Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2020

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Fotos: Archiv Konrad Steger und Öffentliche Bibliothek Ahrntal; Umschlag Erwin Haas

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: GZH, Zagreb

ISBN 978-88-6839-507-0

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Was wir früher einmal erlebt haben, kehrt nach Jahren

und Jahrzehnten plötzlich zurück und blickt uns an.

Und wenn die eine Erinnerung aufwacht und sich den Schlaf

aus den Augen reibt, kann es geschehen, dass dadurch auch

andere Erinnerungen geweckt werden.

ERICH KÄSTNER, Als ich ein kleiner Junge war

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ein lateinisches Sprichwort besagt: Quot capita, tot sensus (So viele Köpfe, so viele Sinne).

Wenn die fünf Geschwister bei ihren Begegnungen verschiedene Themen aufwerfen und diskutieren, so sollen ihre Ansichten nicht als der Weisheit letzter Schluss angesehen, sondern als Meinungen unter vielen verstanden werden. Ganz bestimmt möchten sie sich nicht als Besserwisser aufspielen. Die Leserin/der Leser möge sich selbst ihre/seine Meinung bilden.

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie halten mit diesem Buch das Nachfolgewerk von Als noch Kartoffelfeuer brannten. Eine Kindheit im Ahrntal in Ihren Händen.

Nach dem Erscheinen des ersten Bandes traten immer wieder Leser mit der Frage an mich heran, wann es denn ein zweites Buch mit Lebenserinnerungen, einen Nachfolgetitel geben würde.

Angespornt vom Erfolg des ersten Buches und vom ermutigenden Zuspruch setzte ich mich hin und begann, Stoff für ein zweites Buch zu sammeln. Meine Geschwister leisteten mir bei meiner Erinnerungsarbeit wertvolle Hilfe. Über dieses Ereignis könnte man noch erzählen, schlugen sie vor, und diese und jene Anekdote oder lustige Begebenheit sollte ich noch aufschreiben. Also hielt ich sie fest, diese neuen Geschichten aus unserer Kindheit und Jugend. Anfangs sammelte und schrieb ich ziemlich wahllos und ungeordnet. Immer wieder wurden während des Schreibens neue Erinnerungen wach und trieben an die Oberfläche des Bewusstseins. Ich schrieb über weitere Kinderstreiche, über humorvolle Begebenheiten und Anekdoten, von Pech und von Pannen und über das „fahrende Volk“, das damals auf unseren Hof kam. Die Fersentaler Krumer etwa oder die „Schmolzpater“. Ich schrieb Sagen auf, die uns unsere Eltern als Kinder erzählt hatten, und über die Freuden und Leiden des Erwachsenwerdens. Ich hielt die Geschichten über das erste Telefon, den ersten Radiosender unserer Gegend und das erste Kino des Tales fest. Und ich schrieb über die rasanten Veränderungen der Gesellschaft, welche der wachsende Tourismus mit sich brachte.

Ein Bruder stellte mir Schularbeiten zur Verfügung, die er als zehn-, elfjähriger Junge geschrieben hatte. Sie geben Einblick in die damalige kleine, abgeschlossene bäuerliche Welt vor über 50 Jahren, und sie machen auch die dramatischen Veränderungen deutlich sichtbar, welche diese kleine Welt seitdem erfahren hat.

Nach dem Aufschreiben musste ich eine Form finden, in welche die neuen Geschichten eingebettet werden konnten. Zusammen mit meinem Lektor entwickelte ich die Idee, dreizehn Geschwistertreffen zu beschreiben, die in der Gegenwart stattfinden. Bei diesen Familientreffen wird erzählt, und es werden Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit und Jugend wach. Eine Erinnerung weckt die andere, ein Gedanke ergibt den nächsten. In Dialogform wird auch durchaus kontrovers diskutiert, etwa über die modernen Entwicklungen der Gesellschaft oder über die Probleme des Heimattales.

