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2019

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© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Umschlagfoto: Dolomitenarchiv

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Cierre Grafica, Caselle di Sommacampagna

ISBN 978-88-6839-432-5

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Inhalt

„Der Sieg des Verständigungswillens über das Misstrauen“
(Erich Müller)

Prolog

2019 war für Südtirol im historischen Rückblick ein schwieriges Jahr. Es war ein Jahr des Bedenkens, wie aus einer Ungerechtigkeit durch den Selbstbehauptungswillen der Volksgruppen der Rahmen für eine europäische Vorzeigeregion geschaffen wurde.

1919 war der Abschied vom Vaterland Österreich-Ungarn, das es so nicht mehr gab. 1939 steht für die Zerreißung der Volksgruppen in Dableiber und Geher in der Zeit der Option, eine Entscheidung, die nur ein Entweder-oder kannte, entweder für Sprache und Kultur oder für die Heimat. 1969 schließlich steht für eine neuerliche Zerreißprobe, weil es letztlich auch die Entscheidung für die innere Selbstbestimmung war. Es war damals wohl der einzig mögliche Weg. Die äußere Selbstbestimmung, die Rückkehr zu Österreich, war zweimal nach Kriegen untersagt worden: 1919 und 1946. So war es ein gewaltiger Schritt, den man 1969 mit der Zustimmung zum Paket tat, einem Versprechen zur besseren Eigengestaltung, bestehend aus 137 Maßnahmen. Dies auch, da man damals ja noch nicht davon ausgehen konnte, dass der Staat tatsächlich umsetzt, was versprochen worden war. Auch konnte man die Möglichkeiten, die sich in der Umsetzung schließlich doch einstellten und nutzen ließen, nur erahnen. Vor allem konnte man damals nur hoffen, dass eine entspannte Atmosphäre neue Möglichkeiten eröffnen und einiges zulassen würde, was man in der Zeit der Anspannung nicht für möglich gehalten hatte. Dieses Buch versucht nachzuzeichnen, wie schwierig es für die Protagonisten 1969 gewesen ist, diesen Weg zu gehen, schließlich Ja zu sagen zu einer auch unvollständigen, der 2. Autonomie, welche Bedenken es dagegen gegeben hat und warum. Dass es diesmal zu keinem Zerreißen der Volksgruppen kam, sondern dass man miteinander, Paketbefürworter und Paketgegner, an der Umsetzung der Autonomie gearbeitet hat, ist das große Geschenk für die Volksgruppen, aus dem eine Verpflichtung für uns und die nachkommenden Generationen erwächst.

WIE ES DAZU KAM – DER LANGE WEG, DEN MAN EIGENTLICH NICHT GEHEN WOLLTE

Das Unfassbare geschieht

Die Männer, die sich am 13. Oktober 1918 in Brixen zum Tiroler Volkstag zusammenfinden, können sich das, was mit Kriegsende passiert, nicht wirklich vorstellen, nämlich, dass Südtirol zu Italien kommt. Sie appellieren an den österreichischen Kaiser Karl, dass die ungeteilte Einheit Tirols (einschließlich Welschtirol/Trentino) erhalten bleibe. Zumindest aber solle dafür gesorgt werden, dass „kein deutsches oder ladinisches Dorf jemals in die Hände unseres Erbfeindes falle“1. Dass das Unfassbare geschehen könnte, ist auch insofern schwer vorstellbar, da das 14-Punkte-Programm von US-Präsident Wilson unter Punkt 9 die „Berichtigung der Grenzen Italiens gemäß den klar erkennbaren Nationalitätenlinien“ vorsieht. Hintergrund dafür, dass es dann anders kommt, ist der Londoner Geheimvertrag, aufgrund dessen Italien auf der Seite der Entente in den Krieg eingetreten ist. Auf die Risorgimento2-Tradition, die auf der Zustimmung der Bevölkerung aufbaut, wird diesmal verzichtet. Dies erklärt sich aus dem zu erwartenden klaren Ergebnis, das nicht einmal im Trentino sicher eine Mehrheit für Italien erbracht hätte.3

Unmittelbare Versuche, doch das Selbstbestimmungsrecht in Form einer Abstimmung oder zumindest etwas an Eigenständigkeit zu erreichen, schlagen fehl, und so kommt Südtirol 1919 ohne weitere Verpflichtungen seitens Italiens mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain zu Italien. Wenn es anfänglich auch noch nach Gestaltungsspielräumen ausgesehen hat, so waren diese schnell verpufft. Und: Es sollte alles noch viel schlimmer kommen.

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Inzwischen aber bleibt die Hoffnung aufrecht, und man nährt sie. Dies kommt im Dokument vom 10. Oktober 1920, dem Tag der endgültigen Einverleibung Südtirols in den italienischen Staat, zum Ausdruck, welches von allen damaligen Parteien, der deutschfreiheitlichen Volkspartei, der sozialdemokratischen Partei in Südtirol und der Tiroler Volkspartei unterzeichnet ist. Dort gibt man sich zuversichtlich: „Wir Südtiroler haben die unerschütterliche Hoffnung, daß der Tag kommen wird, an welchem uns Gerechtigkeit und weitschauende Politik die nationale Befreiung bringen werden.“4 Nur: Anstelle der Befreiung kommen die Knechtung und der Versuch der Majorisierung durch den Faschismus und schließlich der „Lösungs“-Versuch zweier Diktaturen, der faschistischen und der nationalsozialistischen, das Südtirolproblem ein für alle Mal durch die Option, das Umsiedlungsabkommen, aus der Welt zu schaffen.

