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Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Kultur der Republik Kroatien.

Originaltitel: Ljubavni roman, erschienen bei Meandarmedia, Zagreb 2015

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

1. Auflage 2017

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2017

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-189-8

www.voland-quist.de

Ivana Sajko, geboren 1975 in Zagreb, Kroatien, ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe BAD co. und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins Frakcija. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen gehört die Chevalier de l‘ordre des Arts et Lettres. Auf Deutsch erschienen bisher u. a. Bombenfrau, Rio Bar und Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution).

Alida Bremer, geboren 1959 in Split, Kroatien, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster.

Inhalt

Titel

Impressum

Autoreninfo

Schmutztitel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Ivana Sajko

Liebesroman

Dieses Buch entstand in Graz, Pula und Zagreb mit großer Unterstützung der Kulturvermittlung Steiermark und dank eines Jean-Jacques-Rousseau-Stipendiums. Ich bedanke mich bei Luise und dem Geist von Cerrini, die auf unser zeitweiliges Zuhause achtgegeben haben, sowie bei Tomi und Ivana, die uns in aller Freundschaft ihre Wohnung zur Verfügung gestellt haben. Mit größter Zärtlichkeit widme ich das Buch Yves und all den lieben Menschen um ihn herum.

Die Übersetzerin bedankt sich beim Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW und beim Europäischen Übersetzer-Kollegium NRW in Straelen für die Unterstützung.

1.

WORTE, WORTE, WORTE, rief er mit voller Stimme, es war das Erste, was ihm eingefallen war, als er es endlich geschafft hatte, sich zwischen ihre fieberhaft hervorgestoßenen Sätze zu drängen, er hatte nicht einmal versucht zu begreifen, wovon sie sprach, ihr heißer Atem an seinem Ohr hatte ihn aufschrecken lassen, er war irritierend hartnäckig wie ein Wecker gewesen, er wollte ihn mit einem Faustschlag zertrümmern und brüllte deshalb Worte, Worte, Worte, wie ein Mensch, der den Klingelton des Weckers nicht mehr ertragen kann, wie ein Mensch, der, seien wir ehrlich, auch ihre Nähe nicht mehr ertrug, und auch nicht ihren Mund und den heißen Dampf, der ihm entwich, er brüllte mit der Kraft eines verletzten Menschen, als hätte sie ihn verbrüht, und sie hatte kurz den Eindruck, dass durch sein Brüllen die Wände einstürzen würden, deshalb krümmte sie sich zusammen, versteckte ihren Kopf in ihren Händen, raufte sich die Haare und kniff ihre Augen so stark zusammen, dass es schmerzte, sie reagierte typisch weiblich, typisch für seine Maßstäbe, das heißt übertrieben, hysterisch und selbstzerstörerisch, da sie voller Absicht ihre Haare mit den Wurzeln herausriss, absichtlich krümmte sie sich zu der Form eines zerschlagenen Weckers, und sie zwang sich zu weinen, als wollte sie sich mit dieser klassischen Szene häuslicher Gewalt rächen. Sie konstruierte sie, indem sie ihr tränenüberströmtes Gesicht zu ihm wandte, zur Zimmerdecke, zum Himmel, wobei sie sich mit den Händen schützte, aus denen Büschel ausgerissener Haare fielen.

Es beeindruckte ihn nicht.

Es stand ihr nicht gut.

Sie war imstande, sich etwas noch viel Widerlicheres einfallen zu lassen.

Es reichte, dass sie ihren Mund öffnete. Aber er würde ihr das nicht erlauben.

Er ging in die Luft wie ein Vulkan, die Lava stieg in seine Wangen, irre geworden hob er seinen Arm, er hob seinen Arm, er hob seinen Arm, und … er hielt inne, denn eine Ohrfeige würde noch mehr wehtun, wenn sie als ein Wort einschlug, als lautes und sinnloses Wort, das in alle Richtungen knallt und sich nicht übertönen lässt, deshalb schrie er wieder: Worte, Worte, Worte, und die Worte donnerten durch das Zimmer, durch die ganze Wohnung, oder, um es präziser auszudrücken, durch die enge Zweizimmerwohnung, die sie viel zu teuer gemietet hatten, sodass die meisten dieser Ausbrüche durch die Tatsache erklärt werden konnten, dass sie schon wieder ihre Miete nicht rechtzeitig hatten zahlen können. Niederschmetternd, aber so war es nun einmal.

