Der Autor möchte sich sich bei einigen Personen bedanken, die mitgeholfen haben, dieses Werk zu vollenden. Für die erste Bearbeitung und Gestaltung ein großes Dankeschön an Hannes Prousch und Gabi Janssen. Die großartigen Illustrationen verdanken wir Gerd Pircher und dass der Text schlussendlich so wurde, wie er jetzt ist, haben folgende Personen zu verantworten - vielen Dank an euch: Ronald Reng, Dominik Matt, Bernd Götz, Don Paolo Renner, Gunoa Kauwerts, Fred Schweigkofler, Helmut Matt, Brigitte Horst, Walter Nogler, Robert Hager, Phillip Trojer, Martin Schuster, Christian Wurz. Ein besonderer Dank geht an Hannes Prousch, der Toni Pizzecco mit seinem Wissen auf der Reise durch die Welt der Generationen begleitet hat.

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2019

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Illustrationen: Gerd Pircher

Korrektorat: Julia Voigtländer

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-454-7

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie das Projekt „Krankenhaus Attat, Äthiopien“ des Vereins Südtiroler Ärzte für die Welt.

Die Südtiroler Ärzte für die Welt sind ein Zusammenschluss von Ärzten, Krankenpflegern und freiwilligen Helfern, deren Ziel es ist, Menschen in Notstands- und Armutsgebieten zu helfen. Der Verein wurde 2001 gegründet und ist eine wohltätige Organisation ohne Gewinnabsichten.

Einsatzländer

Afrika: Äthiopien, Eritrea, Kamerun, Kenia

Amerika: Haiti, Peru

Asien: Afghanistan, Indien, Nepal

Europa: Rumänien

Projekte

Bitte helfen Sie uns helfen!

Spendenkonten

Volksbank/Banca Popolare

IBAN IT95 U 05856 11601 050570000333

Südtiroler Sparkasse/Cassa di Risparmio

IBAN IT35 E 06045 11600 000005003779

Raiffeisenkasse/Cassa Rurale

IBAN IT25 U 08081 11610 000306005349

Für Maria,
die in jedem von uns lebt

Inhalt

Vorwort

Ich gebe zu, ich war innerlich sehr aufgewühlt, als ich mich eines Abends hinsetzte und die Geschichte von Maria niederschrieb. Es war die Wut, die mich antrieb. Ich wollte Marias Drama festhalten und das Problem der übermäßigen Nutzung und der Abhängigkeit der Jugend von den digitalen Endgeräten in Angriff nehmen. Es war der Weg, meine Traurigkeit und Erschütterung zu bewältigen. Es war eine Möglichkeit, andere Familien auf aktuelle Gefahren aufmerksam zu machen. Denn was ich beim Fall von Maria gelernt habe, ist, dass wir alle unvorbereitet den Problemen gegenüberstehen, die die Digitalisierung mit sich gebracht hat.

Es sollte eine Kurzgeschichte mit Kommentar werden. Dabei ist ein ganzes Buch entstanden. Während ich schrieb, haben mich neue Einzelheiten immer tiefer in das Geschehen der digitalen Welt verwickelt. Je mehr ich recherchierte, desto mehr wurde ich emotional hineingezogen. Darum, liebe Leser, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich meinem Frust und meinen Befürchtungen freien Lauf gelassen habe.

Ich möchte niemanden belehren oder mich als großer Experte aufspielen. Dieses Buch ist die Reise eines Arztes und Vaters, geboren in der Generation der Babyboomer, der in einer Zeit der großen Verunsicherung auf Zehenspitzen versucht, die Welt der heutigen Jugend zu betreten. Dabei sind viel Schmerz und Ratlosigkeit in mir hochgekommen, aber auch viel Liebe und Hoffnung. Es ist für uns alle eine Zeit der überwältigenden Veränderungen und wir können nicht nur zuschauen. Eltern und Kinder müssen zusammen die digitale Welt mit ihren Schattenseiten erforschen, wenn sie nicht von ihr mitgerissen werden wollen.

Prolog

Seit vierzig Jahren versuche ich als Arzt, den Leuten Mut zu machen. Wie ich es mache und ob es mir gelingt, hängt von vielen Dingen ab: von meiner Verfassung, von der des Patienten, von dem, was die Medizin dazu sagt und am Ende von dem, was mir mein Herz sagt. Diese Arbeit hat mir immer schon Freude bereitet.