Und es bleibt dabei:
Das Selbstbestimmungsrecht wird wieder verweigert

Übergabe der Unterschriften an Bundeskanzler Leopold Figl am 22. April 1946 in Innsbruck

Die Südtirolerinnen und Südtiroler haben aber auch in der Dreifachentrechtung nicht aufgegeben. Sie haben Widerstand geleistet, sich angepasst, sind durchgetaucht oder sind ausgewichen, aufgegeben haben sie nicht. Und so bleibt die Lösung der Südtirol-Agenden auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Tagesordnung der Groß- und Siegermächte. Diesmal ist man vorgewarnt und bereitet sich besser vor. So hat sich z. B. Kanonikus Michael Gamper, ein Gegner und Gegenspieler nicht nur des Faschismus, sondern auch der „Volksfeind Nr. 1“5 des Nationalsozialismus in Südtirol, bereits ab Ende 1943 in Florenz an die Ausarbeitung eines äußerst kenntnis- und detailreichen Memorandums für die Alliierten gemacht, welches argumentativ stark und nachvollziehbar darlegt, warum Südtirol zum wieder erstehenden Österreich kommen sollte. Nur für den Fall, dass dies gar keine Aussicht auf Erfolg haben sollte, wird ein Vorschlag in extremis angeführt, nämlich „die Errichtung eines von anderen Staaten unabhängigen Tirol als neutraler Freistaat nach der Art der Schweiz“6. Dieses Memorandum endet stark mit folgender Aussage: „,Friede und Freiheit von Furcht‘ werden jedoch erst dann wieder in die Täler Tirols einziehen können, wenn dieselben von der so verhaßten italienischen Fremdherrschaft und dem gegenwärtig auf ihnen lastenden Naziterror endgültig befreit sein werden. Bozen. Südtirol, Weihnachten 1944.“7

Die Einheit Tirols muss gewahrt werden. Protestkundgebung auf Sigmundskron 1946.

Auch parteipolitisch formiert man sich diesmal sofort gemeinsam. Am 8. Mai 1945, am Tage des Kriegsendes in Europa, gründet der Bozner Kaufmann Erich Amonn mit Gesinnungsgenossen die Südtiroler Volkspartei, die SVP, deren zentrales Anliegen das Selbstbestimmungsrecht und damit die Rückkehr zu Österreich ist. Dies kommt u. a. auch durch die Übergabe von etwa 160.000 Unterschriften an Bundeskanzler Leopold Figl und Außenminister Karl Gruber in Innsbruck sichtbar zum Ausdruck. Starken Ausdruck findet dieser Wunsch nach Selbstbestimmung auch in den Protestkundgebungen im ganzen Land, der seinen Höhepunkt mit dem emotionalen Ausruf von Parteiobmann Erich Amonn auf Sigmundskron findet: „Herr, mach uns frei.“8

Südtirol und das viergeteilte Österreich aber wiegen zu wenig auf dem Tisch der Interessen und des Machtpokerns der Großen. So wird Südtirols Anliegen wieder hintangestellt, obwohl es diesmal keinen Londoner Vertrag einzuhalten gilt, den Südtirolern so viel Unrecht im Faschismus und vielen auch im Nationalsozialismus geschehen ist. Von italienischer Seite wird einerseits die Option gegen die Südtiroler verwendet, andererseits scheint die 25-jährige Zugehörigkeit zum Staate Italien auch nicht bedeutungslos gewesen zu sein.

Das, was diesmal auf der Friedenskonferenz von Paris zustande kommt, ist ein Surrogat für das Selbstbestimmungsrecht: der Pariser Vertrag oder das Gruber-Degasperi-Abkommen vom 5. September 1946, das später zur „Magna Charta“ Südtirols avanciert, aber nach dem Abschluss ganz und gar nicht so gesehen wird. Es hätte allen sehr viel erspart, wäre dieses Pariser Versprechen gehalten worden.

Der Pariser Vertrag

  1. Die deutschsprachigen Einwohner der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen Gemeinden der Provinz Trient genießen die volle Gleichberechtigung mit den italienischsprachigen Einwohnern, im Rahmen besonderer Maßnahmen zum Schutze der volklichen Eigenart und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Sprachgruppe. In Übereinstimmung mit den bereits erlassenen oder zu erlassenden gesetzlichen Maßnahmen wird den deutschsprechenden Staatsbürgern im Besonderen gewährt:
    1. Volks- und Mittelschulunterricht in ihrer Muttersprache;
    2. Gleichberechtigung der deutschen und italienischen Sprache in öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden wie auch in der zweisprachigen Ortsnamengebung;
    3. das Recht, die deutschen Familiennamen wieder zu erwerben, die im Laufe der vergangenen Jahre italianisiert wurden;
    4. Gleichberechtigung bei Zulassung zu öffentlichen Ämtern zu dem Zwecke, eine angemessenere Verteilung der Beamtenstellen zwischen den beiden Volksgruppen zu verwirklichen.
  2. Der Bevölkerung obgenannter Gebiete wird die Ausübung einer autonomen regionalen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt zuerkannt. Der Rahmen, in welchem die besagten Autonomiemaßnahmen Anwendung finden, wird in Beratung auch mit örtlichen Vertretern der deutschsprachigen Bevölkerung festgelegt werden.
  3. Die italienische Regierung verpflichtet sich, zum Zwecke der Herstellung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen Österreich und Italien nach Beratung mit der österreichischen Regierung und innerhalb eines Jahres nach Unterzeichnung vorliegenden Vertrages:
    1. Im Geiste der Billigkeit und Weitherzigkeit die Frage der Staatsbürgerschaftsoptionen, welche sich aus dem Abkommen Hitler-Mussolini vom Jahre 1939 ergibt, zu revidieren;
    2. eine Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Gültigkeit gewisser Studientitel und Hochschuldiplome zu treffen;
    3. ein Abkommen über den freien Personen- und Güterverkehr zwischen Nordtirol und Osttirol auf dem Schienenwege und in möglichst weitgehendem Umfange auch auf dem Straßenwege zu treffen;
    4. Sonderabmachungen zur Erleichterung eines erweiterten Grenzverkehrs und örtlichen Austausches bestimmter Mengen heimischer Erzeugnisse und Güter zwischen Österreich und Italien zu treffen.