Das neue Buch sollte kein „schwer verdauliches“ sein, sondern ich versuchte stets, einen heiteren, gelassenen Grundton anzuschlagen. Es sollte, wie schon der erste Band, vor allem unterhaltsam und humorvoll sein, aber ich bemühte mich, auch Einblicke in die Vergangenheit unseres Tales zu geben und Erinnerungen festzuhalten, die mir merkens- und bemerkenswert erschienen.

Konrad Steger

Die erzählenden Personen

FRANZISKA

Die Älteste der fünf Geschwister hat auf einen Bauernhof im Mühlwalder Tal geheiratet, und sie lebt dort mit ihrem Mann und ihrem gemeinsamen Sohn. Der Hof ist ihr ans Herz gewachsen und zu ihrem kleinen Königreich geworden.

ROBERT

Als Ältester der fünf Geschwister hat er den elterlichen Hof übernommen und bewirtschaftet ihn mit seiner Familie mit viel Schwung und Einfallsreichtum. Besonders stolz ist er darauf, dass er es im fortgeschrittenen Alter noch zum aktiven Musikanten der örtlichen Musikkapelle gebracht hat und dort eines der größten Instrumente spielt.

ANNA

Sie hat in Innsbruck den Beruf der Krankenschwester erlernt und ist dann der Liebe wegen in Nordtirol geblieben. Anna wohnt mit ihrem Mann in einem Dorf auf dem Hochplateau oberhalb der Stadt und genießt ihren Ruhestand. Ihre drei Kinder sind schon längst erwachsen und aus dem Haus.

ANTON

Als Geschichte-Liebhaber und eifriger Leser erforscht und beschreibt er gerne die Vergangenheit seines Geburtsdorfes und -tales. Er hat sich mit seiner Frau in einem ruhigen Ort in der Nähe von Sand in Taufers niedergelassen.

KLAUS

Das „Nesthäkchen“ der fünf Geschwister wohnt und lebt mit seiner Familie, seiner Frau und den drei reizenden Töchtern, im Sonnendorf Pfalzen bei Bruneck.

AUF DEM
KLAUSBERG

Anton ist 60 geworden. Ein stattliches Alter, wie alle finden, das anständig gefeiert werden muss. Er ist inzwischen der Vierte von den fünf Geschwistern, der diese Anzahl an Lebensjahren erreicht hat.

Sie treffen sich Ende März am Klausberg, dem Skiberg, der in ihrer Kindheit eröffnet worden war, und fahren gemeinsam mit der Gondelbahn bis zum höchsten Punkt auf über 2500 Meter Meereshöhe hinauf.

Oben herrscht noch tiefer Winter. Vom höchsten Aussichtspunkt blicken sie ins Tal hinunter und sehen die Wunden, welche der Jahrhundert-Herbststurm „Vaja“ im vergangenen Jahr geschlagen hat. Bleiche Stämme liegen da, wie von einer Riesenfaust niedergemäht. Eine Schneise der Verwüstung, eine hässliche Wunde am Berg. Es ist Ende März, die Felder im Talgrund beginnen wieder zu grünen. Doch oben ist es kalt, und der Wind pfeift ihnen um die Ohren. Trotzdem harren sie aus. Jemand hat ein Fläschchen mit einem guten Schnaps mitgenommen. Es macht die Runde. Man lacht, redet und diskutiert.

Inzwischen ist allen kalt geworden; sie fahren wieder hinunter zur Mittelstation der Seilbahn und kehren zum Mittagessen in einer Berghütte ein. Hier stoßen sie auf Antons runden Geburtstag an und überreichen ihm zu seiner Freude ein Geschenk.

„Weißt du eigentlich über den genauen Zeitpunkt und die Umstände deiner Geburt vor 60 Jahren Bescheid, Anton?“, fragt Franziska, die Älteste der Geschwister. Als Anton verneint, beginnt sie zu erzählen.

