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2017

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia AG, Bozen

Coverfoto: Christina Feiersinger

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-297-0

www. athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Unserer lieben Sieglinde,
die dies alles erst
möglich machte

Inhalt

Vorwort

Irgendwann beschloss ich, meine Lebensgeschichte in Notizen festzuhalten. Es war mir ein Bedürfnis – erst nur als eine Form der Aufarbeitung für mich selbst, doch bald wurde mir bewusst, dass meine Lebens- und Leidensgeschichte auch für andere Menschen einen Wert haben und dass sie für diese vielleicht etwas bewirken könnte. Beim Schreiben weinte und lachte ich, das Schwelgen in der Vergangenheit belastete und befreite mich zugleich. Als ich meine Geschichte stichwortartig zu Papier gebracht hatte, staunte ich nicht schlecht darüber, was ich in meinen gut vierzig Jahren auf dieser Welt schon erlebt und überstanden hatte. Diese Geschichte sollte nach außen getragen werden, an die Öffentlichkeit. Meine Botschaft sollten viele Menschen hören. Meine Notizen waren jedoch noch weit davon entfernt, veröffentlicht zu werden. Sie bestanden aus einer Aufzählung meiner Erlebnisse, hatten aber mit einem Roman noch nicht viel gemein.

In Christina, die ich schon länger über eine gemeinsame Freundin kannte, fand ich schließlich jene junge Autorin, durch die ich meine Geschichte gebührend erzählen konnte – die bereit war, mir für mein Anliegen ihre literarische Stimme zu leihen, und die meine gesamte Lebensgeschichte in ihrem Debütroman aufarbeitete. Die Inhalte dieser Geschichte stammen ausschließlich von mir, während Christina die literarische Umsetzung dieser Erzählung übernahm.

Simon Mayr

Teil I

Das Versteckspiel

Die Nadel juckte in meinem Arm. Sie saß tief in meiner Haut, weil die Schwestern mittlerweile schon regelrecht nach den Venen graben mussten, um mir die tägliche Dosis unaussprechlicher Medikamente verabreichen zu können. Nach all den vielen Wochen im Krankenhaus, den zahllosen Infusionen und Blutuntersuchungen schienen meine Venen versiegen zu wollen. Wie ein Bach, der nicht mehr mit genügend Wasser gespeist wird. Den Schmerz spürte ich kaum noch. Er war zwar da, aber zu einem untrennbaren, vertrauten Teil von mir geworden und in seiner Omnipräsenz beinahe tröstlich. Er war das Zeichen, dass ich noch da war.

Ohrenbetäubende Stille ist alles, was bleibt, wenn ich an die ersten Jahre denke. Eine Stille, die schon meine Kindheit beherrschte. Eine zwingende Stille, die mich auf die Knie sinken ließ. Ein Gefühl zwischen Ohnmacht und Scham. Ein Drang, mich verstecken und schämen zu müssen. Ein Verhaltensmuster, das mir gewissermaßen in die Wiege gelegt war und das neben meiner Jugend auch meinen Umgang mit der Krankheit bestimmen sollte. Ohnmächtiges Schweigen.

Als Jüngster einer kinderreichen Familie eiferte ich von klein auf meinen sechs Geschwistern nach und prägte mir dadurch, ohne es zu verstehen, ein Verhalten ein, das sich vor allem in den nächsten Jahren als sehr nachteilig für mich erweisen sollte. Wenn Besuch auf den abgelegenen, elterlichen Bauernhof außerhalb eines Südtiroler Bergdorfes kam oder neue Gäste in die kleine Pension einzogen, die sich meine Mutter innerhalb dieser Mauern aufgebaut hatte, versteckten sich meine Geschwister. Unter Gekicher und Geschrei sausten sie davon, wenn von weit her der Motor eines Autos zu hören war, das auf unseren Hof zusteuerte – ich, so gut es als Kleinster ging, hinterher.

