Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

ISBN 978-8-8683-9341-0

2018

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Umschlagfoto: Meinhard Feichter

Autorenfoto Meinhard Feichter: Oswald Ganthaler

Umschlaggestaltung: Meinhard Feichter und Athesia-Tappeiner Verlag

Tuschezeichnungen: Ulrich Schaffer

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag und Ulrich Schaffer

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN (Athesia) 978-88-6839-330-4

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

ISBN (Tyrolia) 978-3-7022-3682-3

www.tyrolia-verlag.at

buchverlag@tyrolia.at

Thomas, Lena und Lukas,

seid mutig und zuversichtlich

auf eurem Weg!

Das Leben kann man nicht verlängern,

aber wir können es verdichten.

Roger Willemsen (1955 –2016)

INHALT

EINFÜHRUNG

Was hinter der nächsten Biegung unseres Lebensweges auf uns wartet und wie wir mit Überraschungen – zumal negativen – umgehen, wissen wir im Voraus nicht. Hiobsbotschaften wie etwa die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung werfen uns aber aus der gewohnten Bahn und konfrontieren uns mit existenziellen Fragen. Der hereinbrechenden Ohnmacht bei Schicksalsschlägen sind wir jedoch nicht hoffnungslos ausgeliefert. Denn es gibt in so gut wie jeder Biografie Anker zum Festhalten und Segel, um neu Fahrt aufzunehmen, wenngleich oft in eine andere Richtung. Und es gibt Kräfte in uns, die verschüttet oder vernachlässigt oder bislang schlicht nicht gebraucht waren und die gerade in dramatischen Situationen neue und wertvolle Impulse und Perspektiven geben können. Es lohnt sich, diesen in uns liegenden Potenzialen nachzuspüren und so zum eigenen Kern vorzudringen. Und mit der Hilfe von oben, von unten, von drüben und herüben kann das eigene Lebensband neu geflochten werden, das uns tragfähig mit hoffnungsfroher Zukunft verknüpft. Mitunter so stark, dass sogar Mitmenschen sich dran halten und orientieren können.

Zum Aufbau und Gebrauch des Buches

Ulrich Schaffer hat meine Texte in einer Rohfassung gelesen und – davon angeregt – jeweils ein Gedicht geschrieben, in welchem er seine Empfindungen in Poesie gegossen und das Geschriebene verdichtet hat. Daher stehen seine Gedichte immer im Anschluss an meine Texte. Seine Tuschezeichnungen wollen das Schriftbild auflockern und einen weiteren meditativen Impuls setzen.

An das Ende eines jeden Kapitels habe ich Musikempfehlungen gestellt. Sie unterstreichen die Stimmung, die ich beim Schreiben hatte. Wer sich davon auch inspirieren lassen will, kann bequem mit dem QR-Code über das Smartphone direkt zu den meisten meiner persönlichen Referenzaufnahmen und bevorzugten Interpreten gelangen.

Schließlich weise ich darauf hin, dass ich zugunsten einer besseren Lesbarkeit meist nur die männliche Form gewählt habe. Selbstverständlich schließe ich die weibliche mit ein. Ganz und gar!

WARUM GERADE ICH? WARUM GERADE JETZT?

Ein Schicksalsschlag, egal in welcher Form und Ausprägung, kommt immer zur falschen Zeit und durchkreuzt das eigene Leben und das seiner Angehörigen. Obwohl die ganze Welt voller menschlicher Dramen ist, die sich ständig wiederholen und überall auf der Lauer sind, hofft jeder Einzelne, es möge ihn nicht erwischen und er möge von dem verschont bleiben, was um ihn in engeren oder weiteren Kreisen herum passiert und Menschen an Grenzen oder gar darüber hinaus führt. Wenn einem das Leben dann aber doch ein Bein stellt, den Atem nimmt oder in die Verzweiflung treibt, hämmert oft als Erstes die bohrende Frage: WARUM – ICH – JETZT?

