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Beate M. Weingardt – Was die Seele bewegt, bewegt auch den Körper | Psychosomatische Signale verstehen – bewusster leben – SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22777-2 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26640-5 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-verlag.de

Wenn nicht anders angegeben, sind alle Bibeltexte von der Autorin selbst übersetzt worden.

Grafiken auf S. 104, 110 und 113 aus dem Buch:
„Why Zebras don’t get ulcers. The Acclaimed Guide to Stress, Stress Related Diseases, and Coping“ by Robert M. Sapolsky. Copyright © 1994, 1998 by W. H. Freeman.
Copyright © 2004 by Robert M. Sapolsky. Used by permission of Henry Holt and Company, LLC. All rights reserved.

Zitate an den Kapitelanfängen aus:
Johannes Czwalina, „Wenn ich noch einmal anfangen konnte …“; Menschen erzählen. © 2006 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, D-Moers.

Hanns Dieter Hüsch: Ich bin vergnügt (Psalm)
aus: Hanns Dieter Hüsch/Uwe Seidel
Ich stehe unter Gottes Schutz, Seite 140, 2014/13
© tvd-Verlag Düsseldorf, 1996

Umschlaggestaltung: Dietmar Reichert, Dormagen
Titelbild: www.angelikaweingardt.com, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Satz: Christoph Möller, Hattingen

INHALT

Vorwort

1. Grundsätzliches

1.1. Sind wir krank oder haben wir eine Krankheit?

1.2. Wer krank ist, ist selbst schuld?

1.3. Die Macht des Unbewussten

2. Was sagt die Bibel?

2.1. Körper und Seele im Alten Testament

2.2. Krankheit als Strafe?

2.3. Was Jesus sagte und tat – eine Orientierung

3. Der Mensch hat Grenzen

3.1. Veranlagungen und genetische Ausstattung

3.2. Schwangerschaft

3.3. Frühe Kindheit

3.4. Biologische Alterungsprozesse

4. Was auf die Sinne und den Körper wirkt, wirkt auch auf die Seele

4.1. Sehen

4.2. Natur

4.3. Hören

4.4. Riechen

4.5. Bewegung

4.6. Musizieren, Singen, Musikhören

4.7. Berühren und Berührtwerden

4.8. Schlafen

5. Was ist Stress und wie entsteht er?

5.1. Eustress und Distress

5.2. Die Stressreaktion des Körpers

5.3. Was beinhaltet die Stressreaktion?

5.4. Langzeitfolgen der Stressreaktion

6. Stressauslöser im Alltag

6.1. Stress durch Streit und Disharmonie

6.2. Stress durch äußere Belastungen

6.3. Stress durch eigene Bewertung und innere Antreiber

6.4. Stress durch Sorgen, Ängste, Unsicherheit

7. Krankheit als Signal der Psyche – zwei Wirkungsbereiche

7.1. „Die Sprache der Haut“ von Uwe Gieler

7.2. „Körperschmerz – Seelenschmerz“
von Hildegund und Peter Heinl

7.3. Redensarten weisen uns den Weg

8. Chancen zur Veränderung der eigenen Lebenssituation

8.1. Neue Bewertung von Belastungen

8.2. „Das Auge ist das Licht des Körpers“: Gedanken zu Matthäus 6,22-23

8.3. Belastungen verringern durch Abgrenzung gegenüber anderen Menschen

8.4. Belastungen verringern durch Grenzen, die wir uns selbst ziehen

8.5. Konstruktive Auseinandersetzung mit Altlasten

9. Resilienz – was Menschen stark und belastbar macht

9.1. Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen

9.2. Hoffnung

9.3. Dankbarkeit

9.4. Humor

9.5. Verbundenheit mit Menschen

9.6. Soziales Engagement

9.7. Kommunikation

9.8. Was man von belastbaren Menschen lernen kann – einige Anregungen

10. Die Bedeutung des Glaubens

10.1. Entlastung

10.2. Vertrauen

10.3. Sozialer Rückhalt

10.4. Selbstwert und Werte

10.5. Leben im Gleichgewicht

Psalm

Literaturverzeichnis (in Auswahl)

Für meinen „Ernst des Lebens“,
dem ich so viel Glück verdanke

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Stress – das Wort wird geradezu verschwenderisch benutzt. Schon die kleinste Verstimmung eines Familienmitglieds genügt – und man hat „Stress“ mit ihm. Und die Aufforderung „Mach dir keinen Stress!“ kann schlichtweg bedeuten: „Streng dich bloß nicht an!“ Doch abgesehen davon, dass „Stress“ gelegentlich eine inflationäre Verwendung erfährt, gibt es durchaus auch die andere Seite: Immer mehr Menschen haben immer häufiger und immer länger anhaltend das intensive Gefühl, überlastet zu sein.

Es ist natürlich, dass sich diese Empfindung im Leben immer wieder einstellt. Sei es, wenn wir uns von anderen Menschen zu viel aufladen ließen, sei es, wenn wir uns selbst zu viel vorgenommen haben. Sei es, wenn eine Menge Aufgaben fast gleichzeitig erledigt werden will, sei es, dass sich diese Aufgaben wie hohe Berge vor uns auftürmen. „Wie soll ich das alles nur schaffen?“ ist das Grundgefühl vieler Menschen in unserer Gesellschaft.

Grundsätzlich ist es nicht ungesund, immer wieder in Stress zu kommen. Wir sind körperlich dafür gut gerüstet, ja, wir vermögen daran sogar zu wachsen. Belastungen mobilisieren unsere geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten und können einen nachhaltigen Kraftzuwachs in allen drei Dimensionen bewirken. Sie zwingen uns möglicherweise dazu, mit unseren Energievorräten bewusst umzugehen und mehr auf unsere Grenzen zu achten. Damit verbunden kommen wir nicht an der Herausforderung vorbei, rechtzeitig und deutlich gegenüber unserer Umwelt Grenzen zu ziehen. Dies ist nicht leicht, denn das Ideal unserer Zeit ist eindeutig der grenzenlos belastbare Mensch. Doch den gab es nie, gibt es nicht und wird es nie geben, und wer dies rechtzeitig erkennt und demütig akzeptiert, lebt bewusster und damit mehr im Einklang mit sich selbst.

