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ÜBER DIE AUTORIN

Leona Stahlmann, geboren 1988, lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin, Journalistin und Veranstalterin. 2017 gewann sie den Hamburger Förderpreis für Literatur, 2018 war sie Stipendiatin der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus in Berlin und gewann den ersten Wortmeldungen-Förderpreis. Der Defekt ist ihr Debütroman.

ÜBER DAS BUCH

In dem Sommer, in dem Mina dem achtzehnjährigen Vetko näherkommt, verändert sich für sie alles: Sie merkt, dass sie anders ist als der Rest des Dorfs. Was sich anfühlt wie ein Defekt, ein Fehler im System, wird für Mina bald der Punkt, um den sich ihr Leben dreht. Während Vetko und sie eine Verbindung zwischen Lust und Schmerz herstellen und Vetkos Forderungen immer existenzieller werden, sieht sie sich zusehends vor die Entscheidung gestellt, wie weit sie noch gehen soll. Duldet der Weg, den sie eingeschlagen hat, überhaupt einen Kompromiss?

Leona Stahlmann erzählt in außergewöhnlicher, sinnlicher Sprache vom Aufwachsen mit einer von der Norm abweichenden Sexualität und von den Rissen in unseren Begriffen von Heimat und Identität. Sie erzählt von Mensch und Natur und von der Wucht, wenn sie in ihrer Rohheit aufeinandertreffen.

Kein & Aber

 

»Be taught now, among the trees and rocks,

how the discarded is woven into shelter.«

David Whyte

»(…) und die Mutter sprach ihm das Wort: nachhause laut vor; er gab es stark verändert wieder; da horchten sie alle auf (…).«

Friederike Mayröcker

Teil I

I

ZWEI SCHÜSSE

Vetko erschoss ihn dann selbst. Oder: verschoss, wie der Lohwieser gesagt hatte, als er Vetko seine Jagdbüchse lieh.

»Wenn du ihn verschießt«, hatte Lohwieser gesagt, »machs nicht in Taubners Revier, der kriegt das spitz, der redet, die Leut’ reden. Du weißt ja.«

Vetko hatte genickt und geschwiegen und mit beiden Händen sein grünes T-Shirt gedreht, den Rand wie Zigarettenpapier aufgerollt. Er hatte zu Mina geblickt, an sich herunter. Lohwieser hielt ihm das Gewehr hin, die Haenel, die er dem Taubner aus dem Hochsitz geklaut hatte. Vetko nestelte am grünen Stoff und schaute nicht auf und nahm das Gewehr nicht. Lohwieser zog den Hebel zurück; das Patronenlager öffnete sich. »Ein Schuss nur ist drin«, sagte er, »dann musst du nachlegen. Einzelladerbüchse.«

Vetko presste Daumen und Zeigefinger eng um die Stoffrolle. Kaum merklich krümmte der Zeigefinger sich, kurz und wie ein Muskelzucken, ahmte nach, was Lohwieser am Abzug vorführte.

Eine Woche vor Schulbeginn wusste Mina noch immer nicht, wie sie ihren Sommer den anderen erklären sollte. Ob sie Vetko verschweigen konnte? Ob er es in der Schule herumerzählen würde? Sie hoffte, dass das, was Vetko in ihr verrückt hatte, von außen nicht sichtbar wäre. Noch bevor die Schule wieder begann, zog sie die Bilder dieses Sommers hervor, sorgfältig eines nach dem anderen, und pinnte sie gegen die Innenwand ihrer Stirn. Sie brachte sie in eine Ordnung, den Kuss, die Abdrücke der Fichtennadeln auf ihren Oberschenkeln, die Haut auf dem Becher Milch und zuletzt Vetkos Hand an ihrer Kehle. Sie betrachtete lange die Bilder, glänzend und ohne die Fingerabdrücke eines anderen außer ihr selbst, und dann fügte sie eine letzte Schicht hinzu, so behutsam, als würde sie mit Blattgold arbeiten. Am Abend vor dem ersten Schulmontag strich Mina eine Unschärfe über jedes Bild von Vetko und ihr, die die Nacktheit ihrer beider Körper und Vetkos Kopf gerade genug verwischte.

