Ur-Tiefe

fils Muttererbe durch die fldern rinnt

mir Blut der Räter-flhnen, ftill und fäumend;

der blonde Dater, jäh und überfchäumend,

die dunkle Räter-Mutter, leife träumend -

fie ftreiten, mer mein Jnnerftes geminnt.

Ift’s darum, daß ich fo oiel Sehnfucht trage?

Mein halbes Leben mebt in Lied und Sage,

auf Kampf und Micklichkeit mein andres finnt.

Arthur o. Mallpach

Inhalt:

Für wissenschaftliche Benützer dieses Buches

welche die fremden Namen und Wörter linguistischen Arbeiten einfügen möchten, sei bemerkt, daß sich ein Teil dieser Namen und Wörter nicht dafür eignet, und zwar deshalb, weil sie entweder nur ein einziges Mal gehört wurden oder weil sie von mangelhaft unterrichteten Personen oder von solchen stammen, die selbst zugaben, daß sie ihrer Sache nicht sicher seien, oder weil die Form wegen unvollständiger Artikulation (wie sie zuweilen bei alten Leuten vorkommt) nicht klar erfaßt werden konnte oder weil die Erzähler sich widersprachen, was besonders häufig bei den Namen vorkam. Diese auszuscheidenden Namen und Wörter sind folgende:

Comèles, Dìna, Elyònda, Gamína, Gárdis, godàra, Górdo, Ilda, Jendsàna, Lapónis, Larghidán, Layadüra, Lidána, Lìdis, Lóndo, Loogut, Lyubán, Macài de Marcòra, Odòlghes, Paghínis, Peleghétes, Pelendróns, Pélna, Salòy, Siliwéna, Yarìnes, — Comèeles hat sich inzwischen als romanisch erwiesen: columnelles „kleine Säulen“, nach der Gestaltung der Felsen.

„Mòrkyes del Fursíl“, sagte ein Buchensteiner, der lange in Fassa gelebt hatte und allerhand Kenntnisse besaß. Ich vermute, daß er jene Bezeichnung willkürlich geprägt habe, weil es in Buchenstein das Wort „mòrkye“ (Zwerg) nicht gibt; in Fassa hingegen ist es allgemein bekannt. In Enneberg nennt man „mòrko“ einen schwachen, armseligen Menschen.

Vorwort zur ersten Auflage

Es sind nun gerade zehn Jahre, daß ich Dolomiten-Sagen sammle1. Von Jahr zu Jahr wird es schwerer. Seitdem der Bozner Handelsschulprofessor Cassan, ein gebürtiger Fassaner, und der alte Dantone nicht mehr unter den Lebenden weilen, wird es kaum noch möglich sein, im Fassa-Tal etwas zu erfragen. (Nur Herr Hugo v. Rossi in Innsbruck besitzt noch bemerkenswertes Material, das er mit großer Umsicht zu vermehren trachtet.) In den anderen Tälern hat man nach meinen Erfahrungen noch weniger Aussicht auf Erfolg. Die Leute glauben, man wolle sich über sie lustig machen, wenn man nach den „vèyes ditsh“, den alten Sagen und Überlieferangen, frägt. Ja, sie pflegen einem sogar nach einigen Jahren abzustreiten, was man in derselben Gegend erfahren hat.

Der Kundige, der dieses Buch durchblättert, wird alsbald bemerken, daß ich die Sagen frei bearbeitet habe. Bei der Lückenhaftigkeit und bei den oft schreienden Widersprüchen der Überlieferang hielt ich mich dazu für berechtigt. Meine Bearbeitung ist aber keine will kürliche, denn wenn ich auch Fehlendes zu ergänzen und Widersprüche auszugleichen trachtete, so habe ich mich doch stets bemüht, dies im Geiste der Dolomitenbewohner zu tun. Und bei meinen langjährigen Arbeiten in den Dolomiten, glaube ich mit dem Geiste, der die Poesie der Dolomitenbewohner durchweht, vertraut geworden zu sein. Was mir vorschwebte, war eine Bearbeitung, wie sie die indischen Sagen durch Holtzmann erfahren haben; auch dieser hat ergänzt und geändert, aber immer unter strengster Rücksichtnahme auf die betreffende Umwelt und auf den Vorstellungskreis der ursprünglichen Erzähler.

Am freiesten bearbeitet ist das Märchen vom „Großen Sehnen“; hier sind fünf verschiedene Sagen und Erzählungen zusammengeflochten: „Das große Sehnen“, „Die gläsernen Berge“, „Der Rosenfluch“, „Die Layadüra“ (der Ton ist auf dem ü) und endlich die Geschichte von einer Königin und ihren Untertanen. Ich habe das alles zusammengenommen. Unter den „Gläsernen Bergen“ ist die vergletscherte Alpen-Hauptkette zu verstehen (vgl. die Nachträge zu der Erzählung „Das große Sehnen“). Die Layadüra ist einer der oberitalienischen Seen, wahrscheinlich der Gardasee. Diese Sage von einer seligen Seelandschaft scheint auch in Graubünden verbreitet zu sein.

Die „Salwària“ ist die wörtliche Übersetzung eines Urtextes, den ich genau nach den Angaben von Einheimischen (Buchensteinern) ladinisch niedergeschrieben habe. Auch der „Wintersenner“ zeigt eine ähnliche, ungetrübte Wiedergabe.

Mit dem vorliegenden Buche ist meine Sammlung nicht erschöpft; insbesondere halte ich das alt-fassanische Epos für eine besondere Ausgabe zurück.

Bozen, im Juli 1913 Karl Felix Wolff

1 Diese Bemerkung wurde von einem meiner Kritiker so ausgelegt, als ob ich erst im Jahre 1903 angefangen hätte, mich mit den Erzählungen des Dolomitenvolkes zu beschäftigen. Wahr ist, daß ich schon als Kind solche Erzählungen gehört und meinem Gedächtnis eingeprägt habe. Aber im Jahre 1903 begann ich zum Zwecke der Veröffentlichung planmäßig zu sammeln.

Vorwort zur achten Auflage

(Mit Ergänzungen)

      „Wir, unserer eigenen Vorzeit fremd geworden, können nur täppisch suchen, das Neue mit dem Alten zu verknüpfen.“

(Jakob Grimm in Haupts „Zeitschrift für deutsches Altertum“, 1841, erster Band, S. 575.)