„Wartet auf mich“, wollte ich verzweifelt schreien, als sich der Abstand zu den vor mir rennenden, unzähligen Beinen zusehends vergrößerte, doch ich hielt tapfer durch und durfte mich zur Belohnung mit ihnen verstecken. In der auserkorenen Zufluchtsstätte – sei es der Dachboden, ein Heustadel oder der Stall – harrten wir so lange aus, bis das Starten desselben Motors und sein Verklingen in der Ferne ankündigten, dass die Luft wieder rein war, oder zumindest so lange, bis uns der Hunger hervorlockte und wir verstohlen in Richtung Küche schlichen.

Ich ahmte meine Geschwister nach, nahm an ihrem Versteckspiel teil, das mir ausgesprochen lustig erschien – ohne je darüber nachzudenken oder in diesem Alter auch nur annähernd zu begreifen, warum sie das taten. Rückblickend ist mir klar, dass sich durch dieses Verstecken, welches als harmloses Spiel begann, das sich bei mir aber immer mehr zu einem inneren Zwang auswuchs, eine Art Schamgefühl verfestigte, das wiederum durch meine von Natur aus vorhandene Schüchternheit verstärkt wurde.

Als Kind traute ich mich in der Öffentlichkeit so gut wie nie, irgendetwas zu sagen. Kaum widerfuhr mir etwas Ungerechtes, gegen das ich eigentlich lautstark rebellieren wollte, wurde ich von einer seltsamen Ohnmacht ergriffen, die meine Beine lähmte und meine Stimme betäubte.

So erinnere ich mich noch genau an meinen ersten Schultag: Meine Mutter brachte mich in die Klasse, führte mich an der Hand zu einem Stuhl, bedeutete mir, ich solle mich auf diesen setzen, und ging einfach fort. Ich war das erste Mal von ihr getrennt – und ich war fassungslos. Ängstlich und gleichzeitig empört. Wie konnte sie mich einfach so verlassen? Sie hatte mich nicht darauf vorbereitet. Ich fühlte mich ins kalte Wasser gestoßen, während ich andere Mütter mit ihren Kindern dabei beobachten konnte, wie sie ihren Kleinen gut zuredeten, ihnen sagten, sie würden das schon schaffen, ihnen sagten, sie seien stolz, sie würden sie nach der Schule abholen, es dauere bestimmt nicht lange. Ich wollte schreien, ihr nachrufen: „Warte auf mich“, doch meiner Kehle entwich kein Laut.

Ich wollte aufspringen, ihr nachlaufen, meiner Empörung Luft machen, ich hatte so schreckliche Angst, fühlte mich auf einmal ganz alleine auf dieser kalten Welt, wollte weinen, stampfen, vor Furcht und Zorn brüllen. Doch ich blieb ganz ruhig sitzen. Ich traute mich nicht aufzustehen.

Wie so oft ohnmächtig – nun gegenüber einem bisher unbekannten Gefühl, nämlich jenem, von der eigenen Mutter verlassen worden zu sein. Es kam mir vor, als hätte meine Mutter mir ihre Zuneigung verwehrt, mich erbarmungslos abgeschoben. Dass es ihr so leichtfiel, mich einfach zurückzulassen, kam für mich einem grausamen Verrat gleich. Zusätzlich fürchtete ich, die anderen Kinder könnten mir diese Gefühle aus den Augen ablesen, und schämte mich sogleich dafür.

Von nun an und für das restliche Schuljahr galten sämtliche Anstrengungen dem, bloß nicht aufzufallen. Ich versteckte mich in dieser Unauffälligkeit, redete kaum etwas und stand allein in einer Ecke, während die anderen spielten. Dabei beobachtete ich sie oft sehnsüchtig, doch traute ich mich nie, zu ihnen zu gehen oder gar zu bitten, ob ich mitspielen dürfe.

Ich war ein schüchternes Kind und mir dessen wohl bewusst – niemals hätte ich den Versuch gewagt, aus dieser Rolle auszubrechen, denn sie schien mir vorbestimmt und sicher.