Die Hebamme mit der Kindertasche

FRANZISKA

Ich habe neulich unseren Cousin Rudl getroffen, und der hat mir vom Tag deiner Geburt erzählt. Rudl hat ja damals für einige Zeit auf unserem Hof als Hütbub und später als Jungknecht gearbeitet. Ich war zu der Zeit sechs Jahre alt, Robert war fünf und Anna drei Jahre alt. Du, Klaus, bist noch mit den Mücken geflogen. Wir hatten überhaupt keine Ahnung, wie Kinder auf die Welt kommen. Uns war an diesem 24. März nur aufgefallen, dass die Hebamme, die „Eggin“, in unser Haus gekommen war. Das war natürlich spannend für uns, denn sie trug ihre große Tasche mit sich, und wir hatten erzählen hören, dass sie darin die neuen Kinder herumtrüge und sie im Dorf verteilen würde.

Damals hat sie also in ihrer Tasche dich gebracht, lieber Anton.

Ich gebe euch die Geschichte so weiter, wie sie mir Rudl erzählt hat: „An diesem Frühlingstag waren ich, Peterle und eine Magd beim Mistauflegen auf der Rückseite des Hofes, wo sich damals der Stall und die große Mistlege befanden. Unsere Aufgabe war es, die dreirädrigen Karren mit Mist zu beladen und sie dann mit der Seilwinde über die Straße und auf die Felder zu befördern. Auf diesen wurde dann der Mist verteilt. Vater entschuldigte sich für diese Arbeit. Er druckste herum und sagte, er hätte heute nicht Zeit, uns zu helfen. Er schien mir an diesem Tag ziemlich nervös und aufgeregt zu sein. Am Nachmittag kam er dann freudestrahlend zu uns und erzählte, dass wir gerade ein Brüderlein bekommen hätten, und es sei gesund und munter.“

ANTON

Danke, Franziska, du hast mir mit deiner Geschichte eine große Freude gemacht. Ich wusste bisher nicht, zu welcher Tageszeit ich geboren wurde. Interessant für mich ist auch die Reaktion unseres Vaters. Ich sehe ihn noch heute vor mir, und ich kann mir seine Verlegenheit und Nervosität an diesem Tag lebhaft vorstellen.

Peterles Streiche

FRANZISKA

Ich habe vorhin Peterle erwähnt. Ihr wisst ja, dass dieser einige Jahre auf unserem Hof verbracht hat, also mit uns aufgewachsen ist. Cousin Rudl hat mir einige interessante Anekdoten über Peterle erzählt. Er hat ihn ja bestens gekannt. Das Peterle ist als kleiner Junge auf unseren Hof gekommen.

Früher ist es öfters passiert, dass Kinder aus kinderreichen Familien aus Armutsgründen „ausgebettelt“ wurden und dann auf anderen Höfen aufgewachsen sind. Ja, „ausbetteln“, so nannte man das damals. Ärmere Familien waren gezwungen, eine Nachbarsfamilie zu bitten, ein Kind zu übernehmen und großzuziehen. In jener Zeit gab es, im Unterschied zu heute, kaum soziale Hilfe. Dafür funktionierte aber die Nachbarschaftshilfe völlig unbürokratisch und schnell.

Ich als Älteste kann mich noch ein wenig an ihn erinnern, an den Peter, der von allen nur „Peterle“ genannt wurde, weil er so klein und zierlich von Gestalt war. Seine mangelnde Größe machte er allerdings durch ein quirliges Wesen und seine Lebendigkeit mehr als nur wett. Peterle war zappelig, ruhelos, unruhig und sehr lebhaft. Kurzum, er war ein aufgewecktes, intelligentes Kind. Wo Peterle war, war immer etwas los. Er stand immer im Zentrum des Geschehens und sprühte geradezu vor Tatendrang und nervöser Aktivität. Peterle war ständig zu Streichen aufgelegt. Nun zu den Geschichten, die mir unser Cousin Rudl über ihn erzählt hat:

In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts arbeiteten auf unserem Hof noch ein Knecht und zwei Mägde. Die Mägde hießen Rita und Paula. Dienstboten brauchte man damals dringend. Die Bauern waren nämlich Selbstversorger und der Großteil der Arbeit musste noch mühsam in Handarbeit erledigt werden.

