Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung/Abteilung Deutsche Kultur

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2018 · Vierte Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen (2015)

Fotos: Südtiroler Landesarchiv – Bildarchiv Mario und Benjamin Geat

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-414-1

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Bereits vor vielen Jahren wollte die Autorin Sigrid Mahlknecht Ebner über Frauenschicksale in Südtirol schreiben. Doch von Anfang an hatte sie geplant, das Buch zu zweit zu verfassen, damit die Geschichten sich im Stil voneinander unterscheiden.

Vor einigen Jahren wurde das Projekt endlich konkret: Ihre Freundin Katharina Weiss war von der Idee, gemeinsam an diesem Buch zu schreiben, sofort begeistert. Auch geografisch leben die beiden Frauen in anderen Gebieten: Eine kommt aus dem Vinschgau, die andere wohnt im Überetsch. Deshalb war es naheliegend, Frauen aus den verschiedenen Landesteilen Südtirols zu interviewen.

So sind fünf völlig unterschiedliche Geschichten über fünf Südtirolerinnen entstanden. Es wurde versucht, die Sprache der Frauen möglichst weit zu erhalten, ohne im jeweiligen Dialekt zu schreiben. Jene Begriffe, die dennoch im Dialekt aufscheinen, sind im Glossar am Ende des Buches zu finden.

Der rote Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die Stärke dieser weiblichen Hauptpersonen, und die Kraft, die sie trotz widriger Lebensumstände zeigten.

„Der General“ erzählt die Geschichte einer Bäuerin aus dem Burggrafenamt, die die Hürden des Lebens mit Mut und Herz anzugehen wusste.

„Toia“, eine Bäuerin aus dem Pustertal, ist bis heute von einem erstaunlichen Optimismus geprägt.

„Das blaue Kleid“ berichtet über den Lebensweg einer Leifererin, die in jungen Jahren in die Provence nach Südfrankreich ausgewandert ist.

In „Von den Tschurtschen zu den Reben“ wird das Leben einer Frau aus Aldein, die von klein auf für fremde Menschen arbeiten musste, beschrieben.

Schließlich erinnert sich in „Die Füchsin“ eine Eisacktalerin an ihre härtesten Jahre.

Danksagung

Wir bedanken uns herzlich bei allen Frauen, die uns selber ihre Geschichten erzählt haben. Danke auch an Verena und Heidi, die uns bei der Suche nach Frauen, die bereit waren, über ihr Leben zu berichten, geholfen haben, sowie den Zeitzeugen Johanna, Ernst, Gertrud und Peter, die mit ihren Erinnerungen aus Kindertagen einen historischen Einblick in das Alltagsgeschehen der damaligen Zeit vermitteln konnten.

Danke an unsere Lektorin Elke Wasmund für die gute Zusammenarbeit.

Und nicht zuletzt ein herzliches Dankeschön an unsere Familien für ihr Verständnis und ihre Unterstützung.

Sigrid Mahlknecht Ebner und Katharina Weiss

Herbst 2015

Der General

Josefine M., Jahrgang 1894, Rabland –
erzählt von der Tochter Johanna M.

Die alte Hebamme war erleichtert: „Freu dich Seffa, ein gesundes kleines Mädchen hast du bekommen. Die Haare sind ganz schwarz und die Augen hellblau und klar wie unser Zielbachwasser.“ Die Mutter drehte müde den Kopf zur Seite und blickte der Hebamme geradewegs ins Gesicht. „Die Augen, die sind so wichtig nicht. Und ob sie wirklich so gesund ist, wie du meinst, wird sich noch zeigen. Bei den anderen haben wir das am Anfang auch gedacht.“ Die Hebamme seufzte: „Ach Seffa, hör auf mit dem Gejammer, du weißt selbst ganz genau, es gibt viel Schlimmeres auf der Welt. Dies wird wohl deine letzte Geburt gewesen sein, sei froh, dass alles gut gegangen ist. Wie soll sie denn heißen, die Kleine?“ „Johanna wird sie heißen, aber jetzt mach das Fenster auf, ich brauche frische Luft.“ Gewaschen und in ein feines, warmes Tuch gewickelt, legte mich die Hebamme an die Seite meiner Mutter; beruhigt durch ihren Duft schlief ich tief und fest.