Dazu soll dieses Buch ermutigen. Es will zum einen zeigen, wie unser Körper auf körperliche und seelische Belastung reagiert und welche gesundheitlichen Konsequenzen die sogenannte autonome Stressreaktion nach sich zieht, sofern sie nicht wieder abklingt. Da wir eine Mitverantwortung für unsere individuelle Gesundheit haben, kann es nur in unserem Interesse sein, über die Verbindungen zwischen Stress und Krankheit besser Bescheid zu wissen. Darum geht es im ersten Teil. Doch dieses Buch will mehr, es will zu einem bewussteren Lebensstil ermutigen. Im zweiten Teil werden deshalb Möglichkeiten skizziert, dem Gefühl der chronischen Überlastung vorzubeugen oder ihm wirkungsvoll entgegenzusteuern.

Jedem Kapitel ist ein Zitat aus dem Buch „Wenn ich noch einmal anfangen könnte …“ (Johannes Czwalina, Brendow Verlag) vorangestellt. Damit soll deutlich werden, dass wir eine notwendige Veränderung unseres Lebensstils nicht zu lange vor uns herschieben sollten. Wenn wir heute erkennen, dass wir unablässig oder zu häufig oder zu stark unter innerem oder äußerem Druck stehen und aus der Spannung nicht mehr in die Entspannung finden, dann ist es heute an der Zeit, etwas zu tun. Ob unsere Umwelt dies versteht oder nicht, ob sie es respektiert oder nicht – wir sind für unsere Lebensqualität selbst verantwortlich. Ich persönlich glaube, dass eine höhere Macht (die ich Gott nenne) uns dabei unterstützen will, den rechten Weg zwischen Unterforderung und Überforderung zu gehen, doch nimmt sie uns die dafür zu treffenden Entscheidungen nach meiner Erfahrung nicht ab. Es ist allerdings hilfreich, zu glauben, dass wir geleitet und begleitet werden, um zur rechten Zeit das Richtige zu tun – und dass wir ermutigt werden, unseren Weg zu gehen, unbeirrt und gelassen, voller Vertrauen in uns selbst und in einige Menschen, die unsere Entscheidungen respektieren und unterstützen. Und vielleicht auch voller Vertrauen in Gott.

PS: Die häufige Wahl der männlichen Form („er“) geschieht aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung; die weibliche Form („sie“) möge der Leser / die Leserin im Geist dazudenken.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Grundsätzliches

Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Anfang an mehr darauf achten, meine tiefste Lebensmelodie zu erspüren und dieser Spur zu folgen. Durch meine Eigenwilligkeit habe ich manches verzögert, innere gute Impulse und Warnungen habe ich oft überhört.

Schwester Käthe, geb. 1929,
Kommunität Schloss Craheim/Unterfranken

1.1. Sind wir krank oder haben wir eine Krankheit?

Eine Freundin ruft mich an: „Ich kann morgen leider nicht zu unserem verabredeten Treffen kommen, ich bin krank geworden.“ – „Oh wie schade, was hast du denn?“ – „Ich habe eine Erkältung/Grippe/einen Hexenschuss/Migräne/eine Magenverstimmung …“ – an dieser Stelle gibt es unzählige Antwortmöglichkeiten. Wenn möglich versehen wir die Krankheit, die uns „erwischt“ hat, mit einem präzisen Namen, das macht die Sache einfacher, und wir müssen nicht allzu viel erklären. Doch haben wir nur eine Krankheit – oder sind wir krank? Was ist der Unterschied?, fragen Sie sich. Natürlich, das eine lässt sich nicht vom anderen trennen – wer krank ist, hat in der Regel auch irgendeine Krankheit. Aber die Feststellung „Ich bin krank“ macht auch deutlich, dass unsere Person als Ganzes betroffen ist. Denn eine Krankheit kann man nicht einfach ausgliedern, auch wenn sie nur einen kleinen Teil unseres Körpers lahmlegt oder beeinträchtigt. Ihre Auswirkungen betreffen uns als ganzen Menschen.

Auch wenn „nur“ der Kopf oder der Rücken wehtut, auch wenn „nur“ der Magen rumort, die Körpertemperatur zu hoch oder die Hand verstaucht ist – wir sind und bleiben eine Einheit von Geist, Körper und Seele. Will heißen: Bei einem Schmerz oder einer heftigen Abwehrreaktion des Körpers leidet der gesamte Mensch. So gesehen ist die Mitteilung „Ich bin krank“ meistens zutreffend, auch wenn wir uns in der Regel darum bemühen, uns von der Erkrankung nicht total vereinnahmen zu lassen. Tapfer gehen viele Menschen trotz Kopfweh oder Schnupfen, Kreuzschmerzen oder leichtem Fieber – um nur einige Beispiele zu nennen – ihrer Arbeit nach oder erfüllen ihre Pflichten, wenn auch mit größerer Anstrengung. Manchmal macht es der Körper mit, manchmal streikt er erst recht.

Doch wenn uns Auswirkungen einer Krankheit als ganze Person betreffen, so ist zu fragen, ob dies nicht auch für die Entstehung einer Krankheit gilt. Könnte es sein, dass im Menschen irgendetwas nicht „in Ordnung“ ist, bevor er krank wird? Dieser Gedanke ist für die meisten Menschen heutzutage ungewohnt, ja, bedrohlich. Doch das war nicht immer der Fall und ist es bis heute nicht überall. In vielen weniger „zivilisierten“ Kulturen dieser Welt, wo die Medizin als Wissenschaft noch wenig bekannt ist, gilt das ungeschriebene „Gesetz der Ganzheitlichkeit“. Die Menschen glauben: Wenn ein Teil des Körpers krank ist, ist am ganzen Menschen etwas nicht in Ordnung. Seine Krankheit macht eine Krise der Person deutlich.