„Die Kunde des alten Volkes in den Tälern um Eisack und Rienz liegt im Sterben.“ So klagte der ethnologische Sammler Karl Wohlgemut in seiner Selbstbiographie. Am meisten gilt dies von den Sagen, Märchen und Überlieferngen; hier tritt aber noch erschwerend hinzu, daß manche Leute sich ihrer schämen und daher grundsätzlich alles ableugnen, was sie davon noch wissen. Das zeigt sich ebenso deutlich bei Deutschen wie bei Ladinern. Bevor ich näher darauf eingehe, sollen hier für landfremde Leser einige Angaben über das Volk der Ladiner gemacht werden. Das Gebiet der Dolomiten (von Bozen bis Belluno und von Bruneck bis zum Suganertal) wird im Westen und Norden von Deutschen, im Süden und Südwesten hauptsächlich von Italienern, in seinen inneren Teilen aber von Ladinern bewohnt. Es sind dies die Nachkommen der (in sprachlicher und stammesgeschichtlicher Hinsicht noch sehr umstrittenen) alten Räter. Diese Ladiner haben zur Römerzeit, besonders aber in den folgenden Jahrhunderten durch Einfluß der Kirche das Lateinische angenommen und es ihren früheren Lautgewohnheiten angepaßt. Das geschah nicht nur in den Dolomitentälern, sondern fast im ganzen östlichen Alpenraume, denn die Sprachgemeinschaft, deren letzten Rest die Ladiner bilden, muß (den neuesten Forschungen zufolge) vom Apennin bis zur Donau und vom Gotthard-Stock bis Istrien gereicht haben. Durch das Vordringen des deutschen Volkstums von Norden und der italienischen Sprache von Süden wurde dann das ladinische Sprachgebiet durchbrochen und in drei Restgruppen aufgelöst: eine in Graubünden, eine in den Dolomiten und eine in Friaul. Dieses „Rätoromanisch“ reicht trotz aller .Einengung und Zerreißung noch immer aus dem Inneren der Schweiz bis an die Adria und ist eine besondere romanische Sprache. Sie steht dem Französischen und Spanischen näher als dem Italienischen, denn sie hat das auslautendes bewahrt, das dem Italienischen fehlt. Die ladinische oder rätoromanische Sprache umfaßt über 70 Mundarten, wovon auf die Dolomiten-Ladiner ein Dutzend entfällt. Dabei beträgt die Kopfzahl der Dolomiten-Ladiner nur etwa 22.000. Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, daß einst im ganzen rätoromanischen Gebiete lebhafter Verkehr und geistiger Zusammenhang geherrschat hat. Jedenfalls arbeitet die Sagen- und Märchenpoesie der Dolomiten-Ladiner mit Begriffen, die außerhalb ihrer engeren Heimat liegen; so kennt sie die vergletscherten Gipfel der Hauptalpenkette; sie kennt aber auch die venezianische Ebene (Splanèdis) und das „Große Randwasser“ (áyva Limidóna), das heißt das Meer. Ferner kennt sie die Städte Aquileia (Algléya) und Venedig (Anyèzhia) sowie einen der großen oberitalienischen Seen (Layadüra). Ausdrücklich sei bemerkt, daß äußerst enge landschaftliche und volkskundliche Übereinstimmungen die Dolomiten mit den Karnischen Alpen verbinden; diese aber bilden für ganz Friaul und sein Volkstum das eigentliche Kerngebiet und den Jungbnmnen, aus dem die furlanische Eigenart immer wieder neu hervorquillt.

Eine allgemein anerkannte ladinische Rechtschreihung gibt es noch nicht. In dem vorliegenden Werke ist zu beachten, daß zh französischem j und sh deutschem sch entspricht. Ladinisches v ist gleich deutschem w. Alle übrigen für das Ladinische verwendeten Lautzeichen sind wie im Deutschen zu lesen. gh klingt ein wenig verschieden von g, was aber ein deutscher Leser nicht zu beachten braucht; dash bleibt stumm. (Wer sich über das Rätoromanische näher unterrichten will, benütze die Werke: P. J, Andeer, „Raetoromanische Elementargrammatik“, Zürich, Füßli — Theodor Gartner, „Raetoromanische Grammatik“, Heilbronn, Henninger, 1883 — Theodor Gartner, „Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur“, Halle 1910); dieses ist besonders zu empfehlen. — Eine allegemeine Übersicht findet man im „Schiern“ 1955, S. 240 ff.)

Eine wichtige Rolle spielten einst im öffentlichen Leben der Dolomiten-Ladiner die Freilicht-Bühnen, auf denen an sonnigen Wintertagen mehrstündige Vorstellungen gegeben wurden. Man kehrte den Schnee weg, legte Bretter auf den Boden, und die Zuschauer standen so, daß sie die Sonne im Rücken hatten. Die Darsteller spielten im vollen Sonnenschein. Während der Pausen (aber nicht während des Spieles) wurde stehend gegessen. Besonders ergreifende Auftritte mußten mehrmals wiederholt werden. Bei Sonnenuntergang (kan soredl va flori, d. h. wenn die Sonne blühen geht) eilte man in die Häuser, und nun erst wurde gekocht. Die Bühnenkünstler verstanden sich meist auch auf das Vortragen von Liedern und auf das Erzählen. Dieses wurde in den Spinnstuben geübt. Daß die vorgetragenen Erzählungen kurz gewesen seien, wie man aus den heutigen trümmerhaften Resten erschließen will, ist eine ganz verfehlte Vorstellung. An einem Spinnstuben-Abend wurde meist nur eine Erzählung vorgetragen, und diese dauerte ungefähr zwei Stunden. Ja, es gab Vortragsmeister, die es verstanden, ihre Erzählungen geschickt abzuteilen und die Fortsetzung auf den nächsten Abend zu verschieben. Im Alpàgo, einer abgeschlossenen Berggegend am Südost-Rande des Dolomiten-Gebietes, lebte noch um dieJahrhundertwende ein alter Mann, der seine Spiunstuben-Erzählungen über eine ganze Woche auszudehnen pflegte. Noch 1932, als ich zum letztenmal im Alpàgo weilte, sprachen die Leute mit Bewunderung von diesem Erzähler, aber niemand verstand es ihm gleichzutun. Bei den Deutschtirolem hieß ein solcher Erzähler „a feiner Prechter“. Dieser Ausdruck ist nach Karl Staudacher („Sehlem“, 1933, S. 320) im Pustertale heute noch bekannt; er gehört zu zimbrisch „prechten“ = reden. — Im Louc (Wallis) sang eine alte Frau eine „cantique“ von 114 achtzeiligen Strophen frei aus dem Gedächtnis 3.