Ich starrte an die seit Wochen immer gleiche weiße Decke über mir und versuchte, mir aus ihren Rissen, Flecken und Unregelmäßigkeiten verschiedene Figuren vorzustellen, sie langsam mit den Augen nachzufahren. Für einen Augenblick erschien es mir, als könnte ich eine Blume ausnehmen, doch dann sah ich wieder nur das Gleiche wie auch schon jeden Tag zuvor, den ich in diesem Zimmer zugebracht hatte: Mich starrten bleiche Gesichter mit leeren, dunklen, weit aufgerissenen Augen an, ihre schwarzen Münder in einem lautlosen Schrei verzerrt, die Konturen der Wangen scharf und schneidend, die Nasen krumm, die schemenhaften Körper ausgemergelt und schwach.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite, denn ich wollte die Toten an der Decke nicht mehr sehen. Das gleißende Licht eines – durch den mit Sonnenstrahlen durchdrungenen Nebel – vollkommen in Weiß getauchten Tages drückte mir unbarmherzig auf die Augäpfel. Dennoch nahm ich stets begierig jeden Eindruck auf, den ich durch das kleine Fenster erhaschen konnte, von dem mich nur ein Bettnachbar trennte. Ich wünschte, er würde seine angewinkelten Beine ausstrecken, denn sie versperrten mir die Sicht auf einen Teil des Fensters. Doch im Unterschied zu den Tagen und Nächten zuvor wirkte er, obgleich er an so vielen Geräten und Schläuchen hing, gerade so friedlich, dass ich ihn nicht stören wollte. Sonst litt dieser Bettnachbar, ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, oft unter derart großer Atemnot, dass mir sein Keuchen manchmal selber beinahe die Luft nahm. So erschütternd waren seine Geräusche, so bestürzend der Anblick seines verzerrten Gesichtes, das manchmal schon eine purpurne Färbung annahm, bevor man ihm zu Hilfe eilte.

Eben diesem Mann hatten die Ärzte vor Kurzem eine offenbar schlimme Nachricht übermittelt, die ihn hemmungslos weinen ließ. Ich hatte Angst, auch eine solche Hiobsbotschaft zu erhalten, doch tröstete ich mich damit, dass meine Diagnose noch ausstand und jene, gemessen an seinem Leid, vermutlich eine Nichtigkeit sein würde.

Mein anderer Zimmernachbar, ein an Hepatitis erkrankter Italiener, der als Parkplatzwächter des Krankenhauses arbeitete, beschwichtigte aus Rücksicht auf den dritten Mann sogar seinen gewohnt lärmenden Besuch und drängte zur Ruhe. In seinen gelb aus ihren Höhlen tretenden Augen erkannte ich Mitleid.

Ich drehte meinen Kopf auf die andere Seite, um auf die Armbanduhr zu sehen, die auf dem Nachttisch neben dem kaum angerührten Teller mit breiigem Mittagessen lag. Sie zeigte halb drei an. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Eineinhalb Stunden, vielleicht auch zwei oder, wenn ich Glück hatte, sogar ein bisschen mehr. Aber ich konnte ihm nicht entrinnen, es kam täglich – gnadenlos und unaufhaltsam. Egal, wie sehr ich mir wünschte, auch nur für einen Tag davon verschont zu bleiben, folgte es doch stets nachmittags auf den vierten oder fünften Glockenschlag der Kirchenuhr wie das Amen im Gebet, das der Pfarrer dort vermutlich gerade murmelte.