Ich wurde am 6. Juni geboren, neun Tage vor dem traditionellen Almauftrieb an Sankt Veit. Meine Mutter, Joseffa, von allen nur Seffa und in den späteren Jahren die „Strassermutter“ genannt, war bereits 43 Jahre alt, als ich 1937 als siebtes und letztes Kind auf dem Strasserhof in Rabland in der Nähe von Meran zur Welt kam. Die erste Hitze des Jahres drückte in das alte Gemäuer des Hofes und ließ ihre Beine anschwellen. Das Ziehen und Stechen verleideten ihr ganz die Freude am Lesen. Überhaupt war gerade in dieser Jahreszeit auf dem Hof besonders viel Arbeit. Die Tage waren lange hell, die Felder mussten bestellt werden. Im Kindbett zu liegen, dazu hatte die Mutter nun wirklich keine Zeit.

In Gedanken sehe ich sie immer noch, wie sie in der Küche regiert, die Töpfe auf dem Holzherd hin- und herschiebt, eine Prise Salz da, etwas Pfeffer dort, immer in Bewegung. Die lange Schürze, die Bänder vorne akkurat zu einer gleichmäßigen Schleife gebunden, wirbelte nur so herum. Darunter trug sie eine Bluse und einen langen Rock, der von der Brust bis ganz hinunter zu den Knöcheln reichte. Ihre Haare waren stets sauber und ordentlich zu einem Knoten streng nach hinten gekämmt. Sie war das, was die Männer als eine schöne Frau bezeichnen: Gertenschlank, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, und sie konnte so zärtlich lächeln, dass den Menschen warm ums Herz wurde, selbst wenn sie es gar nicht wollten.

Schade nur, dass sie mit uns Kindern nicht allzu oft lächelte. Ihre aufrechte Haltung und ihr sicherer, fixierender Blick verrieten sogleich, dass diese Frau auch ganz hart sein konnte, wenn sie wollte. Sie war eine, die die Geschicke ihres Lebens selbst in die Hand nehmen und leiten wollte. Kurzum, meine Mutter war eine Frau der festen Regelmäßigkeiten, sauber und ordentlich, katholisch und gutherzig, eisern in ihren Prinzipien.

Meine Mutter Seffa erzählte:

Ich wurde 1894 geboren, meine Kinder- und Jugendzeit war geprägt von der Habsburger Monarchie und dem Glauben an die unumstößliche Macht des Kaisers in Wien. Mein Vater Heinrich, Bauer des Strasserhofes, hatte die Witwe des Gasthauses „Neuwirt“, der nur wenige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite stand, geheiratet. Ich, die Seffa, war die älteste von vier Schwestern; nach mir kamen die Franze, die Moidl und die Anna zur Welt. Auch hatte ich drei Brüder, doch alle drei starben, noch ehe ihr Leben richtig begonnen hatte.

Weil ich gerne in der Küche arbeitete, wurde ich nach Meran geschickt, um Köchin zu lernen und verbrachte mehrere Lehrjahre im „Bayrischen Hof“ in Meran. Hier lernte ich exotische Gemüse- und Obstsorten kennen, roch Gewürze, die mir das Wasser in die Augen trieben, ich lernte backen und wusste bald mit Fleisch umzugehen. Vor allem aber wurde mir beigebracht, wie wichtig in der Küche Sauberkeit, Ordnung und Zeiteinteilung waren. Diese Arbeit gefiel mir, ich erkannte bald, dass ein gutes Essen bei den Menschen weit mehr ausrichten konnte, als viele Worte. Als einfaches Bauernmädchen vom Land war es eine Ehre, in einem so noblen Hotel lernen zu dürfen. In jeder freien Minute beobachtete ich die Gäste, war überwältigt von all dem Luxus, den prachtvollen Gewändern und Hüten der edlen Damen. Am meisten aber beeindruckten mich jene Besucher, die Bücher und Zeitungen lasen, denn auch ich liebte das Lesen.