Die Volksbühnen sind längst abgekommen und auch die Erzählkunst ist verfaUen. Am schlimmsten aber wirkt sich eine gewisse Bildung, richtiger Verbildung, aus, die den Leuten das alte überlieferungsgut und den ganzen Vorstellungskreis der alten Zeit als unwürdig und lächerlich erscheinen läßt. So wollte ein Ampezzaner mir gegenüber. durchaus nicht .zugeben, daß man dort von den Anguànes (den Wasserfeen) allerhand erzählt habe; in die Enge getrieben, bemerkte er schließlich mit verächtlichem Achselzucken, es sei ein dummer, alter Aberglaube. Ein anderer Ampezzaner, dem ich dies mitteilte, nickte verständnisvoll und sagte: „i no vò pi savè pi de nùya de sta ròba vètjes“ (sie wollen von diesem abgestandenen Zeug nichts mehr wissen). Eine alte Frau, die als „britéra“ (Sennerin) in ihrer Jugend noch viele Sagen erzählen gehört hatte, konnte mir trotz guten Willens nur sehr mangelhaft Auskunft geben und schließlich bemerkte sie: „l’era ’n vètjo, kel savéa kontà duta sta ròhes, ma l’è tanto ke l’è morto“ (ee war ein Greis, der alle diese Geschichten zu erzählen. wußte, aber er ist längst tot).

Daß es für das Alpenglühen in den Dolomitentälern - alte, einheimische Bezeichnungen gab, wissen heute noch viele Leute, aber sie können sich an sie nicht mehr erinnern. „I te an dut desmintja“ (sie haben alles vergessen), schreibt der furlanische Sagenforscher Malattia della Vallata. Über den großen Sagenkreis vom „Reich der Fànes“ wußten mir zwei Frauen aus dem Gadertale, die sonst gut unterrichtet waren, nur folgendes zu sagen: „La ìte te Fànis éle tsakàn de gran vères ánter ki de Fànisei Lumbértsh“ (dort drin in Fànis gab es einst große Kämpfe zwischen den Leuten von Fànis und den Langobarden). Über die heilige Flamme, die der Adler auf dem Kreuzkofel hütet, äußerten sie sich wie folgt: „Sul Saß de la Kruzh valyàde odòi na gran flama, ke zhò íaekàeàl korù brumekötjen“ (auf dem Kreuzkofel sieht man zuweilen eine große Flamme, die hin und her geht und blaue und rote Farbe hat). Den Namen Dolasílla hatten sie gehört, und sie meinten, es sei eine Fürstin jener Fànes gewesen. Auch wußten sie etwas von einem Bündnis der Fànes mit den Murmeltieren. Sie hatten endlich den Namen „Ödl de Nöt“ gehört und meinten, er bezeichne etwas Geisterhaftes. Eine dritte Frau aus demselben Tale bemerkte: „da nos kuntài tröp dla Dolasílla“ (bei uns erzählte man viel von der Dolasílla), und sie fügte hinzu: „Dolasílla aré la fía dla rezhìna de’Fànes“ (Dolasílla war die Tochter der Königin der Fànes), das habe sie schon als Kind gehört. — Eine alte Grödnerin, die viel auf Almen gearbeitet hatte, wollte zunächst gar nichts wissen. Als’ ich dann meinerseits anfing, ihr das und jenes zu erzählen, sagte sie: „Tel stòryes éy audí dai tshentsh“ (solche Geschichten habe ich Hunderte gehört). über das Reich der Fànes bemerkte sie: „De la mont de Fànes éy audí trópes stòryes da temèy dai védli da tzakán, ma n’é méy kerdú dut — im’é desmintjá“ (über die Fànesalm habe ich seinerzeit von den Alten viele unheimliche . Geschichten gehört, aber ich habe niemals alles geglaubt — und nun habe ich es vergessen) 4.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte Julius Fröbel eine Studienreise im Wallis und schrieb ein Buch darüber. Darin schildert er, wie die Leute auf seine Frage, ob sie nicht alte Lieder besäßen, geantwortet hätten,. solche Lieder gäbe es wohl noch, aber sie enthielten nichts als Dummheiten (des folies) und würden nur von alten Trunkenbolden gesungen. Mit Mühe, sagte Fröbel, habe er zunächst eine Stelle aus einem solchen Liede und endlich das ganze Lied erfragen können5. Das Lied ist sehr schön in Form und Inhalt. Wir können leider daraus folgern, daß eine Menge herrlichen alten Volksgutes durch Unverstand und Bildungsdünkel verlorengegangen sein muß.

Ludwig Steub berichtet in seinen „Drei Sommer in Tirol“ (München, 1846, S. 219 f.), daß die Frage nach Volkssagen manchmal als eine Beleidigung angesehen werde. Als ein Fremder einige Sagen aus dem Ötztale veröffentlicht hatte, begaben sich die Ältesten des Tales zum Landgericht, um den Verfasser zu belangen, weil er ihre Heimat mit alten Mären höhne, welche die Aufklärung schon längst abgebracht habe. Das Landgericht scheint ihnen aber nicht willfährig gewesen zu sein, denn einer dieser Ötztaler griff dann zur Feder, um sich im „Tiroler Boten“ darüber zu beschweren, daß der fremde Schriftsteller die Talbewohner so geschildert habe, „als wären sie erst seit vorgestern aus den Wäldern hervorgegangen und noch immer vom tiefsten Aberglauben umnachtet“. Er mußte aber zugeben, daß die betreffenden Mären „an langen Winterabenden in der Kunkelstube“ doch noch erzählt würden.

Die von Reber am Ausgang des 19. Jahrhunderts im schweizerischen Schrifttum behandelten Schalensteine, Örtlichkeitsnamen und Sagen der Walliser Hochtäler waren um das Jahr 1936 den Einheimischen nur noch in Restvorstellungen bekannt, so daß hier der Verfall der Überlieferung deutlich zutage tritt. (Vgl. den 28. Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte, 1936, S. 93 ff.)

Was das bereits erwähnte Ableugnen anbelangt, so nimmt es zuweilen unglaublich starke Formen an. Im Jahre 1932 wollte die älteste Frau des Buchensteiner Tales nicht zugeben, daß am Monte Póre jemals ein Bergwerk gewesen sei, und als ich auf mehrere Sagen hinwies, die an jenes Bergwerk erinnern (z. B. an die Geschichte von den „Blumen des Eisens“), da erklärte sie diese angeblichen Sagen für lächerliche Erfindungen, und zehn andere Leute gaben ihr recht. Ich wäre geneigt gewesen, ihnen zu glauben, wenn ich nicht Aufzeichnungen bei mir gehabt hätte, die 24 Jahre vorher gemacht worden waren. Damals hatte mir nämlich ein alter Hirte aus Andràz nicht nur die Sage von den „Blumen des Eisens“ und andere Bergwerksgeschichten erzählt, sondern mir auch an den Berghängen entlang den Pfad gezeigt, auf dem das Eisen gesäumt worden war, und er nannte diesen Pfad „Tryòl da la vàna“.