Das war auch bei mir so. Ich radelte im Hochsommer mit meinem damals knapp 14-jährigen Sohn Lukas und unserem Familienfreund Georg entlang einer norwegischen Trekkingroute jenseits des Polarkreises, als meine Wirbelsäule nach einem relativ banalen Sturz auf der Fähre, die uns vom Festland auf die Lofoten bringen sollte, zusammenbrach und unsägliche Schmerzen verursachte. Ein Arztbesuch verschlimmerte die Situation vor Ort noch, weil ich, der norwegischen Sprache nicht mächtig, mich ihm nicht ausreichend erklären konnte. Der diensthabende Arzt war mehr der heimische Spezialist für chirurgische Kleineingriffe zum Entfernen von Fischerhaken. Jede Menge solcher Trophäen an den Wänden des Ambulatoriums kündeten von seiner Meisterschaft, die jedoch unwirksam an mir vorüberging. So kam es zum abrupten Ende einer lange geplanten Radreise durch unser nordisches Sehnsuchtsland. Nach einer abenteuerlichen Rückfahrt mit Einlieferung ins Krankenhaus und Weitertransport per Hubschrauber wurde ein Multiples Myelom, also Knochenmarkkrebs im dritten Stadium, diagnostiziert. Der Tumor saß in der Wirbelsäule, stanzte Löcher in die Knochenstruktur und machte sie so brüchig, dass die Wirbel durch den Stoß des Sturzes der Reihe nach in sich zusammenbrachen und die Nervenstränge im Rückenmark einklemmten. Im April, also gerade mal vier Monate zuvor, hatte ich mich noch einem ausführlichen Gesundheitscheck unterzogen, der aber keinerlei Anzeichen einer so schweren und lebensbedrohlichen Krankheit angedeutet hatte.

Die Übermittlung der Schocknachricht durch die diensthabende Ärztin ist sachlich, nüchtern, beinahe lapidar. Den Begriff Multiples Myelom weiß ich nicht einzuordnen, das Wort unheilbar hingegen schon. Das klingt nach Endzeit! Von der hohen Schmerzmitteldosis zwar halb benommen, sitzt die niederschmetternde Nachricht tief, dringt in alle Fasern ein, lähmt meine Sinne. Schwarze Buchstaben kreisen im dunklen Schwindel und formen verzweifelte Wortbilder wie NEIN mit zehn Ausrufezeichen oder WARUM – ICH – JETZT?, dran gehängt eine lange Kette nicht enden wollender Fragezeichen in allen Größen und Schrifttypen. Warum erwischt es gerade mich? Warum gerade jetzt? Was habe ich falsch gemacht? Welche Strafe ist das und wofür? Wie soll das weitergehen, für Bernadette, meine liebe Frau, für meine wunderbaren Kinder, für meine tüchtigen Mitarbeiter, für mich? Ich bin doch noch so jung und habe noch so viel vor, familiär, beruflich, persönlich! Viele W-Fragen kreisen unkontrolliert in meinem Kopf, lassen das aufgepeitschte Blut ins zuvor entleerte Hirn schießen und erzeugen einen Druck, als wollte er meine beiden entsetzt vor sich hin starrenden Augen aus ihren Höhlen pressen. Im hintersten Winkel meiner Gehirnwindungen weiß ich zwar, dass mir niemand plausible Antworten geben kann. Dennoch schreie ich danach – wortlos nach innen!

In der nun folgenden schweren und teils grenzwertigen Krankenhauszeit treffe ich wiederholt auf solche Fragen. Die eigenen wechseln ihre Farben, die meiner Angehörigen, Freunde, Schicksalskollegen kommen dazu, und innerhalb kurzer Zeit bin ich umgeben davon. Allerdings: Es gibt keine Antworten darauf! Mögen auch noch so viele liebevoll am Bettrand sitzende Menschen mit Mitleid und Mitgefühl watteweich mein Gemüt umarmen und der Hoffnung in allen denkbaren Facetten das Wort reden, die Fragen bleiben offen! Selbst Ärzte, beratende und pflegende Menschen, alle kompetent und kundig in ihrer Kunst, stehen an. Und so verfangen sich im Netz dieser Fragen viele weitere und werden besonders groß, wenn die Nächte lang sind. Irgendwann aber schälen sich auch neue Formen heraus, kommen andere Fragen hoch: Will ich in dieser Schockstarre verharren? Will ich die paar Tage, Wochen oder Monate vom Rest meines Lebens meine Mitwelt und mich mit Fragen plagen, auf die es keine Antworten gibt? Und darauf meine letzte Energie verwenden oder gar verschwenden?

Alles ist ein Prozess, und – wie Karl Popper (1902–1994) sagt – Alles Leben ist Problemlösen. Als Lösung bietet sich an: mich in ganz kleinen Schritten von bohrenden Fragen verabschieden, nach und nach weniger das bedauern, was in meinem Leben alles nicht mehr geht, und mich konsequent auf die Suche machen nach dem, was vielleicht dennoch möglich sein wird, mag es zu Beginn noch so unscheinbar sein. So kann eine Arbeit im Kopf beginnen, die ablenkt, Richtung wechselt, einen Paradigmenwechsel initiiert und mir eine Reihe neuer Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Der nicht weiter und tiefer in ein dunkles Loch hinabzieht, sondern heraus und hinauf in ein hoffnungsvolles Licht führt. Die Krankheit und mein mentaler Umgang damit nimmt mir nicht weiter die verbliebene Restenergie, sondern liefert mir neue Kraft, zeigt neue Wege, mögen sie am Anfang auch noch so schwer erkennbar sein im dunklen Wald seelischer Not.