So aufregend diese Zeit auch war, es war doch nicht wirklich meine Welt oder das, was ich mir von meinem Leben erwartete. Denn zu guter Letzt stand ich ja doch immer nur in der Küche beim heißen Herd, schwere Töpfe schleppend, und das schmutzige Geschirr erst – ganze Berge mussten mehrmals täglich gespült werden. Sollte so meine Zukunft, mein Leben aussehen? Wo war der Talwind, der mir durch das Haar strich, die Sonne, die mich an der Nase kitzelte? In dieser stickigen Stadtküche fehlte mir immer öfters die Luft zum Atmen. Dies wohl auch, weil das Dienen eine Sache war, die nicht so recht zu meinem Charakter passte. Mein Entschluss stand fest: „Lieber habe ich eine kleine Gaststube und bin dafür aber mein eigener Herr, als eine große Köchin, doch versteckt in einer dampfenden Küche.“ Ich kehrte dem Meraner Nobelhotel den Rücken und übernahm Anfang der zwanziger Jahre die Gaststube und den kleinen angeschlossenen Laden meiner Mutter.

Mittlerweile hatte meine Schwester Anna das Gasthaus „Bad Egart“ auf der Töll in Pacht genommen, die Moidl einen Bauern geheiratet und die Franze war mit einem Gerber aus Naturns beisammen. Letzterer war ein Mann mit großen Träumen, aber leider leeren Taschen. Er träumte davon, eine eigene, große Gerberei zu eröffnen. Die Franze redete mit unserem Vater, weil er Bürgen brauchte, um einen Kredit zu bekommen. „Ach Vater, es ist ja nur eine Unterschrift, mehr nicht.“ „Ja, Kind, nur eine Unterschrift.“

Doch die großen Träume erwiesen sich schon bald als viel zu groß für die einfachen Hände des Gerbers. Kurzum, der Laden ging flöten, alles Geld war verloren und der Strasserhof über Nacht hoch verschuldet. „Vater, das wollte ich wirklich nicht.“ „Nein, das wollten wir wohl alle nicht.“ Der Vater war verzweifelt. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist der Hof verloren“, seufzte er, die Franze weinte nur noch. Allein schon der Gedanke, wegen eines Dazugeheirateten die eigene Hoamet zu verlieren, ärgerte mich. Das wollten und konnten meine Geschwister und ich nicht zulassen.

Nachdem wir alle möglichen Schritte zur Rettung des Hofes durchdacht hatten und keine sinnvolle Lösung des Problems gefunden werden konnte, blieb nur noch ein letzter Ausweg. Die komplette Umverteilung und neue Aufteilung unseres gesamten Hab und Guts.

Die Anna gab das Gasthaus Bad Egart auf und übernahm nun den Neuwirtshof mit der Gaststube. Der Franze musste auch geholfen werden, sie war ja nun mittellos. Sie durfte bei der Moidl auf dem Bauernhof wohnen und konnte unseren Laden übernehmen. Somit war gesichert, dass sie und die Kinder wenigstens etwas zu essen hatten. Jahre später entschied ihr Mann, der den Beruf des Gerbers nun endgültig an den Nagel gehängt hatte, ganz fort zu ziehen. Mittlerweile war er zur Überzeugung gelangt, dass das Glück in der Ferne leichter zu finden war als im kleinen Rabland. Sie packten ihr spärliches Hab und Gut und zogen fort nach St. Pölten in der Nähe von Wien.

Ich hingegen verabschiedete mich von der Gaststube im Neuwirtshof und zog am 4. Februar 1925 in den Strasserhof ein. Aus der Köchin wurde wieder eine Bäuerin. Ich war jetzt 30 Jahre alt, seit fünf Jahren schon mit dem Rudl verheiratet, hatte zwei Buben, den Rudl und den Heiner, und war wieder guter Hoffnung.