In den letzten Jahren ist mein Job jedoch immer komplizierter und anstrengender geworden. Die Feinde unserer Gesundheit, die ich als Arzt kennengelernt habe und erfolgreich bekämpfen sollte, haben neue Gesichter bekommen. Die moderne Zeit hat neue „Schädlinge“ in unsere Häuser gebracht. Sie haben sich vermehrt und neue Formen angenommen. Während meines Studiums war von diesen „Schädlingen“ noch nichts zu hören. Man kannte zwar Bakterien und ähnliche Wesen, die unseren Körper angreifen und Krankheiten auslösen konnten, man kannte Schadstoffe und Gifte, vor denen man sich hüten musste. Man lernte, woher sie kamen, die Gefahren, die sie mit sich brachten und wie man sich vor ihnen schützen konnte.

Die letzten 25 Jahren haben viele Veränderungen mit sich gebracht, darunter das digitale Zeitalter, das uns mit neuen Herausforderungen überrumpelt und unser Leben auf den Kopf gestellt hat. Die neuen Sitten der digitalen Welt begleiten unseren Alltag und haben uns unbemerkt zu Versuchskaninchen gemacht. Ein Lebensstil, den wir nicht kennen und vor dem wir uns nicht schützen können, klopft an unsere Haustür. Begriffe wie Facebook, YouTube, Twitter, Tinder, WhatsApp, Snapchat und Instagram haben sich langsam in unsere Welt eingeschlichen und sich wie ein Virus im Wesen der Menschen eingenistet. Das Ungeziefer ist inzwischen so weit verbreitet, dass wir seine Anwesenheit gar nicht mehr wahrnehmen. Stillschweigend werden wir infiziert und lassen regungslos den Überfall auf uns und unsere Kinder zu. Körper und Geist leiden darunter, doch das kümmert scheinbar nur Wenige. Die Gesellschaft tut sich schwer, das Problem und dessen Ursachen zu identifizieren. Man kennt den Aufbau und die Hintergründe des Systems zu wenig. Man sieht nur die Folgen und ist als Eltern und Erzieher ratlos.

Es ist eine stille Revolution, die auch ich täglich in meiner Praxis erlebe, eine Revolution von solch gewaltigem Ausmaß, dass man sie als Arzt kaum ignorieren kann. Es steht vieles auf dem Spiel, wenn der Geist und die Struktur einer Gesellschaft ins Wanken geraten sind und keiner sich ernsthaft dagegen wehrt. Wir müssen anfangen, zu hinterfragen und Antworten zu verlangen. Das Überleben in der digitalen Zeit ist schon lange nicht mehr nur ein Problem der oberen Schicht, der hochvernetzten Wirtschaft und der Finanzwelt. Inzwischen ist die digitale Revolution von den Großstädten in die Peripherie und in jedes Seitental, bis zum letzten Bergbauernhof vorgedrungen. Wenn ich „vorgedrungen“ sage, dann meine ich, dass die meisten von uns inzwischen täglich mehrere Stunden vor einem Bildschirm sitzen, vom Bewohner des städtischen Seniorenheimes bis zu seinem vierjährigen Enkel, von der Bergbäuerin auf dem hintersten Hof bis zum Fischermann auf hoher See, vom Familienvater bis zur Hausfrau, vom Schulkind bis zum Studenten. Eine Angewohnheit, die unser Dasein verändert hat.

Die Folgen dieser Revolution sehe ich täglich in meiner Praxis: Traurigkeit, Erschöpfungszustände, Angst- und Panikattacken, Burnout, Depressionen, Schwindelanfälle, psychosomatische Störungen, Magen-Darmentzündungen. Krankheitsbilder, die immer weiter verbreitet sind und den Leuten zu schaffen machen. Die ganze Gesellschaft und ihr Verhalten haben sich verändert: Was vor 15 Jahren noch unbekannt war, gehört inzwischen zum Alltag und prägt die neue Art des Zusammenlebens und der Kommunikation. Täglich erlebe ich in meinem Umfeld neue Verhaltensmuster, die auf das „digitale Wunder“ zurückzuführen sind und mich immer wieder aufs Neue zum Staunen bringen: Handy-Geklingel im Wartesaal. Patienten, die während der Arztvisite ohne auch nur mit der Wimper zu zucken einen Anruf entgegennehmen oder sogar ein längeres Gespräch führen. Kinder, die mit der Mutter erscheinen und die ganze Zeit am Tablet hängen, selbst wenn man sie anspricht. Jugendliche, die während der Untersuchung ein Selfie machen oder noch schnell eine Nachricht versenden. Diese kleinen täglichen Angewohnheiten sind nur die Spitze des Eisberges, ein kleiner Teil des großen Ganzen, das tief in der heutigen Gesellschaft verwurzelt ist.