Nehmen wir einmal an, dem ist so. Dann müssten wir weiterfragen: Wie kam es zu der Krise? Was sind die Gründe dafür, dass ein Mensch seine innere Balance, sein seelisches Gleichgewicht, verloren hat? Eine Menge Ursachen sind möglich. „Das hat mich umgehauen“, sagen wir, wenn uns etwas schockiert oder überfordert hat. Das Bild ist treffender, als man denkt, denn seelische Belastungen können durchaus dazu führen, dass man eher „zu Fall kommt“. Eine wissenschaftliche Studie zeigte, dass Menschen, die einen geliebten Angehörigen verloren haben, in den ersten Monaten nach diesem Verlust mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Knochenbruch erleiden. Wie das? Warum kommen zu dem gebrochenen Herzen nun auch noch das gebrochene Bein oder der gebrochene Arm dazu? Hat der seelisch aus dem Gleichgewicht geratene Mensch etwa plötzlich Mühe, das körperliche Gleichgewicht zu wahren? Sind erschütterte und be-stürzte (!) Menschen auch anfälliger für Stürze? Falls ja: Was könnte der Grund dafür sein? Gefährlich wäre es, den Trauernden einen unbewussten Lebensüberdruss zu unterstellen oder ein Verlangen nach Auszeit mittels Krankheit. Einleuchtender klingt schon der Gedanke, dass sich Seelisches auch körperlich ausdrücken will. Er trifft sicher häufig zu (vgl. Kapitel 7) – aber lässt sich nicht beweisen. Wie auch sollte man diese Vermutung überprüfen?

Und selbst wenn sie zuträfe, so verfügt der Körper über eine Riesenauswahl an Ausdrucksmöglichkeiten. Die Frage bleibt deshalb: Warum erhöht sich bei Trauernden in den ersten Monaten das Sturz- und Unfallrisiko? Was könnte der Grund sein? Die Wissenschaftler, die den Zusammenhang beobachtet haben, erklären ihn folgendermaßen: Bei trauernden Menschen zerbricht durch den Verlust eines für sie wichtigen Angehörigen eine bisher bestehende wichtige Ordnung in ihrem Leben. Vieles ist nicht mehr so, wie es war – und wird es auch nie wieder sein. Wer aber aus bisher Gewohntem herausgerissen wird, kommt seelisch für einige Zeit aus der Balance. Die Psyche muss sich umstellen, ein neues inneres Gleichgewicht finden, was nicht im Handumdrehen geschieht. Dieser seelische „Schwebezustand“ wirkt sich natürlich auf Denken, Konzentration und Aufmerksamkeit eines Menschen aus. Trauernde sind häufig nach innen gekehrt, geistesabwesend, unkonzentriert. Sie sind nicht selten in ihren Grundfesten erschüttert und stehen zumindest vorübergehend nicht mehr so fest „mit beiden Beinen“ auf der Erde, wie es vor dem Verlust der Fall war. Die seelische Wunde erfordert ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit!

Es liegt nahe, dass Menschen in dieser Verfassung auch physisch labiler und „wackliger“ sind. Dass sie beim Gehen eher etwas übersehen, weil sie weniger darauf achten, wohin sie ihren Fuß setzen und was ihnen möglicherweise im Weg steht oder liegt. Hinzu kommt, dass die seelische Energie, die sie zur Verlustbewältigung benötigen, auch ihrem Körper Kraft raubt – zumal, wenn Appetitlosigkeit dazukommt. Trauernde fühlen sich deshalb oft schlaff und kraftlos – nicht zufällig spricht man davon, dass jemand „am Boden zerstört ist“ und „den Kopf hängen lässt“. Doch das Leben mit seinen Herausforderungen geht weiter und will bewältigt werden. Eine Menge Arbeit wartet, zahlreiche Behördengänge sollten erledigt werden. Man funktioniert, so gut es geht – doch dabei genügt ein Stolpern, eine kleine Unachtsamkeit, und schon kommt es zum Sturz.

Doch nun die spannende Frage: Ist auch der Umkehrschluss zulässig? Hat ein Mensch, der sich etwas bricht, zuvor einen seelischen „Knacks“ oder eine schwere Erschütterung seiner Psyche erlebt? Die Antwort lautet: Eher selten! Naheliegender sind andere Ursachen für Brüche und Stürze, man denke nur an Sportunfälle, Unfälle bei der Hausarbeit, Stolperfallen und anderes.

Bleibt festzuhalten: Wenn ein Teil des menschlichen Körpers beeinträchtigt oder verletzt wird, so ist zunächst der ganze Mensch beeinträchtigt oder verletzt, weil alles im Körper letzten Endes mit allem in Verbindung steht. Oder wie Paulus in einem seiner Briefe an eine noch junge christliche Gemeinde formuliert: „Leidet ein Glied, so leiden alle Glieder mit.“1

Für diese intensive Verbundenheit sorgt unser Gehirn. Es ist das komplizierteste Gebilde der gesamten Schöpfung, denn in ihm sind sämtliche Funktionen, die unseren Körper und unseren Geist sowie unsere Gefühle steuern, auf engstem Raum zusammengeballt – und unvorstellbar vielseitig miteinander vernetzt. Um diese faszinierende Vernetzung, deren Arbeitsweise seit einigen Jahrzehnten wissenschaftlich auf vielfältige Weise und mit großer Akribie erforscht wird, soll es in diesem Buch gehen. Denn nur wenn wir etwas von diesen Zusammenhängen erahnen oder erkennen, können wir auch sinnvoll damit umgehen.