Mein Mann, der Rudl, war von seiner Herkunft her kein Bauer, sondern einer der zwei Buben der Krämerfamilie in Partschins. Als Kind hatte die enge Freundschaft zu seinem Spielgefährten, einem jungen Baron, unverhofft dazu geführt, dass er, obgleich er nicht aus einem adeligen Geschlecht entstammte, in Meran zur Schule durfte. Der kleine Baron brüllte und schrie, dass er erst dann die Schule in der Stadt besuchen würde, wenn sein Freund, der Rudl, auch mitkommen könnte. Schließlich gaben die Eltern nach. Von nun an wurden die zwei Buben jeden Morgen vom Fuhrmann mit der Kutsche nach Meran zum Studieren gefahren und am Nachmittag wieder abgeholt.

Nach der Schulzeit arbeitete er mit seinen beiden Geschwistern, dem Luis und der Serafine, im Geschäft der Eltern. In seiner freien Zeit spielte er bei der Musikkapelle. Doch bevor er wirklich entscheiden konnte, was aus seinem weiteren Leben werden sollte, wurde kurzerhand über ihn entschieden.

1914 begann der Krieg und über Nacht wurde aus dem Rudl der Soldat Rudolf, der fortan nicht mehr bei der Partschinser Musik, sondern in der Militärkapelle des Regiments der Kaiserjäger mitzuspielen hatte und für Gott und Vaterland den „Russ“ besiegen sollte. Das Musizieren im Heer wäre an und für sich gar nicht so schlecht gewesen, wenn er nicht ausgerechnet die Tuba gespielt hätte. Mit grüner Tarnfarbe bestrichen, musste das schwere Instrument immer und überall mitgetragen werden. Vorwärts ging es, hinein in das Herz des russischen Zarenreiches, doch zurück ging es nicht mehr. Er wurde gefangen genommen und kam mit anderen Südtirolern als Zwangsarbeiter in ein Kohlebergwerk. Hier spielte eine ganz andere Musik. Die harte Arbeit und das armselige Essen zehrten die Männer aus. Wenn sie überleben wollten, mussten sie fliehen. Zu dritt schafften sie die Flucht und traten den langen Weg nach Hause an. Geholfen haben den ausgehungerten Männern bei ihrem langen Weg in die Freiheit nur die Frauen. Ach, Natascha. Wenn er nur irgendwie gekonnt hätte, er wäre für immer bei ihr geblieben. Doch als entflohener Sträfling war dies unmöglich.

1920, nach zwei Jahren Fußmarsch, kehrte er mit seinen zwei Freunden in Lumpen gekleidet, ohne Orden und Verdienstkreuz, wieder in die Heimat zurück. Den Kaiser und das Habsburger Reich gab es nicht mehr, die neuen Herren im Land waren jetzt die Italiener. Da half es wohl wenig, dass der Rudl mittlerweile recht passabel russisch sprechen konnte, ab sofort musste italienisch geredet werden. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht italienisch gelernt. Wozu auch, wenn ich etwas von den oberen Herren brauchte, dann habe ich schon einen gefunden, der mir übersetzt hat, was ich zu sagen hatte.

Jedenfalls war die Zeit auch in Partschins nicht stehen geblieben. Den Krämerladen hatten mittlerweile die Geschwister vom Rudl übernommen. Aus diesem Grund war er froh, als er erfuhr, dass für die Sennerei in Rabland ein Verwalter gesucht wurde und begann alsbald mit der Arbeit. Nachdem das Dorf kaum mehr als zehn Bauernhöfe zählte und jeder alles von jedem wusste, haben wir uns den Neuen aus Partschins freilich gleich am ersten Tag anschauen müssen. Später erzählte er mir, dass ihm meine Art schon gleich aufgefallen sei, er aber noch etwas nachdenken wollte. Noch etwas nachdenken? Das hatte ich schon für ihn mit erledigt, denn bereits in der ersten Nacht habe ich gründlich alle Für und Wider durchgespielt.

Der Weltkrieg hatte Generationen junger Männer einfach niedergemäht. Ich sah, wie viele Frauen, die in der Zwischenzeit ums Überleben der Kinder und Alten gekämpft und sehnsüchtig auf die Hilfe der Heimkehrer gehofft hatten, bitter enttäuscht worden waren. Viele Kriegsveteranen, die oft erst Jahre nach dem Kriegsende zurück kamen, waren verkrüppelt oder verrückt, im schlimmsten Fall sogar beides.