Sie wünschte sich, Vetko und sie würden hinter dem Knirschen von mit nach Hause gebrachtem Ostseesand in den Turnschuhen und dem Flattern von bleichblondem Salzhaar in den Sommergeschichten ihrer Freunde zurücktreten, übersehen werden und schließlich verschwinden. Mina würde Vetko in der Schule behandeln wie vor diesem Sommer auch: als den Sitzenbleiber, der immer allein in der ersten Reihe hockte. Was sie beide an den Nachmittagen trieben, würde sich verheimlichen lassen, bis sie genug davon hatte. Bis sie es verstanden hatte.

Vor ihr lief der Hund und vor dem Hund Vetko, es war sein Hund, ein Mischling mit stumpfem Fell und Nebel in den Pupillen. Früher war es einmal Miros Hund gewesen. Miro, Vetkos älterer Bruder, war im letzten Jahr an einem Sonntag nach Klößen und Rotkraut mit dem Sechserbus aus dem Ort gefahren und nicht wiedergekommen, während sie alle, Mina und Vetko und die anderen Schüler der Gesamtschule im Ort, noch Stuhl an Stuhl nebeneinandersaßen und der jeweils andere aufhörte, wo die Holzbeine seines Tischs begannen. Und auch, wenn sie alle nicht gewusst hätten, was tun, hätte die gewohnte Erstarrung des Raums sich eines Vormittags aufgelöst und Stühle und Tische und Körper ineinandergewirbelt wie in einem Kaleidoskop, Minas Gesicht in das von Robert, Malenes Hände in Fabians Schoß: Sie alle über ihren Heften stellten es sich vor und träumten besonders deutlich dort, wo ihre Stifte die Ränder der ordentlich eingeschlagenen Bücher berührten und ihre Füße parallel ausgerichtet zum Lehrerpult zeigten. Über dem Pult hing die große Uhr, die so tat, als könnte man eine verknotete Zeit regelmäßig bemessen, obwohl sie jeder von ihnen anders fühlte: mal voranbrausend, dass es ihnen schwindelte, mal so verhärtet, dass der Zeiger fast am Voranschieben der Sekunden zerbrach. Und doch tickte die Uhr täglich in einem absurd genau gleichbleibenden Maß von acht bis zwei und tat so, als wäre nichts; als wäre der Abstand zwischen jedem Ziffernblattstrich genau gleich, regelmäßig gesetzt wie Kommata in einem lang gezogenen Bandwurmsatz, den Schüler und Lehrer und alle anderen im Ort täglich zur selben Zeit im Chor aufsagten, zur Stunde genau: das Dorf eine Wanduhr und sie die herausfedernden Figuren darin.

Vetko bewunderte Miro, sie alle taten das, und er war stolz auf den Hund, den sein Bruder ihm vererbt hatte. Viele im Ort kannten Vetko nur als Miros kleinen Bruder; und als er den Hund bekam, war es für ihn fast gewesen, als wäre er selbst ein wenig zu Miro geworden. Abends, wenn er den Hund ausführte, breites Leder um den breiten Nacken des Tiers und die Leine sehr fest in der rechten Hand, ging er dann breitbeiniger als gewöhnlich und rief den Hund nicht laut zurück, wenn er ihn losgelassen hatte, sondern ahmte Miros gedämpftes Zungenschnalzen nach.

Jetzt lief das Tier mit einem schwankenden Gang, waberte mehr um die Hindernisse des Weges, als dass es sie umging, blieb an Steinen hängen, knickte in Bodendellen ein. Vetko vermied jeden Blickkontakt.

Mina trug die Haenel, Vetko den Spaten. Er ging rasch und federnd, der Mund entspannt. Durch das Gras am Weiher schwirrten kleine weiße Falter und streiften ihre Fußgelenke. Mina hätte ewig so laufen können in dieser Reihe aus drei Gehenden, schweigend durch den Wald, aus dem die Tagesfarben auswuschen, in dem die Tagesstille mit dem Nachtlärm wechselte: das zudringliche Rauschen der Grillen, das sich in der Dämmerung aufblähte und ein Zelt über die Bäume spannte.

Der Hund blieb nah an Vetko, folgte seinem Tritt in die dichter werdende Tannenschonung. Er schloss auf und rieb den Kopf an Vetkos Knie. Vetko blieb abrupt stehen. Die Wege hatten genauso aufgehört wie die Markierungen an den Bäumen: Hufe für Reitpfade, gelbe Rauten für Wanderrouten, Forstwirtschaftlicher Verkehr frei. Noch zwei Schritte, einer, und sie ließen das letzte Schild hinter sich, darauf die Umrisse einer Tanne in einem Kreis: der Bannwald, jenseits von Taubners Jagdrevier.