Als ich acht oder neun Jahre alt war, erzählte uns ein alter Arbeiter aus Primiero, daß es dort im Jahre 1809 erbitterte Kämpfe mit den Franzosen gegeben habe. Sogar Frauen hätten mitgefochten, und ein junges Mädchen sei den Schützen vorangegangen. Sein Vater, ein Mitkämpfer, habe ihm das oft geschildert. 1907 kam ich zum ersten Male nach Primiero und wollte Näheres darüber hören, denn ich setzte voraus, daß die Überlieferung lebendig sein müßte. Ich fand aber nicht nur keinen Mensehen, der von jenen Dingen etwas gewußt hätte, sondern man versicherte mir, es liege zweifellos eine Verwechslung mit dem Mädchen von Spinges vor: Der alte Arbeiter habe wahrscheinlich etwas von der Spingeserin gehört und dann seine schönen Geschichten daraus gewoben; jedenfalls habe es in Primiero niemals eine solche Heldin gegeben. Ich wollte diesen Behauptungen schon Glauben schenken, als mir zufällig ein altes italienisches Geschichtswerk in die Hände kam, welches nähere Angaben über das Jahr 1809 in Primiero enthielt. Da hieß es, es sei dort damals schwer gekämpft worden, und ein adeliges Fräulein namens Giuseppina Negrelli de Zorzi habe sich an die. Spitze der Landstürmer gestellt, „infondendo coraggio nei suoi soldati, e. dando molte prove di ardire ebravura“ (ihren Soldaten Mut einflößend und viele Proben von Kühnheit und Tapferkeit gebend). Es war also alles wahr, was der alte Arbeiter erzählt hatte.

Im Winter 1887/88 war ich längere Zeit krank, weshalb meine Mutter eine Pflegerin für mich bestellte. Es war eine alte Frau aus dem Fleimstal, und man nannte sie nur „la vètja Lèna“ (die alte Lena). Ihr — die ich nie mehr wiedersah — bin ich zum größten Dank verpflichtet, denn sie hat bestimmend auf meine geistige Entwicklung eingewirkt, indem sie mir die ersten Geschichten erzählte. So mangelhaft sie es auch tat, der Eindruck war ein unauslöschlicher. Als ich dann im Jahre 1903 das Fleimstal besuchte, stellte ich mir vor, es müßte dort jeder Mensch diese Geschichten kennen. Es dauerte aber lange, bis ich einen alten Hirten fand, der etwas davon wußte. Und dann mußte ich erst noch geduldig herumfragen, bis ich die Geschichten besser zu erfassen und auszugestalten vermochte, als es. jene alte Frau getan hatte. Eine Hauptrolle spielte in diesen Fleimser Geschichten das Waldgebirge Lagorài mit dem gleichnamigen See. — Viele Jahre später, als die auf elektrischen Betrieb umgebaute Fleimstalbahn feierlich eröffnet wurde, hatte ich Gelegenheit, mit verschiedenen Fleimsern zu sprechen und sie über Geschichte und Sage ihres Tales auszufragen. Einstimmig erklärten sie mir, von einem See Lagorài und von irgendwelchen Sagen und Erzählungen, die sich an ihn knüpfen sollten, niemals auch nur ein Wörtchen gehört zu haben. Sie bezweifelten sogar, daß es einen solchen See gebe. Er ist aber auf allen besseren Karten verzeichnet und hat eine Länge von 600 Metern. Freilich liegt er sehr verborgen, und es kennen ihn nur die Holzfäller und Jäger.

1905 hörte ich zuerst im Gadertale von dem Walde „Amarìda“ sprechen, der weit gegen Osten liege. Später sagte mir der Ampezzaner Lacedelli, dieser Wald erhebe sich aus dem Costeanatal und reiche bis zur Croda da Lago. Als Lacedelli gestorben war, wollte mir niemand gelten lassen, daß es in der Ampezzaner Gemarkung jemals einen Wald namens „Amarìda“ gegeben habe. Es fand sich aber eine Urkunde (vom 25. Juli 1608), laut welcher die damalige Landesbehörde den Ampezzanem die Erlaubnis erteilt hatte, den Wald Amarìda zu schlagen und das Holz abgabefrei zu verkaufen („di poter tagliar e vendere franeo di dazio il bosco di Amarìda“). Die Überlieferung, die schließlich nur noch einem einzigen Manne bekannt war, hatte also auch in diesem Falle recht behalten. — (Siehe S. 324 oben.)

Hartnäckig ist von verschiedenen meiner Kritiker behauptet worden, es gäbe im Grödner Tale keine Überlieferung, die sich auf einen alten Sänger bezöge. Nun zeigt uns die beste Kennerin der Grödner Heimatpoesie, Maria Veronika Rubatscher, in ihren „Altgrödner Geschichten“, daß ihr die Sage vom „Ritter Eisenhand“ wohlbekannt. ist, wenn auch in stark veränderter Form. Rubatscher kennt auch die Soreghina-Sage und bietet wichtige Einzelheiten aus dem „Reich der Fànes“.

Meine „Königin der Crodères“, die allerdings furlanisch beeinflußt ist, wurde von den Kennern des Ampezzaner Gaues und des Cadorischen Gebietes mit dem Bemerken abgelehnt, sie hätten niemals etwas Derartiges gehört, und in den Marmaròles gebe es überhaupt keine Sagen; insbesondere sei die mutterrechtlich anmutende Vorstellung von einer „Königin“ dieses Berglandes gänzlich aus der Luft gegriffen. Nun erzählt uns aber der italienische Schriftsteller Marte Zeni (in der „Rivista Mensile“ des „Club Alpino“, April 1934, S. 196 ff.) eine — allerdings ganz anders lautende — Geschichte von einer „Reginetta delle Marmarole“ (einer kleinen Königin der Marmaròle). Daß er sich dabei in Ausfällen gegen mich ergeht, nehme ich ihm nicht weiter übel. Gerade die auffallende Verschiedenheit unserer Darstellungen spricht für das Vorhandensein einer in der Zeitentiefe versunkenen gemeinsamen Grundlage. Es ist gar nicht notwendig, daß diese Grundlage an Ort und Stelle entstanden sei; es kann auch Übertragung vorliegen.

