr professionell betreut. Aber warte kurz. (Salvatore zieht eine Mappe heraus und blättert in seinen Unterlagen.) Da ist mein ganzes Leben drin, in dieser Mappe. Ich habe verschiedene Dokumente aus meinem Leben zusammengetragen. Und ich kann nachschauen, wie alt ich bei den verschiedenen Untersuchungen und Vorfällen war. (Er zieht ein Dokument heraus und liest vor.) Da, schau, aus dem Kindergarten: Abschlussbericht für das Kind Salvatore Caruso, mit der Hand geschrieben.