Sie hatte sich ihr Leben viel entspannter und auf viel größerer Wohnfläche vorgestellt.

Er stimmte ihr zu, dass sie tatsächlich die Arschkarte gezogen hatte.

Aber es war besser, nicht zu diesem Thema zurückzukehren.

Nicht jetzt, denn die Worte standen im Raum.

Man könnte sie mit Treibsand vergleichen. Sie verwandeln sich zwischen den Zähnen zu Krümeln und werden zu schleimigem Sand zermahlen, sodass sich an den Lippen nur schlammige Blasen ohne jeden Inhalt bilden. Sie fließen ihnen das Kinn hinunter. Sie beide sollten sich im Spiegel anschauen und sich dieses Bild gut einprägen. Damit ihnen übel wird. Aber sie werden es nicht tun. Sie werden lieber weiter diese Schlammbläschen produzieren, bis ihnen der Sauerstoff ausgeht, bis die letzten Bläschen auf das Parkett getröpfelt sind, von dem sie sie dann aufwischen, sie können doch nicht in einem Schweinestall wohnen. Erst dann werden sie sich im Spiegel anschauen, sie werden sich die Spucke vom Kinn und die zerflossene Wimperntusche unter den Augen entfernen, das Haar kämmen, die Kleidung glätten, ein- und ausatmen und sterben. Man könnte es auch so sagen: Sie werden einen weiteren Tod sterben, sie werden auf tragische Weise an den Schweinereien ersticken, in die sie regelmäßig treten wie zwei leidenschaftliche Selbstmörder. Aber sie wird nicht die Erste sein, die nach einem Lappen langt, nein, das wird sie nicht, sie wird den Schlamm auf dem Boden verkrusten lassen, damit er sehen kann, wie seine Worte, Worte, Worte bei genauerem Betrachten wirklich aussehen.

Ihm war vermutlich auch selbst klar, wie dumm es war, Worte, Worte, Worte zu wiederholen, ohne irgendetwas zu sagen, außer zu demonstrieren, wie sinnlos und wie allzu laut jedes Wort war. Wollte er ausgerechnet das zum Ausdruck bringen, dass sie sich gegenseitig nichts mehr zu sagen hatten, sodass es keinen berechtigten Grund geben konnte, ihn aus dem Schlaf zu reißen, aus seinem wohlverdienten Schlaf, er wollte das bitte schön betonen, mit dem er doch nur diese hartnäckige Müdigkeit heilen wollte, dieses verfluchte Lebenstempo und die rasche Abfolge von Monatsmieten, die ihn in einem Monat zehn Jahre älter machten, er war schon hundert, zweihundert, dreihundert Jahre alt, ihm war schon seit Langem alles zu viel, und sollte sie es unbedingt wissen wollen, dann würde er ihr versichern, dass auch er sich eine weitaus entspanntere Situation vorgestellt hatte, ruhige Nachmittage, er liegt auf der Couch und verdaut sein Mittagessen, schläft ein, die Beine auf das Tischchen gelegt, und er wacht auf zu den Abendnachrichten, er hatte sich vorgestellt, dass sich die Dinge von alleine lösen würden oder dass er zumindest kein schlechtes Gewissen haben würde, wenn es nicht passierte, und er hatte wirklich nicht erwartet, dass Bekannte sich voller Mitleid nach seiner Gesundheit erkundigen würden, weil er erschöpft, ausgelaugt und im Arsch war, weil er wie jemand wirkte, der einen Tumor und nicht eine Frau hatte, die es ihm immer doppelt zurückzahlte und die ihn daran erinnerte, dass nicht nur sie, sondern auch er die Arschkarte gezogen hatte. Eine fette Arschkarte. Und dann fügte sie noch hinzu, dass ihn niemand so lieben würde wie sie. Er solle sich das gefälligst merken.