Von jeher habe ich die Auffassung vertreten, daß die eigenartige Poesie der Dolomitenbewohner nicht auf das Dolomitgebirge beschränkt sei, sondern daß sie einem größeren Gebiet angehöre, aus dem sie sich allmählich in die Dolomitalpen, ihren letzten heiligen Hain, ihr Asyl, ihren „Rosengarten“, zurückgezogen habe. Bestärkt wurde ich darin durch Max Haushofer, der in seiner meisterhaften Beurteilung der oberbayerischen Sagen schreibt: „Endlich müssen wir bedenken, daß jedes in die Alpen neu einwandemde Volk seinen Kreis von mythischen Vorstellungen und Gestalten mitbrachte und für diese Gestalten von der Natur wie geschaffene Wohnsitze in den unzugänglichen Wildnissen des Hochgebirges fand6. — Berittene Kriegerz. B., die doch im Gebirge kein ursprünglicher Begriff sein können, spielen in den alten Sagen (und heute noch bei den Hochzeitsfeiern der Grödner und Ampezzaner) eine bemerkenswerte Rolle; dies deutet darauf hin, daß einst Kriegerstämme, deren Edelinge zu reiten pflegten, aus der großen Ebene in die Dolomiten gekommen sein müssen. überall, bis zu den Lagunensümpfen und bis zur blauen Adria hin, zeigen sich die Spuren einer Poesie, die ihren späteren Hauptsitz im Dolomitgebirge hat. Teile von Erzählungen, die offensichtlich dem Grödner- oder Gadertale angehören, finden sich versprengt im Alpago und bei den Lagunenschiffern. Ich habe mich daher niemals gescheut, diesen Stoff zu nehmen, wo ich ihn gerade fand, und ihn sinngemäß zusammenzufügen. Auch habe ich meine Darstellung im Laufe der Jahrzehnte immer wieder zu ergänzen und zu verbessern getrachtet. Man sagt, ich hätte das nicht tun dürfen, vielmehr hätte ich alles wörtlich genau so nachschreiben sollen, wie es mir gerade erzählt wurde. Das habe ich oft versucht und zuweilen auch getan, aber wer das Ladinische mit seinen vielen, erheblich abweichenden Mundarten kennt und wer einmal in solch einer Mundart geschrieben hat, der würdigt die Schwierigkeiten. Man begnügt sich dann meistens damit, in der eigenen Sprache Aufzeichnungen zu machen oder gar den Sinn im Kopfe zu behalten, um ihn später an geeigneter Stelle zu verwerten. Selbst Wilhelm Grimm gibt ausdrücklich zu, daß er sich bei der Verfassung seiner Märchensammlung „in den Worten, der Anordnung, in Gleichnissen und Vergleichen gar keine Schwierigkeit auferlegt“ und so gesprochen habe, wie er „in dem Augenblick Lust“ hatte. (Brief an Arnim vom 28. Jänner 1813.) Heute wissen wir, daß er die Märchen „gestaltet“ hat, wobei ihm „das Ziel einer Stileinheit“ vorschwebte. Das heißt, er schöpfte aus dem Geiste des Volkes und gab den Märchen jene Form, welche diesem Geist am besten entsprach. — Wie Albert Wesselski in der Einleitung zu seinen „Deutschen Märchen vor Grimm“ (Brünn, Rohrer, 1938, S. XXV) hervorhebt, haben sich die Brüder Grimm bemüht, bei aller Treue gegen die Überlieferung „die Märchen so wiederzugeben, wie sie die schlichten Erzähler wiedergeben zu können gewünscht hätten“.

Natürlich besitze ich auch ladinische Texte, die mit Aufmerksamkeit nachgeschrieben sind; sie gehören verschiedenen Mundarten an. Einige dieser Texte habe ich veröffentlicht. Viele sind mir übrigens während der Kriegsjahre 1916 und 1917 verlorengegangen, weil ich sie im Felde gemacht oder ins Feld mitgenommen hatte.

Die fachgerechte Sagenforschung verlangt — abgesehen von der unveränderten Aufzeichnung des Textes — auch die Nennung der Quelle, d. h. der Person, der man die Angabe verdankt. Davon fehlte mir in den ersten Jahren meiner Tätigkeit jede Ahnung. Ja noch mehr: Ich schätzte damals noch den Zauber des unbekannten Ursprungs, in dem ich fast eine Weihe erblickte. Deshalb war es mir anfangs nicht einmal erwünscht, wenn man mich auf bestimmte Personen aufmerksam .machte, die für mich besonders in Betracht kämen — nein, viel schöner dünkte es mich, irgendwo am Waldrand einen wildfremden Menschen anzutreffen, einen Holzknecht oder Hirten, von dem ich etwas erfahren könnte.. Dieser Unbekannte schien mir die Seele der Landschaft in sich zu tragen. Ich wollte gar nicht wissen, wer er sei; das hätte ich als eine Störung des Stimmungswertes empfunden. Und gerade bei solchen, ganz unverhofften Begegnungen habe ich die wertvollsten Mitteilungen erhalten — zuweilen in einem recht kurzen Gespräch. Nach und nach schärfte sich mein Blick für das Erkennen jener Leute, die etwas Brauchbares zu sagen wußten. Natürlich kam ich auch manchmal schlecht an. Ein alter Waldaufseher z. B., den ich über die Geländenamen ausgefragt hatte, ging am Abend noch einen weiten Weg bis zum nächsten Gendarmeriepasten, um dort anzuzeigen, ich triebe mich im Walde herum und sei ihm sehr verdächtig vorgekommen. Das war 1911 im Fleimstal. — Ein andermal sah ich am Ausgange des Duróntales im Fichtendickicht eine alte Frau, welche Holz sammelte. Ich ging an ihr vorbei und hatte den Eindruck, daß sie eine jener Wissenden sein könnte, wie ich sie brauchte. Nach etwa zehn Schritten kehrte ich um und wollte sie ansprechen. Sie warf mir aber nur einen mißtrauischen Blick zu, raffte ihr Holzbündel auf und ging schleunigst von daunen. Jedoch an demselben Tage traf ich zwei andere Personen, die lange mit mir am Wege sitzen blieben und allerhand zu erzählen wußten.

Was mir meine Gewährsmänner boten, waren freilich meist nur Bruchstücke. Diese befriedigten mich nicht, denn wenn ich sie betrachtete, so sagte ich mir, daß jede Erzählung urprünglich doch etwas Ganzes gewesen sein müßte, und ich strebte danach, sie wieder so auszubauen, wie sie einst gelautet haben mochte. Dieses Suchen und Deuten, Erfühlen und Gestalten war nicht immer erfolglos, denn ich habe es wiederholt erlebt, daß alte Leute, denen ich die von mir verfaßten Erzählungen vortrug, mir lebhaft zustimmten und sagten, so sei es gewesen; sie hätten es zum größten Teil vergessen gehabt, aber nun scheine ihnen alles wieder lebendig zu werden. Selbstverständlich läßt sich bei solch einer Wiederherstellungsarbeit, welche große Vertrautheit mit Land und Volk und Stoff und auch viel Zeit erfordert, die persönliche Note nicht ganz vermeiden. Ich habe mich bestrebt, sie auszuschalten, aber es wird mir kaum gelungen sein.