Die „In-Gottes-Namen“- und nicht die „Gott-sei-Dank“-Autonomie9 sowie der Perassi-Brief und die Folgen

Degasperi wollte vor allem seinen Trentinern eine Autonomie geben, und so nutzt er den für Südtirol vereinbarten Pariser Vertrag als Vehikel, gleichzeitig aber werden mit der Konstruktion der Region „Trentino-Tiroler Etschland“ die Südtiroler unter Kuratel gestellt. Möglich wird dies durch die absolut fragwürdige Interpretation des Wortes „Rahmen“ im Absatz 2 des Pariser Vertrages. Dass dieser „Rahmen“ „in Beratung auch mit örtlichen Vertretern der deutschsprachigen Bevölkerung“ festzulegen sei, wird ignoriert. Erst lautstarke Proteste bewirken schließlich eine Einbeziehung und einige Verbesserungen, aber zu einem hohen Preis.

Dass eine Autonomie für Südtirol allein nicht erreichbar ist, muss die SVP bald erkennen und macht daher den Autonomievorschlag von „zwei getrennten Häusern mit einer gemeinsamen Garage“10, was aber nicht akzeptiert wird. Das Konstrukt der Region war ein Haus mit mehreren Wohneinheiten: Die größte Einheit gehörte der Region, die zweitgrößte der Provinz Trient, und die kleinste verblieb den Südtirolern. Sie bleiben bis zum 2. Autonomiestatut in diesem „Haus der Autonomie“ bittstellende Untermieter, eine ungeheure Zumutung für eine Bevölkerung, für die der Pariser Vertrag zustande gekommen war. Trotzdem kommt es – unter enormem Druck, wie sich später herausstellt – am 28. Jänner 1948 zur Unterzeichnung des berühmt-berüchtigten Perassi-Briefes, der u. a. Folgendes sagt: „So können wir mit lebhafter Freude feststellen, dass das Pariser Abkommen De Gasperi-Gruber vom September 1946, soweit es das grundlegende Problem der Autonomie betrifft, nunmehr seine Verwirklichung gefunden hat.“11 Tommaso Perassi war Präsident der 18er-Kommission, welche die Aufgabe bekommen hatte, alle Autonomieprojekte in Italien auf Güte und Konformität zu überprüfen und dann der verfassunggebenden Versammlung zu berichten.

SVP-Vorstellungen zur Umsetzung der Autonomie 1947:
Zwei getrennte Häuser mit einer gemeinsamen Garage

Die Realität in der 1. Autonomie:
Statt eigenständiger Autonomie bleibt man Untermieter der Region

Welche Umstände führen zum Perassi-Brief?

Nachdem dieser Brief – unterzeichnet vom Parteiobmann der SVP, Erich Amonn, und dem Generalsekretär der SVP, Otto von Guggenberg, sowie dem Sekretär der Sozialdemokratischen Partei Südtirols, Anton Foglietti – vor allem von 1956 bis 1969 immer wieder eine Rolle spielt, sollen die Umstände des Zustandekommens etwas näher beschrieben werden. Zum einen bekommen die Südtiroler – trotz anderer Bestimmungen – den Entwurf des Autonomiestatuts so wie alle anderen erst am 1. November 1947 in die Hand. Zum anderen ist das Optantendekret noch nicht in Kraft, d. h., an die 200.000 Menschen sind aufgrund der fehlenden Staatsbürgerschaft weder geschäftsfähig noch wahlberechtigt. Theoretisch hätten sie auch ausgewiesen werden können, womit Degasperi auch immer wieder kokettiert.12 Es wäre durchaus denkbar, dass es bei loyaler Umsetzung des 1. Autonomiestatuts ein Auskommen gegeben hätte. Unterstützung von außen kann man nicht erwarten, und so scheint den Verfassern des Briefes dieses Schreiben notwendig, will man das, was man an Abänderungen erreicht hat, tatsächlich nach Hause bringen. Es ist also „weniger Dank für erreichte Zusagen, als vielmehr Vorbedingung für die Konzessionen“13. Parteiobmann Amonn bemerkte dazu in seinen Aufzeichnungen: „Wir mussten aber bereit sein, an On. Perassi einen Brief zu schreiben, in dem wir zum Ausdruck brächten, über die erzielten Forderungen hinaus nichts zu verlangen und den Pariser Vertrag als erfüllt zu erachten. Wenn wir dies täten, dann würden wir bald zu einem für uns vorteilhaften Ergebnis kommen, ansonsten sollten wir lieber […] unsere Koffer packen.“14

Generalsekretär Otto von Guggenberg argumentierte 1958 so: „Die Annahme des Statutes stellte die Südtiroler Delegation vor eine schwere, schicksalsvolle Entscheidung. Wenn sie sich dazu entschloß, dann in erster Linie in der aus der Haltung Österreichs wie Englands (der einzig interessierten Großmacht) erwachsenen Erkenntnis, daß eine weitere Unterstützung aussichtlos war; weiters in der Befürchtung, daß bei Ablehnung die große Gefahr drohe, die Lösung der Autonomiefrage einer ungewissen Zukunft und damit des unbekannten internationalen Kräftespiels zu überlassen. Diese Befürchtung war mehr als gerechtfertigt, denn schon damals zeigte sich deutlich, daß Italien als kommender wertvoller Partner im Kampf gegen den Osten von den Westmächten, insbesondere von den Vereinigten Staaten stark umworben wurde.“15