Nach etlichen Wochen glaubte ich allerdings längst nicht mehr an den mittlerweile nur noch halbherzig gedachten Wunsch, es möge doch wenigstens heute an mir vorüberziehen. Das Beten hatte ich ebenfalls schon längst aufgegeben. Es gab kein Entrinnen. Es würde mich packen und für die darauffolgenden Stunden fest im Griff halten, so lange peinigen, würgen, umklammern, schütteln, zerdrücken, mich versuchen zu zerreißen, bis es mir genügend Kraft geraubt hatte, um mir auch die Zeit danach zur Qual werden zu lassen. Ich hoffte längst nicht mehr auf Erbarmen, denn ein solches kannte es nicht. Es war wie ein Fluch, ein unabwendbares Déjà-vu, das nicht müde wurde, mich heimzusuchen. Wie eine kaputte Schallplatte, die dauernd an derselben Stelle hängen blieb und den Zuhörer ständig mit demselben grässlich aufreibenden Lärm tyrannisierte. Wie die schwere Tür im Krankenhausflur vor meinem Zimmer, die immer mit demselben nervtötenden Knall ins Schloss fiel, nur um im nächsten Augenblick wieder aufgerissen werden zu können und dann erneut zu krachen. Öffnen, krachen, öffnen, krachen, öffnen, krachen. So ging das den ganzen langen Tag, und ich wartete nur darauf, wann es wiederkommen würde.

In Wirklichkeit ist wohl dieses verkrampfte Warten, die Gewissheit, dass es wiederkommen wird, verbunden mit dem Bangen, wann genau es so weit sein wird, viel zermürbender als das Ereignis selbst. So war es auch mit meinem Fieber.

Es kam jeden Tag um annähernd dieselbe Zeit, als wäre es vom inneren Uhrwerk meines kranken Körpers getrieben. Also wartete ich täglich darauf. In der ersten Zeit noch hoffnungsvoll, ob es mich doch einmal verschonen würde. Dann ängstlich, wann es wieder auftreten und wie hoch es wohl dieses Mal steigen würde. Später ergeben, weil ich mich mit diesem Rhythmus nach all den Wochen schon beinahe abgefunden hatte, es leid und auch allmählich zu schwach war, dagegen anzukämpfen. Am Ende erwartungsvoll – in den vergangenen Tagen sehnte ich das Fieber beinahe herbei, damit es dem quälenden Warten ein Ende bereiten würde.

Als es dann zu steigen begann, redete ich mir ein, ich hätte das Schlimmste schon überstanden. Ich lag ganz still und ließ es einfach über mich ergehen. Tag für Tag. Ich drehte mich zur Seite, zog die Decke über die Ohren, die sich wie nach einem Tauchgang anfühlten, versteckte mich vor der Welt da draußen wie schon als Kind, schloss die Augen und ließ die Hitzewelle über mich hinwegschwappen. Sie raubte mir beinahe die Sinne. Die nächste war noch schlimmer. Das Fieber bäumte sich mit jeder Welle drohender und mächtiger über mir auf, preschte mit voller Wucht auf mich nieder, zog sich kurz zurück, ließ mich dabei für einen Moment in dem Glauben, es wäre überstanden, um an dieser Stelle erst richtig zum nächsten Schlag auszuholen. Ich begann, schwer zu atmen. War endlich die Temperaturspitze erreicht, glühte mein Körper, als stünde er in Flammen, und pochte mein Herz, als müsse es zerspringen.

Warum diese Qual, warum ich? Meist zeigte der Fiebermesser, dessen penetrantes Piepsen mich in meinem Delirium fast wahnsinnig machte, zu dieser Zeit knapp 41 Grad Celsius an. Bald würde es durch mein Schwitzen wieder sinken, bald könnte ich, wie jede Nacht, wenn es erst einmal umgeschlagen hatte, die Bettdecke heben, um die enorme Hitze entweichen zu lassen, und dann nach Mitternacht endlich etwas Schlaf finden. Dieser Schlaf würde allerdings bereits um sechs Uhr mit Einsetzen des Krankenhausalltages ein viel zu frühes Ende finden.

Mein schwacher Körper hätte den Schlaf dringend gebraucht. Das Fieber, das in seiner beharrlichen Regelmäßigkeit immer abends und nachts Bäche von Schweiß an ihm hinabstürzen ließ, zehrte meinen Körper langsam, aber stetig aus. Trotz der mittlerweile gezielteren Antibiotika- Infusionen. Ich hatte inzwischen schon zehn Kilo meines ursprünglichen Körpergewichtes verloren. Noch immer wusste kein Mensch, was mit mir eigentlich los war. Warum ich?