1.2. Wer krank ist, ist selbst schuld?

In den vergangenen Jahren kamen zahlreiche Bücher auf den Markt, die alle ungefähr Folgendes behaupteten: „Körperliche Krankheiten spiegeln grundsätzlich seelische Probleme oder Belastungen wider.“ Besonders bekannt wurde hierzulande das Buch „Krankheit als Weg“ von Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke.2 Sie ließen den Leser schon auf dem Klappentext ihres Buches wissen, alle körperlichen Symptome hätten „einen tieferen Sinn für unser Leben: Sie vermitteln uns wertvolle Botschaften aus dem seelischen Bereich.“ Wenn es so einfach wäre, würde dies folgerichtig bedeuten: Wann immer unser Körper ein Problem hat, bringt er damit etwas an den Tag, was eigentlich in unserer Seele nicht in Ordnung ist. Sobald wir krank werden, müssten wir uns folglich die Frage stellen: „Was will mein Körper mir damit sagen? Was habe ich unterdrückt, verdrängt oder will ich nicht wahrhaben – und nun muss mein Körper es auf diese Weise ausdrücken?“

Besonders gefährlich wird es, wenn die Verzweiflung Todkranker ausgenutzt und ihnen mit falschen Versprechungen viel Geld abgeknöpft wird. Da empfiehlt ein selbst ernannter „Diener des Göttlichen“ seinen krebskranken Patienten, sie sollten „zuerst die Seele heilen, die Heilung von Geist und Körper wird dann folgen“. Oder es wird eine „ganzheitliche Behandlung“ angeboten, bei der die „Konflikte und krank machenden Ursachen“, die dem Krebs zugrunde lägen, aufgedeckt würden. Auch die Pseudowissenschaft „Psychobionik“ suggeriert Krebspatienten, sie könnten sich in einwöchigen Behandlungen durch die richtige Innenweltschau selbst heilen – gegen teures Geld natürlich. Nicht zuletzt behauptet die sogenannte „Reinkarnationstherapie“, dass „Krebs durch schlechtes Karma aus früheren Leben verursacht wird“. Durch Rückführungen in diese früheren Leben soll Heilung der akuten Erkrankung möglich sein, so wird versprochen.3 Schlimm daran ist, dass die Patienten zum Kämpfen gezwungen werden – schließlich wird ihnen vorgegaukelt, dass sie dann eine Chance hätten, ihre Krankheit zu besiegen. Mit ihrer Verzweiflung, in der sie sich an jeden Strohhalm klammern, wird viel Geld verdient.

Doch Tatsache ist, dass gerade der seelische Druck – „Ich muss kämpfen bis zuletzt!“ – kranke Menschen noch mehr schwächen kann, als sie es ohnehin schon sind. Besonders schlimm ist, wenn schon auf Kinder ein solcher Druck ausgeübt wird. Ein Hamburger Spezialist für Kinderkrebs berichtet von einer Mutter, der eine Heilerin gesagt hatte, ihr an Krebs erkranktes siebenjähriges Kind müsse seine Einstellung ändern, um gesund zu werden. „Daraufhin schüttelte die Mutter das Kind im Krankenbett und rief: ,Du hast doch die Wahl!‘ 4 Welche Qualen werden diesem Kind noch zusätzlich aufgebürdet!

Das Problem bei dieser Sicht der Dinge ist: Wir sind, so wird unterstellt, an allem selbst schuld. Wer krank ist, hat zur Last der Krankheit auch noch die Last zu tragen, dass er irgendetwas in seinem Leben „falsch“ gemacht hat. Sonst wäre er schließlich nicht krank geworden, so die „Logik“ von Dahlke und Kollegen. Im Grunde liegt dieser Denkweise die Überzeugung zugrunde: „Seelische Gesundheit zeigt sich darin, dass man mit einer unverwüstlichen körperlichen Gesundheit durchs Leben geht. Sagten schließlich nicht schon die Römer: ,Mens sana in corpore sano‘ – ein gesunder Geist bzw. ein gesundes Gemüt wohnt in einem gesunden Körper? Na also, dann ist ein gesunder Körper der Beweis für einen gesunden Geist!“

Stopp! So einfach ist es eben nicht. Genau das übersehen – oder verschweigen – die Esoteriker und viele selbst ernannte „Alternativmediziner“ wie der Amerikaner Bernie Siegel, der sich zu der These versteigt: „Es gibt keine unheilbaren Krankheiten, es gibt nur unheilbare Menschen.“5 Mit anderen Worten: „Wer krank ist und nicht gesund wird, der hat etwas falsch gemacht.“ Wenn diese Behauptung stimmen würde, hätte das grausame Konsequenzen. Wir wären dann grundsätzlich und ausschließlich selbst dafür verantwortlich, wenn wir gesundheitliche Probleme bekommen. „Krankheit wird so zum wandelnden Beweis psychischer Defizite gemacht …“6 Dieses Denken ist anmaßend und hochgefährlich, ja, geradezu kriminell. Ich lehne es aus zwei Gründen entschieden ab:

 Die Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele werden in irreführender Weise vereinfacht. Natürlich hängt alles mit allem irgendwie zusammen, in unserem Körper und im gesamten Universum, und natürlich gibt es manchmal auch sehr deutliche Verbindungen zwischen unserem Verhalten und unserer Gesundheit. Beispiele gibt es zur Genüge. Übergewichtige werden nicht überrascht sein, wenn sich eines Tages ihre Gelenke melden, ebenso wie Kettenraucher sich nicht wundern werden, wenn sie eines Tages Lungenprobleme bekommen. Und Leistungssportler wissen, dass sie irgendwann mit Folgeschäden ihres Intensivsports zu kämpfen haben.7

Allein diese drei Beispiele zeigen: Manchmal liegen die Zusammenhänge zwischen unserem Verhalten und unseren gesundheitlichen Problemen klar auf der Hand. Aber so eindeutig ist es eben nicht immer! Wer vollmundig behauptet, dass hinter jedem körperlichen Leiden auch ein unbewusstes oder verdrängtes seelisches Leiden steht, beweist damit nur, dass er keine Ahnung von der Komplexität des menschlichen Organismus hat. Er oder sie ignoriert oder verharmlost die unglaublich vielschichtigen Verbindungen, die zwischen Körper, Geist und Seele bestehen. Sie sind ebenso komplex wie unser zentrales Steuerungsorgan, das Gehirn mitsamt dem Nervensystem.