Alles das macht klar, wie schwierig die Aufgabe des Parteiobmannes Erich Amonn und des Generalsekretärs Otto von Guggenberg gewesen ist. Kanonikus Michael Gamper und Josef Widmann, der Vater des späteren Bozner Bezirksobmanns Franz Widmann, lassen das durchaus gelten, sprechen sich aber schärfstens gegen die von der Delegation abgegebene Loyalitätserklärung, den Perassi-Brief, aus. Aus ihrer Sicht konnte das Erreichte nie die „Verwirklichung“ der Autonomie sein.16 Es war höchstens eine „In-Gottes-Namen-Lösung“. Sie sollten, gerade was die Umsetzung betrifft, mit ihrer Einschätzung absolut recht behalten. Aber nicht nur das. Die abgegebene Loyalitätserklärung ist zwar nach 1948 kein bleibendes Thema in Südtirol, der Perassi-Brief wird aber im Ringen um eine wirkliche Landesautonomie vonseiten Italiens immer wieder ganz gezielt als propagandistische Waffe gegen Österreich und gegen Südtirol eingesetzt.

Man sucht daher immer wieder nach Möglichkeiten, diesen Brief „unschädlich“ zu machen. Eine Erklärung, welche Erich Amonn dazu auf der Landesversammlung am 3. März 1956 gegeben hat, ist wohl zu wenig gewesen. Daher kommt es am 15. Februar 1957 vonseiten Erich Amonns, Otto von Guggenbergs, des Abgeordneten Karl Tinzl und des Senators Josef Raffeiner zu einer Erklärung, die angesichts der Situation und der nicht eingehaltenen Versprechen durchaus klarer hätte ausfallen können: „Vor allem versteht sich von selbst, daß durch das Autonomiestatut lediglich die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Punktes 2 des Pariser Vertrages geschaffen werden konnten und sollten, das Statut allein jedoch keineswegs schon dessen Verwirklichung bedeutete und daß daher das Schreiben nur in diesem Sinne gemeint war und gemeint sein konnte, d. h., die Verwirklichung hatte zur selbstverständlichen Voraussetzung, dass die im Autonomiestatut enthaltenen Zusagen auch eingehalten würden.“17 Der Perassi-Brief wird bis zur Landesversammlung im November 1969 immer wieder eine Rolle spielen, indem das Ja zum Paket von dessen Gegnern als ein zweiter Perassi-Brief, wenn nicht schlimmer, apostrophiert wird.

Der „Todesmarsch“ und die Politik der 51 Prozent18

Es sind immer auch Schlagworte und kurze prägnante Aussagen, Ereignisse oder Taten, die Zustände, Befindlichkeiten, Situationen auf den Punkt bringen und die dann als Fixpunkte einer logischen Abfolge erscheinen. So scheinen der „Todesmarsch“ 1953, die Vorlage des SVP-Memorandums 1953/54, der Austritt Hans Dietls aus der Regionalregierung 1955, die Wachablöse in der SVP und das „Los von Trient“ von Sigmundskron 1957, der Austritt der SVP aus der Regionalregierung 1959, die Befassung der UNO wie zwangsläufig miteinander verbunden. Sie sind auch die Konsequenz eines totalen Unverständnisses seitens der bestimmenden Kräfte im Staat und in der Region für die Notwendigkeiten der Minderheiten im Umsetzen der Autonomie. Rückschritte, nicht Fortschritte, ständige Verzögerungen waren es, die schließlich einen Kurswechsel hervorriefen.

Mit dem „Todesmarsch“ hat Kanonikus Michael Gamper schon 1953 den grundlegenden Satz vorausgeschickt, der das Gefühl der Entheimatung im eigenen Land mit jeder Maßnahme und Ablehnung nachvollziehbar macht. Alles das in Kombination mit dem Wissen um die Abwanderung der jungen Südtirolerinnen und Südtiroler und der Amputation durch die Option: „Es ist ein Todesmarsch, auf dem wir Südtiroler seit 1945 uns befinden, wenn nicht noch in letzter Stunde Rettung kommt.“19 Wenn auch die Zahl, die Kanonikus Gamper als Grundlage für seine Aussage nimmt, 50.000 zusätzlich zu den im Faschismus schon Zugewanderten, zu hoch angesetzt ist, die Zuwanderung aus dem Süden bleibt eine Tatsache. Und es gibt wohl noch genügend Funktionäre und politisch Verantwortliche, die die 51 Prozent Italiener im Lande als Zielsetzung sehen.20 Aber: Alles autonomiepolitische Handeln im Sinne des Pariser Vertrages braucht als Basis die Mehrheit der Minderheitenangehörigen in diesem Lande.