Niemand.

Niemals.

So wie ich.

Er konnte es nicht mehr ertragen. Er konnte nicht mehr diese hoch konzentrierte Ansammlung an widersprüchlichen Sätzen ertragen, ohne dabei verrückt zu werden oder sich zu besaufen. Er musste dringend ausschlafen. Er musste sich dringend in jene Couchritze legen, ausschalten, neu starten und vergessen, dass sie ihn mit ihrer Liebe schon wieder beinahe getötet hatte. Und er machte das in der Tat regelmäßig, er schlief wie ein Kranker ein, er krümmte sich um den vermeintlichen Tumor und deckte sich mit der Grimasse der Müdigkeit zu. Und sie sah, wie stumme Schmerzen über sein Gesicht huschten, sie hatte es auch vorhin gesehen, sie hatte Mitleid mit ihm, er wirkte wie jemand, der einen Notarzt braucht, deswegen entschloss sie sich, näher zu kommen, ihm über das Haar zu streichen und ihm zuzuflüstern, dass unter ihrem Fenster ein Spatzenpärchen ein Nest baue, sie wollte mit ihm diese wunderschöne Liebesszene teilen, diese Szene der Zweisamkeit von Vögeln, eines natürlichen Gleichgewichts, und sie wollte ihm sagen, dass das ein sicheres Zeichen des Frühlings sei und dass die Heizkosten im nächsten Monat hoffentlich niedriger sein würden. Sie wollte ihm das Eine sagen, aber er verstand das Andere, er holte mit seinem Arm aus und brüllte: Worte, Worte, Worte, und sie wandte ihren Blick zum Himmel mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den er eben noch selbst hatte, sie dachte an die Spatzen, die erschrocken aus der Baumkrone aufflogen, und dann stand sie auf, schüttelte die Haarbüschel von den Händen und rannte ins Nebenzimmer und schlug mit voller Wucht die Tür zu.

Sie hatte es nicht gewollt, aber nun war es zu spät. Das Kind stellte sich verängstigt in seinem Bettchen auf die Beine. Es dachte, dass es nur träume, von einem Erdbeben oder von einem Vulkanausbruch, doch dann erzitterte das Zimmer wirklich. Es sah sie an, als sähe es sie zum ersten Mal, und sie nahm es in ihre Arme und flüsterte, dass es in Sicherheit sei, dass Mama gekommen sei, dass Mama da sei, doch das klang nicht wie eine glückliche Botschaft. Aber das Kind hatte keine Wahl und drückte sich deshalb an die Mutter, beziehungsweise sie drückte sich an das Kind, sie wiegte sich in seiner Umarmung und wiederholte, dass alles in Ordnung sei, es war nur ein Windstoß, er hat die Möbel verrückt und die Tür zuknallen lassen. Schau aus dem Fenster, auch dort draußen biegt der Wind die Zweige.

Alles wird vorübergehen, sagte sie zu ihm.

Eines Tages werden wir über all das lachen.

Wir werden uns nur an Details erinnern: an den Blick aus dem Fenster, an den Schnee im Frühjahr und andere kleine Wunder. Daran, wie auf einer gebeugten Zypresse jenseits der Fensterscheibe ein leeres Nest im Wind schaukelte, und wie die Spatzen über den Parkplatz flatterten. In ihrer Erinnerung wird das weiße Bild dieses Parkplatzes bleiben und der Hang mit den erfrorenen Obstbäumen und der Kindergarten, den die Nonnen aus dem benachbarten Kloster leiten. Sie kamen jeden Tag heraus, eingewickelt in Schals und lange Mäntel, um mit Schaufeln Schnee von den Gartenpfaden zu schippen, und dann stiegen sie zur Kapelle hinauf, zu einer langen Kolonne gereiht, einem Leichenzug ähnlich.