 Ein solch vereinfachendes Denken ist gefährlich, weil es dem Menschen einredet, dass er die uneingeschränkte Macht über seinen Körper und damit auch seine Gesundheit erlangen kann. Es „weigert sich, die Stärken, Schwächen und Gesetzmäßigkeiten des Körpers anzuerkennen, Eigensinnigkeiten, die sich nicht ohne Weiteres den Launen eines allmächtigen Geistes beugen“8. Mit der Vorstellung, der Mensch müsse nur „richtig leben“ und natürlich „richtig denken“, werden grenzenlose Hoffnungen geweckt. Es werden aber auch in der Folge maßlose Enttäuschungen produziert, weil es eben in der Praxis oft genug trotz aller Bemühungen, „richtig zu leben“, zu Krankheiten kommt.

Auch Studien an Menschen, die auf wissenschaftlich nicht erklärbare Weise von schweren Krankheiten geheilt wurden, zeigen: Es gibt nicht die eine gemeinsame „Ursache“ für diese Heilungen, schon gar nicht ist es die Willenskraft der Patienten oder ihr fester Glaube, wieder zu genesen. Denn diese Willenskraft und diesen Glauben hatten auch viele, die dennoch an ihrer Krankheit gestorben sind! Aus Einzelfällen von Heilungen oder gar Spontanremissionen lassen sich – leider – keine gesetzmäßigen Ursachen ableiten.9

Doch an dieser Stelle muss ein weiterer Punkt erwähnt werden: Nicht nur die Vorstellung, dass der Geist vollständig den Körper beherrschen kann, ist höchst gefährlich. Erst recht zum Unsinn und Unheil wird dieses Denken, wenn bestimmte Krankheiten mit ganz bestimmten seelischen Störungen in Verbindung gebracht werden. Die simpelste Deutungsmethode besteht darin, körperliche Probleme sozusagen wortwörtlich auf den seelischen Bereich zu übertragen, wie es z.B. folgende Fragen suggerieren:

• „Sie sind kurzsichtig? Was wollen Sie denn nicht sehen in Ihrem Leben? Wovor verschließen Sie die Augen?“

• „Sie hören schlecht? Wovor verschließen Sie die Ohren, was wollen Sie denn nicht hören? Warum wollen Sie keine Verbindung zu anderen Menschen haben?“

• „Sie leiden unter Verstopfung? Was halten Sie denn mit aller Gewalt fest? Was fressen Sie in sich hinein und können es nicht loslassen? Was haben Sie nicht verdaut?“

• „Sie haben Kopfweh? Wo sind Sie denn besonders dickköpfig? Worüber zerbrechen Sie sich ständig den Kopf? Wollen Sie vielleicht mit dem Kopf durch die Wand? Gibt es etwas, was Sie im Kopf nicht aushalten?“

• „Sie haben steife Gelenke? Worauf versteifen Sie sich denn? Was macht Sie so unflexibel? Wo sind Sie starrsinnig?“10

Die Beispielliste ließe sich beliebig verlängern. Es trifft zwar zu, dass bestimmte Krankheiten schon früher in einschlägigen Werken mit bestimmten „Charakterdefiziten“ in Verbindung gebracht wurden. Dies führte beispielsweise zu der These, es gäbe einen Typus von Mensch, der zu Colitis ulcerosa (chronisch entzündliche Dickdarmerkrankung) oder zu chronischer Polyarthritis (auch Rheumatoide Arthritis genannt) neigt. Auch war lange von einer „Typ-A-Persönlichkeit“ die Rede, die ein besonders hohes Risiko für Herzprobleme und Durchblutungsstörungen aufweist.

Von dieser vereinfachenden Denkweise ist man in der psychosomatischen Medizin heute weit entfernt. Wurde doch im Lauf der Forschung immer klarer, dass sie der Komplexität des Menschen nicht gerecht wird. Auch setzt jede allzu vereinfachende Typologisierung den kranken Menschen massiv unter Druck: Nicht genug damit, dass er an seiner Krankheit „selbst schuld“ ist, wird ihm auch gleich noch per Blind- oder Ferndiagnose klargemacht, wo sein eigentliches Problem liegt. Widerspruch ist zwecklos, denn schließlich ist dem Patienten sein Problem nicht bewusst – sonst wäre er ja nicht krank geworden. Der solchermaßen „durchschaute“ Kranke befindet sich plötzlich in der Falle: Er kann sagen, was er will – er kommt aus dem Verdacht, etwas zu verdrängen, es nicht eingestehen oder nicht wahrhaben zu wollen, nicht mehr heraus!

Nehmen wir das Beispiel Kurzsichtigkeit, von dem ich persönlich seit meiner Jugend extrem betroffen bin. Folgender Dialog könnte stattfinden – Frage des Therapeuten: „Wovor verschließen Sie denn die Augen?“ Ich beteure: „Ich verschließe vor nichts die Augen, nicht dass ich wüsste! Im Gegenteil, ich bemühe mich, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen!“ – Nächste Frage: „Könnte es nicht sein, dass Sie Angst davor haben, sich einzugestehen, dass Sie vor etwas die Augen verschließen?“ – Ich antworte: „Nein, diese Angst habe ich nicht, zumindest ist mir nichts dergleichen bewusst! Ich versuche, mich möglichst ehrlich mit mir selbst auseinanderzusetzen!“ – Dritte Frage: „Aha, es ist Ihnen nicht bewusst. Wie können Sie es dann behaupten?“ – Ich: „Was kann ich Ihnen denn anderes sagen als das, was mir bewusst ist?“

Wir merken, gegen Unterstellungen, dass man etwas verdränge, nicht wahrhaben wolle usw., ist kein Kraut gewachsen. Wer meint, uns besser zu kennen, als wir uns selbst kennen, kann im Einzelfall durchaus einmal recht haben. Doch das Problem ist: Wir können ihn nicht widerlegen, nicht das Gegenteil beweisen. Wir haben allerdings die Freiheit, ihm nicht zu glauben. Dass körperliche Probleme mit seelischen Belastungen verbunden sein können, will dieses Buch deutlich machen. Doch es will auch deutlich machen, dass dies nicht immer der Fall ist. Denn es steht nicht immer in unserer Macht, Krankheiten zu verhindern oder zu besiegen! Ein hohes Selbstvertrauen, auch was die Verantwortung und Fürsorge für die eigene Gesundheit anbelangt, ist sicher hilfreich und wichtig – doch es darf nicht in Selbstüberschätzung münden. Sonst kann die Sorge um die Gesundheit auch krank machen!