Und die Zuwanderung geht munter weiter, man kann sagen, dass Italien die Zuwanderung durchaus gewünscht, wenn nicht gar gefördert hat. Sie ist zwar nicht mehr so massiv wie unmittelbar nach dem Kriege, aber sie hält an, während andererseits zunehmend mehr junge Südtirolerinnen und Südtiroler auf Arbeitssuche abwandern.21 Das SVP-Memorandum von 1953 nimmt darauf Bezug. Neben den Beschwerden und Forderungen, insbesondere die Autonomie betreffend, steht jetzt die „künstlich begünstigte Zuwanderung“ als „schwerster Angriff“ auf die Volksgruppe im Mittelpunkt. Sehr prägnant ist formuliert: „Der Volksmord kann mit verschiedenen Methoden und Mitteln begangen werden […] Der Staat kann auf direkte Eingriffe verzichten und das natürliche Übergewicht der Mehrheit gegen die Minderheit ausspielen […] Dies geschieht auch, wenn die Mehrheit nicht daran gehindert oder sogar veranlasst wird, einstmals ausschließlich von der Minderheit bewohnte Gebiete nach und nach zu besetzen. Somit wird die Volksgruppe mit der Zeit nicht nur Minderheit im Staate, in welchem sie lebt, sondern auch in ihrem ureigenen Gebiete, das die Grundlage und die wesentliche Voraussetzung ihres Eigenlebens bildet.“22 Dass man von dieser Politik nicht abgehen will, beweist die Ablehnung eines Beschlussantrages der SVP im Regionalrat, wo gefordert wird, das Gesetz über die staatliche Arbeitsvermittlung auch in Südtirol anzuwenden. Es hätte wohl eine Beschränkung der Zuwanderung bewirkt. Die „Dolomiten“ schreiben dazu: „Wir müssen Anklage erheben gegen die Verantwortungslosigkeit all jener Behörden und Stellen, die dieses Gesetz, das den wilden Zustrom von Arbeitslosen aus dem Süden nach Südtirol einstellen könnte, nicht anwenden. Die Leidtragenden sind in erster Linie die Arbeiter, die von zu Hause fortgehen müssen und arm wie eine Kirchenmaus einer unsicheren und oft bitteren Zukunft entgegen gehen.“23 Auch das Gesetz gegen die Verstädterung, das nach wie vor in Kraft ist und in anderen Gegenden Italiens bei Städten mit mehr als 25.000 Einwohnern Anwendung findet, wird in Südtirol nicht angewandt. Es besagt, dass man in solchen Städten nur ansässig werden kann, wenn man dort nachweislich eine Arbeit hat. 24

Diese Maßnahmen hätten zwar keine wirkliche Trendumkehr bewirkt, sie hätten aber erkennen lassen, dass man gewillt ist, etwas zum Besseren zu verändern.

Die Parole vom „Todesmarsch“ hat dem zunehmenden Gefühl der Entfremdung Ausdruck gegeben, und dies war die Grundlage für die Emotionalisierung im „Los von Trient“.

Die Restabilisierung der Volksgruppen durch die hohen Geburtenraten geriet etwas aus dem Blick. Dabei hätte gerade diese bildungs-und wirtschaftspolitisch zusätzliche Signale gebraucht.25

Und so geht Südtirol, die SVP, in die 1960er Jahre hinein, die am Ende die Annahme eines Paketes sehen. Die Zuwanderung spielt dabei weiterhin eine zentrale Rolle.

Wohnbevölkerung nach Sprachgruppen laut Volkszählungen von 1880 bis 2011

Jahre Italiener Deutsche Ladiner Andere (b) Insgesamt
Absolute Werte (a)
1880 6.884 186.087 8.822 3.513 205.306
1890 9.369 187.100 8.954 4.862 210.285
1900 8.916 197.822 8.907 7.149 222.794
1910 7.339 223.913 9.429 10.770 251.451
1921 27.048 193.271 9.910 24.506 254.735
1961 128.271 232.717 12.594 281 373.863
1971 137.759 260.351 15.456 475 414.041
1981 123.695 279.544 17.736 9.593 430.568
1991 116.914 287.503 18.434 17.657 440.508
2001 113.494 296.461 18.736 34.308 462.999
2011 118.120 314.604 20.548 51.371 504.643
Prozentuelle Verteilung
1880 3,4 90,6 4,3 1,7 100,0
1890 4,5 89,0 4,3 2,3 100,0
1900 4,0 88,8 4,0 3,2 100,0
1910 2,9 89,0 3,8 4,3 100,0
1921 10,6 75,9 3,9 9,6 100,0
1961 34,3 62,2 3,4 0,1 100,0
1971 33,3 62,9 3,7 0,1 100,0
1981 28,7 64,9 4,1 2,2 100,0
1991 26,5 65,3 4,2 4,0 100,0
2001 24,5 64,0 4,0 7,4 100,0
2011 23,4 62,3 4,1 10,2 100,0

(a) Die Zahlen für die Jahre bis einschließlich 1921 beziehen sich auf die anwesende Bevölkerung, jene für die Jahre 1961, 1971 und 1981 auf die Wohnbevölkerung, jene für die Jahre 1991, 2001 und 2011 auf die Sprachgruppenerklärungen. In den Jahren bis 1961 wurde die Umgangssprache erhoben, in den Jahren 1971 und 1981 die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe und in den Jahren 1991, 2001 und 2011 die Zugehörigkeit oder Zuordnung zu einer Sprachgruppe.

(b) Unter „Andere“ fallen in den einzelnen Jahren stets verschieden definierte Personengruppen: 1880: die „Einheimischen“ mit einer anderen Umgangssprache und die „Nichteinheimischen“; dasselbe gilt für 1890 und 1900;

1910: die Staatsangehörigen mit einer anderen Umgangssprache und die Nicht-Staatsangehörigen;

1921: die Ausländer;

1961: alle Ansässigen mit einer anderen Umgangssprache;

1971: alle Ansässigen, die sich zu keiner der drei Sprachgruppen zugehörig erklärten;

1981: die ansässigen Inländer ohne gültige Erklärung der Sprachgruppenzugehörigkeit und die ansässigen Ausländer;

1991: die ungültigen Erklärungen, die zeitweilig abwesenden Personen und die ansässigen Ausländer;

2001: die ungültigen Erklärungen, die zeitweilig abwesenden Personen und die ansässigen Ausländer;

2011: die ungültigen Erklärungen, die zeitweilig abwesenden Personen und die ansässigen Ausländer.