Wer im Forst bestimmte, konnte man auf einen Blick erkennen: Hier hatte Wild sich an Gebietsgrenzen zu halten, Maschendraht spannte sich um die Stämme frisch gesetzter Fichten, und das Wühlen der Wildschweine wurde mit Stromdrähten im Wald gehalten. Im Forst war es lärmig von Waldarbeitern, Wanderern, Wirtschaftlichkeit. Als sie in den Bannwald traten, steckten sie sich die Finger in die Ohren, über die sich eine luftdichte Taubheit gelegt zu haben schien. Sie schüttelten die Finger, um die Haube über den Ohren loszuwerden, aber als der Hund einem huschenden Eichhörnchen hinterherkläffte, begriffen sie: Da war keine Haube. Der Hund sprang nutzlos an einer ausladenden Weidbuche hoch, deren Stamm bis zur kahlen verbrannten Krone in zwei Hälften gespalten war; der aufgerissene Stamm war besiedelt mit melonengroßen Stachelbartpilzen, deren weiße zottige Stränge aussahen wie in einem Vollbart festgefrorene Schneewehen. In den Hungerwintern nach dem Krieg hatten die Frauen und Kinder im Ort sie von den Bäumen gekratzt und gegessen; Mina erinnerte sich, dass ihre Großmutter davon erzählt hatte. Vetko nahm die Finger aus den Ohren. Sie lauschten dem Hund, bis er sich beruhigte, und dann kamen auch die anderen Geräusche zurück wie eine Welle, die sich vom Ufer zurückgezogen hatte und mit neuem Schwung dagegenbrandete, das raspelnde Schwarmzittern der Insektenleiber, das schwere Flappen von Flügeln mit weiteren Spannbreiten als die der Finken und Dohlen, die es im Forst gab.

»Bereit?«, fragte Vetko. Mina kniete sich vor den Hund und streichelte seine Ohren.

Vetko band die Leine um den Stamm einer Fichte. Daneben wuchs eine Gruppe Fingerhutpflanzen, aufrechte schlanke Säulen, jede blühende Glocke voll mit Gift und greller roter Farbe, und im Licht der tief hängenden Sonne hinter dem Wald wirkte der Hund wie ein Märchenwolf aus einem Schattenspiel. Vetko nahm Mina bei der Hand und zog sie fort – zwei Meter, zehn, zwanzig.

»Vetko«, sagte sie leise, ein geduckter Versuch, aufzuhalten, was nicht aufzuhalten war. »Bist du dir sicher?«

Seine Hand in ihrer lag kalt unter einem Schweißfilm, er sagte: »Ja«, sagte: »Ich brauche keinen schwachen Hund.«

Der Hund winselte leise hinter ihnen. Da drehte Vetko sich um, nahm ihr in der Drehung die Haenel aus dem Arm, blickte starr durch das Zielfernrohr. Was er sonst nicht wusste, hatte Vetko in den Münzschlitz der Suchmaschine gefüttert und verwackelte Videos bekommen, die Schussdistanz erläuterten und dass man in den Kopf des Tiers schoss oder bei Wild den Blattschuss machte durch das Schulterblatt. Aber der Hund war ja kein Hirsch und kein Reh, sondern ein Hund.

Vetkos Zeigefinger krümmte sich, ein Zucken, wie Lohwieser es ihm gezeigt hatte. Doch die Kugel flog nicht gerade, sie beschrieb einen Bogen und prallte an der Fichte ab und sprang in die Böschung. Vetko, kaltes Wasser auf der Stirn und im Nacken, senkte das Gewehr, ließ seine Hand hastig zum Hebel seitlich des Zielfernrohrs fliegen, legte eine zweite Patrone ein, Einzelladerbüchse, und er schoss blindlings ein weiteres Mal auf den kläffenden, vor Angst und Erregung an der Leine reißenden Hund, und er traf, kaum zu fassen, den Hund auf die Stirn zwischen die Augen, und die Kugel drang ein in das Hundehirn und schlug vielleicht durch das, was sich mit feingliedrigen Ärmchen und Beinchen und Fühlern durch den Schädel des Hundes gefädelt hatte und ungeheuer schnell gewachsen war, schnell wie eine Sagengestalt und ebenso vielköpfig, und den Hund schwach gemacht hatte und hinfällig und fast blind.