Hör mal, wie sie singen.

Sie erklärte ihm, dass auch Nonnen ein Kind haben, es heißt Jesus. Sie beten jeden Tag für seine Gesundheit, sie dekorieren es mit Margeriten, sie wischen den Staub von seinem Podest und reiben ihn mit Marmorpolitur ein, denn der kleine Jesus kümmert sich um jene, die ihm dienen, er beschützt Arme, Kranke und Unglückliche, er bringt ihnen bei, dass sie lächelnd ihre Bürden tragen und daran glauben sollen, dass diese von alleine verschwinden werden. Eines Tages wird uns das Himmelreich gehören.

Vielleicht wenn du groß bist?

Das Kind hörte geduldig zu, als sie ihm von Jesus erzählte, genauso wie wenn sie ihm von Gravitation, Strom oder Delfinen zu erzählen pflegte. Und es war gar nicht wichtig, dass sie nichts von Physik und Elektrik verstand, dass sie nie Delfine gesehen hatte und dass sie nicht an Jesus glaubte, es war nur wichtig, dass es wie ein Märchen klang.

Dann hörte man Glocken.

Es war Zeit für den Gottesdienst.

Beim dritten Schlag öffnete er leise die Zimmertür. Er kam nicht herein. Er hatte Angst, dass er in irgendeine Scheiße auf dem Parkettboden treten würde. Er sah die beiden von hinten an, er stellte sich vor, wie er näher kommt, wie er das Haar des Kindes streichelt, wie er versöhnlich seine Hand auf ihre Schulter legt, während sie ihren Kopf beugt und ihre Wange an seiner Hand reibt, so wie das Katzen tun oder Frauen, die nicht nachtragend sind, und dann stehen sie alle gemeinsam vor dem zugefrorenen Fenster und denken zahme Gedanken über Schnee und Milch.

Dann drehte sie sich zu ihm und sagte, dass die Spatzen doch zurück ins Nest gekommen waren. Er nickte zufrieden, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon sie redete, doch das war gar nicht wichtig, wichtig war nur, dass es sich wie ein Märchen anhörte.

2.

MENSCHEN SOLLTEN IN FRIEDEN UND EINTRACHT LEBEN, das sind die ersten Worte, die der Nachbar sagt. Er hat ihn nicht begrüßt, sondern sofort losgelegt, als würde er sich fürchten, dass der andere ihm die Tür vor der Nase zuknallen könnte, bevor er den Grund seines Besuchs genannt hat. Und er hat mindestens fünf Minuten geklingelt, wobei es ihnen wie eine Stunde vorgekommen war. Er hat so lange geklingelt, dass sie es sogar geschafft hatten, sich zu zerstreiten, da sie vermutet hatten, dass es der Nachbar aus der dritten Etage sei, der ihnen vorwerfen würde, dass sie immer noch nicht den Beitrag für die Treppenbeleuchtung bezahlt und dass sie den Schnee vor dem Eingang nicht fortgeräumt haben, als sie an der Reihe waren. Er hatte keine Lust gehabt, auf dem Parkplatz zu frieren, und sie hatte vergessen, das Geld in den Briefkasten des Nachbarn zu werfen. Sie hat es vergessen, na und? Sie standen im Flur und warfen sich schweigend vorwurfsvolle Blicke zu.

Das Klingeln verstummte kurz.

Vielleicht ist er schon weg?

Vielleicht ist er …

Dann klingelte es wieder an der Tür, sie zuckte mit den Schultern und verschwand gleichgültig in der Küche, als wäre es seine Aufgabe, ihre Versäumnisse zu korrigieren. Er warf noch einmal einen Blick durch das Guckloch und zerzauste sich die Haare. Er wollte den Eindruck vermitteln, dass er gerade aufgewacht war. Erst dann hat er die Tür geöffnet.