Wir alle – Jung und Alt, Arm und Reich, Frauen und Männer – sind im Web wie in einem Netz gefangen. Was das genau heißt, erlebt jeder auf seine Art: Der eine „surft“, der andere „chattet“, wieder andere „connecten“ sich. Die Amerikaner, Pioniere der digitalen Welt, haben eine treffende Bezeichnung für die ständige Vernetzung: „Constant Alert“ bedeutet so viel wie „ständig auf der Hut, immer wachsam, durchgehend in Alarmbereitschaft sein“.

Wie gut unser Körper die ständige Alarmbereitschaft verkraften kann, zeigen die vollen Wartezimmer der Arztpraxen und der steigende Verbrauch an Beruhigungsmitteln, Schlaftabletten und Psychopharmaka. Wie es so weit kommen konnte, versuche ich in diesem Buch zu erörtern. Denn die digitale Realität ist eine Welt für sich, die man kennen muss.

Ich möchte dieses Buch all jenen widmen, die sich in der digitalen Wachsamkeit wieder bewusst werden möchten, was es heißt, Mensch zu sein – im Gegensatz zum Online-sein. Das Leben ist ein Geschenk, das zu kostbar und einzigartig ist, um es nur hinter dem Bildschirm zu verbringen.

Die verborgene Welt

Der Fall von Maria

Maria ist 16 Jahre alt. Sie lebt in einem kleinen Dorf und geht dort zur Schule. Ich kenne sie von klein auf und habe sie heranwachsen gesehen. Ich kenne ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Großeltern und ihre Cousinen.

Marias Familie gehört der Mittelschicht an. Der Vater ist Angestellter, die Mutter Lehrerin. Als Hausarzt nach dreißig Jahren im Dorf kennt man die Familien in- und auswendig. Marias Familie habe ich immer als „pflegeleicht“ eingestuft: Ein bodenständiger Vater und eine Mutter mit gesundem Hausverstand haben die Familie geprägt und ihr eine positive Lebenseinstellung vermittelt. Das Ganze spiegelt sich im Charakter der drei Kinder wider, die lustig und lebensfroh sind.

Vor nicht allzu langer Zeit erscheint die Mutter in meiner Praxis. Es geht um die jüngste Tochter, die einst sonnige und lebensfrohe Maria, die immer offen und wohlauf, heiter und weltoffen war, die Bewegung in ihre Familie und ihren Freundeskreis gebracht hat.

Die Mutter erzählt, dass ihre Tochter sich seit einigen Monaten komisch verhält: Sie verkriecht sich mit dem Smartphone in ihrem Zimmer und ist meist ruhig und wortkarg. Wenn sie etwas sagt, dann sind es meistens Klagen gegen die Schule und die Lehrer, Kritik an ihren Kollegen und Bekannten. Maria lacht nur noch selten und nimmt nicht einmal mehr die Geige zur Hand, obwohl Musik eigentlich immer ihr Lieblingshobby war. Die Mutter bemerkt, dass sie mit Ausdrücken wie „Loser“, „gestört“, „behindert“, „Goaner“, „Stoller“ und Ähnlichem Menschen abstempelt und in der Familie immer öfter mit Kritik und negativen Kommentaren auffällt. Es gibt Momente, in denen sie plötzlich in Tränen ausbricht und klagt, sie fühle sich alleine, habe keine Freunde und führe ein wertloses Leben.

Ein paar Wochen später kommt die Mutter wieder zu mir und erzählt besorgt, dass Maria seit Tagen nur mehr im Bett liegt, heult und sich vor Verzweiflung windet. Sie will nicht mehr zur Schule gehen, sie will weder essen noch aufstehen. Weil ich in den Augen der Mutter den Schmerz und die Ratlosigkeit sehe, beschließe ich, einen Hausbesuch zu machen. Im Dorf ist der Hausarzt immer noch die erste Anlaufstelle für jedes Problem.