Die Kugel trat am Hinterkopf aus, und Mina hätte gern gesagt: Der Schuss zerriss die Stille, aber er zerriss nichts, nur den Hundekopf mit seinem Tumor darin, und der Wald legte eine große, kühle Hand auf Vetkos Mund und ließ ihn nicht schreien, und der Wald schluckte überhaupt Hall und Nachklang und Bedeutung dieses Schusses und ließ Kugel und Hirn weich fallen.

Vetko grub, und das Blut des Hundes lockte die Bremsen an, gedrungene, dunkle Körper und dicke Saugrüssel. Sie brauchten all ihre Hände, um die Erde auf das Loch zu schaufeln, das dann doch sehr groß geworden war, Vetko mit dem Spaten und Mina mit Fäusten voll Boden und ausgerissenem Moos. Vetko klopfte schweigend die Erde fest. Er sah zufrieden aus, den Tierarzt und seine Spritze hatte er nicht gebraucht, er hatte nichts nötig vom Dorf und den anderen außer Lohwiesers gestohlener Büchse.

Mina reichte ihm die Leine, die sie vom Baum gelöst und unschlüssig in der Hand gewogen hatte. »Zum Erinnern«, sagte sie.

»So was braucht man für Hunde, nicht fürs Erinnern«, sagte Vetko ruhig. »Ich habe keinen Hund.«

In den Tagen nach dem Schuss schraubte Vetko das Blechschild mit dem Piktogramm eines großen schwarzen Hundes an der Gartentür seines Elternhauses ab, Warnung vor dem Hunde, und weil er nicht wusste, wohin damit, und es hilflos in den Händen hielt, viel zu lang, steckte Mina das Schild zu der Leine in den Rucksack und radelte zum Waldsee, auf dem das Schild flach aufklatschte und die Leine kurz oben schwamm, sich vollsaugte und unterging. Beides sank ohne Strudel oder aufsteigende Luftblase, einfach so, sehr schnell.

II

STICHE

Es waren die letzten Tage des Hochsommers, in denen sich die Schädel vom Lohwieser, vom Taubner, vom Achner noch deutlicher als sonst durch die gespannte Haut der Schläfen drückten. Vetko und Mina fuhren mit den Fahrrädern in die Felder. Sie lagen in Raps und in Weizen, stundenlang, Wärme im Scheitel, schläfrig und satt. Eine Florfliege fraß eine Blattlaus, und dann noch eine. Die saftroten Klatschmohngewänder gingen pudrig und flattrig auf, der Schock der kräftigen Farbe fast zu schwer für die Blätter, und klebten feucht an ihren Fingern. Beinahe jeden Nachmittag entlud sich über ihren Köpfen die überschwere Hitze in einem Gewitter. Das Licht in der Stille danach barst in den sich verziehenden Wolken und stand, gespalten durch ein unsichtbares Sieb, in hellen, sirrenden Flecken über Wiese und Feld. Was für sich war – nachbackende Tagschwüle, Stiche von hartem Hafer im Rücken, Vetkos hellbraune Augustpunkte auf seinen Wangenknochen, der sich in der aufziehenden Dämmerung unmerklich von Grün ins Schwarz färbende Wald, der Tümpel, der mit jedem Sommertag mehr und mehr verdampfte wie alles Wasser, das unbewegt war –, all das schien an seiner Begrenzung zu zerfasern, all das schob sich in diesen Tagen übereinander, ineinander. Durch die warmen Nächte zischte das Mohnrot an den Rändern der Felder wie Streifschüsse.

Bei Sonnenuntergang standen Vetko und Mina an einem Aussichtspunkt der Schwarzwaldhochstraße. Obwohl der Blick über den Wald hinaus weit war, wenn man nur hoch genug stand, und das Baumdunkel vor dem Horizont auseinandergrätschte und in einer Senke Platz ließ für die Lichter von Frankreich, fern und doch wie mit den Händen pflückbar, konnte Mina keine offenen Flächen sehen. Keine Weite. Der Wald faltete sich um sie herum und klappte zu, und ihr Kopf steckte zwischen den eng stehenden Speerspitzen der Fichten, aufgerichtet, eingezwängt, in Reih und Glied zwischen Hunderten Stämmen. Mina sah sich stehen, in die Erde gedrückt wie die handtellergroßen Tannen aus Pfeifenreinigern, die ihr Vater in den festen Schaumstoff seiner Miniaturlandschaft für Modelleisenbahnen steckte.