Die Magd Paula ist mir in besonders guter Erinnerung geblieben, weil sie so lustig war und nett zu uns Kindern. Sie hat oft mit uns gespielt und gesungen.

Die jungen Männer des Dorfes fanden Paula und Rita offenbar sehr attraktiv, denn sie statteten ihnen immer wieder als Gassler an ihrem Kammerfenster Besuche ab. Ja, sie belagerten sie geradezu. An manchen Abenden hockten die Gassler sogar in unseren zwei Kirschbäumen und bewunderten die Mädchen von ihrem luftigen Ausguck herab. Wie ihr wisst, gab es damals noch kein Telefon, geschweige denn ein Handy mit SMS oder WhatsApp, mit dessen Hilfe sich junge Menschen hätten verabreden und kennenlernen können. Das kam alles erst ein halbes Jahrhundert später. Was blieb den jungen Männern auch anderes übrig, als ihre Angebetete in der Nacht am Kammerfenster zu besuchen und auf ihre Gunst zu hoffen? Vor dem Fenster wurde gescherzt und gelacht, Gasslerreime wurden aufgesagt. Wenn die Angebetete das mit Eisenstangen gesicherte Fenster öffnete und einem Besucher einen Kasteler anbot, einen Schnaps, der in den Tiefen ihres Kastens, also ihres Schrankes, verborgen gewesen war, dann galt das als Zeichen, dass seine Chancen bei ihr beträchtlich gestiegen waren.

Vor den Fenstern wurde es öfters laut, wenn gleichzeitig mehrere von Hormonen befeuerte Gassler vor dem Kammerfenster ihrer Angebeteten zusammentrafen. Dann geschah es, dass die Rivalitäten unter ihnen lautstark und manchmal auch tätlich ausgetragen wurden. Zu Tätlichkeiten unter ihnen kam es auch deshalb, weil sich Paula längere Zeit nicht so recht für einen ihrer nächtlichen Besucher entscheiden konnte. Wer die Wahl hat, hat die Qual, heißt es ja zu Recht. Paula schäkerte damals mit einigen jungen Männern am Kammerfenster.

Peterle und Cousin Rudl hatten ihr Schlafgemach über der Kammer von Paula. Einmal wurde dem Peterle das laute nächtliche Treiben unter dem Kammerfenster von Paula zu bunt. Er öffnete schnell das Fenster, packte sein großes Tintenfass und schüttete mit Schwung den schwarzen Inhalt auf die nächtlichen Besucher hinunter. Eine Weile herrschte verblüfftes Schweigen, bis die jungen Männer begriffen, was soeben geschehen war. Dann brach die Hölle los. Die Gassler stürzten sich wutentbrannt auf die Scheiterlege unter dem Kammerfenster von Paula und bombardierten wütend das offene Fenster von Peterle und Rudl mit Holzscheiten. Das halbgeöffnete Fenster blieb wie durch ein Wunder heil, nur der aus Glas gefertigte Lampenschirm, der in der Kammer von der Decke hing, fiel der Zerstörungswut der Gassler zum Opfer.

An einem anderen Abend hörten Rudl und Peterle dumpfe Geräusche im Stadel, welcher über der Kammer der zweiten Magd, der nicht minder attraktiven und begehrten Rita, lag. Die zwei Buben wurden neugierig und wollten wissen, was da wohl los wäre. Auf das Drängen von Peterle hin entschlossen sie sich nachzuschauen. Ritas Kammer lag straßenseitig, dort, wo eine steile hölzerne Treppe zum Toreingang hinaufführte. Peterle leuchtete mit einer Taschenlampe, Rudl, der Ältere und Mutigere, musste vorangehen. Er sah sofort, dass aus der Bretterwand, hinter welcher der Stadel war, ein Brett herausgerissen worden war. Unter dem Stadelboden befand sich die Kammer von Rita. Die zwei Jungen stiegen neugierig durch die Öffnung. Und da sahen sie es. Auf den Bodenbrettern des Stadels lagen sich zwei junge Männer buchstäblich in den Haaren. Sie hatten sich am Haarschopf gepackt und zerrten sich, keuchend und in blinder Wut, hin und her und traten sich dabei auch noch gegenseitig mit ihren Füßen. Als der Lichtstrahl aus Peterles Taschenlampe sie erfasste, stoben sie auseinander und ergriffen die Flucht.