Musikempfehlung

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 –1791)

Streichquartett in C-Dur KV 465 „Dissonanzenquartett“

1. Satz Adagio-Allegro

Mein Referenzinterpret: Quatuor Les Dissonances

Unsere innere Größe

Zart und verletzbar

ist die Balance unseres Lebens.

Wir haben hier keine bleibende Sicherheit,

jede Stunde kann unsere letzte sein.

Auf Messers Schneide reifen und wachsen wir,

oft sogar über uns selber hinaus.

Diese Gratwanderung ist unsere Berufung.

In der Balance bejahen wir unsere Vorläufigkeit.

Wir lieben die Welt

und tragen unsere Leidenschaft

für unser knappes, aber erfülltes Leben

wie einen Schatz in uns.

Es ist Ausdruck unserer inneren Größe,

dass wir uns hier trotz anhaltender Gefährdung

eine Heimat schaffen können

und unserem Leben in all seinen Begrenzungen

eine Leuchtkraft verleihen,

die ausdrückt, dass wir frei sind.

Auch in unserer Hilflosigkeit

können wir größer als Leben und Tod werden:

Wir setzen unseren Anker in das Ewige.

WER IST GOTT? WO IST GOTT?

Wer ist dieser Gott, der Angst und Schmerz und Leid zulässt? Und wo ist dieser Gott, nachdem das erdrückend Schwere und verstörend Bedrohliche hereingebrochen ist? Mitten in ein volles, reiches und aktives Leben? Fundamentale Fragen, die Abgründe auftun, aber ernst zu nehmen sind. Gibt es Antworten darauf? Wer hat sie zur Hand?

Mir wurde Gott vornehmlich als liebender und beschützender Vater beschrieben, und er nahm mir schon als Kind die Angst, mich im dunklen Wald zu verlaufen, von einer Giftschlange zu Tode gebissen oder von bösen Geistern verfolgt zu werden. Mein Kindheitsglaube mit seinen lieblichen und zugleich Ehrfurcht gebietenden Bildern, die jenen der Grimm’schen Märchen durchaus glichen und mich zugleich faszinierten wie ängstigten, ist schon in früher Jugend mit mir erwachsen geworden. Wie dringend hätte ich in der Zeit der verletzlichen Jahre die liebevolle Zuwendung, die kräftige Schulter eines starken Vaters gebraucht! Es kam aber genau umgekehrt, und ich bekam zu meinen entwicklungsbedingten Problemen auch noch des Vaters Lasten auf meinen zarten Rücken obendrauf gepackt. Damals begab es sich, dass mein Vater das Land verließ, um dem Rechtsvollzug mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe zu entkommen. Seiner Flucht war ein jahrelanges Gerichtsverfahren vorausgegangen, das zu seinen Ungunsten endete. Und er hinterließ mir, gerade volljährig Gewordenem, neben einem Sack voller Schulden auch seine Familie mit damals sechs unmündigen Kindern im Haus. In dieser großen Not völliger Überforderung bewies das Kindheitsbild vom liebenden Gottvater seine enorme Wirkkraft, wurde Vaterersatz und überlebensnotwendiger Anker, der mich letztlich wachsen statt zerbrechen, reifen statt verkümmern ließ. Und diese Kraft beziehe ich heute genauso noch wie früher, sie wirkt auch ganz real in diesen Zeiten schwerer Krankheit. Es schwingt immer eine Grundzuversicht mit, und keine Herausforderung hat mich bislang in der letzten Verzweiflung enden lassen.

Mein Gott ist mein liebender Vater geblieben, der mir zwar die Last nicht nimmt, jedoch die Schultern stärkt. Der mich – so wie damals seinen leidenden Sohn am Ölberg – zwar nicht er-hört, wohl aber hört. Aktives Zuhören ist ein wirksames Therapeutikum und meist besser als jeder noch so gut gemeinte Ratschlag. Das kann ich nur bestätigen. Die Gabe des Zuhörens beherrscht ja auch Jesus auf ganz wunderbare Weise. Die heilende Wirkung war das Ergebnis des Hineinhörens in sein Gegenüber, seine Aussagen wirkten Wunder durch die richtige Wahl seiner Worte zur rechten Zeit.