Ich überlegte: „Der Rudl ist körperlich und, wie es scheint, auch geistig gesund vom Krieg heimgekommen. Er ist Mitte zwanzig, im besten Mannesalter also, groß, blond und mit seinen blauen Augen auch hübsch anzusehen. Er hat eine feine, ruhige Art, und wenn er spricht, dann so leise, dass man ihn kaum hört. Er ist gebildet und liest gern.“

Bei mir hingegen fiel die Bilanz weit weniger schmeichelhaft aus. Ich muss zugeben, ich war mit meinen 26 Jahren schon recht alt, um noch als gute Partie für die Ehe durchzugehen. Eine Schar von jüngeren, bescheidenen, fleißigen, vor allem aber heiratswilligen Mädchen gab es in jedem Dorf, ja sogar auf jedem Hof. Der Rudl war zweifelsohne ein ausgesprochener Glücksfall für mich, und die Frage war folglich gar nicht, ob überhaupt, sondern nur wie?

Die hohe Kunst des Kochens sollte mir dabei zu Hilfe kommen. „Du Rudl, heute Mittag, da lad ich dich zu mir in die Gaststube ein. Auf der Speisenkarte stehen Kiachln.“ Da lachte er und meinte: „Ja, wenn du mich schon einlädst, dann muss ich wohl kommen. Ich hab schon gehört, die Seffa, die kann richtig gut kochen. Schauen wir, ob es stimmt.“ Da konnte ich nur schmunzeln, denn ich wusste ganz genau, dass allein schon der Geruch des Bratfetts von den Kiachln die Leute wie magisch in meine Gaststube zog. Diese magere Gestalt vor mir, die in den letzten Jahren mit Sicherheit viel Hunger hatte leiden müssen, sie würde bestimmt keine Ausnahme sein. Aber das war nicht das Einzige, was ich vorbereitete. Als er kam, wurde so richtig aufgetischt: Frittatensuppe, Kraut mit Geselchtem, Knödel, Schnitzel und zum Schluss die Kiachl, gefüllt mit süßer Marmelade und bestreut mit feinem Zucker. Dazu gab es einen Krug guten Rotwein. Es war wie ein Hochzeitsmahl. Der Rudl rieb sich den vollen Bauch, lächelte zufrieden und ich wusste, ich hatte gewonnen. Auf diese Köstlichkeiten wollte er fortan nicht mehr verzichten und auf die Köchin derselben auch nicht. Im Eiltempo haben wir noch im Jahr 1920 geheiratet und der Rudl zog bei mir im Neuwirt ein.

1921 kam der erste Bub, der Rudl zur Welt, ein Jahr später bereits der Heiner, dann kamen noch die Berta, der Luis, der leider nach wenigen Tagen verstarb, die Greti, die Anna und nach einer längeren Pause als letztes Kind die Johanna.

„Berta, jetzt bist du schon dreizehn und alt genug, auf das Hannele zu schauen. Je früher du das lernst, desto besser“, bestimmte ich. Als Bäuerin ohne Bauer hatte ich nur wenig Zeit für die Kinder. Zudem war ich überzeugt, dass die Berta diese Aufgabe nicht im Geringsten als Last sah, denn sie mochte unsere Kleinste. Ich beobachtete, wie sie ihre Aufgabe sehr ernst nahm, das Mädchen umsorgte und behütete. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass das Hannele in der Berta mehr eine Mutter sah als in mir, denn sie hing an ihr und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Wenn ich hingegen zu ihr hinging, dann versteckte sie sich hinter meiner Ältesten, gerade so als ob sie Angst vor mir hätte. Aber die Berta war es, die für sie strickte und ihr Kleider nähte, um die sie alle Bauernmädchen des Dorfes beneideten, nicht ich. Später lehrte sie ihrer kleinen Schwester das Nähen, Sticken, Stricken, eben alles, was ein Mädchen im Haushalt wissen sollte. „Das Hannele wird viel zu viel verwöhnt“, sagte ich eines Abends zum Rudl. Doch der lachte nur und meinte: „Ach lass sie. Es ist doch schön, zu sehen, wenn sich die beiden Schwestern mögen.“