Rudl besaß ein Fahrrad, welches, meist an die Rückseite des Hofes angelehnt, auf seinen Einsatz wartete. Eines Tages war es plötzlich spurlos verschwunden. Rudl musste sich wohl oder übel mit dem Verlust seines geliebten Rades abfinden. Was blieb ihm auch anderes übrig? Es tauchte trotz intensiver Suche nicht mehr auf.

Ein paar Tage darauf arbeitete die Familie auf dem Feld. Es war die Zeit der Heumahd. Mittags läutete Mutter die kleine Glocke im Glockentürmchen auf dem Dach und rief zum Mittagessen. Rudls Blick fiel zufällig auf das Dach, und da sah er zu seinem Erstaunen sein Fahrrad auf der Steinplatte liegen, die den Kamin des Küchenherdes abdeckte.

Wie war es da hinaufgekommen? Peterle wurde natürlich als Erster verdächtigt und zur Rede gestellt, aber er spielte den Unschuldsengel und tat so, als wüsste er von gar nichts.

ANNA

Danke, liebe Franziska, dass du uns diese unterhaltsamen Geschichten über Peterle weitergegeben hast. Ich denke, dass wir sie alle noch nicht gekannt haben. Du, Klaus, hast schon vor einiger Zeit erzählt1, wie wir jeden Sommer, es war immer Anfang Juni, unsere Tiere auf die Alm getrieben haben. Neben den Kühen und Schweinen mussten zu Peterles Zeit auch einige Gänse mit hinauf.

Die Gänse haben sich auf dem Scheuchenberg plötzlich in die Luft erhoben und sind wieder zu Tal geflogen. Der Scheuchenberg war eine Bergwiese oberhalb von St. Jakob im Ahrntal, welche heute zur Gänze verwachsen ist. Die Gänse sind damals nicht etwa grundlos aufgeflogen. Später hat man sich erzählt, dass es Peterle gewesen sei, der plötzlich und nicht ganz zufällig hinter einem Baum aufgetaucht wäre und die Gänse absichtlich erschreckt habe. Er hat es wahrscheinlich aus reinem Übermut gemacht oder vielleicht auch, um Klaus, den Gänsetreiber, damit zu ärgern.


1 Konrad Steger: Als noch Kartoffelfeuer brannten. Eine Kindheit im Ahrntal, Athesia 2016

Die Sache mit der „Stadt Gottes“

ANNA

Ich kann mich noch an einen weiteren Streich von Peterle erinnern. Den hat Vater nicht lustig gefunden. Ihr erinnert euch vielleicht noch. Unsere Familie hatte damals die ehrenvolle Aufgabe übernommen, eine religiöse Zeitschrift mit dem Titel Stadt Gottes im Dorf zu verteilen und das Geld einmal jährlich bei den zahlreichen Abonnenten einzusammeln. Es kam daher immer eine recht beachtliche Summe Geld zusammen.

Eines Tages verschwand das eingesammelte Geld spurlos aus dem Kasten im elterlichen Schlafzimmer. Niemand konnte sich den Verbleib des Geldes erklären, es schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Bis eines Tages ein Nachbar zu Vater kam und ihm im Vertrauen erzählte, er habe von den Schülern erfahren, dass unser Peterle wohl zu plötzlichem Reichtum gekommen sei. Er habe in letzter Zeit immer die Hosentaschen voller Süßigkeiten, berichtete der Nachbar. Und diese würde Peterle großzügig an seine Freunde verschenken. Damit nicht genug, auch Geld bringe Peterle freigebig in Umlauf und versorge damit seine besten Kollegen.