Die Mutter

Meine Gedanken schweiften wieder ab, fort aus diesem elenden Krankenhaus, zurück in meine Kindheit, zurück zu unserem Bauernhof, auf dem sich noch ein anderes Versteckspiel zutrug – so wurde es mir später zumindest erzählt. Dieser Anekdote zufolge schämte sich meine Mutter für ihre große Kinderschar. Sie habe es als Schande erachtet, dass sie es nach sechs Kindern nicht hatte verhindern können, die Familie schon wieder um ein neues Maul zu erweitern, das gestopft werden wollte. Sie habe sich so sehr geschämt, dass sie ihr Baby vor den Gästen, die in die Pension am Hof kamen, anfangs versteckte.

Wahrscheinlich war diese Erzählung von Übertreibung geprägt. Wahrscheinlich war es damals einfach üblich, die jüngsten Kinder von den Gästen fernzuhalten. Vielleicht wollte mich meine Mutter nur abschirmen, beschützen, vor der Außenwelt behüten, solange ich noch so klein war.

Das alles war mir bewusst und es hätte die kleine Geschichte eigentlich relativieren können, doch mich beschäftigte sie trotzdem – mehr und länger, als für mich gesund war.

Später führte mir meine Mutter oft vor Augen, wie viel besser ich es hatte als meine Geschwister vor mir, denn durch den Nebenverdienst, den die Pension abwarf, konnte sich die Familie plötzlich ein wenig mehr leisten, und als Jüngster profitierte ich am meisten und längsten davon. So musste ich etwa nicht mehr so viel zu Fuß gehen, brauchte den beschwerlichen Weg vom abgelegenen Hof ins Dorf nicht so oft auf mich nehmen wie meine Geschwister, bekam besseres Essen, sogar die eine oder andere Nascherei, und durfte obendrein ein Instrument lernen.

Dass mir anstelle dieser Dinge etwas mehr Zuwendung, Verständnis für so manchen Kummer und ein bisschen Trost oft lieber gewesen wären, konnte ich keinem sagen, denn das war etwas, das in unserer Familie schon immer zu kurz gekommen war: miteinander zu reden.

Auch unter uns Geschwistern wurde viel zu wenig geredet – insbesondere über Gefühle. Wir erlaubten es uns nicht, die anderen auch nur einen Anflug von Schwäche erahnen zu lassen. Aus Sorge, schlecht dazustehen, aus Angst, ausgelacht zu werden. Im äußersten Notfall, wenn einem wirklich etwas tonnenschwer auf der Brust lastete, konnte man sich höchstens zur Mutter wagen, um mit ihr die Probleme zu besprechen – sie gab die Mittelsfrau und leitete den Gesprächsinhalt weiter, aber in ihre eigenen Worte gefasst, durch ihre Interpretation geprägt.

Das fühlte sich unangenehm an und war mir immer peinlich. Irgendwann blieb ich lieber alleine mit meinen Sorgen. Oft wünschte ich mir ein besseres Verhältnis zu meinen Geschwistern, wünschte mir, sie würden mir ihre Erfahrungen anvertrauen, mir etwas vom Leben erzählen, ein wenig Mut machen und mit mir reden. Doch unsere Beziehungen blieben distanziert. Trotzdem hätten wir uns gegenseitig blindlings vertraut.

Unser bescheidener Bauernhof war damals gar nicht auf Gäste ausgelegt. Mangels Platz mussten wir Kinder auf engsten Raum zusammenrücken – immerhin hatten wir ein Mädchenzimmer für meine beiden Schwestern und ein Bubenzimmer für uns fünf Brüder. Dort standen unsere Betten dicht an dicht. Seit wir die Gäste beherbergten, verlagerte sich das gesamte Familienleben in die Küche. Wir waren aus unseren Zimmern verdrängt, um den Gästen das wenige, das wir hatten, überlassen zu können.