Meine beiden Söhne, der Rudl und der Heiner, und auch die Greti waren anders als andere Kinder. Sie sprachen nur wenig und wenn, dann so still und mit schwerer Zunge, dass es kaum zu verstehen war. Die Anna, meine Schwester, warf mir immer vor, dass ich schuld daran sei. Ich hätte es versäumt, die Buben von einem Arzt richtig behandeln zu lassen, als sie Mittelohrentzündung hatten. Dabei habe ich das gemacht, was man bei solchen Dingen eben gemacht hat, nämlich warmes Öl in die Ohren zu gießen. Noch immer klingt mir ihre vorwurfsvolle Stimme im Ohr, als sie mich angiftete: „Der kleine Rudl, erinnerst du dich? Ohrenweh hat er gehabt. Ganze vier Tage lang hat er geweint, und als er mit dem Weinen aufhörte, da hat er nichts mehr gehört. Für alles, was in diesem Dorf geschieht, interessierst du dich, rennst jeden Tag in die Kirche und sitzt mit dem Pfarrer beisammen, aber die eigenen Kinder, für die fehlt dir immer die Zeit, die sind dir ganz gleich.“ Diese dumme Kuh, meine Kinder konnten reden, aber halt nur ganz still und nicht so recht deutlich, was hätte man da schon tun sollen. Und überhaupt, was der Herrgott geschaffen, muss man annehmen, wie es ist. Für den Hof jedenfalls war es das Wichtigste, dass die Kinder arbeiten konnten. Das war auch ohne Worte möglich.

Wenn überhaupt, so konnte dieser Makel nur von der Seite vom Rudl stammen, denn auch er sprach nur sehr leise. Er mischte sich in diese Dinge sowieso nicht ein. Für ihn war jedes Kind gottgewollt, und er liebte es, wie es war. In der russischen Kriegsgefangenschaft hatte er gelernt, sich wortlos mittels Handbewegungen zu verständigen. Dies tat er stets auch mit unseren Buben. Ja, es schien ihm geradezu das Natürlichste auf der Welt zu sein. Er mochte es einfach, in Stille beisammen zu sitzen; ich wusste auch warum, denn in seinem Kopf war nie Ruhe. Da spielte unaufhörlich immer ein und dieselbe Melodie: die des Radetzkymarsches. Wir konnten es alle hören. Jedes Mal wenn er in der Stube saß, trommelte er die Takte des Marsches mit seinen Fingern auf die Schenkel. Tatatam, tatatam, tatatatatam.

Wir waren zwei grundverschiedene Menschen. Er, der Schweigsame, Ruhige, ich die Lebhafte, die Schafferin. Meine Art war ihm zu schnell, innerhalb von Sekunden konnte ich aufbrausen, mich dann aber wieder beruhigen, Entscheidungen treffen und diese durchsetzen. Umgekehrt machte er mich verrückt in seiner langsamen Art. Er musste für meinen Geschmack einfach immer viel zu lange nachdenken, um zum Punkt zu kommen. Eine Leidenschaft aber schmiedete uns immer wieder aufs Neue zusammen – das Lesen. Wir lasen alles, was es an Lesbarem gab. Jeden Tag wurde die Tageszeitung „Dolomiten“ gekauft, einmal in der Woche kam der „Volksbote“ hinzu. Die Zeitungen hatten ihren fixen Platz in der Küche, und es war ganz selbstverständlich, dass täglich der Pfarrer und der Doktor, oft aber auch andere Leute aus dem Dorf kamen, nur um die Zeitung anzuschauen und den einen oder anderen Artikel zu lesen. Meist blieben sie gleich zum Mittagessen auf dem Hof. Das gefiel mir. Ich hatte zwar kein Gasthaus mehr, umso mehr erfüllte mich mit Stolz, dass der Strasserhof den Ruf hatte, ein Ort zu sein, wo die Tür für jeden Hilfesuchenden und Hungrigen offenstand.