Vaters Stimmung sank daraufhin auf den absoluten Nullpunkt. Ich habe gesehen, wie er sich mit steinerner Miene Peterle vorgeknöpft und ihn dann nach Strich und Faden vermöbelt hat. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und ich bin immer noch zutiefst erschrocken darüber, wie Vater in seinem Zorn reagiert hat. Er hat sonst nie geschlagen, damals allerdings schon. Wahrscheinlich hat er die Nerven verloren, weil das Geld ja der Kirche gehörte, und diese war ihm zu jener Zeit noch absolut wichtig. Das hat sich später etwas gelegt.

Peterle hat Jahre später unsere Familie verlassen und einen Handwerksberuf erlernt. Als erwachsener Mann kam er oft mit seiner Familie zu Besuch. Einmal habe ich gehört, wie er Vater gedankt hat, dass er ihn damals wieder zur Vernunft gebracht habe. „Sonst wäre ich ein Gauner geworden“, sagte er. Diese Worte haben Vater sehr erleichtert, das hat man ihm regelrecht angesehen.

Sicher hätte Vater damals sanftere, pädagogisch durchdachtere Maßnahmen treffen und anwenden können, um Peterle wieder zur Vernunft zu bringen. Aber man muss es neidlos anerkennen: Gewirkt haben seine drastischen Maßnahmen allemal.

Gute alte Zeiten?

ROBERT

An dieser Stelle möchte ich noch über den weiteren Lebensweg vom Peterle erzählen. Vater hat damals erkannt, wie intelligent der Junge war, und wollte ihn studieren lassen. Leider, so muss ich sagen, hat er sich in dieser Angelegenheit an den damaligen Pfarrer gewandt, weil er bei ihm Rat suchen wollte. Dieser hatte anscheinend noch nicht verwunden, dass Peterle damals das Stadt Gottes-Geld verjubelt hatte. Er riet Vater dringend ab, Peterle in eine höhere Schule zu schicken. Er werde eh nur ein Gauner und ein Taugenichts, und jede Investition in ihn sei ein Schlag ins Wasser. So weit die für mich bedenklichen Aussagen des Pfarrers. Er scheint die christlichen Grundsätze der Nächstenliebe und Vergebung selbst nicht unbedingt gelebt zu haben. Uns blieb dieser Pfarrer Gott sei Dank in der Schule als Religionslehrer erspart. Wir hatten seinen Nachfolger.

ANTON

Noch einige Anmerkungen zu deinen Erzählungen vorhin über das Gasseln, Anna.

Ich bin neulich mit einem alten Mann ins Gespräch gekommen. Dieser hat mir erzählt, wie es damals war in seiner Jugendzeit, vor etwa 70 Jahren, wenn man ein Mädchen kennenlernen wollte. Es war praktisch unmöglich, sagte er, dass sich ein junger Mann öffentlich mit einem Mädchen traf oder gar Arm in Arm mit ihr durch das Dorf spazierte. Beide wären sofort in Verruf gekommen. Junge Menschen sahen einander nur zu den seltensten Gelegenheiten und dann meist nur aus der Ferne, in der Kirche etwa. In dieser Zeit wurden besonders die Mädchen von ihren Eltern und den Geistlichen eifersüchtig behütet, ja, ich möchte sagen, überwacht. Die einzige Möglichkeit, mit einem Mädchen, das einem gefiel, ins Gespräch zu kommen, war, wenn man in der Nacht heimlich an ihr Kammerfenster kam und dort sein Glück versuchte. Diese nächtlichen Abenteuer waren aber höchstens etwas für die Draufgänger und die Mutigen. Die eher ruhigen, weniger durchsetzungskräftigen jungen Männer waren immer benachteiligt. Aber auch die Frustration der Wagemutigen war oft vorprogrammiert, denn die Konkurrenten belauerten einander eifersüchtig, und nicht selten kam es zwischen ihnen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und zu Sabotageakten. Ja, man kann behaupten, es herrschte das Recht des Stärkeren. Keine angenehme Vorstellung, wenn ihr mich fragt.