Der Nachbar steht in Pantoffeln da, überspringt die Begrüßung und legt los mit dem Satz über Frieden und Eintracht. Er erwähnt weder das Glatteis vor dem Eingang noch die unbezahlten Rechnungen, sondern er fährt fort, dass man in diesen schweren Zeiten gute Absichten hegen und die Dinge in die eigenen Hände nehmen solle. Damit es nicht noch schlimmer werde. Er nickt, stimmt allem zu, nur um schnell zu einer Übereinkunft kommen und wieder die Tür schließen zu können. Doch der Nachbar ist schneller als er, er tritt mit seinem Pantoffel in den Flur, schiebt seinen Kopf hinterher und lässt ihn wissen, dass er noch nicht fertig sei. Er wird nicht lauter, er beschleunigt nur seine Rede.

Wir sollten verantwortungsvoll und gewissenhaft sein, sagt der Nachbar, natürlich meine er nicht ihn, sondern ganz allgemein, denn er sei zweifelsohne in Ordnung. Er habe seine Gewohnheit bemerkt, die Tüten mit Plastikflaschen und mit dem Glas neben die Mülltonnen zu stellen. Die Menschen haben angefangen, sich um die Mülltonnen zu versammeln, es ist ja logisch, jeden Tag finden sie etwas neben den Mülltonnen. Inzwischen kommen sie schon regelmäßig, um zu prüfen, ob etwas an die Seite gelegt wurde, und wenn sie diese besondere Tüte nicht finden, dann suchen sie sie in den Mülltonnen, sie wühlen, suchen … Sie haben sie daran gewöhnt, sagt der Nachbar zu ihm. Das sei auf jeden Fall lobenswert, die Tatsache, dass er daran denke, dass für einen anderen das Kleingeld, das man für Glas und Plastikflaschen bekommt, viel bedeuten könne, doch die Mülltonnen stünden direkt am Zaun zum Kindergarten, und die Kinder sähen, was sich da abspiele, diese ganze menschliche Verzweiflung und Armut.

Ob er nicht meine, dass man die Kinder davor schützen solle?

Der Nachbar fragt noch einmal, einfach so, allgemein, und er antwortet natürlich nicht. Er verteidigt sich mit seiner Schläfrigkeit und denkt sich seinen Teil, da er sich wirklich nicht für die fremden Kinder interessiert, und auch diese menschliche Verzweiflung und Armut interessieren ihn nicht die Bohne. Das sind doch alltägliche Szenen. Er hat im Fernsehen schon Schlimmeres gesehen. Das Einzige, was ihn in diesem Augenblick stört, ist der Pantoffel des Nachbarn, der in seiner Tür steht. Er würde ihm gerne sagen, dass er Leine ziehen solle, dass er sich verpissen möge, dass es acht Uhr morgens sei und dass es vielleicht in einer Stunde möglich wäre, darüber zu sprechen, aber noch besser überhaupt nicht, doch er ist allzu gut erzogen und reißt sich deshalb zusammen, obwohl seine Frau immer das Gegenteil behauptet. Er stützt sich auf die Türklinke und reibt sich die Augen.

Es wird schon vorübergehen.

Ihre Frau hat gestern eine Tüte mit einem Wintermantel dort abgestellt, fährt der Nachbar fort, mit dem roten Wintermantel, den sie in ihrer Schwangerschaft getragen hat, und heute früh, genauer gesagt gerade eben, haben sich zwei Männer um diesen Mantel gestritten, es fehlte nur, dass sie sich gegenseitig umbringen, die Kinder haben durch den Zaun zugeschaut, die beiden haben geflucht und geschrien, der eine hat den anderen mit der Faust aufs Kinn geschlagen, dann mit dem Fuß in den Bauch getreten und ihn zwischen die Mülltonnen geworfen. Anschließend hat er den Inhalt der Tüten, die er dabeihatte, auf ihn geschüttet. Der Müll liegt immer noch auf dem Parkplatz, und ich frage mich, ob es sich lohnt, die Kinder wegen ein paar Plastikflaschen und einem alten Schwangerschaftsmantel der Gewalt und dem Elend auszusetzen, oder was meinen Sie?

Also, wie denken Sie darüber?

Nun sagen Sie schon!