Es waren bloß anderthalb Stunden Autofahrt bis über die deutsche Grenze, aber für Vetko mochte Frankreich auch weiterhin nur aus Lichtern bestehen und hellen Bändern, auf denen wie Leuchtkugeln geräuschlos Autos rollten. »Willst du nicht wenigstens«, fragte sie, als sie sich ins Gras legten, »irgendwann wissen, wie woanders die Bäume aussehen? Die Mammutbäume in Kalifornien meinetwegen, die Josua-Bäume, Banyan-Bäume, Affenbrotbäume?«

»Wer weiß, wohin er gehört«, sagte Vetko undurchdringlich, »der muss nicht reisen. Heimat ist: nicht reisen müssen.« Er sagte das, wie nur ein Achtzehnjähriger es konnte: umso überzeugter von sich, je weniger er von der Sache verstand.

Und Mina dachte: Heimat. Ein Wort aus dunkelgrünem Filz geschnitten, und es schulterte ein Jagdgewehr zwischen den Buckeln seines M, und ihre Großmutter drapierte es auf der Lehne ihres Cordsofas im Wohnzimmer, und dort setzte es Staub an, den sie jeden Sonntag geduldig herunterwischte mit ihrem Wedel aus Straußenfedern, und manchmal hing es im Schlafzimmer über dem Kopfende des Bettes neben dem Kreuz, und es steckte in »Heimatkunde« und »Heimatmuseum«, und Mina sah es in Frakturschrift in gebeizte Holzschilder geschnitzt mit einem Pfeil, von dem sie nicht wusste, ob sie ihm folgen wollte.

Es gab die Ordnung des Dorfs, und es gab Vetkos Ordnung. Beide wollten sie Wegweiser sein, und zeigte der eine an einer Gabelung nach rechts, wies der andere verlässlich nach links, und Mina stand in der Mitte und blickte eine Weile ratlos hin und her, und schließlich ging sie mit Vetko, weil er entschlossener voranmarschierte als alle anderen und umso schneller, je unbekannter ihm das Gelände schien.

»Halt still«, sagte Vetko.

In Minas Armbeuge glänzte fettig eine Bremse. Die Bremse kroch, der Wärme von Minas Puls nach, über die Haut und erreichte den Aderbaum des Handgelenks. Vetko lächelte. Der feiste, dunkelgraue Stab vibrierte vor Gier. Vetko nahm ihre freie Hand in seine, im Nadelstich seiner Pupille glänzte Neugier und etwas anderes, das Mina nicht benennen konnte; es ließ sie an den Hunger der Bremse denken. Mina schlang ihre Finger um seine, als die Bremse stach, biss in das Gras vor sich, gegen den Schmerz an, zerrieb zwischen den Zähnen den Grit aus Sand und Erde, Halmen und Wurzeln.

Vetko beugte sich vor und küsste sie auf den Mund, trocken und warm, und seine Zunge mischte sich mit dem Bitter der Gräser. Für einen Moment wurde der Talkessel weit und die gespannten Schädeldecken fern, und der Stich der Bremse pulste in einem Takt, den der Stich der Zunge vorgab. Vetko folgte der salzigen Straße von Bauchnabel zu Schambein, mit Finger und Mund, Braue und Wange, zurückhaltend erst, dann zielbewusst. Sie wartete, ohne Luft zu holen, mit schmerzenden Lungenflügeln unterhalb einer Wasseroberfläche, zwischen davor und danach, bis er sie, mit einem einzigen Zug, den glatten Spiegel durchstoßen ließ, hinein in die Wende ihres Atems, endlich. Mina sog Luft ein, bis ihre Fingerspitzen und Zehen zu sirren anfingen.