Wie leicht haben es doch heute die jungen Menschen mit ihren modernen technischen Möglichkeiten wie Facebook, Instagram, WhatsApp und was es da alles sonst noch gibt, um miteinander in Kontakt zu treten und sich zu verabreden.

Was heute in den sozialen Medien so passiert, ist natürlich auch nicht alles gut und in Ordnung, aber zumindest ist die Gesellschaft, auch in unserem Tal, offener, toleranter und selbstbewusster geworden, und das ist etwas Positives.

ZU BESUCH
BEI ANNA

Drei Tage nach Anton hat Anna Geburtstag. Ihre vier Geschwister haben sie und ihren Mann im Haus in Axams, auf einem Hochplateau in der Nähe von Innsbruck, überrascht. Spontan hatten sich die vier Geschwister vorher verabredet und sind kurzerhand zu ihr gefahren.

Es ist ihr anzusehen: Anna freut sich sehr über den unerwarteten Besuch. Vor gut 40 Jahren schon ist sie nach Innsbruck gezogen, um sich dort zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Dort hat sie in ihrer Studienzeit ihren späteren Mann kennen und lieben gelernt, und sie haben schließlich gemeinsam eine Familie gegründet. Ihre zwei erwachsenen Töchter und ihr Sohn sind schon längst aus dem Haus und haben eigene Familien.

Die Geschwister trinken Kaffee und essen Annas guten Kuchen. Wieder hebt ein Erzählen an. Sie reden über dies und das. Wie schon so oft steigen Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit in ihnen hoch, in ihr Bewusstsein. Wisst ihr noch, wie es war, als wir noch Kinder waren?

Fahrendes Volk

ANTON

Wisst ihr noch, wie früher, als wir Kinder und Jugendliche waren, allerlei „fahrendes Volk“ auf unseren Hof gekommen ist? Da waren zum Beispiel die Krumer, so nannten wir sie, die Fersentaler Krämer. Wir Kinder unterschieden zwischen zwei Arten von Krumern, den „Pockkrumern“ und den „Tatlkrumern“. Die „Pockkrumer“ trugen einen großen, in blauen Stoff gehüllten Stoffballen, den „Pock“ auf ihren Schultern. In ihm verbargen sich Stoffe in allen Farben und Qualitäten, Kittel-, Hosen-, Hemden- und Schürzenstoffe, Stoffe für Bezüge und Tischdecken – Meterware zum Selberschneidern, welche die Krumer mit einem Meter-Holzstab abmaßen und die gewünschte Menge mit einer Schere von den Ballen abschnitten. Es waren natürlich vorwiegend Frauen, die sich vom Angebot der Krumer begeistern ließen.

Nur einmal, so erinnere ich mich, fanden wir Buben den Auftritt eines Stoffkrumers in unserer Stube ziemlich spannend. Das war, als er zwei halbschalenförmige, durch ein kurzes Stoffbändchen verbundene Dinger aus beigem Stoff auspackte. „Was ist denn das?“, fragte einer von uns Buben neugierig. „Ah, des sein de Kappilan fir de Poppilan2, war die vielsagende Auskunft des Krumers in schönstem Fersentaler Dialekt, die er mit einem anzüglichen Grinsen begleitete. Franziska, die Älteste, ist rot geworden, das weiß ich noch genau, und Mutter hat ein bisschen betreten geschaut. Erst später haben wir Buben begriffen, dass das beige Ding, das der Krumer ausgepackt hatte, ein Büstenhalter gewesen war.

Die „Tatlkrumer“, welche eine Art Holzkraxe auf dem Buckel trugen, empfingen wir immer in froher Erwartung, denn in der Kraxe verbargen sich viele kleine Schubladen, die geheimnisvollen TatlanTatlan