Wir gingen immer früh zu Bett und lasen bis spät in die Nacht. Am Morgen wurde geschlafen, bis die Glocken der kleinen Jakobskirche von nebenan läuteten. Dann musste es schnell gehen. Ruck zuck sprangen wir aus dem Bett, hinein in das Gewand, das ich am Vorabend schon hergerichtet hatte, die Haare nach hinten zum Gungl gekämmt und hinunter zur Messe. Die Kinder machten es uns nach und blieben ebenfalls so lange als möglich im Bett. Meine Schwester Anna hatte gar kein Verständnis für solche morgendlichen Gemütlichkeiten und tuschelte säuerlich: „Beim Strasser, ja da geht’s in der Früh gemütlich zu, da braucht vor acht Uhr keiner zu läuten, da sind alle noch in den Federn.“ Dies stimmte so nicht ganz. Unser Fütterer hatte schon längst alle Tiere versorgt und unsere zwei Mägde bereits das Frühstück vorbereitet. Der Tag war schließlich noch lang genug zum Arbeiten. Nach dem Frühstück teilte ich für alle die Arbeit ein. Dabei wurden keine Ausnahmen gemacht. Jeder musste mitarbeiten. In den Sommermonaten kamen die Kinder vom Tschögglberg als weitere Arbeitskräfte hinzu und arbeiteten auf den Feldern und im Stall mit. Auf dem Hochplateau entlang des Etschtales waren die Bauern so arm, dass nicht genug Brot für die vielen Kinder da war. So wurden die Kinder auf verschiedenste Höfe im Umland aufgeteilt. Zu essen gab es beim Strasser immer reichlich, doch erst kam die Arbeit, dann der volle Teller.

Meinen Mann kümmerte die Arbeit auf dem Hof wenig, denn er arbeitete mittlerweile wieder im Laden in Partschins. Als wir 1925 den Strasserhof übernahmen, musste der Stadel renoviert werden. Nachdem ich im „Bayrischen Hof“ die Annehmlichkeiten einer Toilette kennengelernt hatte, packte ich die Gelegenheit beim Schopf, und wir ließen eine Toilette mit Spülung und dazu sogar ein Bad einbauen. Das war eine richtige Sensation. Da der Hof jedoch hoch verschuldet war, mussten wir uns das Geld für den Umbau leihen. Rudls Bruder, der Luis, lieh uns etwas vom Krämerladen. Als dieser zehn Jahre später schwer bekümmert starb, wurden die Geschäftsbücher kontrolliert und wir stellten erstaunt fest, dass das Bankkonto komplett leer, der Vorratskeller hingegen bis zur Decke voll mit Kartons gestapelt war, die nur eines enthielten, nämlich bunte kleine Bonbons. Was war geschehen? Rudls Schwester, die Serafine, erzählte nach einigem Zögern, dass der Luis bei diesem jungen, netten italienischen Vertreter für Süßigkeiten immer etwas bestellt habe. Danach seien sie in den Keller gegangen und erst nach längerer Zeit wieder zurückgekommen. „Was soll ich sagen“, meinte sie, „mir ist halt aufgefallen, je älter der Luis wurde, desto öfter kamen Männer in den Laden und konnten einkaufen, was sie wollten, ohne zu bezahlen. Manchmal, da hat er ihnen sogar Geld aus der Tageskassa gegeben. Ich habe mir schon meine Gedanken dabei gemacht und deshalb alles immer gleich beim Pfarrer gebeichtet. Der Herrgott wird‘s schon richten.“

Die Serafine wollte und konnte das Geschäft nicht alleine weiterführen. So blieb dem Rudl nichts anderes übrig, als den Laden zu übernehmen, und diesmal war es der Strasserhof, der die Schulden bezahlte. Mein Mann ging nun jeden späten Morgen schnellen Schrittes von Rabland nach Partschins und kam am Abend sichtlich langsam und gemächlich wieder zum Strasserhof zurück. Das ärgerte mich. „Rudl, warum kommst du schon wieder so spät nach Hause, du weißt doch genau, ich will, dass am Abend alle auf dem Hof sind“, schimpfte ich. Er aber drehte sich zu den Buben, dem Heiner und dem Rudl um und gab ihnen mit Handzeichen zu verstehen: „Sie isch und bleib holt a General.“ Alle drei lachten und nickten. Dann setzte er sich nieder, las wie üblich die Zeitung und trommelte mit den Fingern seinen Radetzkymarsch auf den Tisch.