Obwohl die Bewirtung von Gästen auf unserem Hof jeglichen Luxus entbehrte, kamen die Leute gerne zu uns, was mir rückblickend rätselhaft ist. Wahrscheinlich waren sie damals einfach nicht besonders anspruchsvoll. Den Zuverdienst, welchen die Zimmervermietung einbrachte, hatten wir bitter nötig, denn die Landwirtschaft alleine reichte nicht aus, um die zugleich mit den Kindern wachsenden Ausgaben zu decken.

Der Tourismus, der mit der Erschließung unseres Ortes in den 1960er Jahren Einzug hielt, das Dörfchen aus seinem jahrhundertelangen Dämmerschlaf weckte und gleichzeitig eine im ganzen Dorf spürbare Aufbruchsstimmung erwachen ließ, kam uns gerade recht. Meine Mutter setzte alles daran, diese Gelegenheit nicht zu versäumen. Sie schreckte vor Arbeit nicht zurück und ließ sich mit Freude die zusätzlichen Pflichten aufladen, kümmerte sich um die Gäste und schaffte durch ihren Fleiß das schier Unglaubliche: Es floss ein bisschen Geld in unsere Kasse, durch das die Familie ordentlich versorgt werden konnte.

Neben der Lebenserhaltung war es sogar möglich, einen Teil des Geldes in die längst überfällige Erneuerung unseres renovierungsbedürftigen Hofes zu investieren. Endlich kam ein wenig Bewegung in unseren verkrusteten Alltag, endlich entwickelte sich etwas weiter – alles nur durch den unermüdlichen Einsatz unserer Mutter.

Dennoch wollten wir Kinder uns nicht recht mit dem – gemessen an der Verbesserung unser aller Leben wohl eher – kleinen Übel zufriedengeben, etwa die Stube nur dann benützen zu dürfen, wenn wir keine Gäste beherbergten.

Kam Unmut auf, ermahnte uns die Mutter, wir müssten uns darauf besinnen, wie viel besser wir es nun hätten und dass wir dankbar sein sollten. Ohne Zweifel tat sie alles für uns Kinder und liebte uns grenzenlos, doch Verzärtelung passte einfach nicht in ihr Weltbild, das durch ihren Arbeitswillen geprägt war.

Dies bedeutete jedoch wiederum nicht, dass sie für uns Kinder etwa keine mütterliche Wärme ausstrahlte – im Gegenteil: Obwohl sie so viel zu tun hatte, der Hof, die Gäste und meine Geschwister auf sie warteten, nahm sie sich oft die Zeit, mich an sich zu drücken. Ich genoss diese Momente, schmiegte mich an sie und dachte einfach an nichts.

Nachdem sich die Lebensumstände unserer Familie durch die Pension entschieden verbessert hatten, träumte meine Mutter davon, diese zu vergrößern, zu verschönern, für uns eine eigene Wohnung einzurichten. Sie war Feuer und Flamme für ihre Gastwirtschaft und ihre neuen Ideen.

Sie brauchte jemanden, der sie bei diesen Plänen unterstützte – diesen Jemand, der ihr von nun an jahrzehntelang bedingungslos zur Seite stehen sollte, fand sie in einem meiner Brüder. Mit ihm an ihrer Seite und mit viel Herzblut gelang es meiner Mutter, sich eine beträchtliche Anzahl an Stammkunden über die Jahre aufzubauen.

Als ich die ersten Tage im Krankenhaus verbrachte, konnte ich in den Augen meines Vaters erkennen, wie nahe es ihm ging, mich so zu sehen. Meine Eltern waren beide mit der Situation überfordert. Ich war überfordert. Mein Vater war verzweifelt. Ihm standen Tränen in den Augen. Er sagte nichts, blickte mich einfach nur mit diesem Ausdruck an, den ich bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte. Überhaupt konnte ich mich nicht entsinnen, ihn schon einmal so erlebt zu haben. Meine Mutter gab sich sehr gefasst und ließ niemanden in ihr Innerstes blicken – sie war für mich stark, um es mir nicht unnötig schwer zu machen.