Was aber bleibt dem Kranken, dem „eigene Schuld“ unterstellt wird? Er kann Entlastung in der Reinkarnationslehre suchen. Sie behauptet, dass wir in diesem Leben die Konsequenzen der Verfehlungen, Versäumnisse und Defizite aus einem früheren Leben tragen müssen. Der Vorteil: Diese These ist nicht zu widerlegen – damit sind wir wenigstens vom Makel der persönlichen Schuld befreit. Doch auch der Glaube an Reinkarnation ist keine seriöse Möglichkeit, eine Krankheit zu erklären. Mit einer gründlichen und wissenschaftlich haltbaren Anamnese, Diagnose und Ursachenforschung hat er nichts zu tun.

Darüber hinaus wird bei Erklärungen dieser Art, die uns selbst die volle Verantwortung für eine Krankheit aufbürden, das Eigenleben des Körpers, auch seine Eigendynamik, vollkommen unterschätzt. Der Körper wird als willenloses „Ausführungsorgan“ des Geistes und der Gefühle angesehen. Als ob er nicht auch unabhängig von diesen beiden Einflussfaktoren, beispielsweise aufgrund von Umwelteinflüssen, krank werden könnte. Auch Veranlagung und genetische Faktoren sowie Einflüsse während der Schwangerschaft oder in der frühen Kindheit können eine große Rolle spielen.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache: Der Körper bringt von Natur aus eine Menge Anfälligkeiten und Schwachstellen mit – bei jedem Menschen in einem anderen Mischungsverhältnis. Einige dieser Schwachstellen sind allerdings bei allen Menschen vorhanden, denn sie sind das vorläufige Ergebnis der bis jetzt durchlaufenen Evolution des Menschen. So ist z.B. unsere Wirbelsäule nicht optimal an den aufrechten Gang angepasst, was mit fortschreitendem Alter leicht zu Rückenproblemen führen kann. Auch unsere Knie sind eine Schwachstelle, da sie ursprünglich nicht für den aufrechten Gang konstruiert waren. Nicht zu vergessen unsere Zähne – sie sind auf wenig bis gar keinen Zuckerkonsum sowie auf eine durchschnittliche „Lebenserwartung“ von maximal 50 Jahren angelegt.

So ließe sich fortfahren. Auf jeden Fall sind viele Krankheiten, die uns Menschen in der westlichen Welt heute plagen, schlicht und einfach auch der gestiegenen Lebenserwartung und den veränderten modernen Lebensgewohnheiten geschuldet. Sie lassen sich mithilfe eines gesunden Lebensstils unter Umständen lange hinauszögern oder gar vermeiden, aber sie lassen sich „mit richtigem Denken“ nicht wegtherapieren.

 Krankheit kann in Zusammenhang mit geistig-seelischen Vorgängen stehen, muss es aber nicht. Denn es ist nicht zu beweisen, dass eine Erkrankung geistig-seelische Ursachen hat. Möglicherweise können wir den Verlauf einer Erkrankung durch unsere geistig-seelische Haltung beeinflussen, und ganz sicher entscheidet unsere innere Einstellung mit darüber, wie wir mit einer Krankheit umgehen. Doch „umgehen“ heißt nicht „beherrschen“.

 Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat auch das Unterbewusstsein auf Entstehung und Verlauf einer Krankheit einen Einfluss. Doch die Aktivität des Unterbewusstseins ist vom Bewusstsein (Vernunft, Verstand, Logik usw.) nie umfassend ergründbar – und nie ganz beherrschbar. Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal sagte schon im 17. Jahrhundert: „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt.“11 Dies gilt auch für unseren Körper. Auch er hat Gründe, die wir nicht immer nachvollziehen, geschweige denn beeinflussen können.

Weshalb aber erfreuen sich Bücher wie jene von Dethlefsen/Dahlke oder Louise L. Hay einer so großen Verbreitung und Popularität? Zum einen, denke ich, weil die Menschen darin Erklärungen für ihre Erkrankungen suchen. Zum anderen, weil dem Leser eingeflüstert wird: „Du kannst alles, wenn du nur willst! Du kannst wieder gesund werden, wenn du krank bist, und mehr noch: Du musst in Zukunft gar nicht mehr krank werden, wenn du unsere Ratschläge beherzigst!“ Vermittelt wird dadurch ein „illusorisches Gefühl der Sicherheit: Sofern du nur positiv denkst, kannst du dich für alle Zeit vor Krankheit schützen.“12

Solche direkt oder indirekt geweckten Hoffnungen bedienen ein Wunschdenken. Sie beruhen meines Erachtens auf einer enormen Überschätzung der Macht unseres Denkens und unseres Willens. Diese Illusion wird durch die moderne Hirnforschung immer mehr widerlegt: Der Mensch kann sich noch so intensiv in Gedanken mit sich selbst auseinandersetzen – er wird sich dennoch niemals selbst ganz durchschauen. Sein Unterbewusstsein ist einflussreicher und komplexer, als es sich die meisten Menschen vorstellen können – oder wollen.13

1.3. Die Macht des Unbewussten

Hätten Sie gedacht, dass man andere Menschen positiver beurteilt, wenn man ein warmes Getränk in der Hand hält? Und doch ist es so: Mit einem die Finger wärmenden Getränk schätzen wir fremde Menschen eher als „warmherzig und großzügig“ ein als mit einem kalten Getränk in der Hand! Ja, auch wir selbst verhalten uns eher warmherzig und großzügig, wenn uns warm ist, als wenn wir frösteln. Dieses Beispiel zeigt: Es ist offenbar unser Unterbewusstsein, das auf vielfältige Weise beeinflusst, wie wir andere Menschen spontan wahrnehmen und über sie denken – und wie wir uns selbst spontan verhalten.14