Meine literarischen Freunde und Kritiker scheiden sich, was die Bewertung meiner Arbeit anbelangt, in zwei Gruppen. Die Angehörigen der einen sagen: Der Wolff hat das alles erfunden, folglich ist es nichts wert! Die der andern Gruppe aber meinen, ich hätte alles nur mühelos nachgeschrieben, folglich sei es vogelfrei; von dieser bequemen Anschauung ausgehend, pflücken sie sich da und dort ein Blättchen heraus und verwenden es, wie sie gerade wollen. Sie übersehen dabei, daß Volkssage nur dann Gemeingut ist, wenn man sie vom Volke selbst übernimmt.

Gegenüber diesem Zweifrontenangriff möchte ich die verehrte Leserschaft bitten, mein Werk als das zu nehmen, was es sein will: ein Versuch, etwas Erlöschendes in seinen vollen Formen wiederaufleben zu lassen. Die Erzählerkunst der Dolomitenbewohner hatte etwa zur Zeit der Kreuzzüge ihre höchste Vollendung erlangt; seitdem baut sie ab und wird bald ganz verklungen sein. Sie aus ihren letzten Spuren neu erstehen zu lassen, so wie sie einst in ihrem Glanze geleuchtet haben mag, das war die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte. Diese Aufgabe glich der Neuerrichtung eines Gebäudes, von dem nur Trümmer vorhanden wären. „Aber“, sagt Overbeck, „für den Forscher hat das Trümmerhafte und Lückenvolle der Überlieferung nicht allein nichts Abschreckendes, sondern dies bedingt die schönste, die schöpferische, divinatorische Seite seiner Tätigkeit7.“ Dazu gehört Geduld und Stilgefühl. Mag sein, daß ein anderer diese beiden Eigenschaften in höherem Maße besessen hätte; aber es war keine Zeit zu verlieren, denn wir stehen vor Torschluß. Einige Jahre noch, und man wird im Dolomitenlande mit Hölderlin ausrufen können:

Nu als von Grabesflammen ziehet dann,

e ing oldnerRauch,

die Sagedrob hinüber, —

und dämmert jetzt den Zwei felndenums Haupt,

und keiner weiß, wie ihm geschieht!“

Bozen, im Januar 1944

Karl Felix Wolff

2 Vgl. Paul de Chastonay, „Im Val d’Anniviers“, Luzem .1939, S. 85.

3 Vgl. den Abschnitt „Das Festspiel der Ladiner“.

4 Julius Fröbel, „Reise in die weniger bekannten Täler auf der Nordseite der Penninischen Alpen“, Berlin 1840, S. 145.

5 Max Haushofer, „Alpenlandschaft und Alpensage in den bayerischen Bergen“, Bamberg, Buchner, 1890, S. 20.

6 Johannes Overbeck, „Pompeji in seinen Gebäuden, Altertümern und Kunstwerken“, 2. Auflage, Leipzig 1866, 1. Band, S. 2.

Geleitwort zur neunten Auflage

      „Die geretteten Bestandteile der Alpensagen können durch die Dichtung wieder aufs neue belebt und in weiteren Kreisen volkstümlich gemacht werden.“

(Max Haushofer, „Alpenlandschaft und Alpensage in den bayerischen Bergen“, Bamberg 1890, S. 7.)

Tadelnd ist mehrfach vermerkt worden, daß in meiner Sammlung allerhand fehle, daß z. B. der Unhold Orco darin gar nicht erwähnt sei, obwohl die alten Ladiner doch viel von ihm erzählt hätten. Das kann ich nicht bestreiten; aber in meinen Aufzeichnungen steht so manches, was ich nie benützt habe, weil ich darauf wartete, es in einen größeren Zusammenhang bringen zu können. So glaubte ich mich auch bei den Hexengeschichten, deren ich wohl gegen hundert antraf, auf das beschränken zu sollen, was notwendig war, um die betreffende Handlung zu begründen.

Verschiedene Kritiker haben mir vorgeworfen, in meiner Bearbeitung sei „das volkstümliche Gepräge“ der alten Erzählungen verlorengegangen, weil ich sie jeglicher Derbheit entkleidet, höfisch zugerichtet und mit landfremden Märchenbegriffen (z. B. dem der Zwerge) willkürlich ausgeschmückt hätte. Diese drei Vorwürfe sind ungerecht. Vor allem muß man unterscheiden zwischen der Spinnstube und der Schafalm. In der Spinnstube, wo die Frauen herrschen, wurden Derbheiten nicht geduldet; hier bevorzugte man höfische und elegische Liebesgeschichten. Die höfischen Begriffe sind offenbar -durch Spielmänner (Cantastöries) von Ort zu Ort verbreitet worden. Heute noch erzählt das Volk der lombardischen Alpen mit großer Anteilnahme von den zwei Königinnen Rosamunda und Theodolinda, und ähnlich war es in den Dolomiten. Derbe Erzählungen gibt es natürlich überall genug; aber sie wurden ursprünglich nur auf den Schafalmen geduldet, wo Senner, Jäger und Holzknechte zusammenkommen und die Männer unter sich sind, denn auf den Schafalmen gibt es keine Sennerinnen. Ton und Begriffe sind hier von jenen der Spinnstube himmelweit verschieden. In meiner Sammlung herrscht jener Ton vor, der in der Spinnstube üblich war, und niemand wird behaupten wollen, daß dies kein Volkston sei. Gerade die Spinnstube war ja die Bewahrerin der Sage, und mit dem Untergang der Spinnstube verschwanden auch die ältesten und edelsten Formen der volksmäßigen Erzählerkunst7. — Was endlich die Zwerge anbelangt, so besitzen die Ladiner drei Bezeichnungen für den Zwerg: tárter, mòrkye und guryút; also wird wohl auch der Begriff eine Rolle gespielt haben.

Erzählungen, die ich für anstößig, für stark entstellt oder für sinnlos hielt. pflegte ich seinerzeit überhaupt nicht zu beachten; daß sie für die Ethnologie wichtig sein könnten, war mir damals nicht bewußt. Im übrigen habe ich beim Verfassen und Zusammenstellen meiner Sammlung niemals Ansprach auf Vollständigkeit erhoben. So enthielt die von meinem verstorbenen Freunde Hugo v. Rossi, dem besten Kenner des Fassatales, hinterlassene Handschrift zahlreiche Einzelheiten, die von mir nur zu einem sehr geringen Teile benutzt worden sind. (Die Handschrift ist leider durch Luftangriff zugrunde gegangen.) Ich gebe gerne zu, daß für die genau arbeitende Volksforschung v. Rossis Arbeit wertvoller war als die meinige. Und wie v. Rossi seinerzeit aus dem Fassatale, 80 bietet Runggaldier vorzüglichen Stoff aus dem Grödner Tale8.