Quelle: ISTAT, Österreichisches Statistisches Zentralamt, Auswertung des ASTAT

Zurück und vorwärts auf „Los“

Sichtbarer Ausdruck dessen, dass der Staat nicht zu einem vernünftigen Miteinander, zu einem Ausgleich der Interessen bereit ist, ist 1957 eine weitere römische Geldspritze für den Volkswohnbau. Es ist dies ein Eingriff in einen Bereich, der schon im 1. Autonomiestatut zu den primären Zuständigkeiten des Landes gehört. Klar ist dabei, dass es um die Schaffung von Wohnraum für die zuziehenden Italiener, den weiteren Versuch der Majorisierung geht. Deshalb kommen so viele nach Sigmundskron und unterstreichen damit das Verlangen des „Los von Trient“.

Bei der Übertragung von Verwaltungskompetenzen von der Region auf das Land bleibt die Hinhaltetaktik Normalität. Im eigenen Zuständigkeitsbereich wird vieles durch Nicht-Erlass von Durchführungsbestimmungen oder durch unmöglich annehmbare Durchführungsbestimmungen blockiert. Alles das hatte Hans Dietl schon 1955 veranlasst, als Regionalassessor für Landwirtschaft zurückzutreten und damit ein klares Zeichen des Protestes zu setzen. Nun aber brauchte es mehr: den Protest der Masse, die sich ihrer Rechte beraubt sieht und das einfordert, was ihr laut Pariser Vertrag zusteht: die eigene Landesautonomie. Und diese Forderung wird einer vorbringen, der erst vor Kurzem erstmals Verantwortung in Südtirol übernommen hat: Silvius Magnago.

Das Erbe, das Silvius Magnago am 25. Mai 1957 als Parteiobmann der SVP übernimmt, ist denkbar schwer. Das 1. Autonomiestatut ist in der Umsetzung eine reine Enttäuschung, statt Fortschritten in der Eigengestaltung müssen immer wieder Rückschritte, Einschränkungen, ständige Rückverweisungen von Gesetzen hingenommen werden. Als z. B. – nach Einsetzung des Verfassungsgerichtshofes 1956 – Beharrungsbeschlüsse vonseiten des Südtiroler Landtages zugunsten staatlich angefochtener oder aufgehobener Gesetze gefasst werden, erlebt man ein wahres Waterloo: In 19 Fällen wird nur einmal dem Land recht gegeben und dies bei einem buchhalterischen Thema.26

Die Protestkundgebung auf Sigmundskron mit dem „Los von Trient“ vom 17. November 1957

Italiener aus südlichen Regionen bei ihrer Ankunft in Bozen

Im Leben von Silvius Magnago, dem langjährigen Parteiobmann der SVP und Landeshauptmann von Südtirol, gab es wohl drei Tage, die für ihn und für „sein“ Land entscheidend waren. Der erste ist der Tag, an dem der „Engel“, seine schöne junge Frau Sophia, am Krankenbett in Warschau „erschien“ und ihn nach einer schweren Kriegsverletzung bei Nikopol 1943 ins Leben zurückholte. Die Großkundgebung auf Sigmundskron vom 17. November 1957, auf der 35.000 Südtiroler die eigene Landesautonomie verlangten, ist der zweite Tag und die Landesversammlung der SVP vom 22. und 23. November 1969 der dritte entscheidende Tag. „Vom Glück, einen Magnago gehabt zu haben“, spricht der frühere Bezirksobmann des Vinschgaus, Robert Kaserer, und es war wohl auch so. Denn letztendlich hing vieles von ihm ab, wenn auch sicher nicht von ihm alleine. Zu seinem Erfolg haben auch seine Gegner beigetragen. Seine Fähigkeit, im richtigen Moment auf Touren zu kommen, die entscheidende passende und treffende Formulierung zu finden, eben das Richtige zu sagen, seine Fähigkeit, aus der Schwäche eine Stärke zu machen und dadurch die Chance zu haben, moralischer Sieger zu werden, seine unerschöpfliche Geduld, die er nur selten verlor, vor allem seine Glaubwürdigkeit, seine Unbestechlichkeit, aber wohl auch zwischendurch seine Härte, auch Gegnern gegenüber, wenn es um die Sache Südtirols ging, ließen ihn schließlich das erreichen, was er gedehnt bis zum Letzten für möglich hielt und was Fundament zum Weiterbauen bot.

Die „Feuernacht“ ist eine Folge des Unverständnisses des Staates gegenüber den Forderungen der Minderheiten.