Als ich am späten Nachmittag das Haus betrete, kommen mir der Vater und der ältere Bruder mit traurigem Blick entgegen. Ich sehe die Sorge in ihren Augen. Maria selbst liegt im Bett ihres verdunkelten Zimmers und versteckt sich unter der Decke. „Hallo Maria, der Doktor ist da“, sagt die Mutter leise. Ich setze mich ans Bett und knipse die Nachttischlampe an. Maria dreht sich zu mir. Ich erkenne sie kaum wieder. Vor mir keine Spur vom einst lächelnden Sonnenkind. Die Augen sind rot und angeschwollen, die Haare verklebt und der Gesichtsausdruck verkrampft. Ich gebe ihr die Hand zur Begrüßung und frage sie, wie es ihr geht. Maria öffnet die Augen, dann verschwimmen sie hinter Tränen. „Ich pack es nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will sterben!“

Jung und lebensmüde?

Wie die Geschichte weitergeht, ist schnell erzählt: Maria fällt in eine tiefe Depression, weint bitterlich stundenlang bei Tag und bei Nacht. Wenn sie spricht, schluchzt sie, dass sie Angst habe. Angst, es nicht mehr zu schaffen, Angst vor der Schule, Angst vor den Kollegen und selbst vor ihren besten Freunden, Angst vor dem Leben. Sie spüre, dass sie ein ganz anderer Mensch geworden sei. Sie habe etwas, das im Inneren schmerzt und drückt. Vater, Mutter, Bruder und Schwester, alle sind bedrückt und leiden mit ihr. Dauernd sitzen sie an ihrem Bett, umarmen und streicheln sie, sprechen ihr Mut zu, massieren ihr Hände und Rücken. Manchmal weinen sie mit ihr. In der Nacht schläft sie bei der Mutter im Ehebett. Bei Tisch stochert sie lustlos im Essen herum.

Nun macht sich auch in mir Ratlosigkeit breit. Die Lage verschärft sich, Maria geht nicht mehr zur Schule. Jeder Tag ist ein Albtraum, der alle mitreißt. Bei meinen Hausbesuchen versuche ich mit Maria zu reden, um ihre plötzliche Lebenskrise zu entziffern. Aber Maria betont immer nur dasselbe: „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Keiner versteht mich. Ich schaffe es nicht mehr, ich kann nicht mehr!“ Immer wieder fleht sie: „Lasst mich sterben!“, was auf ernste Suizidgedanken schließen lässt. Maria fällt immer tiefer in ein dunkles Loch. Gemeinsam mit den Eltern beschließe ich, Maria sofort Beruhigungsmittel zu verabreichen. Sie beginnen nur langsam zu wirken.

Nach einigen Tagen holen wir einen Psychiater zu Hilfe, der zu einer Therapie mit Antidepressiva rät. Diese Medikamente werden bei jungen Menschen nicht ohne Weiteres und nur in besonderen Fällen verabreicht. Da Suizidgedanken die Situation besonders akut erscheinen lassen, gibt es keinen Zweifel: Maria erhält Medikamente und eine Psychotherapie. Der Vorschlag, sie vorübergehend in eine psychiatrische Abteilung einzuliefern, wird von Maria vehement abgelehnt. Sie bleibt während der Behandlung zuhause, wird aber nie alleine gelassen. Ihre Familienmitglieder wollen sie immer wieder dazu überreden, aufzustehen und spazieren zu gehen. Sie sitzen abwechselnd an ihrem Bett und versuchen ihr Hoffnung und positives Denken zu vermitteln.

Die Tage vergehen und die Lage beginnt sich zu verbessern. Nach zwei Monaten Therapie weint Maria weniger, sie hat wieder kurze Momente der Freude. Das sind Augenblicke, in denen sie spricht und etwas von ihrer inneren Welt preisgibt, Momente, in denen wir einige Antworten auf unsere vielen offenen Fragen bekommen. Eines Nachmittags spreche ich lange mit Marias Eltern und ihrer großen Schwester. Plötzlich öffnet sich auch Maria, es ist wie bei einem Dammbruch. Für mich sind Marias vertrauliche Enthüllungen wie eine Reise in eine unbekannte und beunruhigende Welt, von deren Existenz ich bis dahin keine blasse Ahnung hatte.

Die Vernetzung der Jugend

Die Gespräche, die ich bei meinen Hausbesuchen mit Maria und ihrer Mutter führe, sind sehr lehrreich für mich. Maria weint immer noch häufig, manchmal windet sie sich im Bett, schlägt mit den Händen gegen den Kopf und schluchzt: „Ich bin nicht mehr dieselbe. Ich erkenne mich selbst nicht wieder, ich bin verrückt geworden!“ Sie versteckt das Gesicht unter der Decke, ist unruhig, verschlossen und apathisch, manchmal auch aggressiv und böse.