Für das furlanische Gebiet benutzte ich unter anderem eine Sammlung, die der junge Forscher Carlo Scareini (Udine) zusammengestellt hatte und die mir handschriftlich vorlag; in ihrer Einleitung heißt es, daß für die furlanische Volkspoesie schwermütige Tiefsinnigkeit. Zartgefühl und ein großer Emst kennzeichnend seien. Der Mensch von Friaul offenbart uns also dieselbe Seelenstimmung wie jener der Dolomiten. und bestimmte Grundgedanken der Sage und des Märchens kehren wieder. Auch daraus ergibt sich die geistige Zusammengehörigkeit des ganzen Gebietes, von den Hochzinnen der .Fassaner Dolomiten bis zum Lagunensaume des Meeres.

Was ich aber ganz besonders anstrebte, war nicht Vollständigkeit, sondern die Hervorhebung jener Stimmungswerte, die sich nur in den alten Erzählungen der Dolomiten-Ladiner wiederfinden, weil eben nur hier die Entstehungsbedingungen dafür gegeben waren. Und dies aus besonderen Gründen; wenn nämlich die Sprache der Ladiner, die einst einen großen Raum beherrschte, heute bis in die innersten Winkel des Alpengebirges zurückgewichen ist. 80 darf man sich nicht darüber wundern, daß die Menschen, die diese Sprache sprechen. so etwas wie eine Sorge in sich tragen, ihre Sprache könnte erlöschen, und es ist begreiflich, daß ihr Geistesleben in mancher Hinsicht davon beeinflußt erscheint. Eine zersplitterte Sprachgenossenschaft. eine beengte Gemeinschaft bewohnt die Dolomiten, d. h. eine Landschaft, deren Herrlichkeit in. allen Kultursprachen gepriesen wird.

So erkennen wir zwei seelisch wirksame Tatsachen, eine bedrückende und eine erhebende: Die Menschen der Dolomiten sehen einerseits ihre Sprache und ihr Volkstum in Gefahr, anderseits fühlen sie, daß ihre Heimat eine der schönsten des Erdkreises ist. Diese beiden Stimmungswerte, die sonst nirgends nebeneinander wiederkehren, ergaben einen Gefühlsverband, der in stiller, aber stetiger Weise das Gemütsleben beeindruckt hat. Man könnte diese Leute, die in den Dolomiten wohnen,das Volk derleidvollen Schönheit nennen, denn durch ihr Sinnen und Denken zieht sich immer jener Gefühlsverband. Auch von den Kamischen Ladinern sagen ihre besten Kenner, daß eine „interna tristezza“ (eine innere Schwermut) ihre Lieder und ihre ganze Volkskunst beherrsche 9. Das aber festzuhalten und erklingen zu lassen, ist durchaus nicht leicht, schon weil die Leute nie davon reden und weil es nur gleichsam in ihrem Unterbewußtsein lebt. Dennoch war es immer jener Gefühlsverband, den ich leise aus dem ältesten Erzählgute der Dolomitenbewohner heraushörte, und ihn zum Ausdruck zu bringen schien mir besonders wichtig für den Wiederaufbau ihrer zerfallenen Überlieferungen.

Man beachte folgendes Beispiel: „Der Kleinengelsgraf“ (el conte andjulín) heißt eine alte Ballade, die vom Fassatale bis in die Karnischen und Julischen Alpen hinein verbreitet war, die aber im Laufe der Jahrhunderte so stark entstellt wurde, daß ich sie nicht aufnehmen wollte. Babudri begegnete ihr in Istrien, und er gibt ihren Inhalt wie folgt an. Ein Graf ist im Felde gefallen, und seine Mutter, die davon Kenntnis erhalten hat, verheimlicht es der Schwiegertochter, weil diese im Wochenbette liegt. (Schon das ist eine Entstellung. Bei den „Carnyèlis“, den Bewohnern der Kamischen Alpen, hieß es, die alte Schloßherrin habe ihren Gram verhehlt und habe geschwiegen, weil die junge Frau gesegneten Leibes war und weil die Großmutter fürchtete, ihr Enkel könnte Schaden nehmen, wenn die Mutter die schreckliche Nachricht erführe.) Weil nun der Graf lange nicht heimkam, so sagte die Schloßherrin, es sei im Lande nicht üblich, daß der Gatte die Wöchnerin besuche. Aber als diese wieder vollkommen hergestellt war, da riet ihr die Schwiegermutter, ein schwarzes Gewand anzulegen, weil ihr ein solches am besten stehen würde. Doch die junge Gräfin begreift nun, was geschehen ist, und sie stirbt vor Herzeleid. Vorher indessen macht sie noch die unklare Andeutung, daß ihr Kind ein silberner Ring sein werde („sarà ‘l mio fantulín con nói l’anèlo, l’anèlo de la morte, anèl d’arzènto — es wird mein Knäblein unser Ring sein, Todesring, Silberring). Aus dieser dunklen Andeutung ersieht man, daß dem Kinde im weiteren Verlaufe der Handlung noch eine wichtige Rolle zugedacht war, jedenfalls eine solche in metaphysischen Sphären, und weil man das später nicht mehr verstand, so ließ man es weg. Trotz dieser bedauerlichen Verstümmelung, für die ich nirgends die Möglichkeit einer Ergänzung fand, trägt die Ballade das Gepräge einer echten Spinnstubengeschichte. (Vgl. Francesco Babudri, „Fonti vive dei Veneto-Giuliani“, Trevisini, Milano, p. 174).

Daß bloße Sammeltätigkeit niemals genügt hätte, um die einstige Schönheit des alten Erzählgutes wieder hervortreten zu lassen, daß die Arbeit auch eine erfühlende, also schöngeistige sein mußte, ist wohl unbestreitbar. Und sie konnte nur vollbracht werden, indem der Verfasser alles Erreichbare sichtete und benützte, sich aber zugleich Gestaltungsfreiheit wahrte, allerdings eine Gestaltungsfreiheit, die nicht etwa dem Volksgemüt entgegenhandeln, sondern durch aufmerksames Hinhorchen auch das Unausgesprochene und Vergessene erfassen sollte. Der erste, der mich das lehrte, nachdem ich ihm meinen Stoff ausgebreitet hatte, war der Begründer der tirolischen Volkskunde, Oberbibliothekar Doktor Ludwig v. Hörmann, indem er mir sagte, daß die Sage eine Entwicklungs- und Lebensgeschichte habe, denn sie entstehe aus einem losen Verbande mythischer oder magischer Vorstellungen, die mit Erinnerungen an wirkliche Begebenheiten vermischt und schließlich zur Grundlage für ein Menschenschicksal gemacht werden könnten. Diese entscheidende Gestaltung vollziehe aber nicht die breite Gemeinschaft der Erzähler, sondern ein einzelner Dichter. Damit erreiche die Sage den Höhepunkt ihrer Entwicklung und sie könne bei zyklischer Rundung zum Volksepos führen. Aber auch Verfallszeiten und neue Aufstiege seien möglich. Während des Reformationszeitalters und besonders im 19. Jahrhundert sei nun aus besonderen Gründen die sagenformende Kraft und Erzählerkunst des Volkes beinahe gänzlich zusammengebrochen, so daß unsere klassischen Sagenwerke nur noch Trümmer und Reste böten.