Auf Sigmundskron kommen Magnagos besondere Fähigkeiten zum ersten Mal entscheidend zur Geltung, und nach der eindrucksvollen Kundgebung der 35.000 ist man zunächst durchaus hoffnungsvoll, dass auf staatlicher Ebene etwas weitergehen könnte. Entsprechend bringen die SVP-Parlamentarier Karl Tinzl, Otto von Guggenberg und Toni Ebner 1958 auch einen Gesetzesentwurf für ein „Statuto speciale per il Südtirol – Tirolo del Sud“ im Abgeordnetenhaus ein. Allein, man muss zur Kenntnis nehmen, dass es keine Haltungsänderung gibt. Und nach der x-maligen vergeblichen Romreise des Parteiobmannes und Landeshauptmanns Silvius Magnago muss man feststellen, dass dies und auch die entsprechende österreichische Unterstützung zu keinem positiven Ergebnis geführt haben. Daher scheinen – aus heutiger Sicht – die Befassung der UNO mit dem Südtirolproblem und die Attentate in einer logischen Abfolge zu stehen. Die Attentate in Südtirol, von den „Nadelstichen“ – Anschläge vor allem auf im Bau befindliche Volkswohnungen als Symbole der Majorisierung und auf Symbole des Faschismus – bis zur Feuernacht 1961, als etwa 40 Hochspannungsmasten gesprengt werden, sind nichts anderes als Ausdruck der Verzweiflung und des Unverständnisses, dass es bisher demokratiepolitisch und diplomatisch zu keiner gerechten Lösung gekommen ist. Sie sind auch Ausdruck des Gefühls, in der eigenen Heimat an Boden zu verlieren, ein Gefühl, das Sepp Innerhofer vom Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) einmal so ausgedrückt hat: Man habe zum 150-jährigen Gedenken 1959 das Andreas-Hofer-Spiel nicht auf der Bühne „gespielt“, „wir haben es gelebt“.27

Südtirol vor der UNO und wieder die Selbstbestimmung

1919 und 1945/1946 wäre die Selbstbestimmung eine realistische Möglichkeit im Rahmen der Nachkriegsordnung gewesen. Dieses Recht aber wurde von den Siegermächten verweigert, die Friedensverträge sahen jeweils anderes vor: Südtirol kam bzw. blieb bei Italien. Das Thema Selbstbestimmung hat in informierteren Kreisen in Südtirol mit dem Verlangen nach einer Volksabstimmung 1953 in Triest28, mit der „Saar-Abstimmung“ 1955 und dem Zypernkonflikt wieder Hochkonjunktur. Ab 1956 wird das Anliegen breiter diskutiert und zunehmend als realistische Möglichkeit empfunden. Man hat genügend Zeit gehabt, um zu verstehen, dass Italien nicht einmal gewillt war, das Wenige zu geben, wozu es sich mit dem 1. Autonomiestatut verpflichtet hatte. Nachdem die italienischen Regierungen Südtirol auch nach Sigmundskron, wo man sich auf das „Los von Trient“ einschwören hatte lassen, praktisch an der langen Hand verhungern lassen, wird 1960 die Selbstbestimmung wieder zu einem beherrschenden Thema. Die Stimmung ist derart aufgeladen, dass man davon ausgeht, dass auf der SVP-Landesversammlung 1960 die Basis dieses Recht verlangen wird.

Selbstbestimmung und Selbstregierung

  1. So ist die Vorbereitung der Landesversammlung der SVP 1960 ganz diesem Thema auch im Lichte der ins Visier genommenen UNO-Befassung gewidmet. Für eine „energische“ Resolution spricht sich gleich zu Beginn der Parteiausschusssitzung vom 13. April 1960 Parteiobmann Silvius Magnago aus, da „Österreich sowieso nicht sehr stark ist und nicht bereit ist, sehr viel zu tun“29. Diese Aussage Magnagos geht wohl auf die Südtirol-Besprechung in Innsbruck vom 1. August 1959 zurück. Bruno Kreisky, der erstmals als österreichischer Außenminister teilnimmt, wird dort mit dem Verlangen der Südtiroler konfrontiert, er solle das Selbstbestimmungsrecht vor der UNO zur Sprache bringen. Bruno Kreisky will die Risiken eines solchen Vorgehens nicht eingehen, und es gelingt ihm, die Delegation von diesem Vorhaben abzubringen. Für die SVP gilt es daher, bei der Landesversammlung ein „konkretes und konsequentes Programm“ zu bringen, „ansonsten werden wir dem Wunsche nach dem Selbstbestimmungsrecht, das auch unserem Wunsche entspricht, aber das wir heute nicht verlangen können, nicht mehr Herr werden“30, so Magnago. Er hat in dieser Sitzung schon klare Vorstellungen, was für Österreich vor der UNO zu fordern realistisch möglich ist.

Roland Riz, zu der Zeit Abgeordneter in Rom, bringt sein Konzept des „Selbstgouvernements“ ein, das eine Art Eigenverwaltung unter internationaler Aufsicht vorsieht.

Hans Dietl, 1960 Landtagsabgeordneter, ansonsten als der Schärfste bekannt, gibt sich in der Parteiausschusssitzung erstaunlicherweise zurückhaltend. Er überlegt sogar, was bei Einbringung einer Resolution zur Selbstbestimmung getan werden müsse, „um zu verhindern, daß eine solche Resolution mehrheitlich abgestimmt wird“31. Es ist wohl Teil seiner Doppelstrategie, die darin besteht, die Stimmung noch mehr aufzuladen, um dann in logischer Folge zur Selbstbestimmung zu kommen. Entsprechend notiert er auch in seinem Tagebuch „leider“, als auf der Landesversammlung im Mai nach heißer Diskussion zum Selbstbestimmungsrecht doch die Resolution des Parteiausschusses für die Landesautonomie mit übergroßer Mehrheit genehmigt wird.32

„Die italienische Regierung soll ein Referendum machen“ (Alfons Benedikter)

Das Thema Volksabstimmung, Referendum, ist ebenfalls gleich zu Beginn der Sitzung vom 13. April 1960 ein Thema, wird dann aber fallen gelassen. Assessor Alfons Benedikter greift es später wieder auf, nun aber – in bestechender Logik – im Sinne eines Begehrens an die italienische Regierung. Sie solle die Befragung machen! Er erinnert daran, dass ja die Hundertjahrfeier zur Einigung Italiens bevorstehe, welche aufgrund von Abstimmungen – mit Ausnahme von Trient, Triest und Südtirol – erfolgt sei.