Mir fällt auf, dass sie eines immer bei sich hat: ihr Smartphone. Wie einen wertvollen Schatz, eine kleine Schatzkiste, hält sie das Ding krampfhaft in den Händen, legt es unter den Kopfpolster. Es ist ihr ständiger Begleiter, Tag und Nacht. Als ich Maria frage, ob sie das Handy nicht für eine Weile auf den Nachttisch legen will, tut sie das mit einer Miene des Unmuts. Es dauert nicht lange, da klammert sie sich auch schon wieder daran. Ich scherze mit ihr und frage sie, ob das Smartphone so etwas wie eine Bibel für sie sei, oder warum sie es so wichtig finde. Da meldet sich Marias große Schwester Katja zu Wort. Zum ersten Mal fällt der Name Instagram: „Man muss ja schauen, was auf Instagram passiert“.

Voller Begeisterung erklärt mir Katja, wie diese „App“ funktioniert, dieses kleine Programm fürs Smartphone: Instagram ist ein kostenloser Dienst, um Fotos und kurze Videos übers Internet mit anderen Menschen zu teilen. Jeder, der ein Smartphone hat, ein „intelligentes Telefon“, kann mitmachen und Momente aus dem eigenen Leben mit Nutzern aus aller Welt teilen. In erster Linie dreht sich Instagram um „Selfies“: Das sind mit dem Smartphone aufgenommene Selbstporträts, die dokumentieren, was man gerade macht und wo man gerade ist. Bilder und Videoclips von Prominenten erfreuen sich auf Instagram großer Beliebtheit. Das sind einerseits Berühmtheiten aus der analogen Welt wie Adele oder selbst Papst Franziskus, andererseits aber auch Persönlichkeiten, die ganz allein durch Instagram zur Berühmtheit gekommen sind. „Jeder, der regelmäßig Sachen im Internet ‚postet‘ und eigene Texte auf einer Webseite veröffentlicht, ist ein Blogger“, erzählt Katja, „aber wirklich interessant sind die Wichtigen, die ‚Influencer’ [Einflussnehmer], mit den vielen ‚Followern’ [Folgern]! Auf Instagram sieht man, wie sie leben und was sie gerade machen. Wer einen interessiert, dem ‚folgt’ [to follow = folgen] man, um immer seine neuesten Bilder zu sehen. ‚Posts‘, das sind Beiträge, kann man ‚liken’, also positiv bewerten, oder öffentlich sichtbar kommentieren. Das alles ist gratis!“, betont sie.

Als ich frage, ob sie und ihre Schwester bei diesem „Spiel“ mitmachen, meldet sich die Mutter zu Wort. Ich erfahre, dass Maria, von der großen Schwester angespornt, seit vier Jahren ein Instagram- und Facebook-Profil hat, einen eigenen YouTube-Kanal besitzt und intensiv WhatsApp nutzt. Maria hat 2400 Follower auf Instagram. Sie ist eine stolze Bloggerin und erhält regelmäßig über 600 Likes auf ihre Instagram-Posts. Obwohl ich die Hälfte dieser Bezeichnungen nicht kenne, frage ich, wie viel Zeit sie eigentlich braucht, um da überall mitzumachen. Die Mutter erzählt traurig, dass sie mit ihren Töchtern seit Jahren einen Krieg ums Smartphone führt – ohne Erfolg. Sie spricht von Tagen, an denen vor allem Maria stundenlang übers Handy gebeugt dasitzt und nicht einmal eine Essenspause einlegt. Alle paar Sekunden geht ein Klingelton los und ihre Finger tippen wie verrückt auf der kleinen Tastatur herum. Die Mädchen wollen alles erfahren: wer wo wann was getan hat, wer mit wem wo war und wie alles gelaufen ist.

Das Wochenende ist eine ruhige Zeit im Haus, erzählt die Mutter, denn die beiden Töchter und immer öfter auch der Sohn, liegen wie gelähmt auf dem Wohnzimmersofa, den Blick auf das Handy gerichtet, die unzähligen Instagram- und Snapchat-Beiträge bewundernd. Im Sekundentakt trudeln Bilder aus der ganzen Welt ein, von Tokio bis Los Angeles, von Oslo bis Johannesburg und von Matrei am Brenner bis nach Salurn. Nach drei bis fünf Sekunden haben sich die Jugendlichen auch schon sattgesehen und wischen weiter zum nächsten Foto oder Video.