III

DIE WELT VOR DEN STÄDTEN

In der Welt vor dem Herbst, in dem sie alle in die Städte gingen – alle, außer Vetko –, gab es Goldzähne und Backenbärte, lodengrüne feuchte Wintermäntel mit Knöpfen aus Hirschhorn, die salzig schmeckten, wenn man an ihnen leckte. Handschuhe und Schals und Mützen, selbst gestrickt, überkrustet mit harschigem Schnee, die auf den Haken vor den Klassenzimmern von November bis März vor sich hin tropften. Die sich auf dem Heimweg borstig und klamm um ihre Hälse und Hände schlangen, wenn sie nachmittags in ihre Zimmer zurückkehrten, in ihre einmal gemütlichen und bald zu schmalen Kinderbetten mit Holzrahmen, die zwischen den Planken der Lattenroste zu wenig Platz für Geheimnisse hatten. Es gab Bauchansätze, die die Männer Wohlstandsbäuche nannten und die Frauen Bierwampen, zurückweichende Haarkronen, brüchige senfgelbe Dauerwellen und quastenrosa Rougewölkchen auf erhitzten Wangen in Wirtshäusern. Es gab Leinenschürzen, die alle Mütter mit vor Konzentration zusammengepressten Lippen am Rücken zusammenbanden, bevor sie mit flinken Fingern und schmalen Küchenmessern mit Holzgriff Rüben und rote Bete schälten und Holunder einkochten.

Und es gab Autos mit Ladefläche und Allradantrieb in gedeckten Farben, fein gehäckselte Kohlschnitze in blau emaillierten Töpfen mit Zwiebelmuster, die ihre zarte grüne Farbe an das sprudelnde Kochwasser abgaben und fadbraun wurden und mittags nach der Schule schmeckten wie am Vortag. Es gab Kirchenfeste wie Taufen, Ostern, Weihnachten und Firmung, und dabei wurden Mina und Vetko und die anderen in schlecht sitzende Polyesteranzüge und weiße Kleider aus der Kinderabteilung des kleinen Kaufhauses der Kreisstadt gesteckt. Und die Männer schwitzten an langen Klapptischen in Gemeindesälen ihre gestärkten Hemdkrägen gelb und vergrößerten ihre Wohlstandsbäuche mit rüschig dekorierten Sahnetorten, und als die Kinder um Mitternacht zu Bett geschickt wurden, liefen den Männern torfige Tropfen mit weißem Schaum links und rechts an ihren Schnauzbärten hinunter, und sie umarmten die Kinder mit weitschweifigen Armen und klapsten die Hintern der Mütter und sangen Volkslieder und Trinklieder im Kanon, während hinter ihnen in den Vitrinen des Gemeindehauses bedächtig die Pokale der Skimannschaft und die Zinnspitzen der Wimpel des Wandervereins blinkten.

Und es gab den Wald und seine Wörter: Fichtentriebe. Moosbetten. Losung. Wildwechsel. Verharscht. Dickicht. Mulchig. Borke. Tannenschonung. Wörter, die noch in ihren Mündern blieben, nachdem sie sie ausgesprochen hatten und grün schmeckten, moderig, stumpf und wassersatt, schattig und voll. Denen Mina später, weit hinter dem Wald und dem Ort, nachschmecken würde wie einer Verletzung am Gaumen, mit hochgebogener Zungenspitze, gierig und wehleidig, Wörter wie kitschige Souvenirs, etwas Kleines und gut Verpackbares mit Schwarzwaldhausschindeln und einem Kuckuck, und wenn Mina sie aussprechen würde, weit, weit hinter der Schwelle des Hauses der Eltern und dem durchgestrichenen Ortsschild und der Landkreisgrenze, wären es Laute ohne Echo, die klumpig zu Boden fielen und zwischen den Füßen liegen blieben.

Und dann gab es Vetko. Es war in dem Sommer gewesen, als sie sechzehn geworden war. Vetko war ein Einzelgänger, in den Pausen las er auf dem Mäuerchen am Rand des Schulhofes ein Buch, den langen Oberkörper gebeugt und die eng zusammenstehenden Schultern hochgezogen, oder er hörte über billige schwarze Kopfhörer mit dünnen Plastikbügeln seine 70er-Jahre-Gitarrenmusik. Er sah dabei nicht im Geringsten lässig aus, im Gegenteil, sein eigentümlich zeremonieller und mädchenhaft hingebungsvoller Ausdruck in seinem mageren Gesicht mit der zu hohen, gewölbten Stirn und der schnabelhaften Nase ließ ihn lächerlich und würdevoll wirken, englischer Baron und Papagei zugleich. Um seine schläfrig verhangenen braunen Augen spannte sich weiße, körnige, dünnaderige Haut, die sich in der trockenen Bergluft des Winters schuppte und in heißen und sonnigen Wochen dunkel und hutzelig wurde und ihn wie einen alten Landstreicher wirken ließ.