Schätzungsweise 90 Prozent der Gehirnaktivitäten sollen, so die Forscher, unbewusst ablaufen, schließlich ist nur ein Teil der sogenannten Großhirnrinde dem Bewusstsein zugänglich. Es war Sigmund Freuds große Leistung, durch Beobachtung und Nachdenken die ungeheure Macht und Reichweite des Unterbewusstseins im Menschen entdeckt zu haben. Doch Freud verfügte zu seiner Zeit noch über keinerlei technische Mittel, um seine Erkenntnisse wissenschaftlich zu überprüfen. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant geändert. Dank enormer technischer Fortschritte lässt sich heute die vielfältige Wirkungsweise des Unterbewusstseins immer besser nachweisen.15 Noch zu Freuds Zeit – er lebte von 1856 bis 1939 – hingegen musste es genügen, die Menschen genau zu studieren und auf das, was sie mitteilten, sorgfältig zu hören. Freud ahnte allerdings schon, dass seine Entdeckung des mächtigen Unbewussten für den Menschen bedrohlich und kränkend sein würde.

Denn diese Entdeckung beinhaltete schließlich, dass wir gar nicht so sehr von Vernunft und Intellekt bestimmt werden, wie wir uns oft einbilden. Hingegen lenken uns viel stärker, als uns möglicherweise vorstellbar und auch lieb ist, unbewusste Kräfte. Sie bestimmen unser Denken und Fühlen, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Ziele und Entscheidungen. Wir sind, um Freud zu zitieren, in der Tat nicht „Herr im eigenen Haus“. Zumindest nicht uneingeschränkt, beherbergen wir doch zahlreiche unbekannte Mitbewohner, die sich recht wenig von uns sagen lassen, sondern tun, was sie wollen! Der Hirnforscher Gerhard Roth sagt: „Freud hatte sicherlich in der Annahme recht, dass das Unbewusste die Instanz ist, die unser Verhalten weitgehend steuert (…) Es (das Unbewusste, d.V.) ist die Gesamtheit all unserer Vorerfahrungen, die unser Gehirn seit dem Mutterleib gemacht hat.“16

Hirnforscher schätzen, dass wir täglich sage und schreibe rund 100 000 kleine und große, unwichtige und wichtige Entscheidungen fällen, von denen uns gerade einmal um die 100 bewusst sind. Wenn diese Schätzung auch nur annähernd zutrifft, dann ist es völlig unrealistisch zu glauben, man könne es eines Tages so weit bringen, sich auch die restlichen 99 900 Entscheidungen bewusst zu machen. Dies wäre auch nicht empfehlenswert, schließlich würde es das Ende unserer Handlungsfähigkeit bedeuten. Wir wären vor lauter Bewusstheit und Nachdenken darüber, wie wir uns entscheiden sollen, vollkommen gelähmt und würden vermutlich über die ersten zwanzig Entscheidungen am Tag nicht hinauskommen. Schließlich kostet es Zeit und Kraft, bei jedem Entschluss das Für und Wider abzuwägen! Mit welchem Fuß soll ich zuerst aufstehen, an welcher Zahnreihe setze ich meine Zahnbürste an, wie schlüpfe ich in meine Kleider, und warum ziehe ich das an, was ich anziehe?

Es wäre unerträglich, ständig über alles, was wir tun, nachdenken zu müssen. Wenn also Hirnforscher dem alternden Menschen empfehlen, täglich wenigstens einmal aus der Macht seiner Gewohnheiten auszubrechen und zum Beispiel nicht mit dem gewohnten Bein zuerst in die Hose zu steigen, weil diese „Kreativität“ das Gehirn trainiert, so ist dies sicher ein guter Tipp. Doch er kann eben nicht auf all unsere täglichen Gewohnheiten angewendet werden, sonst kämen wir vor lauter Überlegen zu nichts anderem mehr. Wir müssen uns klarmachen: Es ist eine der zentralen Funktionen des Unterbewusstseins, uns die meisten Entscheidungen abzunehmen, damit wir uns auf die wirklich wichtigen, außerordentlichen Aufgaben und Herausforderungen des Tages konzentrieren können. Außerdem würde uns jede etwas anspruchsvollere Tätigkeit – z.B. Autofahren – schwer erschöpfen, wenn nicht ein großer Teil davon nach einiger Zeit des Trainings automatisch, d.h. mithilfe des Unterbewusstseins ohne großen geistigen Aufwand erledigt würde.

Wer darüber nachsinnt, gerät ins Staunen. Es ist eine phänomenale Fähigkeit des Gehirns, eine unermessliche Fülle an täglich anfallenden Aufgaben effektiv ohne Einschaltung des Bewusstseins erledigen zu können. Doch diese Fähigkeit hat ihren Preis, von dem schon die Rede war. Wir können unser Unterbewusstsein niemals umfassend „einsehen“, geschweige denn darüber verfügen. Wir können lernen, uns über manches nachträglich Rechenschaft zu geben, was wir zunächst völlig unbewusst – oder unterbewusst – getan oder gesagt haben. Wir können lernen, unseren Gefühlen, die sich ja meist aus unbewussten Wahrnehmungen und Gedanken speisen, mehr auf den Grund zu gehen. Wir können jedoch nicht lernen, sie vollständig zu überwachen und zu steuern.17 Denn das Gehirn selbst hat offenbar ein Interesse daran, dass wir niemals volle Verfügungsgewalt darüber haben, was sich in ihm abspielt und was dadurch auch unsere körperlichen Funktionen beeinflusst18. Wer etwas anderes behauptet oder verspricht, weckt falsche Hoffnungen und steht nicht auf dem Boden wissenschaftlicher Erkenntnis.19