Rechnet man das hoch, sind es vierzig Bilder pro Minute, 240 Bilder pro Stunde, ein paar Tausend Bilder an einem Vormittag am Wochenende.

Bilder von grölenden Partyhechten aus aller Welt, die zeigen wollen, wie glücklich und toll sie doch sind. „Show ist das Wichtigste“, bemerkt die große Schwester. Gerne sehen sie sich auch die „Stories“ berühmter Influencer an, das sind kurze Videos oder Fotos, die chronologisch geordnet abgespielt werden. Es fallen Namen von Personen, die für mich bislang vollkommen unbekannt waren, online aber scheinbar berühmter als Paul McCartney und Michael Jackson sind. Maria und ihre Schwester erzählen von einer gewissen Chiara Ferragni und ihrem Partner Fedez, die auf ihrem Instagram-Profil ihr ganzes Privatleben zur Schau stellen und sogar zeigen, wie sie ihrem Sohnemann die Windeln wechseln und dies wohl bemerkt mit über 17 Millionen Followern.

Ich lasse mir mehr über dieses mir bis dahin unbekannte Netzwerk erzählen. Und so erfahre ich weiter von Katja: „Lele Pons ist ganz berühmt. Sie zeigt sich ihren 36 Millionen Abonnenten mit ihrer neuen Gucci-Tasche. Julia Engel hingegen hat fast zwei Millionen Follower und ist mit einem silbernen Oberteil in ihren Swimmingpool gesprungen. Mariano di Vaio hat ‚nur‘ sechs Millionen Abonnenten und er postet Selfies, wie er in einem Restaurant Kaviar isst. Kim Kardashian ist mit ihren 146 Millionen Abonnenten nun wirklich total famous. Auf ihrem Instagram-Profil zeigt sie sich halb nackt vor dem Spiegel und demonstriert ihre Rundungen.“

Die Mutter erzählt, dass Maria seit mehr als einem Jahr ständig Selfies macht: Allein vor dem Spiegel oder zusammen mit Freundinnen posiert sie und zeigt sich von ihrer besten Seite. Unzählige Bilder werden geknipst, detailliert begutachtet, aussortiert und bearbeitet. Die besten werden auf Instagram veröffentlicht. Das alles geschieht in der Schule, zu Hause, im Restaurant, beim Ausgehen, bei Bergtouren und besonders gerne auf Reisen. „Fotos machen, wo auch immer man gerade ist“, scheint die Devise zu lauten – es muss halt was hermachen. Die Jugend spricht gerne von „Fotoshooting“: Was früher nur den Stars vorbehalten war, kann seit dem Smartphone prinzipiell jeder machen. Unter Marias Posts finden sich zahlreiche Selfies auf Berggipfeln oder am Meer. Wahrscheinlich, damit die Welt sehen und bewundern kann, wie cool, schön, sportlich und perfekt sie doch ist. Auch in Katjas „Feed“ wimmelt es nur so von diesen Bildern. Ein Feed ist die chronologische Aneinanderreihung der letzten Beiträge der Instagramer, denen man folgt.

Auf Instagram, Snapchat und Facebook gilt: Dabeisein ist alles. Wer mitreden will, muss vielen Leuten folgen, und wer ernst genommen werden will, dem müssen viele Leute folgen.

Der Mutter schießen Tränen in die Augen, als Maria plötzlich ihren Blick hebt und mit gebrochener Stimme sagt: „Ihr alle könnt das nicht verstehen! Ich muss dabei sein, ich muss mitmachen, denn sonst verliere ich die Freunde. Jeder muss dabei sein, denn sonst schreibt die Gruppe einen ab.“ Am Ende sagt sie: „Ich hasse mich, ich kann nicht mehr mitmachen, ich bin ein Loser und das wissen jetzt alle!“

Diese Worte haben mich begreifen lassen, dass hier unglaublich viel dahintersteckt, von dem ich bislang nichts gewusst habe. Maria ist gefangen in ihrer digitalen Welt, zu der ihre Eltern keinen Zutritt haben. Eine Welt mit eigenen Regeln, in der es am wichtigsten ist, sich rund um die Uhr von seiner besten Seite zu zeigen. Maria hat um jeden Preis versucht, beim Rennen mitzumachen und jederzeit ein Bild der Perfektion präsentiert.