Dieser Sommer war übermächtig, selbst die Nächte stickige schwarze Räume ohne Ausgang und Fenster, und Mina war schon im Juli gesättigt von der schweren Vier-Uhr-Hitze gewesen, die sie dösend hinter Fensterlamellen auf dem Bett verbrachte. Hinter geschlossenen Augen zeichnete sie nach ihren Wünschen das neu, was jenseits der Lamellen und Lider lag: Einkaufspassagen und ein Kino, Straßenzüge mit hoch aufgereckten Häusern, die Schatten warfen und an deren erleuchteten Fensterhöhlungen abends schlanke Menschen standen und über die Brüstungen gelehnt an ihren Zigaretten sogen und angelegentlich abaschten, und über allem lag das unruhige, aufregende Summen einer Musik, deren Basslinie aus dem Vibrieren von Autos auf Asphalt und Rädern auf Gleisen und vielen wirbelnden Fußpaaren auf Bordsteinpflaster und dem Summen zahlloser Versprechen bestand, die sie noch nicht benennen konnte. Abends, wenn die Kühle aus den Säumen des Waldes quoll, der in die Ränder des Dorfs lappte, gab es nichts, was man mit sich hätte anfangen können. Also ging Mina spazieren, bis sie müde wurde.

Sie blieb auf dem sandigen Wanderweg stehen, als sie ihn sah, und wollte gerade rufen, aber etwas hielt sie zurück. Vetko stand mit dem Rücken zu ihr am Waldsee. Sein in der Dämmerung bläulich schimmernder Hals war durchgestreckt, und der Kopf fiel ihm nach hinten in den Nacken. Seine Arme schienen in stoßweisen, abgehackten Bewegungen etwas zu schieben, vor und zurück, es sah nach Anstrengung aus. Gleichzeitig ähnelten die gespannten Bögen seiner Augenbrauen und der leicht geöffnete Mund der albernen Entrückung auf seinem Gesicht, wenn er seine Musik hörte. Vetko stand dort, am Ufer des kleinen Sees mit wurzelbraunem, von der Dürre des Sommers dicklich geronnenem Wasser, mit den schmuddeligen weißen Turnschuhen fest auf dem verbrannten Gras, aber das Fieber, dem seine Hände gehorchten und das in feinen Schweißtropfen über seine Stirn pulste, hob ihn über die Scherenschnittgeweihe der schwarzen Baumkronen in die Nacht und die Sterne. Plötzlich erstarben Vetkos Bewegungen, und der Kopf klappte nach vorn, und die Hände nestelten vor seiner Körpermitte, und er straffte die Schultern, und er drehte sich um und sah sie auf dem Waldweg, und noch ehe sie loslaufen konnte, stand er bei ihr. Die Helle seiner Augäpfel, zitternd und aufgerissen, leuchtete kalt und wütend und sehr nah vor ihrem Gesicht, als er ihren Arm packte.

»Wie lang bist du schon hier?« Vetkos Stimme wand sich gepresst zwischen seinen Zähnen hervor, die in diesem Moment in seinem Mund mehr zu werden schienen und gegen seine Zunge drückten und seine Miene grimassenhaft verzerrten.

Mina begriff seinen Zorn nicht. »Eine Weile«, erwiderte sie arglos, und sein darauffolgendes Schweigen wickelte sich um sie und schnitt sie aus der Nacht, aus dem Wald und hinein in etwas Unbehagliches. Sie trat ihm ans Schienbein, so fest sie konnte, und rannte davon.

Vetko hätte sich nach dieser Begegnung einen neuen Ort für das suchen können, was er am Wasser tat. Aber er kam zurück, und auch Mina behielt stur die Route ihrer Spaziergänge bei, und eine Woche lang blieb sie jeden Abend stehen und sah ihm vom Weg aus zu, bis seine Augen sich wieder öffneten. Vetko tat, als bemerkte er sie nicht, fuhr mit seinen Händen abrupt über die Beine seiner Jeans, zog den Handrücken einmal über die nass beperlte Stirn und ging. Sie gewöhnten sich aneinander, langsam, scheu, im unbeirrbaren Takt von etwas, das nur für Mina und Vetko wahrnehmbar über den kleinen Häusern ihrer Eltern lag, über den Dorffesten und dampfigen Kochtöpfen und den Bolzplätzen und flimmerigen Spielkonsolen der anderen.