Diese im Jahre 1909 durch Ludwig v. Hörmann empfangene Belehrung, die meinen eigenen Gedankengängen fördernd entgegenkam, war für mich ein Hauptanstoß, auf dem eingeschlagenen Wege weiterzuschreiten, um aus den noch vorhandenen Trümmern und Resten des alten Sagengütes womöglich die vollen Formen der höchsten Entwicklungsstufe zuerschließen und das Ganze in jenem Erzählertone, den ich bei alten Leuten, besonders bei ladinischen Frauen, noch beobachten konnte, neu zu gestalten. Das habe ich dann versucht. Im Jahre 1913 erschien das erste Bändchen, im Jahre 1925 das zweite, im Jahre 1929 das dritte und 1941 das vierte. Einige Erzählungen blieben zurück, weil sie mir unklar schienen und ich mich an ihre Bearbeitung noch nicht heranwagte, so „Die letzte Delibàna“ und „Der Ritter mit den Herbstzeitlosen“. Die „Delibana“ hatte übrigens Ludwig v. Hörmann als die inhaltreichste und wertvollste von allen bezeichnet, obwohl ich damals nur in der Lage war, ihm in großen Zügen das Wichtigste davon mitzuteilen.

Die Leserschaft hat meine „Dolomitensagen“ immer freundlich aufgenommen, und zwar nicht nur in Tirol, sondern auch in fremden Ländern. Von der Fachkritik hingegen wurde ich lange Zeit hindurch grundsätzlich abgelehnt. Aber es fanden sich doch immer wieder einzelne Gelehrte, die mich ermutigten, meinen Weg fortzusetzen. Mit besonderer Dankbarkeit erinnere ich mich an den Münchner Oberschulrat Dr. Wilhelm Rohme der, der, als warmer Freund Tirols und des Dolomitenvolkes, mir wiederholt empfahl, unbeirrbar zu bleiben und den ganzen mir bekannten Stoff in der bisher angewandten Weise zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Endlich, seit dem Jahre 1949, stellten sich auch Forscher von Fach an meine Seite, so der Universitätsprofessor Dr. Adolf Helhok, indem er (im „Schiern“, Jahrgang 1949, S. 275f.) schrieb:

„Durch Jahrzehnte hat Wolff den Sagenstoffen Tirols mit unglaublicher Zähigkeit nachgespürt und ist über all seine Arbeit auf anderen Gebieten hinaus zu einem Sagenforscher besonderer Prägung geworden. Wer die „Dolomitensagen“ . . . kennt und gar die dreimaligen Bearbeitungen des „König Laurin“, dem ist längst das Bild eines Forschers erstanden, der dem Ringen nach Erkenntnis verfallen ist und in immer weitere Kreise der Wissenschaften dringt . . . Wolff glaubt mit Recht nicht an die heute in Sagensammlungen unterstrichene Kürze und Kahlheit, er bringt die Stoffe in epischer Breite und ist überzeugt, daß die Erzählung des alten Alpenvolkes lang war, und er zeigt, wie sie stets mit den Naturgegebenheiten Menschenschicksale verband und daß sie nicht oberflächlicher Fahulierlust, sondern tiefgründiger seelischer Erfahrung entsprang. So führt er uns auch den älteren mythischen Menschen vor.“

Ein Jahr später äußerte sich der tirolische Kunsthistoriker Monsignore Dr. Josef Weingartner wie folgt:

„Karl Felix:. Wolff hat die Sagen der Dolomitentäler gesammelt und suchte dabei die zerstreuten Bruchstücke alter Erzählungen und Lieder in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Wenn er dabei auch ziemlich weit gegangen ist und man oft nicht genau sagen kann, wo zwischen dem echten Sagengut und der nachfühlenden, aber immer liebevollen und poetischen Ergänzung die genaue Grenze ist, so kennt man es diesen zarten Gebilden doch deutlich an, daß sie aus der Landschaft, aus der großartigen und romantischen Bergwelt der Dolomiten herausgewachsen sind und daß demnach die Ladiner schon in alter Zeit für die besondere Schönheit ihrer Heimat ein tiefes Verständnis besessen haben.“ (Josef Weingartner: „Südtirol“, Wien, Adolf Holzhausen, 1950, S. 78.)

Und kürzlich tat es der Innsbrucker Universitätsprofessor und Literarhistoriker Dr. Anton Dörrer in einem zusammenfassenden Referat über Südtiroler Sagen und Südtiroler Sagenliteratur, wo meine darauf bezüglichen Schriften in folgender Weise gekennzeichnet sind:

Dem Bozner Schriftsteller Karl Felix Wolff „verdanken wir die erfolgreichsten Fassungen und Ausgaben der Dolomitensagen, die zugleich in verschiedene fremde Sprachen übergegangen sind und Südtirol mit Ladinien in gar vieler Mund gebracht haben. Hatte schon Alton seine kleine Sammlung ausgeschmückt und ergänzt, so suchte Wolff aus den sorgfältig aufgebrachten Resten Ganzes und Gediegenstes im Geiste der alten Dolomitenbewohner wiederherzustellen. Damit hat Wolff vornehmlich den Rosengarten mit König Laurin in ihr anmutigstes Poesiebereich zurückgeführt, ungefähr wie ein kunstsinniger Bildrestaurator alte Fresken, von denen nur mehr unzusammenhängende Spuren wahrzunehmen sind, in der selbstgeschauten Zaubermacht alter Farben und Formen wiedererstehen läßt und die Nachwelt bereichernd erfüllt. Wie aber Restauratoren bei Mit- und Nachwelt kritischen Bedenken begegnen, so hat auch Wolffs Bemühen nicht allseits volle Anerkennung gefunden. Wolffs besondere Verdienste um Südtirols Volksdichtung verdienen unterstrichen zu werden.“ (Erschienen in Nr. 180 des Bozner Tagblattes „Dolomiten“ vom 6. August 1952.)

Ich danke den drei Fachgelehrten für diese öffentliche Gutheißung meiner Arbeitsweise. Die grundsätzliche Übereinstimmung, die in den hier wiedergegebenen Äußerungen liegt, ist umso bemerkenswerter; als die drei Herren ganz unabhängig voneinander geurteilt und gesprochen haben.