Doch dieses Bild existiert nicht mehr. Es ist in sich selbst zusammengebrochen, gemeinsam mit Marias Onlinewelt, der sie nun Rechenschaft über ihre tiefe Verzweiflung schuldig zu sein glaubt. Maria spürt, dass das Netz auf sie wartet und schämt sich. Wo sind sie jetzt, ihre Hunderte von Freunden? Sie sucht sie vergebens. Dass sie jetzt weinend im Bett liegt und versucht, durch Psychotherapie und Medikamente die Angst vor dieser Welt zu überwinden, weiß niemand. Hier hat sie keinen Follower mehr, keinen digitalen Freund, der ihr den Kopf streichelt oder der sie mit einem Like von ihrem Schmerz befreit. Maria ist alleine in ihrer digitalen Welt.

Vernetzt und doch allein?

Was soll man zu dieser Geschichte sagen? Sie hört sich an wie ein Psychothriller aus Hollywood, eine erfundene Geschichte eines fantasievollen Regisseurs, der die Kinowelt mit neuen Themen überraschen will. Allerdings ist sie keine Fiktion, sondern Realität - und sie spielt nicht in Hollywood, sondern in einem Südtiroler Seitental. Maria hat Glück gehabt. Sie hat sich geöffnet und zugelassen, dass man ihr hilft, sodass die Familie ihr beistehen und im entscheidenden Moment ärztliche Hilfe holen konnte, um sie aus dem tiefen Loch der Depression zu holen.

Vielen anderen Jugendlichen im Alter von Maria ist es nicht so ergangen. 2400 Selbstmordversuche bei Teenagern gibt es jährlich in Deutschland. Bei 600 von ihnen kommt jede Hilfe zu spät. Die Anzahl der Selbstmordversuche bei Jugendlichen in Südtirol ist ebenfalls erschreckend. Mehr als die Hälfte der Fälle ist irgendwie mit dem Gebrauch von digitalen Medien verbunden: Cybermobbing, Onlinesucht, Leistungsdruck und Minderwertigkeitsgefühle.

Experten sehen seit Jahren einen Zusammenhang zwischen Depressionen und der Verwendung von Smartphones und sozialen Netzwerken: „Seit Erscheinen des ersten iPhones im Jahr 2007 stieg die Selbstmordrate und Depressivität bei Teenagern massiv an“, behauptet die US-Psychologin Dr. Jean M. Twenge in einem Gastbeitrag im US-Magazin The Atlantic. Die Jugendlichen von heute würden viel später unabhängig, hätten weniger Freunde und seien häufiger depressiv oder sogar suizidal.

„Haben Smartphones eine Generation zerstört?“, fragt die Psychologin provokant. Ihre Antwort darauf ist so ausführlich wie unangenehm: Twenge zitiert mehrere aussagekräftige Studien und befragt ihre Studenten, was sie mit dem Smartphone machen, wenn sie schlafen gehen. Die meisten von ihnen geben an, mit dem Gerät unter dem Kopfkissen oder der Matratze zu schlafen, einige legen es auf den Nachttisch. Das letzte, was sie vor dem Schlafengehen sehen, ist das Smartphone, und morgens weckt es sie auf. Wenn sie nachts aufwachen, beschäftigen sie sich damit. Die Art, wie sie selbst davon sprechen, zeigt erste Anzeichen einer Sucht: „Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber ich kann nicht anders!“ Andere sehen das Smartphone als Erweiterung ihres Körpers oder sprechen davon, als wäre es eine leibhaftige Person: „Mein Telefon nahe bei mir zu haben während ich schlafe, gibt mir Geborgenheit“, erklärt eine von Twenges Studentinnen.

Geborgenheit oder Einsamkeit?

Die Geborgenheit, die die junge Dame im Smartphone sucht, hat Maria wieder bei ihrer Familie gefunden. Inzwischen sind sechs Monate seit ihrem Nervenzusammenbruch vergangen und es geht ihr besser. Sie nimmt noch ein leichtes Antidepressivum, um ihre immer seltener werdenden Rückfälle zu meistern, geht wieder regelmäßig zur Schule und hat nach langen Diskussionen mit ihren Eltern wenigstens ein paar Apps von ihrem Smartphone eliminiert. Außerdem stellt sie keine Fotos mehr ins Netz und hat ihren Instagram-Account gelöscht.