Meinen Gott traf ich bislang eigentlich überall an, wo ich ihm begegnen wollte. Nicht nur, wenn Angst und Not mir an die Kehle griffen, sondern auch und vor allem in den vielen schönen Zeiten meines Lebens. Beim Lieben, beim Musizieren, beim Wandern, beim Fotografieren … Ein theozentrisches Weltbild ist das meine, das Gott in allen Dingen weiß und besonders in schweren Zeiten nicht kunstvoll bemüht werden braucht. Für mich ist’s unendlich wertvoll zu spüren: Auf meinen Gott baue ich!

Allerdings: Ganz so einfach war das Finden von Gottes Existenz dann doch nicht, ich meine besonders in der ersten Phase der Erkrankung, die mich mit so elementaren Fragen wie der Gottes- und der Sinnfrage wieder neu und sehr radikal konfrontierte. Es war das beschriebene Grundvertrauen in Gottes Güte zwar da, aber heute stelle ich mir noch einmal die vertiefende Frage, wo und wann genau ich sie spüren konnte. Die freudvollen Momente waren ja weg, die Natur aus der Isolierstation technisch perfekt ausgesperrt, Musik zum heilsamen Hören nicht wirksam – in den ersten Wochen gar unerträglich –, körperliche Nähe und Zärtlichkeit der Berührung in Schmerz ertränkt. Um mich herum war allerdings viel Stille. Und in der Stille melden sich die existenziellen Themen zu Wort. Ich erinnere mich an ihre anfängliche Bedrohlichkeit, ihre Haltlosigkeit, ihre Kälte, ihre Leere. Sie lösten tiefe Schwermut aus. Ich kam nicht aus ihr heraus, musste sie aushalten. Erst irgendwann begann ich, in der Leere die Lehre zu entdecken, von der ich früher in manchem klugen Buch zur Selbstfindung gelesen hatte. Die Stille eines ruhig gewordenen Sees, dessen Oberfläche mich in ihren Spiegel schauen lässt, zeigt mir, wer ich bin. Zeigt es mir genau an dem Punkt und in dem Moment zwischen Aus- und Einatmen. Hier berühren sich Himmel und Erde. Hier findet Transformation statt. Das muss der göttliche Moment sein. Dann bekommt die Stille jene Tiefe, die mir die eigene Innerlichkeit aufmacht und mich ahnen lässt, wer ich wirklich bin. Nicht wen ich darstelle. Es zählt mein Sein, nicht mein Schmerz. Meine Natur, nicht meine Rolle. Und losgelöst von der allgemeinen Lautigkeit um mich herum entsteht eine göttliche Verbindung. In der Stille liegt einer der Gottesbeweise verborgen. Gott ist in diesem Moment die Stille, und ich finde ihn in der Stille. Das spüre ich. Kostbare Momente!

Meinem persönlichen Gottesbild und meinen Glaubenswegen wird diese Kürzestfassung nur bedingt gerecht. Sie benennt zwar die mitentscheidenden Faktoren wie die prägenden Bilder der Kindheit, die extremen Grenzerfahrungen im Leben meiner Herkunftsfamilie oder die tief wirkenden Glücksmomente persönlicher Glaubenserfahrung, berichtet aber nicht von den vielen Irrungen und Wirrungen die Jahre hindurch. Sie macht aber zumindest den roten Faden sichtbar, der sich durch mein Leben zieht und eben auch jetzt erst im Rückspiegel betrachtet so deutlich zutage tritt. Dazwischen plagten mich mitunter arge Zweifel, verschreckten mich Glaubenszwänge, Kanzelsprache oder die jahrhundertelangen und noch heute unfassbaren Verfehlungen der Religionen. Überhaupt die Aufteilung der Spiritualität in Religionen. Sie hat, so der Journalist und Buchautor Franz Alt (* 1938) weiter, die Menschheit getrennt und unendlich viel Leid verursacht. All das und noch mehr warf große Fragen auf, machte mich zornig und unsicher. Und lenkte als Alternative oder Ausweg meinen Blick hinaus über den Zaun zu anderen Weltreligionen, besonders zum Buddhismus, der reizvolle Alternativen und neue Erkenntnisse zu bieten schien. Im Grunde also auch bei mir das ganz normale Programm eines Suchenden und Zweifelnden, wenngleich auf einer offenbar festen Grundlage.

IHNSEINSEINE