Wie sehr und wie intensiv Vorgänge in unserem Unterbewusstsein Auswirkungen auf unseren Organismus haben, wurde im Übrigen in vielen Untersuchungen nachgewiesen. Folglich kann auch eine Krankheit durchaus von unterbewussten Erinnerungen, Gedanken oder Gefühlen mit beeinflusst oder gar ausgelöst werden.20

Das Problem dabei ist: Der Einfluss unbewusster oder vorbewusster Erinnerungen auf unsere Krankheiten lässt sich – zumindest bis jetzt – mit keinem Messverfahren der Welt eindeutig überprüfen oder nachweisen. Man kann deshalb nur Zusammenhänge vermuten und Rückschlüsse ziehen. Doch ob Zusammenhänge wirklich bestehen (und wenn ja, in welcher Stärke), vermag keine letzte Instanz zu beurteilen. Und selbst wenn ein Zusammenhang bestehen sollte, ist damit nicht immer die Lösung griffbereit. Ein Beispiel: Eine Frau vermutet, dass ihre Kopfschmerzen etwas mit dem psychischen Druck zu tun haben, den sie in ihrer Partnerschaft empfindet. Was kann sie tun? Sie kann lernen, anders mit ihrer Beziehung oder ihrem Partner umzugehen, wodurch sich die Bewertung der Situation ändert (vgl. Kapitel 8.1.). Würde sie die Lösung in einer Trennung suchen, bedeutet dies nicht unbedingt, dass die Kopfschmerzen dadurch verschwinden würden. Das kann der Fall sein, muss es aber nicht. Denn Schmerz kann sich auch verselbstständigen oder auf tiefer liegende Probleme hinweisen, die nicht nur etwas mit der akuten Belastung zu tun haben.21

Besonders machtlos sind wir gegenüber prägenden Erfahrungen, die wir im Kindesalter gemacht haben. Sie wurden, mit starken Gefühlen eingefärbt, im Unterbewusstsein gespeichert. Erfahrungen, die der Mensch vor dem vierten Lebensjahr macht, werden ohne Bewusstsein gespeichert, weil die für bewusste Erinnerungen notwendigen Hirnstrukturen erst ab dem dritten Lebensjahr reifen und frühestens ab dem vierten Lebensjahr ausgereift sind. Demgegenüber ist das für Gefühle zuständige limbische System zum Zeitpunkt der Geburt schon fertig ausgebildet.

„Gebranntes Kind scheut das Feuer“, sagt der Volksmund und deutet damit an, dass sich negative Erfahrungen ins Gedächtnis einprägen und zukünftiges Verhalten beeinflussen. Der Grund: Vom Standpunkt des menschlichen Überlebenswillens ist es sinnvoll, die Erinnerung daran im Gedächtnis zu bewahren, damit wir in Zukunft die entsprechenden negativen Situationen oder Reize meiden. Wie aber wollen wir Jahre oder Jahrzehnte später auf unbewusst gespeicherte Erfahrungen unserer frühen Kindheit zugreifen? Möglicherweise eröffnen uns langwierige Psychotherapien einen Zugang zu Erlebnissen oder Traumata aus den ersten Lebensjahren – möglicherweise aber auch nicht. Nicht alles kann eine Therapie aufdecken und bearbeiten. Außerdem sind zeitaufwendige und kostspielige Therapien nur für wenige Menschen ein Weg, denn die Anzahl von Therapeuten ist begrenzt.

Jesus hat einmal gesagt: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ (Matthäus 26,41). Er wollte damit deutlich machen, dass unsere Emotionen („Fleisch“ bedeutet in der Sprache der Bibel die menschliche Bedürftigkeit und die damit verbundene Emotionalität) nicht unbedingt und nicht immer unserem Geist und Willen gehorchen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Einige Beispiele aus dem Alltag: Wir wollen uns wach halten, doch es fallen uns die Augen zu. Wir strengen uns an, nicht vor Scham zu erröten, spüren aber doch, wie uns die Röte ins Gesicht steigt. Wir kämpfen dagegen an, vor Aufregung zu zittern, können das Zittern aber nicht unterdrücken. Wir haben das Ziel, uns trotz emotionaler Bewegung zu beherrschen, doch es kommen uns die Tränen. Wir versuchen verzweifelt, gelassen zu bleiben, doch wir sind angespannt, und das Herz schlägt uns bis zum Hals …

Wenn Jesus uns an die Grenzen unseres Verstandes erinnert, so wollte er unseren Intellekt gewiss nicht abwerten, sondern uns vor Selbstüberschätzung – und damit auch Selbstüberforderung – bewahren. Denn auch er wusste: Es gehören Demut und Weisheit dazu, die Grenzen der eigenen Kraft – auch der Willenskraft – anzuerkennen! Was keineswegs bedeutet, dass wir uns damit auch in jedem Fall und endgültig abfinden müssen. Veränderungen sind immer möglich, aber sie sind nicht immer berechenbar und vorherzusagen – und mühelos sind sie schon gar nicht! Und natürlich sind, wie Jesus betonte, „bei Gott alle Dinge möglich“ – doch es steht wiederum nicht in unserer Macht, über Gott und seine Wege zu verfügen.

Der Glaube, dass dem Menschen über seinen Geist auch sein Körper vollständig untertan sei, ist in dieser Vereinfachung nach den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung in keiner Weise gerechtfertigt. Im Gegenteil, dieser Glaube weckt Allmachtsfantasien und Hoffnungen, die fast unweigerlich in schweren Enttäuschungen enden müssen – verbunden mit dem Selbstvorwurf: „Was habe ich nur falsch gemacht, dass ich krank wurde und die Krankheit nicht besiegen konnte?“ Wie schwer diese Gedanken ihrerseits wiederum die Gesundheit belasten können, weil sie verunsichern, beschämen und zermürben, kann man sich lebhaft vorstellen. Selbsterkenntnis hilft, doch sie sollte nicht in Selbstanklagen münden!