Der Hochsommer behauchte die dick und schwer gewordenen Pflaumen auf den Streuobstwiesen um den Wald mit einem trügerisch kühlen Mattviolett und trieb den letzten Zucker hinein und brannte ihn darin zu Karamell, bis er Blasen warf und die Früchte platzten und ranzige Süße in die Abende verströmten, die Mina mit Vetko verbrachte. Sie hatte sich schließlich neben ihn gestellt, und irgendwann ohne dass sie wusste, was sie tat, eine Hand nach Vetko ausgestreckt, während er den Reißverschluss öffnete. Als ihr einfiel, dass sie eigentlich gar nicht weiter gedacht hatte als bis hierher, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, was danach käme, hing ihr Arm mit einer fremden und nutzlos schlenkernden Hand vor Vetkos Hosenschlitz herum, bis Vetko sie nahm und aus Minas Daumen und Zeigefinger einen Ring formte ungefähr in der Größe der Sonntagsserviettenringe ihrer Mutter, in denen die gestärkten Stoffservietten steif steckten und nicht berührt wurden bis zum nächsten Sonntag, wenn sie wieder gestärkt und durch Ringe gezogen wurden.

Sie lagen im Wald, im Moos abseits der Wanderpfade. Vetkos Hand griff in das schwarze Haarbüschel, das erst in diesem Sommer unter Minas Achseln gewachsen war, und zog. Sie schrie auf. War dann still. Guckte Vetko an und wieder weg, runzelte die Stirn gegen ihn an: »Wars das schon?«

Er lachte und zog ihren Kopf an einer Faustvoll Haar in den Nacken. »Fürs Erste«, sagte er und ließ wieder los. Er griff in die Waldböschung hinter ihr und pflückte einen grünen Fächer heraus, mit dem er über ihren nackten Bauch strich. Die Wimpernblätter des Frauenfarns hatten die Geigenköpfe ihrer eingerollten Triebe vom Frühsommer längst geöffnet, die Trockenheit fraß gelb an den Rändern der Fieder. Selbst die unverwüstlichen Königsfarne ließen die Köpfe hängen und rollten sich in der Hitze ein, wurden gelb und braun und starben bis zur Wurzel ab. Es hatte Waldbrände gegeben in diesem Jahr, beim ersten Feuer hatten die Bewohner des Ortes in der Nacht noch die Fenster aufgerissen und waren hektisch wie Hühner zusammen- und durcheinandergelaufen, hatten im Anker und, als der keine freien Stühle mehr hatte, bei Lu’s Asia-Imbiss am Bahnhof zusammengesessen bis zum Morgen. Danach hatte Mina gelernt, dass der Geruch von Feuer, der würzig war von schmorenden Baumnadeln und unter den Rinden der Stämme zu Dampf gekochten Harzen, ein Geruch war, bei dem sie das Fenster schließen und weiterschlafen konnte: Die Feuer blieben im Wald und die Menschen in ihren Betten, nur die Kreise der Hubschrauber über dem Berg störten ihre Träume.

In diesem Sommer war Minas Hüfte nicht anders als die von Vetko, gerade und flach wie ihre Brust. Tabakfarben hatte sich die Sonne daraufgebrannt, der Farn lag wie ein Strumpfband von Hüftknochen zu Hüftknochen, fedrige Spitze mit braunen Punkten auf der Blattunterseite, die sich rau anfühlten, wenn ihr Atem die Bauchdecke nach oben trieb. Vetkos Finger krochen in ihren Schoß. Er grinste, als sie unwillig die Beine schloss, überreizt von seinem schlaksigen, eckigen Jungenkörper auf ihrem. Mina wusste jetzt, wo Vetko gewesen war hinter seinen Lidern an dem ersten Abend am Weiher, und er nahm sie mit dorthin, schwitzig ineinandergeschoben im Gras, auf Erde, Moos. Wenn sie wieder aufstanden, hatten vertrocknete Tannennadeln feine rote Strichmuster in ihre Rücken gedrückt.

Als mit den ersten schweren Regenfällen und dem Geruch von fauligem Stroh und dörrendem Obst und knistrigen toten Wespenkörpern die Schule wieder begann, fühlte sie sich verändert, größer, zum ersten Mal Teil von etwas, das still, aber unaufhaltsam über die Ränder des Dorfs und des Waldes hinausgewachsen war.