Maria kann man als geheilt betrachten, auch wenn man merkt, dass sie die Krise noch nicht ganz vergessen hat. Allerdings habe auch ich noch lange über das alles nachgedacht und versucht, Marias Geschichte auf den Grund zu gehen.

Zusammen auf der Suche

Wie sehr haben die Patientin und ihre Familie unter dem Schmerz und der Hilflosigkeit gelitten? Ein junges Mädchen, ein Kind, das sich das Leben nehmen will, ist eine Tragödie – nicht nur für sich selbst und die Familie, sondern für die ganze Gesellschaft. Auch für mich als Arzt war vieles unbegreiflich, neu und erschütternd.

Wir alle – Eltern wie Jugendliche – stehen vor einer großen Herausforderung, schließlich werden die Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, täglich vielfältiger und tiefgreifender. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, Marias Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht kann sie Jugendlichen und Eltern dabei helfen, Schmerz und Tragödien zu vermeiden, denn digitale Medien sind zu schnell in unsere Welt eingedrungen, als dass wir uns in unserem Menschsein an sie hätten anpassen können.

Ich schreibe dieses Buch zusammen mit Maria und Katja: Zwei Generationen zusammen auf Entdeckungsreise in der digitalen Welt. Eine Reise ins Unbekannte, voller Verstecke und Hinterhalte. Eine ernüchternde Analyse eines Zeitalters, dem wir alle angehören. Ein Versuch, die Ursachen der Verzweiflung Marias zu begreifen.

Das erste Treffen: Welcome Smombies

Es ist unser erstes Treffen nach den Weihnachtsferien. Die zwei Schwestern kommen gut gelaunt in die Praxis. Maria hat ihren fröhlichen Gesichtsausdruck zurückgewonnen, keine Spur mehr von Trauer, auch wenn ich merke, dass sie ein wenig aufgeregt ist. Über Monate hatte sie bei mir ihren Schmerz ausgeweint und nun kommen die alten Erinnerungen wieder hoch. Ich versuche, die Situation aufzulockern und frage scherzend: „Ich hoffe, ihr habt eure Smartphones mit dabei!“ „Ja natürlich!“, bestätigen sie wie aus einem Munde. „Dann kann ich also behaupten, ihr seid zwei typische Smombies!“

Die beiden Mädchen schauen mich verwirrt an: „Zombies? Was?“ „Nein, Smombies!“, wiederhole ich. „Schon mal was davon gehört? Wenn nicht, dann werdet ihr euch sicherlich an die Zombies erinnern, die unheimlichen Gruselfiguren mancher Horrorfilme, die abwesend durch die Gegend tappen, genauso wie ‚Smombies‘, ‚Smartphone-Zombies‘, die durch ihr Mobiltelefon so stark abgelenkt sind, dass sie ihre Umgebung gar nicht mehr richtig wahrnehmen. 2015 wurde ‚Smombie‘ sogar zum Jugendwort des Jahres gewählt.“ Die zwei Mädchen hören aufmerksam zu. „Erkennt ihr sie nun?“, frage ich, sie starren mich an. „Augen auf! Die Welt ist voll von Smombies. Man findet sie überall, wo man auch hinschaut. Man sieht sie in Städten und auf dem Land, die Straßen entlang spazierend, auf Parkbänken sitzend, an Brückengeländern lehnend, oft am Boden im Schneidersitz hockend, in Gruppen oder allein, aber immer den Blick aufs Smartphone gerichtet. Von dieser neuen Gattung gibt es die verschiedensten Arten:

Die mobilen Smombies gehen immer geradeaus, als wären sie blind. Sie prallen gegen Fußgänger oder andere Smombies, rennen gegen Straßenlaternen, Mülleimer, Radfahrer und nicht selten müssen Autos ausweichen, um sie nicht über den Haufen zu fahren. Noch schlimmer ist das bei Straßenbahnen: Oft hören Smombies wegen ihrer Kopfhörer keine Warnsignale, kein Hupen und sind daher der Albtraum jedes Auto- und Straßenbahnfahrers.

Die Smombie-Mütter sind jene Damen, die mit einer Hand telefonieren und mit der anderen den Kinderwagen mit dem schreienden Kind vor sich herschieben. Man sieht sie auch still auf den Parkbänken der Kinderspielplätze vor dem kleinen Bildschirm sitzen, während ihr Kind irgendwo spielt und vergeblich nach der Mutter ruft.

Die U-Bahn-, Zug- oder Straßenbahn-Smombies