Bei den Besuchen meiner Verwandten und Bekannten offenbarte sich deren heillose Überforderung in den Belanglosigkeiten, die sie mit mir besprachen, in den Witzen, mit denen sie versuchten, meine Lage und vermutlich ihre eigene Angst zu überspielen, in den Schilderungen ihrer eigenen Probleme, mit denen sie mich regelrecht überschütteten. Warfen sie mir zwischendurch einen besorgten Blick zu, so symbolisierte dieser für mich die pure Hoffnungslosigkeit.

Sie erzählten mir Schreckensgeschichten über andere Krankheitsfälle, die ihre Furcht zum Ausdruck brachten und meine eigene schürten. Schon längst stellten sie aus Mangel an Diagnosen eigene Spekulationen an, was mir womöglich fehlen könnte.

Auch meine Eltern konnten mit der Tatsache, dass ihr Sohn krank war, nicht umgehen – genauso wenig wie mit einigen anderen emotionalen Themen, mit denen jeder selbst und vor allen Dingen alleine zurechtkommen musste. Sogar jetzt schafften sie es kaum, offen mit mir zu reden.

Die Besuche erschöpften mich nicht weniger als das Fieber. Manchmal war ich fast erleichtert, wenn sie wieder gingen.

Ein weiter Weg

Wenn ich während meiner Zeit im Krankenhaus einigermaßen bei Kräften war, suchte ich des Öfteren die Kapelle des Spitals auf. Nicht etwa, weil ich so religiös war. Oder mir von Gott Gnade erhoffte. Ich wusste nicht einmal, was ich überhaupt beten sollte. Ich saß einfach nur da und genoss die Stille, die mir mein Krankenzimmer nicht zu bieten vermochte.

Früher gingen wir immer gemeinsam den weiten Weg in die Kirche, selbst wenn es an so manchem rauen Wintermorgen bitterkalt war. Ich mochte diesen gemeinsamen Gang zum sonntäglichen Gottesdienst. Die Strecke kam mir an diesen Tagen weniger weit vor als sonst, und die Kälte machte mir nicht so viel aus. Ich verspürte sogar eine gewisse Freude an dieser Tradition.

Besonders glanzvoll erschien mir der Weg zur Kirche immer zu Weihnachten, wenn der große Baum in unserem Dorf von unzähligen Lichtern geschmückt erstrahlte. Mir kam es so vor, als wäre das gesamte Dorf voller funkelnder Lichter, obwohl in Wirklichkeit nur dieser eine Baum mit einer Lichterkette versehen war – doch etwas lag für mich in der Luft. Etwas Faszinierendes, Magisches, merkwürdig Sehnsuchtsvolles. Kinder vermögen den Zauber der Weihnacht wahrscheinlich besser zu begreifen, weil sie ihn nicht mit den Augen suchen, sondern mit dem Herzen.

In der Kirche hörte ich den Predigten stets aufmerksam und angestrengt zu, doch konnte ich weder damals als Kind noch später als junger Erwachsener in der Krankenhauskapelle viel mit dem Gesagten anfangen.

Nun saß ich, von der namenlosen Krankheit gebeugt, in der hintersten der sechs Bankreihen und starrte auf den kleinen, relativ schmucklosen Altar, hinter dem ein wuchtiges Kreuz hing. Den Anblick des am Kreuz Sterbenden empfand ich als bedrückend. Die braunrote Farbe, die sein Blut symbolisieren sollte, das dickflüssig seinen ausgezehrten Brustkorb, an dem man jede einzelne Rippe hätte zählen können, herabrann. Der qualvoll geöffnete Mund, das ergeben zur Seite geneigte Haupt, die von Nägeln durchbohrten Hände und Füße, die vor Leid und dem Flehen nach Erbarmen nach oben gerichteten Augen. Voll Verbitterung starrte ich auf den sterbenden Erlöser, dessen Geburt ich doch noch vor einem gefühlten Augenblick in der Dorfkirche gefeiert hatte.