Für Roland Riz ist es ein origineller Gedanke, der schließlich aber verworfen wird, weil man sich der Argumentation anschließt, dass dies mit den Inhalten der Resolution nicht zusammenpasse: „Ich kann nicht in der einen Resolution sagen, ich gehe zur UNO mit Selbstgouvernement und gleichzeitig an das italienische Parlament mit der Forderung nach Volksabstimmung.“33 Schließlich fasst wieder Silvius Magnago zusammen: „Die ganze Frage ist die, wollen wir uns heute auf einen Weg begeben, der unmöglich zu gehen ist oder wollen wir bei der Sache, die möglich ist, bleiben.“ Und er ist der Meinung, dass wir „Italien viel leichter international schwächen und in eine schwierige Lage bringen können, wenn es uns etwas nicht gibt, was es uns geben könnte. Wir dürfen nicht mit dem Feuer spielen. Wenn wir anfangen von dem Selbstbestimmungsrecht zu sprechen, müssen wir ernst machen oder es bleibt bei einer platonischen Forderung, die dann wieder einschläft. Dann führen wir das Volk eigentlich ein bißchen herum, weil wir wissen, daß diese Forderung nicht durchführbar ist […]“, und weiter, „Ich will absolut nicht sagen, daß wir nicht einmal das Selbstbestimmungsrecht verlangen müssen, aber es muß das Endresultat einer logischen Entwicklung sein […]“34 Und da wäre er sich ja mit Dietl einig.

Es ist eine ausgiebige Diskussion, die Ausschussmitglieder wissen um den Ernst der Lage, aber auch, wer nach einer schneidigen Resolution die Konsequenzen zu tragen hat. Trotzdem wird klar, dass auch der Parteiausschuss etwas zur Selbstbestimmung sagen muss, nur was? Für Hans Stanek, den Generalsekretär der Partei, ist klar, dass man nicht immer nur mit „dem alten Schimmel weiterreiten“ könne, während z. B. für Roland Riz nur Selbstregierung oder Selbstbestimmung verlangt werden kann. Magnago fasst schließlich die Grundsatzfrage so zusammen: „Die Frage ist folgende: Ist der Parteiausschuß einverstanden, daß bei dieser [Hervorhebung durch die Verfasserin] außerordentlichen Landesversammlung die Forderung nach Selbstbestimmungsrecht nicht erhoben wird.“35 Er beweist sich hier wieder als Meister der möglichen Synthese und des Kompromisses, und dem wird zugestimmt.

Das Tauziehen geht aber noch länger weiter. Während Hans Karl Neuhauser, Bezirksobmann des Pustertales, Rudolf Oberhuber, Bezirksobmann des Eisacktales, und Hans Stanek, Generalsekretär der SVP, u. a. eindringlich darauf verweisen, dass die Resolution unbedingt einen Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht beinhalten müsse, ist z. B. Alfons Benedikter gänzlich anderer Meinung. Für ihn wäre es jetzt „absolut unzweckmäßig“, wenn „die SVP als solche über die Landesautonomie hinweg das Selbstbestimmungsrecht verlangt“36.

Die Positionen sind klar, es gilt jene Ausrichtung zu verfolgen, die dem Realismus wie dem berechtigten Unmut entspricht. Schließlich einigt man sich darauf, dass bei der Landesversammlung 1960 die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht nicht erhoben wird und dass der Parteiausschuss derzeit keine Möglichkeit sieht, das Selbstbestimmungsrecht auszurufen. Er ist aber auch der Meinung, dass auf das Selbstbestimmungsrecht als logischen Schlusspunkt dann zurückzugreifen ist, wenn alle nationalen und internationalen Wege zu keinem Erfolg führen.37

Die Landesversammlungen von 1960 und 1961 und das Selbstbestimmungsrecht

Die Landesversammlung vom 7. Mai 1960 gleicht dann, so notiert Dietl in seinem Tagebuch, einem „Hexenkessel im Zeichen Selbstbestimmung“38. Er ist es, der sich bei dieser Landesversammlung aus taktischen Gründen, wohl um den Druck zu erhöhen, auf die Seite Magnagos stellt, erst auf der Landesversammlung 1961 entzweien sie sich. Dort unterstützt Dietl ganz offen einen Abänderungsantrag zur Selbstbestimmung und dies unmittelbar nach den Anschlägen der Feuernacht vom 11./12. Juni 1961, als der BAS an die 40 Hochspannungsmasten gesprengt und damit auch die Aufmerksamkeit der Weltpresse auf Südtirol gelenkt hat.

Auf der Landesversammlung vom 19. Juni 1961 argumentiert Silvius Magnago dann so: „Es wird heißen, jetzt waren die Sprengstoffattentate, dann die Flugzettelaktion und dann kommt die Landesversammlung mit dem Selbstbestimmungsrecht, im Sinne der Flugzettelaktion. Es sind wirklich keine Zusammenhänge da, aber die könnte man dann feststellen […] Glauben Sie mir, ich hätte genau die gleiche Stellung eingenommen, wenn in der Zwischenzeit nichts passiert wäre. Weil ich überzeugt bin von dem Gesagten und weil ich sogar die Gefahr sehe, daß wir morgen keine Partei mehr sein werden, und ich weiß, warum ich die Gefahr sehe, – ich kann nicht alles sagen –, möchte ich Sie ersuchen, mit Widerwillen oder nicht, die Parteiausschuss-Resolution zu genehmigen.“39 Was dann auch erfolgt.

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