Außerhalb des Dorfes lagen nach Westen hin unsere Korn- und Gemüsefelder. Angebaut wurden Sellerie, Lauch, mehrere Kohlsorten, Salat, Zucchini, Tomaten, Rohnen, verschiedenste Kräuter, kurzum alles, was am Hof an Lebensmitteln gebraucht wurde. Um in dieser feuchten Talsohle Gemüse anbauen zu können, mussten immer wieder nach einer bestimmten Anzahl von Zeilen tiefere Gräben gegraben werden, in denen sich das Grundwasser sammeln konnte. Diese führten in den noch tiefer liegenden Bach, den Gießen, der schlussendlich in die Etsch mündete. Der Vorteil dieser Lage war, dass man das ganze Jahr über keine Bewässerung brauchte. Zwiebeln und Kartoffeln konnten hier nicht angebaut werden, sie wuchsen auf einem anderen Acker an den trockenen Hängen des Sonnenberges. Wenn ich nicht in der Küche arbeitete, so war ich mit meinen Kindern auf den Feldern, kontrollierte, ob alles in Ordnung war, gab weitere Anweisungen und arbeitete mit. Für die Arbeit auf dem Feld hatte ich zwei Haflinger gekauft, den Fritz und die Liesl. Sie zogen den Pflug oder anderes Gerät und waren unsere Lieblinge im Stall. Von all unseren Tieren, den Kühen, Schweinen, Schafen, Hennen, ja sogar den Katzen, bekamen sie am meisten Zuwendung. Auf dem Hof lief alles gut, wir hatten wohl wenig Geld, aber dafür immer genug zu essen auf dem Tisch. Dies war nicht selbstverständlich, denn die Zeiten waren schlecht.

Vom italienischen Faschismus hat unser Dorf wenig gespürt. Die paar Höfe waren zu klein und unwichtig, um politisch ins Gewicht zu fallen. Dennoch gab es in dieser Zeit jede Menge arme Leute, deren ständiger Begleiter der Hunger war. Die italienischen Familien, die angesiedelt worden waren, machten keine Ausnahme, auch sie mussten schauen, wie sie über die Runden kamen. Ich hingegen hatte den Stall voller Tiere, die Ernte lief gut, etwaige Engpässe konnten durch die Einnahmen des Krämerladens ausgeglichen werden. „Der Hunger ist der schlechteste Ratgeber für die Leute“, seufzte der Pfarrer eines Tages: „Wenn sie gar nichts mehr haben, verlieren sie langsam auch den Glauben an das Gute in der Welt und an unsere Heilige Kirche.“ Ich wollte helfen, aber wie? Dann kam mir eine Idee: „Weißt du was, die Ärmsten sollen einmal in der Woche auf dem Hof ein warmes Essen bekommen.“

So wurde der Freitag der Tag der Lotterer. Jedem, der an diesem Tag kam, stand die Tür des Hofes offen, und er erhielt ein Mittagessen. Im Gang stand ein breiter langer Tisch, an dem normalerweise die Knechte und Mägde saßen. Hier wurde nun für die Lotterer aufgetischt. Manchmal kamen nur fünf Leute, manchmal waren es aber auch über fünfzehn. Ich kochte immer etwas Deftiges mit viel Schmalz, damit die Leute auch richtig satt wurden. Was übrig blieb, wurde aufgeteilt. Da ließen sich die Lotterer nicht lange bitten und hielten ihre Schüsseln bereitwillig hin.

Ich bemerkte bald, dass nur die Bettler auf den Hof kamen, andere Dorfleute, bei denen ich genau wusste, dass sie zu Hause nichts zu beißen hatten, die schämten sich, ihre Armut so offen zu zeigen. „Wenn sie nicht zu mir kommen können, dann werde ich eben zu ihnen kommen“, ging es mir durch den Kopf und ich beschloss, von Zeit zu Zeit ein Schaf zu schlachten und an diese Leute zu verteilen.